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Kurzbeschreibung: 

Profiler Kiran Mendelsohn befindet sich in Schottland, als ihn ein Anruf des BKA nach London beordert. Dort ist ein deutscher Ingenieur einem mysteriösen Infarkt erlegen, der zuständige Detective Inspector fordert die Hilfe des BKA an. Zusammen mit ihren englischen Kollegen kommen Kiran und sein Team einer Organisation auf die Spur, die unliebsame Mitwisser bedenkenlos aus dem Weg räumt. Bald geraten auch die Ermittler ins Visier ihrer Londoner Gegner. Als ein Kollege den Gegnern zum Opfer fällt, geht das deutsch-britische Team gnadenlos zum Gegenangriff über.

Ilja Albrecht

Gegenstrom

Thriller


Edel Elements

35

Sie standen rund um den uralten Tisch. Von den Wänden starrten ernste Gesichter aus vergangenen Epochen auf sie herab. Das geheime Wappen der britischen Polizei- und Sicherheitskräfte hing über dem Kamin. Darunter auf dem Sims stand das Foto von Gwen Caulfield in Polizeiuniform.

Die Gruppe umfasste Minister Farshid Malik und General Director Frances Parsons, die Veteranen Francis Forsythe und Horst Roellinghoff, Superintendent Mark Berenson, Director of Investigations Lord John Castlemere mit den Detective Chief Inspectors Jane Wyman und Paul Saunders sowie vom BKA Birte Halbach, ihre beiden Hauptkommissare Kiran Mendelsohn und Bolko Blohm sowie die Oberkommissare Alenka Motte und Enzo Moretti. Alle hatten ihr Glas erhoben und sich dem Kamin zugewandt.

»Auf Gwen Caulfield«, sagte Innenminister Malik.

»Auf Gwen Caulfield«, wiederholte die Runde.

Sie tranken und setzten sich.

»Also«, begann Malik, nachdem er allen ein paar Sekunden des Sammelns und Ordnens etwaiger Papiere gegeben hatte. »Zuerst einmal möchte ich Birte Halbach danken. Ms. Halbach, die Unterstützung des Bundeskriminalamts, die Sie und Ihr Team uns gegeben haben, ist ohne Beispiel. Es ist ein Jammer, dass wir in Zeiten leben, in denen so etwas nicht ordentlich honoriert werden kann. Seien Sie aber gewiss, dass Ihr Handeln in wichtigen Kreisen, nicht zuletzt diesem hier, für immer in Ehren gehalten und nicht vergessen werden wird.«

Er stand auf, ging zu der überraschten Birte Halbach und gab ihr die Hand mit einer Verbeugung. Dabei strahlte er sie aus seinen persischen Augen mit einer tiefen Dankbarkeit an.

Dann begab er sich wieder an seinen Platz und fuhr fort. »Wie ich den Berichten von Superintendent Berenson und Director Castelemere entnehme, haben wir vier Morde und einen Entführungsfall aufgeklärt, dazu das Firmengebäude eines nach außen unbescholtenen Beratungsunternehmens überfallen und in Brand gesteckt sowie ein zweites, in dem es nicht gebrannt hat, als Feuerwehr verkleidet gestürmt und den Tod von drei chinesischen Staatsbürgern mit diplomatischer Immunität herbeigeführt oder mitverschuldet und den Rest billigend in Kauf genommen. Ist das so weit korrekt?«

Castlemere und Berenson nickten mit undurchdringlicher Miene. Forsythe blickte kurz zu Kiran und zwinkerte ihm unmerklich zu.

»Gut, Gentlemen. Ich habe das so zusammengefasst, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, womit ich mich die nächsten Tage herumzuschlagen habe. Abgesehen von den diplomatischen Verwicklungen ist es die Zerschlagung von Upstream, deren innenpolitische Tragweite ich noch nicht ganz überblicken kann und über die wir uns hier zumindest grundlegend unterhalten müssen. Castlemere, fangen Sie einfach mal an, der ganze Stunt ist ja auf Ihrem Mist gewachsen.«

Lord John Castlemere räusperte und erhob sich. Neben ihm saß Jane Wyman mit ernster Miene und sah aus wie eine moderne Jeanne d’Arc, während sie den Laptop bediente und Castlemeres Ausführungen mit Bildern und Beweismaterial begleitete.

Jane hatte zusammen mit dem Einsatzleiter der Metropolitan den gesamten Einsatz aus der NCA-Zentrale überwacht. Ihr Hacker-Team hatte daneben sämtliche Kommunikation, Signale und Datenübertragungen von Alenka beobachtet, an Castlemere weitergegeben und gespeichert.

Kiran ließ sich durch den ernsten Ton nicht entmutigen. Er kannte die Engländer und auch seine Vorgesetzte Birte Halbach gut genug, um zu wissen, dass die Ernsthaftigkeit der unorthodoxen Handlungsweise und den politischen Implikationen geschuldet war. Eigentlich waren sie gerade zu Helden geworden, die eine Mischung aus feuerspeiendem Drachen und Seuche in die Flucht geschlagen hatten und dies auf eine Art und Weise, die man leider niemandem erzählen durfte. Kiran war das recht so. Wie immer zog er es vor, mit seinen Aktionen keine Aufmerksamkeit auf sich und sein Team zu lenken. Zumindest nicht öffentlich. Dort, wo es darauf ankam, hatte man ihn ohnehin längst wahrgenommen, zu beiden Seiten der moralischen roten Linie. Castlemere begann.

