image1
Logo

Der Autor

Images

Prof. Dr. Philipp Gassert ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Er hat zuvor am Deutschen Historischen Institut in Washington, D.C, an der Universität Heidelberg, der LMU München, der University of Pennsylvania in Philadelphia (USA) und der Universität Augsburg geforscht und gelehrt. Gastprofessuren in Haifa und Wien. Er forscht im Bereich der deutschen und europäischen Zeitgeschichte sowie der transatlantischen Geschichte und der US-Außenpolitik des 20. und 21. Jahrhunderts. Seine wichtigsten aktuellen Themengebiete sind die Protest- und Friedensbewegungen im Kalten Krieg.

Philipp Gassert

Bewegte Gesellschaft

Deutsche Protestgeschichte seit 1945

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

Titelbild: picture alliance/ASSOCIATED PRESS. Am 22. Oktober 1983 bilden Demonstranten eine etwa 108 km lange Menschenkette auf der B10 zwischen Stuttgart und Neu-Ulm (hier in der Nähe von Lonsee), um gegen die Stationierung von Nuklearwaffen zu demonstrieren. Die Friedensbewegung der 1980er Jahre repräsentiert die wachsende Normalisierung der westdeutschen Protestkultur.

 

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029270-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-029271-0

epub:   ISBN 978-3-17-029272-7

mobi:   ISBN 978-3-17-029273-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Für Anna, Egmont, Thekla und Richard

Inhaltsverzeichnis

 

  1. Einleitung: Protestieren und Demonstrieren in der Demokratie – warum?
  2. Warum gibt es weiter Straßenprotest?
  3. Fragen und Thesen des Bandes
  4. 1 Eine Volksgemeinschaft revoltiert: Der vergessene Protest in Besatzungszeit und früher BRD
  5. Der Protest der Displaced Persons und deutscher Rassismus
  6. Hungerrevolten
  7. Protest gegen Demontagen und Besatzer
  8. Gegen Währungsreform und Liberalisierung: Generalstreik 1948
  9. Protest der Besatzungsgeschädigten, Flüchtlinge und Vertriebenen
  10. 2 Der 17. Juni 1953: Die gescheiterte Revolution in der frühen DDR
  11. Die offizielle Demonstrationskultur der SED
  12. Auf dem Weg zum 17. Juni
  13. Der Volksaufstand
  14. Folgen und weitere Entwicklung in der DDR
  15. 3 Friedensbewegung, Gewerkschaften, »Halbstarke«: Protest in der unruhigen Ära Adenauer
  16. Die Friedensbewegungen der 1950er Jahre
  17. Arbeiterbewegung, Mitbestimmung und Wirtschaftswunder
  18. Jugendprotest, »Halbstarkenkrawalle« und Populärkultur
  19. 4 »1968«, Neue Linke, Studentenprotest und die gesellschaftlichen Umbrüche der langen 1960er Jahre
  20. Konsumgesellschaft und Demokratisierung
  21. Eine Neue Linke
  22. Der globale Anspruch der 68er-Bewegung
  23. Generationskonflikt und NS-Vergangenheit
  24. 5 Eine protestierende Republik? Die »Neuen Sozialen Bewegungen« der 1970er und 1980er Jahre
  25. Was sind Neue Soziale Bewegungen?
  26. Die (Neue) Frauenbewegung
  27. (Neue) Umwelt- und Ökologiebewegung
  28. Alternatives Milieu und bewegte Provinz
  29. Der Streit um den Frieden als Normalisierung von Protest
  30. 6 Die Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf, rheinischem Konsensmodell und der Herausforderung der Neuen Sozialen Bewegungen
  31. Etablierte und Bewegte
  32. Wilde Streiks, Alternative und »Gastarbeiter«
  33. Herausforderung Modernisierungsskepsis
  34. Gleichheit in der Konsumgesellschaft
  35. 7 Bewegung im Sozialismus: Widerstand, Opposition und das Ende der DDR, 1970–1990
  36. Widerstand, Protest, Bewegung im Sozialismus
  37. DDR-Opposition in den 1970er Jahren
  38. Friedensbewegung im »Friedensstaat«
  39. Das Ende der Diktatur 1989/90
  40. 8 Der Aufstieg der globalisierungskritischen Linken: Protestgeschichte der Gegenwart I
  41. Unser Zeitalter neuer Globalisierung
  42. Die (»linke«) Globalisierungskritik der 1990er
  43. Friedensbewegungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
  44. Der Aufstand der Ausgebildeten 2011
  45. 9 Protest rund um Einwanderung, Flucht, Asyl und Rassismus: Protestgeschichte der Gegenwart II
  46. Migrationsgeschichte und Protestforschung
  47. »Gastarbeiter« und Intellektuelle
  48. Ablehnung von Asyl und »Fremden«
  49. Rechtspopulismus als Protestbewegung
  50. Resümee: Was bewirkt Protest?
  51. Protest und gesellschaftlicher Wandel
  52. Die Indikatorfunktion als zentrale gesellschaftliche Rolle von Protest
  53. Dank
  54. Abkürzungsverzeichnis
  55. Literaturverzeichnis
  56. Personenregister

Einleitung: Protestieren und Demonstrieren in der Demokratie – warum?

Protest ist historisch gewachsener Alltag in Deutschland. Seine Bedeutung lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass er immer wieder neue Begriffe prägt: »Halbstarke«, »68er«, »Alternativbewegungen« oder »Wutbürger«, aber auch »Sit-In«, »Ostermarsch« und »Montagsdemonstration« sind fester Bestandteil der politischsozialen Sprache in Deutschland. Während Joseph Stalin 1931 scherzte, dass die Deutschen mehr Ordnungs- als Freiheitsliebe besäßen und selbst revolutionäre Arbeiter im Zweifel zwei Stunden auf den Schaffner warteten, bevor sie den Bahnsteig ohne Fahrkartenkontrolle für eine Demonstration verließen, würde der sowjetische Diktator sich wundern, mit welcher Hingabe die heutigen Deutschen protestieren (Stalin 1955, 74). Straßenprotest ist Normalität in der politischen Kultur unseres Landes; er hat den »Geruch des Provokativen, des Radikalen, des Umstürzlerischen und Antibürgerlichen weitgehend verloren«, so der Tübinger Kulturwissenschaftler Thomas Balistier schon vor zwei Jahrzehnten (1996, 9). Er ist konsensuales Medium längst auch der bürgerlichen Mitte.