»Wir haben von unserer verdeckt ermittelnden deutschen Kollegin Alenka Motte Informationen erhalten, nach denen die Firma Upstream als Teil der Mutterfirma ES-Enterprises am gestrigen Montag die Firma YuanCom aufsuchen und deren Server hacken würde. Da unsere Ermittlungen ergeben haben, dass Upstream professionell andere Unternehmen ausspäht und dies neben digitalem Einbruch auch unter Zuhilfenahme verbrecherischer Mittel wie Mord und Entführung durchgeführt hat, sahen wir den idealen Zeitpunkt zum Handeln gekommen.«

»Was war an diesem Zeitpunkt ideal?«, wollte Malik wissen.

»Wir konnten sie in flagranti erwischen und hatten bezüglich zweier Morde, einer Entführung und der Unterwanderung von mindestens zwei Firmen eine derart klare Beweislage, dass wir uns eines Durchsuchungsbeschlusses sicher sein konnten.«

»Den Sie nicht angefordert haben«, kommentierte Malik.

»Den wir wegen Gefahr im Verzug nicht angefordert haben. Wir sind darüber hinaus im Besitz von Hinweisen und Beweismaterial, wonach mindestens zwei Parlamentsabgeordnete, drei Peers und fünf Berater im Wirtschaftsministerium mit ES-Enterprises kooperieren und deren Handlungen unterstützen, in zwei Fällen sogar mitorganisiert haben.«

Malik saß regungslos und hörte konzentriert zu. Das Frage- und Antwortspiel war perfekt choreografiert. Hier ging es um ein neutrales Briefing aller Beteiligten unter realen Bedingungen. Außerdem nahm Jane Wyman den gesamten offiziellen Teil auf. Wenn alles gut ging, würde das hier Gesagte dafür sorgen, dass nicht eines der aufgeführten Details jemals das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Dafür waren die verwickelten Personen zu nah an Regierung und Kabinett. Dies hier war ein Instrument, aber auch eine Waffe, die sowohl den Gegner als auch dem Nutzer irreparablen Schaden zufügen konnte.

»Die Namen sehe ich vor mir«, sagte Malik. »Berater aus den Ministerien Internationaler Handel, Internationale Entwicklungen, Wirtschaft. Zwei Peers vom Handelsausschuss, die rechte Hand des EU-Unterhändlers, die MPs aus beiden Parteien. Was haben Sie gegen die in der Hand?«

»Telefonate, E-Mails und Fotos von Treffen mit dem Mittelsmann von Upstream. Im Falle von Jonathan Rhys-Davison scheint auch eine Art nationalistische Untergrundpartei mit dabei zu sein. Das Material werten wir noch aus«, antwortete Jane Wyman. Alenka hatte beinahe ganze Arbeit geleistet.

Ihr Aufruf an Rohan während des Einsatzes war eine einfache Bitte gewesen: Er musste ihren Trojaner freigeben, den sie ins Upstream-Netz gesetzt hatte, aber nicht alleine aktivieren konnte.

Rohan hatte sich für sie entschieden. Alenka hatte sich das schwieriger vorgestellt. Aber dann war ihr Willmer ungewollt zu Hilfe gekommen, indem er Rohans Familie bedroht hatte.

Jetzt saß Rohan mit seiner Mutter und seinen Schwestern im NCA-Gebäude, wo die Familie unter Tränen Wiedersehen feierte, bevor Rohan für eine Weile wieder in der Deckung verschwinden würde. Diesmal jedoch, um der NCA bei ihren weiteren Ermittlungen zu helfen und sie auf die digitalen Angriffe vorzubereiten, die da kommen würden.

»Sie haben Materialien über diese Herren, über die ausgespähten Firmen der letzten beiden Jahre. Was sonst noch?«, fragte Malik.

»Das ist eigentlich alles, was wir ergattern konnten. Oberkommissarin Motte hat unter Mithilfe des Upstream Entwicklers Rohan Bhandari den Datentransfer ausgelöst, als wir in die Firma eingedrungen waren. Leider war die Sache schon nach zehn Minuten vorüber, als der flüchtende CEO einen Notschlag eingeleitet hat, der unsere Verbindung unterbrach.«

»Einen Notschlag?«

»Upstream-Jargon. Er hat sein Büro gesprengt. Zugleich ist dort eine Vorrichtung, die in diesem Fall das gesamte interne Computernetz lahmlegt und dessen Daten löscht.«

»Das heißt, wir haben keine tiefer gehenden Informationen über Upstream oder ES-Angestellte, freie Mitarbeiter, Kontakte zur Politik oder ins Ausland?«

»Nein. Wir haben drei Gesellschafter und zwei Sachbearbeiter, die werden wir verhören und mithilfe ihrer Aussagen ein Dossier über die Führungsriege zusammenstellen. Der CEO, den wir unter den Namen Mosberg und Willmer kennengelernt haben, ist flüchtig.«

»Wir haben den Sicherheitschef festgenommen«, merkte Bolko an.

»Allerdings«, ließ sich Direktorin Parsons vernehmen. »Er muss ein paarmal hingefallen sein, bevor er Handschellen und eine Rechtsbelehrung bekommen hat. Zum Glück ist er bereits vernehmungsfähig und beruft sich auf diplomatische Immunität und einen Anwalt aus dem Umkreis des Kabinetts. Wir wollten ihn als Diplomatentasche verpacken und ins Home Office schicken.«

Malik nickte. »Wir haben die Nachricht erhalten. Ich schlage jedoch vor, den Mann vorerst beim NCA zu belassen, bis wir wissen, welcher Dienst die weiteren Ermittlungen übernehmen soll. Was muss ich sonst noch über den Einsatz wissen? Weitere Opfer, Verletzte, Verluste?«

Castlemere übernahm wieder von Wyman. »In beiden Einsatzteams hat es Verletzte gegeben. Auf Seiten der NCA wurde Sergeant Ingersoll an der Halsschlagader getroffen, ist aber dank der Reaktion seines Flügelmanns außer Lebensgefahr. Aus Blohms Team sind Oberkommissarin Motte mit Streifschuss am Arm und Sergeant Davison mit Schuss in die Hüfte getroffen worden, beide sind versorgt und auf den Beinen. Auf der Gegenseite haben wir drei Todesopfer bei YuanCom, eines per finalem Rettungsschuß von Hauptkommissar Blohm, die anderen gehen auf das Konto von Bohlstad und seinen Upstream-Sicherheitsleuten. Einer von denen ist ebenfalls tot, ausgeschaltet durch die Agentin Hu.«

»Agentin Hu?«

»Nun, wir haben eine komplette Aufnahme des Meetings durch Oberkommissarin Motte.«

»Und?«

»Sagen wir mal so, die Chinesen waren zuerst friedlich, dann wurden sie nervös, als der Feueralarm losging. Bohlstad verlor die Beherrschung, es kam zum Handgemenge, dann trafen Blohm und sein Team als Feuerwehrleute verkleidet ein. Bis dahin lief alles nach Plan.«

»Bis dahin?«

»Die Chinesen waren etwas verwirrt. Wir haben uns auf die Männer konzentriert, typisch britischer Fehler. Hu hat sofort erkannt, wer die gefährlichste Person im Raum war, hat Alenka aber für eine Agentin gehalten und sofort geschossen. Auch dieses Gefecht war etwas seltsam, sie wurde von einem unserer Leute unschädlich gemacht. Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, wird aber auch nach ihrer Genesung mit Sicherheit kein Wort sagen. Belassen wir es bei der Tatsache, dass Frau Hu nicht, wie angegeben, Marketingleiterin, sondern Spezialagentin und als solche nicht in England angemeldet war. Ihre zwei toten Sicherheitsleute halten wir ebenfalls für Agenten.«

Malik atmete tief aus. »Und die Firma Upstream in Banbury?«

»Sechs tote Sicherheitsleute von denen. Drei durch Feuer von uns, die anderen bei der von Willmer ausgelösten Explosion.«

Malik nickte und schwieg eine Weile. Dann stand er auf, ging am Kamin auf und ab. Schließlich drehte er sich um, bedeutete Wyman mit einer Geste, die Aufnahme zu beenden, und wandte sich an die Gemeinde.

»Gut. Ich will den Bericht dazu heute Abend auf meinem Schreibtisch haben, keine Beschönigung, alles wie soeben vorgetragen. Als Ausdruck, nichts Digitales, die Existenz der Videos behalten Sie vorerst für sich. Die Beamten unten und alle hier sind weiterhin von mir persönlich und damit offiziell zum Schweigen vergattert. Wyman, drucken Sie die Liste, Unterschriften jetzt und hier, der Befehl gilt ab diesem Moment. Außer mir oder Parsons antwortet die gesamte Korona niemandem, nur noch dem Premierminister. Von der Seite brauchen wir aber außer Dementis nichts zu befürchten.«

»Wie regeln wir die Sache?«, fragte Parsons.

»Wie wir das neulich beim Squash besprochen haben. Ihr habt das BKA angefordert, dann mich wegen der Verwicklung britischer Abgeordneter hinzugezogen. Zusammen haben wir Castlemere und Berenson in Bewegung gesetzt, alle Teams, Anfragen und Aktionen unterstanden uns. Wir waren beide federführend im Rahmen unserer Weisungsbefugnis. Unsere Hälse nebeneinander auf dem Block, Frances.«

Parsons nickte und stand ebenfalls auf.

»Dies hier wird das letzte Mal sein, dass Sie zu dieser Sache etwas aus offiziellem Munde hören. Ich bin, wie Home Secretary Malik auch, sprachlos vor dem, was Sie hier geleistet haben. Ich hoffe, unserer beider Karrieren überleben das, damit ich in der Hinsicht nicht auch sprachlos werde. Auf jeden Fall aber wissen wir alle, worum es hier geht. Im Namen dieses Landes und, das kann man ja zum Glück noch sagen, auch im Namen eines vereinten Europa möchte auch ich Ihnen danken. Weiß Gott, die Zeiten sind schlimm, aber mir ist wohl dabei, dass wir solche Freunde haben.«

»Und die werden Sie auch dann haben, wenn die Politik versagen sollte«, ließ sich Birte Halbach vernehmen, die ebenfalls aufgestanden war. Malik gab Halbach einen Handkuss.

*

»Los, Mendelsohn, Kopf in den Nacken!« Saunders klang wie ein Ausbilder, nicht wie der feingliedrige Detective, den Kiran kennen und schätzen gelernt hatte, aber schließlich hatte er ihm das Leben gerettet. Die Freundschaft eines Briten zeigte sich zunächst im rau-herzlichen Bruderschaftstrunk im Pub. Umarmt hatte Saunders ihn mit Tränen in den Augen bereits auf dem Parkplatz vor Upstream und sich dann sofort wieder dem Chaos gewidmet.