Um diese Normalisierung und »Veralltäglichung« von Protest geht es in diesem Buch. Ein gutes Beispiel sind die Demonstrationen gegen das Bauprojekt »Stuttgart 21«. Diese setzten im November 2009 nach Leipziger Vorbild mit wöchentlichen Montagsdemonstrationen ein. Im Juli 2010 überschritten sie die überregionale mediale Aufmerksamkeitsschwelle, als die Abrissarbeiten am Stuttgarter Hauptbahnhof begannen. Mit dem Ende der Sommerferien multiplizierten sich die Teilnehmerzahlen. Besetzungen und »direkte Aktionen« machten Stuttgart 21 zum Anziehungspunkt für Aktivisten und Medien. Einen Gipfel erreichten die Proteste am 30. September 2010, dem »Schwarzen Donnerstag«, als alarmiert per Handy und durch soziale Medien innerhalb kürzester Zeit Tausende von Bürgern, Schülern und »Parkschützern« zum Stopp von Rodungen in den Stuttgarter Schlosspark strömten. Es kam zu gewaltsamen Konflikten mit der Polizei, mit Hunderten von Verletzten. Damit hatte die Bewegung ihren »Erinnerungsort«. Langwierige parlamentarische Untersuchungen waren die Folge, Versuche der Schlichtung, die Abwahl der CDU-geführten Landesregierung, die Wahl eines grünen Ministerpräsidenten, schließlich eine landesweite Volksabstimmung, die für Stuttgart 21 grünes Licht gab. Die Demonstrationen dauern auf kleiner Flamme bis heute an.

Gegen Stuttgart 21 demonstrierten nicht primär Ausgeschlossene und Unterdrückte, sondern Mitglieder der gesellschaftlichen Mitte und damit Menschen, die in unserem Land etwas zu sagen haben: Die Proteste wurden von einem breiten Bündnis getragen, von Stadtteilvereinen über Architekten, kirchliche Gruppierungen bis zu Gewerkschaften und Parteimitgliedern von Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke, aber auch Mitgliedern der CDU sowie migrantischen Organisationen; die Demonstrierenden waren und sind überdurchschnittlich gut gebildet, wirtschaftlich ressourcenstark und vergleichsweise alt. Einer Online-Umfrage des Göttinger Instituts für Demokratieforschung vom 23. Oktober 2010 zufolge hatten über 40 Prozent einen Hochschulabschluss, 70 Prozent sogar Abitur, 75 Prozent waren über 35 Jahre alt, 20 Prozent älter als 55, darunter nicht wenige Rentner. Ein großer Prozentsatz hatte zwar vorherige Demonstrationserfahrung, bisher jedoch nur gelegentlich an Straßenprotesten teilgenommen. Einige waren Veteranen der Anti-AKW-Bewegung. Relativ viele brachten Erfahrungen in der Organisation von Dingen mit (z. B. als Lehrer, Juristen oder Ingenieure). Es handelt sich also durchaus nicht um einen marginalisierten, von Entscheidungsprozessen ausgeschlossene Personenkreis (Göttinger Institut 2010; Walter u. a. 2013, 67).

Im Rückblick lassen sich die Stuttgarter Ausschreitungen als Teil einer globalen Protestwelle interpretieren. Was die Stunde geschlagen hatte, zeigte sich Anfang 2011. Ausgehend von den Revolutionen des »Arabischen Frühlings« bzw. der Arabellion gingen auch in vielen westeuropäischen Ländern sowie in Israel und der Türkei vor allem junge Menschen auf die Straßen. In Westeuropa stand zwar nicht der Sturz blutiger Diktaturen auf der Agenda. Auch hier sahen sich viele von Entscheidungen ausgeschlossen und forderten mehr »Transparenz«. Viele beklagten einen schleichenden Substanzverlust der Demokratie, etwa der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem viel diskutierten Buch Post-Democracy (2004). Auch die Stuttgarter Protestler hatten das Gefühl, dass Wahlen und Abstimmungen zwar routiniert abgehalten würden, Parlamente und Gremien tagten. Doch die »wirklichen« Beschlüsse würden von einer abgehobenen politischen Elite mit einem großen Konzern, in diesem Fall der Deutschen Bahn, ausgekungelt. Dieser schere sich wenig um lokale Folgen eines monströsen Bauprojekts. Noch radikaler thematisieren rechte Populisten und Bürgerbewegungen wie die Tea Party in den USA oder Pegida in Dresden das, was sie als Defizite der liberalen Demokratie empfinden.

Ein zweites Grundmotiv der jüngsten Protestwelle sind Fragen sozialer Gerechtigkeit und Verteilung vor dem Hintergrund der ökonomischen Verwüstungen, die die Weltfinanzkrise der Jahre 2008/9 hinterlassen hat. Diese habe in Kombination mit der Globalisierung neue wirtschaftliche Unsicherheit und stagnierende Einkommen der mittleren Schichten produziert. Ein ehemaliges Mitglied der französischen Résistance, der 93-jährige frühere Diplomat und Holocaust-Überlebende Stéphane Hessel, sprach vielen aus der Seele, als er 2011 dazu aufforderte, sich zu empören, weil das rein auf »Produktivität ausgerichtete Denken des Westens« die Welt in eine Krise gestürzt habe. Es sei höchste Zeit, »dass der Sorge um Ethik, Gerechtigkeit und einem anhaltenden Gleichgewicht die höchste Priorität zugewiesen wird«. Dieser Protest richtete sich gegen einen »globalen Finanzkapitalismus« und die Ungleichverteilungen in einer Weltwirtschaftsordnung, in der eine kleine Gruppe sowohl national als auch international praktisch alle Vermögen kontrolliere. Die »99 %« der großen Mehrheit hingegen gingen so gut wie leer aus, so der Schlachtruf der Occupy Wallstreet-Protestler. Ausgehend von der Besetzung des Zuccotti-Park in Lower Manhattan am 5. Oktober 2011 fand diese Bewegung weltweit rasch Nachahmer. Auch in Deutschland kam es zehn Tage später zu zahlreichen Demonstrationen, die in eine ein Jahr lang dauernde Besetzung des Platzes vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main mündeten.

Warum gibt es weiter Straßenprotest?

Trotz des nachvollziehbaren Unbehagens an der liberalen Demokratie und der sozialen Ungleichheit in einer sich globalisierenden Welt ist es erstaunlich, dass Straßenprotest weiter blüht und gedeiht und dass er nicht längst aus der Geschichte verschwunden ist. Denn weder die Stuttgart-21-Proteste noch Occupy führten zu durchschlagenden Resultaten. Sie wirken nicht gerade wie eine Erfolgsstrategie zur Gestaltung politischer Prozesse. Trotz immer wieder neuer Enttäuschungen seitens der Protestierenden sind Straßendemonstrationen so alltäglich und »normal« geworden, dass wir uns mit den Forderungen der jeweiligen Bewegungen auseinandersetzen, diesen beipflichten, sie kritisieren oder ablehnen. Aber wir ignorieren sie in der Regel nicht. Wir denken nicht mehr groß darüber danach, warum es immer wieder zu neuen Straßenprotesten kommt. Sie gehören zur Demokratie, sind selbstverständlich. Protest ist in unsere politischen Systeme eingepreist. Wie bei Streiks von Piloten und Lokführern haben wir Protestumgangsroutinen entwickelt. Verkehr wird aus verschiedensten Gründen umgeleitet, dann eben auch für Stuttgart 21.