Kiran nickte ergeben und trank das Pint in einem Zug aus. Die Runde lachte, einer schlug ihm mit Urgewalt auf die Schulter. Ein paar Meter weiter feierte Alenka in gleicher Weise mit dem Met-Einsatzteam des CID Barnet. Sie tranken alle gleichzeitig, während Wyman ein Foto machte und die Gruppe „Feuerwache 13“ taufte. Alle lachten aus vollem Halse. Man konnte spüren, wie der enorme Druck und die Begegnung mit dem Tod immer noch in allen Köpfen steckte, das Adrenalin raus und etwas Frohsinn in die Köpfe hineinmusste.

Der Hauspub war für das Team geräumt und vorübergehend, eine absolute und ehrenvolle Ausnahme im Aldersham Arms Club, zur geschlossenen Gesellschaft erklärt worden.

Forsythe und Roellinghoff standen mit Birte Halbach etwas abseits, hatten Bolko zu sich geholt und sprachen auf ihn ein. Kiran ging zu ihnen. Er machte sich Sorgen um seinen Freund. Gwens Tod hatte ihn tief getroffen. Auch wenn Bolko mit Schmerz umging wie ein Bauarbeiter, diese absolute Nichtreaktion war selbst für ihn untypisch. Dies hier war ernst. Wie ernst, das würde die Zukunft zeigen.

»Gut gemacht, Junge«, sagte Forsythe, als Kiran zu ihnen trat. »Ihre bezaubernde Chefin hat mir gerade erzählt, wie Sie und Bolko sich gefunden und den Russen und dem BND gleichzeitig in den Hintern getreten haben, Respekt. Aber von Horst hier habe ich nichts anderes erwartet.«

Roellinghoff grunzte nur und sog an seiner Pfeife. Er sah Bolko von der Seite an, dann Kiran und hob nur leicht die Augenbrauen.

Bolko verabschiedete sich und ging zurück zu den anderen, wo er lauthals begrüßt wurde und sofort ein Pint in der Hand hatte.

»Und nun, direkt zurück nach Berlin?«, fragte Forsythe.

»Zurück nach Berlin«, sagten Kiran und Halbach gleichzeitig.

»Und dann denken wir uns eine nette Geschichte für unsere Chefetage dort aus. Aber darin haben Mendelsohn und Blohm Erfahrung.«

Sie lachten, Kirans Telefon klingelte.

»Hallo Herr Mendelsohn. Haben Sie eine Minute?«

*

»Woher haben Sie diese …« Kiran unterbrach sich selbst. Blöde Frage. »Willmer. Sind Sie tatsächlich noch in England?«

»Natürlich. Wir haben diverse Notfallszenarien. Ich muss aber gestehen, ich habe nicht geglaubt, das wir das hier durchziehen müssten.«

»Wir?«

»Unser Unternehmen ist weit verzweigt, so viel kann ich Ihnen versichern. Aber das werden Sie sich wohl gedacht haben.«

»Das stimmt. Und Ihnen ist klar, dass ich Sie suchen werde.«

»Das wird eine kleine Herausforderung werden. Auch wenn Sie genauso gut sind, wie mir Ihre Leute gesagt haben.«

»Ich hoffe, man hat Ihnen auch erzählt, dass ich mich nicht besonders für Machtspielchen interessiere.«

»Natürlich, genau das macht Sie ja so interessant als Gegner.«

»Weshalb rufen Sie an, Willmer?«

»Ich wollte Ihnen Respekt zollen. Diese Runde geht in beeindruckender Weise an Sie und Ihr Team. Alenka Motte hatte ich nicht auf dem Schirm gehabt. Sie haben Ihre Leute sehr gut trainiert.«

»Danke. Ihre sind auch nicht schlecht. Ihr Netzwerk in Whitehall ist allerdings noch beeindruckender.«

»Ich höre, Sie haben ein paar unserer Gönner hochgenommen. Auch dafür Gratulation. Aber natürlich sind das nur Bauernopfer, vor allem in der jetzigen Lage, das ist Ihnen nach unserem Gespräch in Newmarket doch klar?«

»Natürlich«, sagte Kiran.

»Gut, genug geplauscht, ich muss meinen Flieger erwischen. Machen Sie’s gut einstweilen, Mendelsohn. Wir werden uns recht bald wiedersehen. Viel Spaß noch auf der Feier im Bag Club.« Das Gespräch war zu Ende.

Kiran machte sich nicht die Mühe, ans Fenster oder nach draußen zu rennen.

Willmer wusste einfach zu viel und hatte Zugriff auf entschieden zu viele Kameras und Mikrofone. Inzwischen war er entweder in einer Executive Lounge oder schon in einem Privatjet und in absoluter Sicherheit.

Vorerst.

*

»Zentrale? Letzter Namenscode bx1167-Willmer. Notfall England wie gestern gemeldet heute beendet. Ich brauche ein Clearing für sechs Uhr heute Abend. Dazu die gesamte Dokumentation für die deutsche Identität und Zugriff auf den Standort Hamburg. Und benachrichtigen Sie unseren Informationsdienst. Ich brauche alles, was wir über das BKA und dort die Abteilung für internationale Koordinierung haben.«

»Sicher. Der Bericht wird gerade verfasst. Alle Entscheider sind in Sicherheit, die Kerndaten sind gelöscht, Daten- und Personalschaden sind peripher, also Stufe eins. Man ist auf mich aufmerksam geworden, jedoch nicht auf uns. Wir sollten daher unseren deutschen Plan früher umsetzen. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Unterrichten Sie den Zirkel von meinem Vorschlag. Wir diskutieren das heute Abend.«

»Genau. Wir aktivieren Clandestinus.«

Prolog

Die untergehende Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Er stolperte aus der Tür, die er nur mit Mühe aufbekommen hatte. Irgendwo da vorne war der Parkplatz gewesen, er hatte seinen BMW abgestellt und direkt auf den Eingang des Pubs geblickt. Trotz des wunderschönen Hauses und der Linden rund um den friedlichen See hatte er Angst gehabt. Wovor noch mal? Da war doch dieser …

Er drehte sich um, verlor das Gleichgewicht und taumelte. Ein kalter Schauer überkam ihn. Angst, eine dunkelschwarze Wolke von Angst und Kälte. Sein Herz begann zu rasen, dann war es auf einmal heiß.

Leute kamen aus dem Pub, die Eingangstür verschwamm vor seinen Augen. Dann ein Gesicht. Die Frau starrte ihn an. Wie diese Lehrerin damals, der gleiche angewiderte Blick. Ihm wurde übel und flau im Magen, er riss sich zusammen und sprach sie an.

»Entschuldigung, mir ist nicht gut, könnten Sie bitte Hilfe holen?«

Die Worte zogen sich etwas, obwohl er sie vollkommen klar ausgesprochen hatte. Das Ende des Satzes hallte in seinen Ohren, als stünde er in einer leeren Halle. Aber sie musste ihn verstanden haben. Sie verzog den Mund, sagte etwas zu der Gestalt neben ihr und ging weiter.

Er wollte ihr hinterherrufen, aber sein Magen verkrampfte sich, und er musste sich übergeben. Rot? Warum rot, er hatte doch gar nichts …

Ein Feuerball aus Schmerz explodierte mitten in seinem Kopf, zog sich vom Genick bis in den Brustkorb. Die Brust tat weh, die Zähne, jeder Nerv bis hinter die Augen. Im nächsten Moment war alles weg, und er sah klar, obwohl es noch in seinen Ohren rauschte.

Er bekam wieder Angst. Irgendetwas war in ihm, eiskalte schwarze Hände griffen nach Herz, Lunge, Hirn, es wurde dunkel. Dann war ihm, als zöge eine unsichtbare Kraft an seinem Genick und die gesamte Wirbelsäule aus dem Körper. Sein Leben zerrann, das Ende.

Panik, totale Panik, er schrie vor Angst. Das Rauschen wurde stärker, ein ohrenbetäubender Lärm von rechts, etwas schlug ihm an den Arm, ein schrilles Quietschen. Es vermischte sich mit dem Schrei, der aus ihm kam.

Er griff ins Leere, schrie immer noch, als er umfiel. Dann helle Lichtstreifen, Gesichter, Hände, die an ihm zerrten, ihm ins Gesicht fassten.

»Helfen Sie mir, ich habe furchtbare Schmerzen, ich …«

»… hat einen Anfall … hat ihn angefahren … kam auf einmal …«

»So hören Sie doch, ich bin klar, ich kann nicht …«

»… verstehen, was redet der … ist Gebrabbel, klingt Deutsch. Ich rufe den Notarzt … Puls rast … Infarkt …«

Infarkt, das musste ein Irrtum sein, er war doch …

Der nächste Schmerz. Oh Gott, was in aller Welt tut denn nur so weh …

Die Gesichter verschwammen vor seinen Augen. Er wollte etwas rufen, während die Lichter zu rotieren begannen und ihn in die Tiefe zogen.

Teil 1

London Calling

1

»Mr. Mendelsohn. Hören Sie mir zu? Ich kann Smartphones und unaufmerksame Leute absolut nicht leiden, hat man Ihnen das nicht über mich gesagt?«

Kiran blickte von seinem Telefon auf.

»Tut mir leid, Mr. McDonnell, wichtige Nachricht aus Berlin von meiner Chefin.«

Die hängenden Backen seines Gegenübers bliesen sich auf und wurden gleichzeitig dunkelrot. »Chefin? Ich denke, Sie sind dieser deutsche Superanwalt von Alistair Campbell? Chefin, was ist das für ein Bockmist?«

Kiran seufzte innerlich. Diese Unterredung verlief genauso, wie er es in Berlin prophezeit hatte.

Vor zehn Tagen hatte er in seinem Stammlokal Lloyd’s gesessen und bei einem wunderbaren Malt die bevorstehende Reise nach Schottland geplant. Zusammen mit seinem alten Freund und Mentor Horst Roellinghoff sollte es nach Edingburgh gehen, wo man ohne weitere Umstände einen Wagen mieten und nach Norden fahren würde. Eine schöne Tour durch Speyside und Highlands, Whiskytrail inbegriffen.

Während Kiran noch versuchte, etwas mehr Struktur und Etappenplanung in Horsts völlig inakzeptable Herangehensweise zu bringen, hatte sich Alistair Campbell, ein weiterer Stammgast und Freund, an den Tisch gesetzt und mit Roellinghoff angestoßen. Innerhalb einer halben Stunde hatten die beiden, wie es alte Männer zu tun pflegen, sämtliche Aspekte der Roellinghoffschen Nichtplanung elegant über den Haufen geworfen und drei Kneipenstationen inklusive Schlafgelegenheit von „alten Kumpels“ auf eine Serviette geschrieben. Dann hatte Alistair einen ernsten Ton angeschlagen und sich Kiran zugewandt.

»Hör mal, Junge. Du musst mir einen Gefallen tun.«

Etwas in Alistairs Miene ließ die aufkommende Antwort verpuffen. Stattdessen erwachte der Analytiker in Kiran, er hörte aufmerksam zu, und so endete der Urlaub, noch bevor er angefangen hatte.