Jede gute Geschichte beginnt mit einem Erstaunen. Warum also gehen Menschen »immer noch« auf die Straße? Warum bedarf es auch im 21. Jahrhundert weiter der physischen, durch menschliche Körper als Teil einer »Masse« ermöglichten Sichtbarmachung eines Anliegens auf öffentlichen Straßen und Plätzen? Warum geht, wer sich im Jahr 2018 öffentlich wahrnehmbar empören will, nicht allein »online« oder ins Internetcafé, sondern auch auf die Straße? Zwar wird er oder sie auf sozialen Medien zahlreiche follower finden. Rein mediale Kommunikationsformen wie Petitionen, Bittschriften oder lange Listen von Unterschriften reichen jedoch in unserer sozialen Wahrnehmung bis heute nicht aus, um politischen Dissens nachdrücklich anzumelden. Nichts scheint über eine zünftige Straßendemo zu gehen, wenn ein sozial bewegendes Thema gut sichtbar und hörbar platziert werden soll. Dafür gibt es inzwischen sogar professionelle Bewegungsmitarbeiterinnen, die als Vollzeitaktivisten daran arbeiten, Bewegungen Struktur und Knowhow zu vermitteln, aber auch Menschen dazu zu ermutigen, politische und soziale Missstände anzuprangern (Kessler 2013, 134).

Die Frage, warum sich Menschen nach wie vor an Straßenprotest beteiligen, ist keineswegs trivial: Wir leben in einem völlig anderen sozialen, medialen und politischen Umfeld als die Revolutionäre von 1848, die für eine freiheitliche Verfassung und nationale Einheit demonstrierten; oder die Arbeiter des Kaiserreichs, die vor dem Hintergrund der Industrialisierung im Zeitalter der Massenpresse die soziale Frage thematisierten; oder selbst die Studenten von 1968, die das Versprechen der Selbstverwirklichung in einer Konsumgesellschaft einforderten, als das Fernsehen erstmals eine neue Unmittelbarkeit der Übermittlung von Protestereignissen ermöglichte. Obwohl unser Mediensystem sich dramatisch gewandelt hat, ist die Straße eine notwendige Bühne zur Aushandlung politischer und gesellschaftlicher Konflikte geblieben. Sichtbarer Protest – und damit dessen vordergründiger Erfolg – wird weiterhin daran gemessen, wie viele Menschen sich massenhaft physisch »im Licht der Öffentlichkeit« versammeln und dafür mancherlei Unbill, Anstrengung und Risiken in Kauf nehmen. Dabei hätten sie doch Facebook und Twitter! Warum also reichen rein mediale oder digitale Formen nicht aus, um Dissens wirksam zu kommunizieren?

Protest ist historisch: Die erste Antwort lautet schlicht, dass die Geschichte selbst normierend wirkt. Als Individuen und als Gesellschaft erkennen wir intuitiv Straßenprotest als Protest und somit als politisches Statement – und nicht als eine Art Freizeitbeschäftigung (obwohl er das für manche auch ist). Straßenprotest ist als Form der antagonistischen politischen Kommunikation historisch überliefert und gewachsen (Tilly 2004, 11ff.). Er ereignet sich immer wieder, weil er sich in der Vergangenheit ereignet hat. Die Politikwissenschaft nennt das Pfadabhängigkeiten. Im kollektiven Gedächtnis hat sich als Erfahrungswert abgelagert, was unter Protest zu verstehen ist und dass dieser in der Vergangenheit auch erfolgreich war. Wenn heute irgendwo demonstriert wird, dauert es meist nicht lang, bis Beobachterinnen historisch vergleichen, in der Gegenwart meist auf »1968« oder die Bürgerbewegung in der DDR verweisen. Aber auch die Protestler selbst stellen sich gern in ein historisches Kontinuum. Viele Stuttgart-21-Demonstranten verglichen sich mit den Aktivisten, die in den 1970er Jahren den Bau eines Kernkraftwerks in Wyhl im Breisgau verhindert hatten und waren teils selbst »Veteranen« dieser Kämpfe. Die Dresdner Pegida-Marschierer wiederum sahen sich selbstbewusst in der Kontinuität der Leipziger Montagsdemonstrationen, die im Herbst 1989 mit zum Fall der DDR geführt hatten. Einige der Älteren von ihnen hatten daran teilgenommen.

Protest stiftet Sinn: Neben der Kraft des historisch Überlieferten steht die anthropologische, sinnstiftende Komponente von Protest: Straßenprotest blüht und gedeiht auch deshalb, weil die Erfahrung physischer Interaktion ein menschliches Grundbedürfnis ist. Das Erlebnis des Aufgehens in einer auf ein Thema eingeschworenen Masse unterstreicht die Sinnhaftigkeit eines Anliegens. Es geht bei Protest immer auch um Sinnstiftung bezogen auf das Kollektiv, das da demonstriert. Die Forschung nennt das die »expressive«, nach innen gewendete Dimension von Protest, in Abgrenzung von der »instrumentellen«, Zweck und Ziele »mit Außenbezug« betreffenden Dimension (Hellmann 1996, 123): Gemeinschaft wird nicht nur symbolisch abstrakt oder medial vermittelt erfahren. Eine Gruppe von Demonstrierenden überwindet temporär Grunderfahrungen der Entfremdung in der Moderne. Er führt zu einem höheren emotionalen Aggregatzustand aufgrund von physischer Interaktion. Warum auch sonst sollten sich Menschen bei nasskaltem Wetter oder glühender Hitze auf eine Straße setzen, würde dies nicht einen gefühlten individuellen Nutzen erzeugen?

Protest verbindet Menschen: Diese emotionalen Wirkungen des persönlich Erlebten in einer Gemeinschaft sind für die historische Forschung quellenmäßig oft schwer zu greifen. Jedoch machen sie in Kombination der entsprechenden Erzählungen (»Veteranengeschichten«) mit dem Anspruch, etwas in einer Sache bewirken zu wollen, die Anziehungskraft von erfolgreichen Protestbewegungen auch auf bisher Nichtbeteiligte oder Außenstehende aus. Diese emotionalen Effizienzgewinne sind im individuellen Erleben nicht völlig von der Begeisterung bei Sportereignissen zu unterscheiden und ähneln (wiederum leicht boshaft zuspitzend) in ihrem Erlebniswert anderen »Freizeitbeschäftigungen« im Kollektiv. Es wäre naiv, das völlig außer Acht zu lassen. Dies gilt vor allem für eine offene Gesellschaft, während in der DDR noch im Sommer 1989 die persönliche Gefahrenlage anders zu beurteilen war. Die Teilnahme an einer Demonstration stellt immer auch ein persönliches Erleben dar, etwa der gemeinsamen Anreise im Bus in den frühen Morgenstunden oder des Ausharrens auf »Aufmarschplätzen«. Die erzeugten Stimmungen, auch aufgrund von Musik und anderen Faktoren emotionaler Vergemeinschaftung machen Protest zu einem »starken Erlebnis«. Aber: Die Bereitschaft der Demonstrierenden, ihre potentielle Leidensfähigkeit im Angesicht der Gefahr (siehe »Schwarzer Donnerstag«) nehmen auch die Außenstehenden als ein glaubwürdiges Zeugnis wahr. Dies hat mehr Durchschlagkraft als ein Mausklick oder ein Leserbrief.