Wie sich herausstellte, hatte Alistair einen lange anstehenden Operationstermin, sehr unerfreulich, weil ernsthaft und dementsprechend teuer. Deshalb war er weder terminlich noch physisch in der Lage, einen anderen ebenso wichtigen Termin wahrzunehmen, bei dem es um die finanzielle Existenz ging.

Alistair war pensionierter Geschäftsmann, weit herumgekommen, hatte in Hongkong ein Vermögen erwirtschaftet und sich in Berlin niedergelassen, von wo aus er seinen angehäuften Reichtum auf Reisen, in Restaurants und im Lloyd’s verprasste. So dachten zumindest alle.

Tatsächlich war ein nicht unwesentlicher Teil seines Geldes in die Lachsfarmen seines Heimatortes geflossen. Über die Jahre war Dalchranmore dank Alistairs klugem Wirtschaften und dem handwerklichen Geschick seiner Verwandten und Freunde zum Wallfahrtsort der Lachsfischerei in der Region Highland geworden. Ein paradiesisches Qualitätsbiotop, das irgendwann die Aufmerksamkeit eines Raubtiers geweckt hatte.

Kevin McDonnell, reich, Amerikaner mit angeblich schottischen Ahnen und Vorsitzender irgendeiner Investmentgruppierung, hatte sich dazu entschieden, den Bauern im Land seiner Vorfahren mal zu zeigen, wie Wirtschaften wirklich funktioniert. Und so war er samt Hofstaat in mehreren Hubschraubern gelandet und hatte mit der Invasion begonnen.

Zunächst hatte er den Golfclub und einige der Honoratioren für sich eingenommen, den finanziell Schwächsten mitsamt Schloss aufgekauft und innerhalb von drei Monaten rund dreißig Prozent der umliegenden Lachsfischerei an sich gebracht. Dabei, so hatten Alistairs entrüstete Partner berichtet, war es selbst für abgehärtete Schotten mit eher mittelalterlichen Methoden zugegangen.

Nun stand das feindliche Heer vor Dalchranmore, Heimat und wirtschaftliche Ägide von Alistair, der ins Krankenhaus musste und daher Hilfe brauchte. Die ersten Partner und Familien waren bereits von amerikanischen und einheimischen Rüpeln bedroht, ein erstes Übernahmeangebot beim Anwaltskonsortium in Inverness eingereicht worden, das Ganze garniert mit einer Frist von vierzehn Tagen. Es blieb laut Alistair nur eine Möglichkeit: Kiran musste als zeichnungsberechtigter Vertreter Alistairs die Verhandlungen führen. Oder besser, dem Gegner mit Anlauf in den Allerwertesten treten und ihm klarmachen, dass er diesen Fight gegen die Einheimischen nicht gewinnen würde.

Horst Roellinghoff, der den Ausführungen mit zunehmender Sympathie zugehört hatte, war fröhlich aufgesprungen, hatte Alistair und Kiran krachend auf die Schulter gehauen und eine Runde Glenmorangie bestellt. Kiran hatte sich innerlich von seinem Urlaub verabschiedet und sinniert, warum ausgerechnet er immer auf Menschen traf, die Arbeit und Konfrontation als Entspannung betrachteten.

Drei Tage später war man in Inverness eingetroffen, hatte bis zum Abend alle juristischen Formalitäten erledigt und sich zur Lachsfarm von Alistair begeben, wo der Vetter mitsamt der Beleg- und Verwandtschaft des Campbellschen Umlands bereits gewartet hatte.

Als Fallanalytiker beim BKA war Kiran ein Experte in Analyse, Planung und Durchführung von Ermittlungen. Dank seiner Ausbildung in Jugendzeiten und später in Quantico galt das Gleiche für gewalttätige Auseinandersetzungen. Dennoch war er überrascht, wie steinzeitlich die Einschüchterungsmethoden von McDonnells Schergen waren. Deshalb gebot er den empörten und daher nicht minder aggressiv auftretenden Rittern des Campbell-Clans Einhalt und empfahl ihnen eine andere Strategie. Diese wurde von den hocherfreuten Schotten mit viel Liebe zum Detail umgesetzt, und bereits vier Tage später hatte man Kiran ins Innere des McDonnell-Schlosses gebeten.

»Also was sind Sie jetzt? Anwalt oder Abgesandter Ihrer Mami? Und sind Sie überhaupt deutsch? Sie reden wie ein verdammter Cavalier.«

»Wie ich schon sagte, Mr. McDonnell, ich habe diverse Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt.«

McDonnell kniff die Augen zusammen. »Aber Anwalt sind Sie keiner, auch wenn Sie so reden. Irgendwie wirken Sie auf mich eher wie einer dieser Langleyboys.«

»Da liegen Sie gar nicht so falsch …«

»Heißt das, Sie haben diese Bauern hier angestiftet, meine Männer in eine Falle zu locken und verhaften zu lassen?«

»Ihre Männer, Mr. McDonnell, haben Landfriedensbruch begangen. Darüber hinaus liegen audiovisuelle und forensische Beweise für gewalttätige Übergriffe vor.«

»Audio, forensisch, wie, was sind Sie, ein gottverdammter Fed?«

Kiran seufzte, diesmal hörbar. »Okay, noch mal. Mein Name ist Kiran Mendelsohn, ich bin Profiler und Senior Agent beim BKA, dem deutschen FBI. Hier bin ich nicht in offizieller Funktion, sondern als legitimierter Vertreter von Alistair Campbell und stehe für sein gesamtes Konsortium.«

»Sie, ein verdammter Cop, vertreten Campbell?«, brach es aus McDonnell hervor.