Protest macht ein Anliegen sichtbar: Menschenmassen ziehen Kameras magisch an. Politischer Protest zielt auf eine öffentliche, mediale Wirkung. Daher ist er in allererster Linie eine Form politischer Kommunikation. Weil Straßenprotest ohne die Interaktion mit und die symbiotische Beziehung zu anderen Medien nicht verfängt, hat er sich medial als äußerst anpassungsfähig erwiesen. Er lässt sich auf Papier und auf dem Bildschirm eines Smartphones weiterverbreiten, er lässt sich in der Zeitung, im Fernsehen, im Internet betrachten und hat seine Kommunikationsstrategien parallel zum Wandel des medialen Ensembles kontinuierlich erneuert. Zu Demonstrationen wird nicht mehr mit Flugblättern oder Plakaten »aufgerufen«, sondern, wie bei Stuttgart 21 oder Pegida, mittels sozialer Medien »eingeladen«.

Das Protestrepertoire ist ferner keinesfalls statisch. Die typischen Formen passen sich an das dominante Medium an. Plakate und Banner mit politischen Parolen ersetzten Fahnen, als Zeitungen vermehrt Fotos abdruckten. Die »direkten Aktionen« der »68er« waren wie fürs Fernsehen gemacht. In den 1970er Jahren kam es während der Anti-AKW-Proteste vermehrt zu Platzbesetzungen, die auch während der jüngsten Protestwelle so charakteristisch geworden sind. Die 1920er bis 1960er Jahre hingegen waren die Zeit der klassischen Protestmärsche auch über lange Strecken – wie seitens des amerikanischen Civil Rights Movements oder der Ostermarschbewegung (Reiss 2007). Diese trugen ein Protestanliegen in jede Kleinstadt und jedes Dorf, so dass lokale Medien darüber berichteten. Sie sind aus der Mode gekommen, weil wir nicht mehr im Zeitalter von Radio und Massenpresse leben.

Protest ist Indikator gesellschaftlicher Krisen: Beispiele gescheiterter Proteste gibt es reichlich. Selten hat eine Protestbewegung auf Anhieb reüssiert, meistens nie. Doch Protest auf die instrumentelle Dimension der konkreten Durchsetzung eines bestimmten Ziels wie etwa die Verhinderung der Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren zu reduzieren, griffe zu kurz. Er »indiziert« gesellschaftliche Krisen und Kommunikationsdefizite, er macht sozialen Wandel sichtbar, er legt latente Konflikte offen. Protest als Medium gesellschaftlichen Streits ist zentral für die Verständigung darüber, was uns in unserer Gesellschaft wichtig ist, wofür wir einstehen und was uns zusammenhält. Der Generalstreik vom November 1948 konnte die Währungsreform nicht rückgängig machen, und die rechten Populisten werden nicht verhindern, dass Deutschland auch künftig ein Einwanderungsland ist. Dennoch erzwangen die Ersten eine Debatte über die soziale Abfederung des Übergangs zur Marktwirtschaft, während die Zweiten eine notwendige Diskussion über eine sinnvolle Regulierung von Zuwanderung erzwingen. Auch die Friedensbewegung der 1980er Jahre konnte die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen nicht verhindern. Doch sie war Resonanzraum eines breiten Krisengefühls, festigte die Westbindung der BRD und deren postnationalsozialistisches Selbstverständnis. Diese Indikatorfunktion halte ich für die zentrale soziale Komponente von Protest in einer offenen Gesellschaft.

Das Establishment spielt mit: Die Wirkungen von Protest lassen sich daher erst abschätzen, wenn wir die »Gegenseite« einbeziehen. Ein gutes Beispiel sind die studentischen Proteste um »1968«. Diese wären ohne die Empörung und medial verbreitete Aufregung »etablierter Kräfte« vermutlich verpufft, auch wenn beiderseits viel Theater mit im Spiel war. Eine Neubewertung dieses Verhältnisses liegt aus Bewegungsperspektive nahe, weil die Haltung »systemkonformer« Akteure über die Erfolgsbedingungen revoltierender, das »System hinterfragender« Aktivistinnen mitentscheidet. Das zeigt etwa ein Vergleich der Proteste gegen das Atomkraftwerk Wyhl mit dem Misserfolg der AKW-Gegner in Brokdorf (vgl. Kapitel 5.3). Um es an einem Beispiel aus der US-Geschichte zu illustrieren: Es bedurfte für den Erfolg der Bürgerrechtsbewegung nicht nur eines Martin Luther King, der die Menschen zu Protesten anspornte, sondern eben auch eines Präsidenten Lyndon B. Johnson, der unter Einsatz von erheblichem politischem Kapital die Gleichstellungsgesetze durch den Kongress peitschte. Bewegungen und Straßenprotest können Agenden setzen und dadurch bestimmten Themen im etablierten politischen Betrieb höhere Priorität verleihen. Da Protest auf öffentliche Wahrnehmung zielt, macht er nur Sinn in Kombination mit der Provokation und den Reaktionen Etablierter (Fahlenbrach u. a. 2012).

Protestbewegungen gehören zur liberalen Demokratie: Der Großmeister einer historisch orientierten sozialwissenschaftlichen Protestforschung, der 2008 verstorbene New Yorker Soziologe Charles Tilly wurde nicht müde, sich in seinem langen Forscherleben immer wieder aufs Neue in unterschiedlichsten Varianten mit sozialen Bewegungen, bevorzugt in langen historischen Querschnitten zu beschäftigen. Er stellte sich einmal die uns vermutlich wenig überraschende Frage, warum es in Kasachstan keine sozialen Bewegungen gäbe, obwohl dieses Land viele unbewältigte Konflikte habe (Tilly 2004, 123). Hinter der Frage steht die Annahme, dass im großen historischen Überblick Demokratisierung und das Aufkommen sozialer Bewegungen Hand in Hand gegangen sind, selbst wenn diese sozialen Bewegungen keineswegs alle für mehr Demokratie eintraten. Offene Gesellschaften lassen Protest zu und lernen damit umzugehen. Hier erlebte Deutschland nach 1945 eine steile Lernkurve, weil man hier, anders als in den USA, die integrierende Funktion von Protest erst allmählich zu schätzen lernen musste. Dieser Punkt war in etwa in den 1980er Jahren erreicht, als Helmut Kohl, anders als sein großer christdemokratischer Vorgänger Konrad Adenauer, sich von der gewaltigen Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss nicht aus der Ruhe bringen ließ.

Die Normalisierung von Protest: Im Protest werden größere und kleinere gesellschaftliche Fragen aufgegriffen und manchmal auch aufgeworfen (Indikatorfunktion). Die Frage sei jedoch erlaubt, ob es nicht besser ist, wenn Protestbewegungen ihre ultimativen Ziele nicht erreichen, sondern wie die 68er-Revolte »glücklich« scheitern? Politisch, das heißt mit Blick auf eine spätere »Machtergreifung« erfolgreiche soziale Bewegungen, wie die Bolschewiki in Russland oder die Faschisten in Italien, standen am Ausgangspunkt katastrophaler Entwicklungen. Gesellschaftlich produktive Bewegungen gehen unter. Vor diesem Hintergrund argumentiere ich, dass Straßenprotest seit 1945 zwar zunehmend an Akzeptanz gewonnen hat (siehe Friedensbewegung oder auch Stuttgart 21, wo beidesmal Bürgerliche und viele ältere Semester demonstrierten). Straßenprotest wurde immer weniger die exklusive Domäne der klassischen Arbeiterbewegung und von Gewerkschaften, die noch bei der »Kampf dem Atomtod«-Kampagne 1957/58 das organisatorische und personelle Rückgrat der Proteste gebildet hatten. Protest erfuhr nach 1945 eine sukzessive »Normalisierung« und kehrte ins Bürgertum zurück, von wo er im 19. Jahrhundert seinen modernen Ausgangspunkt genommen hatte. Doch dadurch wirkt er in der Summe weniger promodern transformierend, richtet sich vermehrt auf Bewahrung und Erhalt des Status quo. Nicht zufällig standen seit den 1970er Jahren immer wieder große Infrastrukturprojekte im Fokus von Protestbewegungen. Nicht mehr Veränderung, sondern vermehrt konservative Ziele dominierten. Das hat auch die expressive, nach innen gewendete, identitätsstiftende Dimension verstärkt, während die instrumentelle, »eigentlich politische« Dimension an Bedeutung verlor.

»Protest negiert die Gesamtverantwortung«, spitzte es der renommierte, aufgrund der Studentenrevolte leicht »bewegungsgeschädigte« Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann provozierend zu (1996, 205). Anders als die parlamentarische Opposition ist Protest nicht Teil des Systems, muss keine Rücksicht auf das Ganze nehmen, aber legt eben gerade deshalb den Finger in die Wunde. Er verfährt selektiv, vereinfacht, schlägt die »Verhältnisse platt«, so Luhmann drastisch: »Gegen Komplexität kann man nicht protestieren« (211). Weil er Komplexität reduziert, weil er mit Schwarz-Weiß-Bildern operiert, ist er Medium des Wandels, kommuniziert Defizite, stellt unangenehme Fragen. Er tut dies in einem zuweilen fast paranoiden Verfolgungswahn, aber oft nachhaltiger als dies abwägende wissenschaftliche Analysen oder konzentrierte Sachdebatten in Parlamentsausschüssen könnten. Straßenprotest ist ein Ausrufezeichen. Er vermag nur bedingt zu differenzieren, seine Wirkung ginge sonst verloren. Daher ist es um die Lösungskompetenz von Protestbewegungen meist schlecht bestellt. Er stellt eine Art »Griff nach der Notbremse« dar, wie es der Hamburger Protesthistoriker Wolfgang Kraushaar bildlich fasst (2012). Protest zwingt uns Streit und Diskussion darüber auf, was uns in unserer Gesellschaft wichtig ist.

Fragen und Thesen des Bandes

Protestereignisse wie die rund um Stuttgart 21, die Platzbesetzungen von Occupy oder auch die Dresdner Montagsdemonstrationen der Pegida stehen in einer historischen Kontinuität. Zwar gehören sie einer bestimmten Zeit an. Doch sind sie auch Ergebnis langer diachroner Entwicklungsprozesse. Wir haben die Bilder vergangener Protestereignisse im Kopf. Diese »Historizität« macht Straßenprotest fast zu einem Selbstläufer, weshalb sich ein Historiker dafür interessieren sollte. Um diese Geschichte geht es in diesem Buch: Wie sich Protest seit 1945 in beiden deutschen Staaten entwickelt hat, warum er nicht aus Deutschland verschwunden, sondern selbstverständlicher Teil unserer politischen Kultur geworden und geblieben ist.

Eine derartige Gesamtdarstellung ist bislang ein historisches Desiderat. Historische Untersuchungen konzentrieren sich in aller Regel auf bestimmte Teilbereiche und Epochen (wie die Neue Frauenbewegung, »1968«, die Friedensbewegung der 1980er Jahre oder die »Gastarbeiterstreiks«), während sich die sozialwissenschaftliche Protestforschung für die älteren Protestphänomene vor »1968« wenig interessiert, sondern im Kern erst mit der Erforschung der sogenannten »Neuen Sozialen Bewegungen« (NSB) der 1970er Jahre beginnt. Eine übergreifende Protestgeschichte seit der Besatzungszeit fehlt hingegen.

Zugleich frage ich mich, ob die »Normalisierung« und »Veralltäglichung« von Straßenprotest – auch die Schnelligkeit, mit der sich dank neuer Kommunikationstechniken flashmobartig Menschen mobilisieren lassen – nicht zum Problem geworden sein könnte. Aufgrund seiner Normalisierung wirkt Protest in seiner Wirkmächtigkeit reduziert. Wir haben als Gesellschaft nicht allein eine hohe Routine im Umgang mit Straßenprotest erworben. Demos wirken als Medium politischer Artikulation inzwischen so konsensual, dass bei passender Gelegenheit sogar Staats- und Regierungschefs Protestmärsche inszenieren, um einen Standpunkt zu markieren. Nach dem Terroranschlag auf das satirische Magazin Charlie Hebdo versammelten sich am 11. Januar 2015 nicht nur 1,5 Millionen Menschen aus aller Welt in Paris – und viele in Solidarität in anderen Städten. Zugleich waren Hollande, Merkel & Co. für einen wie ein Protestmarsch inszenierten Fototermin aufmarschiert. Am 11. Januar setzten die Spitzen des Staates ein Mittel aus dem klassischen Repertoire kollektiver Akteure bewusst ein. Sie taten dies aber nicht, um den Status quo kritisch zu hinterfragen. Im Gegenteil, sie riefen zur Verteidigung der freien Rede in der Demokratie auf – und demonstrierten gegen Terrorakte, die als extremistischer Ausdruck einer Protesthaltung gegen den sozialen Konsens gewertet werden können.