»Ganz richtig. Und das bedeutet für Sie zweierlei, Mr. McDonnell. Zum einen werden wir jeden Ihrer gewalttätigen Mitarbeiter von jetzt an mitsamt Beweismaterial direkt an die Behörden ausliefern, genau wie Ihre drei Eintreiber aus Queens.«

»Ihre Leute haben den letzten verdammt noch mal durch die Mangel gedreht. Und da soll so ein blonder Kung-Fu-Heini mitgemischt haben, das waren doch Sie, oder nicht?«

»Ich sehe, Sie verstehen, wovon ich rede. Kommen wir zum zweiten Punkt. Ich bin auf beiden Seiten des Ozeans ebenso gut vernetzt wie Sie, Mr. McDonnell. Sollte mir die Geduld ausgehen, werde ich all meine Beziehungen nutzen und von meinen Virginia Farmboy-Freunden den allerkleinsten Dreck ausgraben lassen, der an Ihren Schuhen klebt. Nach allem, was mir über Sie zu Ohren gekommen ist, wird das speziell in Ihrem Countryclub in Connecticut die reinste Freude werden.«

»Sie wollen mir drohen?«

»Ich empfehle Ihnen, das wirtschaftliche und geografische Areal von Alistair Campbell und ganz Dalchranmore von jetzt an in Ruhe zu lassen, nachdem Ihre finanziellen Angebote abgelehnt worden sind. Alles Weitere, speziell die Methoden Ihres Schlägertrupps, wird zu nichts anderem führen als Schmerzen, Anklagen, Kautionen, Anwaltskosten, schlechter Publicity und so weiter. Sie merken, worauf ich hinauswill?«

»Du beschissener, kleiner …«

Es klingelte wieder, Marleen von Bauer, Garn & Dyke. Bolkos Klingelton. Kiran hob die Hand und stand auf.

»Was ist, Bolko? Ich weiß, London. Bin heute noch auf dem Weg, ich ruf dich gleich zurück. Schick mir inzwischen die Details, hat Halbach vergessen.«

Kiran wandte sich wieder dem inzwischen dunkelrot angelaufenen Amerikaner zu.

»Sorry, Mr. McDonnell, die Pflicht ruft. Also, wie ich schon sagte, benehmen Sie sich, auch wenn Ihr Präsident und Burschenschaftsbruder das anders sieht, und erkennen Sie die Grenzen an, die Ihnen die Einheimischen und europäisches Recht hier setzen. Höre ich von einer einzigen Rechtsübetretung, komme ich wieder und sacke Sie mitsamt Ihren Schlägern ein und verfrachte Sie im Laderaum zurück in die Heimat, ist das klar?«

McDonnells Augen waren in den verkniffenen Fleischfalten verschwunden, die Worte aus dem kleinen Mündchen eher ein Zischen.

»London, eh? Große Stadt, schlechte Polizei und verdammt viel Gesocks da. Seien Sie vorsichtig, Mr. Mendelsohn. Seien Sie vorsichtig …«

2

Detective Sergeant Gwe n Caulfield stand in der Pathologie und starrte ihr Gegenüber misstrauisch an.

»Wer sind Sie noch mal?«

Der Mann hielt seinen Ausweis immer noch hoch und wiederholte sich höflich, obwohl sie ihn beim ersten Mal schon verstanden hatte.

»Detective Chief Inspector Paul Saunders von der National Crime Agency, ich …«

»Ihr seid die Jungs, die organisierte, digitale und echte Schwerverbrecher jagen, also alles, was Spaß macht.«

»Korrekt. Wir bearbeiten auch Todesfälle von Ausländern, so wie diesen hier. Ich möchte Ihnen dazu meine Hilfe anbieten, DS Caulfield«, sagte Saunders mit gewinnendem Lächeln.

»Wie, Sie wollen mir den Fall nicht wegnehmen?«

»Keinesfalls. Mein Chef, Superintendent Castlemere, hat mich geschickt, weil es laut Befund einen ähnlichen Fall zu geben scheint.«

»Befund, welcher Befund? Wir sind doch gerade erst …«

»Genau«, unterbrach sie der Coroner säuerlich. »Falls jemand Interesse hat, die Ergebnisse aus berufenem Mund zu hören, könnten wir dann vielleicht anfangen?«

Die beiden Detectives nickten ergeben.

»Gut. Das hier ist Rolf Anstetter, 38 Jahre, deutscher Staatsbürger. Kollabierte laut Bericht der Kollegin Caulfield gestern Abend vor dem Limetree Pub in Totteridge, daher ist auch die CID Barnet zuständig. Oder jetzt auch ihr von der NCA. Todesursache Herzinfarkt. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs.«

Er fuhr fort, bevor die beiden fragen konnten. »Das hier habe ich so erst einmal gesehen. Die gleiche Todesursache, die gleichen abnormen Blutwerte, allerdings bei einem komplett zerschmetterten Körper. Der Mann hier ist nur umgefallen und daher gut erhalten. Und wie gesagt, das Ganze ist sehr eigenartig.«

Er deutete auf seinen Monitor, auf dem das Röntgenbild des Brustkorbs und eine komplizierte Tabelle zu sehen waren.