In Paris im Januar 2015 demonstrierten also die Mächtigen, nicht die Ohnmächtigen. Stellt das nicht den ursprünglichen Sinn von Protest auf den Kopf? War nicht der moderne Straßenprotest im 18. und 19. Jahrhundert als Ausdruck gesellschaftlichen Widerstands entstanden – in bewusster Opposition zur älteren höfischen Repräsentations- und Festkultur, deren Formen er borgte und umdeutete? Wir haben intuitiv historische Protestereignisse wie das Hambacher Fest 1832 vor Augen. Diese normieren bis heute nicht nur phänomenologisch, sondern auch inhaltlich, was unter einer Protestdemonstration zu verstehen ist: dass sich Protest gegen einen bestehenden gesellschaftlichen Zustand richtet, dass er den Status quo hinterfragt, im Extremfall durch revolutionären Umsturz überwinden will. Protest, so die lange gültige Annahme, ist promodern, transformierend, modernisierend. Er wird vom Volk oder von Gegeneliten getragen, er zielt auf gesellschaftlichen Wandel. Diese klassisch liberale Erzählung prägt unser Verständnis von Protest bis heute. Die Frage drängt sich auf, ob Straßenprotest in der Gegenwart der entwickelten Demokratien des Westens nicht eher Züge einer »konformistischen Revolte« trägt, ob er nicht in der Tendenz verstärkt konservativ, erhaltend beabsichtigt ist oder wirkt? Für rechtsextreme, migrationsfeindlich und rassistisch motivierte Angriffe würde diese These wohl von vielen akzeptiert. Aber gilt das auch für den Protest »Progressiver« und »Linker«?

Wie (basis-)demokratisch ist unser Protest eigentlich (noch)? In unseren Köpfen wirken die aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Bilder fort, wonach es stets die Unterdrückten und Entrechteten sind, die sich zusammenschließen und unter dem »Banner der Brüderlichkeit« aufgrund ihrer großen Zahl Zugeständnisse der Mächtigen erzwingen. Trotz der gegenwärtig großen Popularität von Revolutionserzählungen in Hollywood-Blockbustern wie den Hunger Games übersehen wir dabei: Wirksame Proteste sind meist nicht das Ergebnis spontaner »Zusammenrottungen« einzelner oder genialer Eingebungen weniger Protagonisten. Sie waren, wie die Kämpfe der Arbeiterbewegung oder die um das Frauenwahlrecht, sehr gut vorbereitet und organisiert. Sie wurden von professionellen Aktivisten »geführt«, die man früher mal »Arbeiterführer« nannte. »Führung« und »Bewegung« werden als Gegensätze konzipiert. Weder der Kampf gegen die Notstandsgesetze 1968, noch der gegen alliierte Demontagen 1949, noch die Friedensbewegung 1982/83 wären ohne entsprechende Strukturen und Führungspersonal sehr weit gekommen. In allen drei Fällen wurde die Opposition von etablierten Institutionen wie den Gewerkschaften mitgetragen, deren Mitglieder über Knowhow und Bewegungswissen verfügen, die Erfahrung damit haben, wie man nicht nur erfolgreich mobilisiert, sondern für ein Anliegen auch parlamentarische Unterstützung bekommt.

Protest dient nicht allein Fortschritt und Gerechtigkeit: Von einer solchen teleologischen whig history of protest, die die »progressiven« Traditionen hervorkehrt, sollten wir uns rasch verabschieden. Dieser Erzählung zufolge war Straßenprotest, ausgehend von den liberalen revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts und dann der Arbeiterbewegung, eine Entwicklungsgeschichte hin zu mehr Emanzipation und Freiheit. Insbesondere die frühe sozialwissenschaftliche Protestforschung pflegte mehrheitlich einen affirmativ-emphatischen Protestbegriff (vgl. Kap. 5, erster Abschnitt). Doch wer etwas an der historischen Oberfläche kratzt, merkt schnell, dass Protest nicht automatisch der menschlichen Befreiung dient, notwendig für mehr Demokratie, mehr soziale Gleichheit und Gerechtigkeit steht. Alle bekannten Varianten des Straßenprotests sind politisch ambivalent, nicht exklusiv promodern transformierend, sondern können bewahrend (konservativ) oder sogar regressiv gemeint sein. In diesem Buch wird mit Blick auf die Jahrzehnte seit 1945 die These vorgetragen, dass mit der Normalisierung und Veralltäglichung von Protest in einer »Protestgesellschaft« (Dieter Rucht) sich dessen bewahrende, konservative, »konformistische« Grundhaltung verstärkte. Insofern ist Stuttgart 21 typisch für den großen Trend der deutschen Protestgeschichte seit 1945. Protestler wehrten sich oft gegen die Zumutung von technokratischen Modernisierungen, wie es in den Anti-AKW-Protesten der 1970er, den immer wieder aufflackernden Protesten gegen Bauprojekte oder auch den globalisierungskritischen Bewegungen der 1990er Jahre ebenfalls erkennbar ist.

Protest hat eine lange Geschichte. Er wird hier für die Jahre seit 1945 in beiden deutschen Staaten dargestellt, mit allen Lücken, zu denen jede Synthese den Mut aufbringen muss. Lange Zeit galt Protest überhaupt nicht als legitimes Objekt historischer Forschung, wurde oft als irrationales Massenphänomen abqualifiziert, als Pathologie der Moderne. Es war von Pöbelexzessen und »blinder, fieberhafter Exaltation der Massen« die Rede (Rucht 1994, 98). Derartige Interpretationsmuster sind längst obsolet. Sozialer Protest gilt seit den 1970er Jahren als legitimes Objekt historischer Forschung, was wiederum Anzeichen der Normalisierung und Verbürgerlichung von Protest sein dürfte. Hier wäre zu ergänzen, dass die klassischen sozialen Bewegungen als Teil der Arbeiter- und Gewerkschaftsgeschichte auch schon früher historisch untersucht worden sind – mit ersten Anfängen in der Weimarer Zeit. Trotz einer allgemeinen Wertschätzung des Protests in der Gegenwart kann uns die historische Protestforschung skeptisch gegenüber Erklärungen machen, dass Protest simpler Ausdruck von Unzufriedenheit sei. Dies war schon im 19. Jahrhundert nicht der Fall. Auch damals war Protest eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und eine Form der Selbstverständigung darüber, was einer Gesellschaft wichtig ist.

Was also wird hier unter Protest verstanden? Ich folge klassischen Definitionen von Pionieren der sozialwissenschaftlichen Protestforschung wie Joachim Raschke und Dieter Rucht, die Protest als kollektiven Ausdruck von Unzufriedenheit an einem bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustand definieren. Protest zielt darauf ab, durch Druck auf andere Akteure die Sache der Protestierenden sichtbar (öffentlich) zu machen. Er findet überwiegend außerhalb institutionalisierter Einflusskanäle statt. Er manifestiert sich auf einer breiten Skala von Formen (Umzüge, Versammlungen, Petitionen), von spontan bis organisiert, friedlich bis gewalttätig, von zielgerichtet bis offen. Er kann sowohl »instrumentell« (zielorientiert) als auch »expressiv« (identitätsstiftend) sein; er kann auf Veränderung oder Erhalt bestehender Ordnungen zielen. Zentrales Charakteristikum ist, dass Protest an eine Öffentlichkeit appelliert, in der Moderne regelmäßig auf einer medialen Wahrnehmungsebene. Protest muss »sichtbar« oder »hörbar« sein; »unsichtbarer« oder »stummer« Protest ist kein Protest. Protest ist somit eine Variante politischer Kommunikation. Aber weil ich Protest als spezielle Form politischer Kommunikation definiere, sind Form und Inhalt zunächst einmal getrennt zu betrachten. Sowohl »Rechte« als auch »Linke« marschieren oder besetzen Plätze, auch wenn bestimmte Gruppen Präferenzen für bestimmte Protestformen haben. Protesttechniken sind politisch nicht determiniert.

Eingrenzend hierzu ist anzumerken, dass dieser Band überwiegend, wenn auch nicht exklusiv auf Straßenprotest als Kollektivphänomen fokussiert. Rein mediale Kampagnen bleiben mit wenigen Ausnahmen (wie der linksintellektuellen Opposition in der DDR) außen vor. Auch individuelle Protestakte werden nur mit wenigen Ausnahmen thematisiert. Dies ist eine schon aus Platzgründen notwendige Einschränkung. Während revolutionäre Ideen Teil jeder deutschen Protestgeschichte seit 1945 sind, selbst wenn sie im Gewand einer Kulturrevolution wie »1968« daher kommen, gehen revolutionäre Erhebungen über die reine Protestgeschichte hinaus. Davon gab es im Untersuchungszeitraum zwei: Der 17. Juni 1953 und der Kollaps der Diktatur in der DDR 1989/90 waren Revolutionen, also Systemwechsel mit beschleunigter Umwälzung der gesellschaftlichen Situation. Da Straßenprotest Teil dieser beiden Revolutionen in der DDR war, werden diese berücksichtigt, ohne dass nun eine Gesamtdarstellung der »Wende« 1989 hier möglich wäre. In den offenen Gesellschaften des Westens hingegen hat Protest zwar gelegentlich auf Revolution gezielt, scheiterte jedoch regelmäßig an diesem Anspruch.

Dieser Band strebt – bei allem »Mut zur Lücke« – breite chronologische und sachliche Vollständigkeit an. Er skizziert die gesamte Entwicklung von 1945 bis heute. Er ist dabei nicht normativ auf ein bestimmtes Repertoire oder eine bestimmte politische Richtung festgelegt. Es werden sowohl die in der Gegenwart fast völlig vergessenen Proteste der Besatzungszeit untersucht, die in ihrem spürbaren deutschnationalen Aufbegehren gegen Besatzer und Fremde, einschließlich der entsprechenden rassistischen Abgrenzung gegen »Andere«, an heutige »ausländerfeindliche« Proteste erinnern sowie an die rechtsradikalen, völkischen Bewegungen der jüngsten Zeit. Ebenso wird den klassischen Themen der »progressiven« Bewegungsgeschichte, angefangen von der »Kampf dem Atomtod«-Kampagne über »1968« bis zu den Linksalternativen und den Anti-AKW-Bewegungen der 1970er Jahre breiter Raum gegeben.

Auf drei hier behandelte Sonderfälle sei explizit verwiesen: Erstens gewerkschaftliche Proteste, weil die sozialwissenschaftliche Protestforschung Gewerkschaften definitorisch nicht als »Bewegungen« begreift. Sie hat deren Protest daher oft stiefmütterlich behandelt. Denn einige Teilgewerkschaften des DGB wie die IG Metall oder ÖTV (Verdi) sind in ihrer Bedeutung für den einen oder anderen großen Nachkriegsprotest kaum zu unterschätzen. Die meisten Tarifauseinandersetzungen werden allerdings auch hier ausgeklammert. Eine zweite, oft vergessene Dimension der deutschen Protestgeschichte ist der Protest von Migranten. In einer Einwanderungsgesellschaft sollte man nicht länger ignorieren, dass Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund das klassische Repertoire nutzen, um gehört zu werden sowie ihr Missfallen an den Zuständen zu kommunizieren und zwar nicht allein zur Abwehr rassistischer »Krawalle«. Schließlich kann, da es von 1949 bis 1989 zwei deutsche Staaten gab, eine Gesamtdarstellung, die an die Gegenwart heranreicht, die DDR nicht ausklammern. Diese beiden deutschen Staaten, BRD und DDR, waren, so der Potsdamer Zeithistoriker Frank Bösch, »geteilt« und »verbunden« (2015). Wir sollten nicht weiter so tun, als wäre das DDR-Erbe verpufft. Schon das simple Faktum, dass die Stuttgart-21-Proteste als Montagsdemo begannen, sollte uns aufmerken lassen.

Dieser Band beruht auf eigener Forschung aus zwei Jahrzehnten und einer thematisch einschlägigen Lehrtätigkeit, wobei ich mich als Forscher bisher auf zwei Teilbereiche der Nachkriegsprotestgeschichte konzentriert habe: Die Proteste um »1968« sowie die Friedensbewegungen der 1980er Jahre. Eine Gesamtdarstellung wie diese baut auf den Recherchen anderer auf, deren Wertungen und Einordnungen ich angesichts der Masse an Quellen und Literatur nicht bis ins Einzelne überprüfen kann. Dem Format der Reihe »Zeitgeschichte aktuell« entsprechend, ist der Anmerkungsapparat auf ein Minimum reduziert. Damit tut sich ein Historiker schwer, der sich gerne mit langen Fußnoten absichern und auf die Forschungsleistungen anderer verweisen möchte, denen er viele Einsichten verdankt. Ihnen kann ich meine intellektuelle Dankesschuld nur sehr knapp abstatten. Dennoch hoffe ich, dass sich aus der Gesamtschau ein Mehrwert ergibt, der über das bisher Publizierte hinausgeht.

Auch hoffe ich, dass meine übergreifenden Thesen zur prägenden Kraft des Historischen und zur Normalisierung und Verbürgerlichung, somit »Entschärfung« von Protest in unserer Nachkriegsdemokratie zur Diskussion anregen. Straßenprotest ist Indikator gesellschaftlicher Krisen und Selbstverständigungsprozesse. Er hat eine Zukunft, solange wir in einer Demokratie leben. Aber wir sollten seinen Wandel zum Konsensmedium der bürgerlichen Mitte auch kritisch begleiten.

 

 

 

 

 

1

Eine Volksgemeinschaft revoltiert: Der vergessene Protest in Besatzungszeit und früher BRD

 

»Wir wollen leben, nicht verrecken«; »Wir sind Deutsche und kein Kolonial-Volk«; und: »Grosschieber [sic] sind Mörder: ihnen die Todesstrafe«. So lauteten die Aufschriften auf Plakaten, mit denen Gewerkschaftsmitglieder am 23. Januar 1948 in München gegen den Schwarzmarkt und dessen soziale Auswirkungen protestierten (Ruhl 1980, 176). Auch an anderen Orten der amerikanischen Besatzungszone brodelte es. So streikten am 3. Februar 1948 in Heidelberg, wie in ganz Württemberg-Baden, weite Teile der Bevölkerung gegen eine Kürzung der Fettrationen. Mit über 60 000 Personen, mehr als der Hälfte der Bevölkerung, stellte dies die prozentual höchste Protestmobilisierung in der Geschichte der alten Universitätsstadt bis heute dar (Reutter 1994, 158). Doch dies war nur die Frühjahrs-Ouvertüre zu einer massiven Protestbewegung angesichts der Wirtschaftslage, die sich am 12. November 1948 in einem 24-stündigen »Demonstrationsstreik« gegen Teuerungen aufgrund der Währungsreform entlud. Daran nahmen in der gesamten Bizone neun Millionen Menschen teil, der größte Protest auf dem Territorium der späteren BRD überhaupt und bis heute der einzige Generalstreik in Westdeutschland.

Bemerkenswert ist nicht allein die Tatsache der enormen Protestmobilisierung 1948/49, sondern auch die Bereitschaft der westlichen Alliierten, zwei bis drei Jahre nach Kriegsende derartige öffentliche Bekundungen von Unzufriedenheit zu tolerieren. Dabei kam es immer wieder zu direkten Konfrontationen zwischen alliiertem Militär und Demonstranten. So nach dem tumultartigen Ende von Teuerungsprotesten in Stuttgart am 28. Oktober 1948, als US-Militärgouverneur Lucius D. Clay die Military Police der deutschen Polizei zur Unterstützung schickte. Dabei fuhren auch Panzerwagen auf. Der dramatische »Stuttgarter Tumult« ist weitgehend vergessen, wie überhaupt die stark antikapitalistischen und deutschnational motivierten Proteste der Nachkriegszeit wenige Spuren in der kollektiven Erinnerung der Deutschen hinterlassen haben. Die Protestforschung ignoriert sie ebenfalls. Dabei stellten diese ersten Nachkriegsproteste quantitativ alle späteren Protestzyklen auf deutschem Boden in den Schatten, mit Ausnahme des 17. Juni 1953 und der Revolution in der DDR 1989.

Die Plakate und Parolen der Münchener Demonstranten zeigen, was den Protestlern unter den Nägeln brannte: Erstens ging es ums Essen. Die Hungerrevolten hatten nach dem katastrophalen Winter 1946/47 schon Anfang 1947 einen ersten Höhepunkt erreicht. Zweitens aber schlugen diese »antikolonial« gestimmten frühen Proteste der Einwohner der spöttisch »Trizonesien« genannten westlichen Besatzungszonen stark nationalistische Töne an. Zwar hatte Deutschland seit 1938/39 mit Krieg und Gewalt

Images

Abb. 1: »Antikolonialer« Protest gegen Hunger und Schwarzmarkt, hier eine gewerkschaftlich organisierte Demonstration in München, 23. Januar 1948. Während der Besatzungszeit nimmt Straßenprotest ausgesprochen nationalistische Untertöne an. Das verdeutlichen Parolen wie die auf dem Plakat: »Wir sind Deutsche und kein Kolonialvolk«. Schwarzmarkt und Korruption benachteiligen sozial schwächer Gestellte, doch für wirtschaftliche Probleme werden nicht Krieg und Diktatur, sondern Besatzer und »fremdländische« Schwarzmarkthändler verantwortlich gemacht. Für »Schieber«, ein zumindest partiell antisemitischer Code, fordern die Demonstrierenden die Todesstrafe.
(Quelle: Ruhl, 1980, 176; Foto: o. Ang.)

ein Imperium über Europa errichtet. Dennoch sahen sich viele Deutsche als Opfer des »Zusammenbruchs« von 1944/45, wie Kriegsende und Niederlage allgemein bezeichnet wurden. Viele, die die NS-Herrschaft mehr oder weniger unterstützt und ertragen hatten, protestierten nun gegen politische Bevormundung durch die Besatzer. Diese sahen sie keineswegs als Befreier. Anlässe boten neben der prekären Ernährungslage oft auch Beschlagnahmungen von knappem Wohnraum in zerstörten Städten durch alliierte Soldaten oder – prominenter – Demontagen von industriellen Betrieben, die im Westen bis 1951 andauern sollten. Drittens wurden ab 1947/48 zunehmend Fragen sozialer Gerechtigkeit thematisiert und die liberale Wende der Wirtschaftspolitik mit der Währungsreform 1948 hinterfragt. Hinzu kam viertens nach der Gründung der BRD der Protest der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Diese sahen sich benachteiligt und forderten vehement einen besseren Lastenausgleich von der Bonner Regierung ein.

Warum gerieten die Proteste der Besatzungszeit in Vergessenheit? Vermutlich nicht, weil sie im Zeichen des Mangels standen, sondern eher aufgrund eines spürbaren deutschnationalen Aufbegehrens gegen Besatzungsmächte und »Fremde«. Lag es an der ausgesprochen nationalistischen Haltung der ersten Proteste nach dem Krieg, dass sich Deutschland später nicht mehr so gern an sie erinnerte, als Straßenprotest vermehrt als Indiz demokratischer Reife und Läuterung gesehen wurde? Denn viele Deutsche schüttelten ihre tradierten Feindbilder 1945 keineswegs ab, sondern passten sie an die aktuelle Lage an. Außer den Alliierten wurden oft Juden und andere vor 1945 aus der »Volksgemeinschaft« ausgestoßene Gruppen für die schwierige Lage in der Zusammenbruchsgesellschaft verantwortlich gemacht. »Schwarzmarkthändler« und »Juden« waren praktisch Synonyme, das Wort »Schieber« ein antisemitischer Code, die Forderung nach der Todesstrafe für Schieber wurde auch von seriösen Gewerkschaftlern erhoben. Eine »völkische« Protesthaltung war in den späten 1940er Jahren weit verbreitet. Es blieb auch nicht bei verbalen Attacken: Schändungen jüdischer Friedhöfe, auch gewalttätige Übergriffe auf jüdische Einrichtungen und Misshandlung Überlebender fanden sich häufiger (Kraushaar 1996/1, 21).

Als im Laufe der 1960er und 1970er Jahre, beginnend mit den Protesten gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr 1958 und der Spiegel