»Also, was wir hier sehen, ist das Herz nach einem Infarkt. Das alleine wäre normal, Herzrasen, Herzflimmern, Stillstand, Exitus. Der Mann hatte aber zusätzlich dazu schwerste Blutungen in Lunge und Magen, das Ganze steigerte sich und endete mit einem veritablen Hirnschlag. Beides zusammen, Infarkt und Schlaganfall, kann vorkommen, ist aber sehr selten und bei einem durchtrainierten und nichtrauchenden Mann dieses Alters so gut wie unmöglich. Addieren Sie zu all dem noch diese immensen Blutungen, dann ist das etwa so, als ob man Ihnen in den Kopf schießt und Ihnen gleichzeitig die Kehle durchschneidet, während Sie überfahren werden.«

Caulfield hatte sich die Tabelle angesehen. »Sie haben seine Adrenalinwerte rot angestrichen. Sind die zu hoch?«

»Allerdings. Adrenalin wird natürlich in hohen Mengen ausgeschüttet, wenn man zwei Infarkte gleichzeitig hat und stirbt. Diese Ausschüttungen aber haben vor den Infarkten, ziemlich sicher sogar vor den ersten Symptomen begonnen, und zwar in einer vollkommen unnatürlichen Höhe.«

Saunders trat näher an den Tisch und betrachtete den Toten. Rolf Anstetters Gesicht war ein einziger versteinerter Krampf. »Verstehe ich Sie richtig, der Mann hatte also keine üblichen körperlichen Auslöser für den Infarkt, stattdessen eine enorm hohe und sehr untypische Adrenalinausschüttung? Woher?«

»Das ist die Preisfrage. Ich habe keine zugeführten Wirkstoffe gefunden, auch keine Abbauprodukte. Zumindest keine, die in den gängigen Tests vorkommen.«

»Also kein Gift?«, fragte Caulfield.

»Nichts feststellbar. Oder keines, das wir kennen.«

Saunders blickte Caulfield an, dann bedankte er sich bei dem Pathologen und bedeutete seiner Kollegin, ihm zu folgen. Der Weg aus dem Irrgarten der Labore der Metropolitan Police war elend lang, schließlich konnte sich Caulfield nicht mehr beherrschen.

»Saunders, Sie und der Pathologe sagen, es gab noch ein Opfer mit der gleichen unorthodoxen Todesursache?«

»Exakt. Mein Chef hat mich gebeten, Sie in der Pathologie der Met zu treffen und dann zu uns in die NCA mitzunehmen, damit wir die Fälle vergleichen und uns abstimmen können.«

»Langsam, ich muss das erst mal mit meinem Chef besprechen, der ist alles andere als ein Abstimmer.«

Saunders lächelte seine Kollegin entspannt an. »Der Commissioner hat Ihren Chief Superintendent Berenson bereits informiert. Sie können ganz entspannt mit uns plaudern.«

Caulfield hob die Augenbrauen. »Der Chef? Na dann …«

3

Director of Investigations Lord John Castlemere erhob sich, umkurvte seinen Schreibtisch und schüttelte Caulfield herzlich die Hand.

»Sie sind also Gwen Caulfield, sehr erfreut, Sie endlich kennenzulernen. Und gutes Timing.«

Caulfield lächelte zurück und nickte, Saunders schaute etwas verdutzt drein.

»Dazu kommen wir gleich, Paul. Jetzt erst mal die Fakten. Also, was habt ihr, was ich noch nicht weiß?«

Saunders gab zu Caulfields Erstaunen keine Details aus dem Bericht, sondern nur die Kommentare des Pathologen wieder. Castlemere nickte jedoch, als ob eine Ahnung bestätigt worden war. Dann lehnte er sich zurück und blickte kurz aus dem Fenster auf die Themse und das Panorama am gegenüberliegenden Ufer, bevor er sprach.

»Gut. Zuerst die Formalitäten. Paul, Gwen Caulfield hier hat sich vor zwei Monaten bei uns als Detective und Anwärterin auf den Inspector beworben. Gwen, ich darf Sie doch so nennen? Ich bin John, das ist Paul. Gwen, Ihre Bewerbung war eigentlich nicht erfolgreich gewesen, weil sie dank unserer wundervollen englischen Zukunftsplanung wegen knapp gehaltenen Personalresourcen abgelehnt wurde. Jetzt aber, nicht nur wegen Ihrer Mit-Zuständigkeit in dieser Ermittlung, sondern auch wegen meiner persönlichen Einschätzung und Entscheidung ist sie durch. Wir brauchen hier Leute wie Sie oder Paul, aufs Budget pfeife ich da, beziehungsweise das ist das Problem meiner Chefin. Ich habe einen Gefallen eingelöst und das gerne. Mit anderen Worten, Sie können bei uns anfangen, dies wird Ihr erster Fall. Was sagen Sie?«

Caulfield blickte völlig verwirrt, unsicher und zugleich glücklich drein. Schließlich kam ein etwas ersticktes »Sir, ja, ich, ähm …«

»John. Sir auf dem Flur und in den Räumlichkeiten. In diesem Büro, auf dem Sportplatz und im Pub John. Willkommen im Team!« Er stand auf, grinste sie fröhlich an und gab ihr erneut die Hand.

Saunders, zuerst nicht minder verwirrt, hatte sich schneller gefangen als seine neue Kollegin, offenbar war er derartige Überraschungen gewohnt. Auch er schüttelte Caulfield herzlich die Hand.

Castlemere hatte sich hingesetzt und seinen Monitor umgedreht, er zeigte das Bild und die Akte eines sehr attraktiven jungen Mannes.

»Das ist Stefan Kramer. 32 Jahre, wie das Opfer in Barnet ebenfalls deutscher Staatsbürger und in London wohnhaft. Beide Opfer sind also in den besten Jahren, kerngesund, mit extrem gut bezahltem Job hier und extrem plötzlich unter anderem per Infarkt aus dem Leben geschieden.«

»Also war Kramer auch kein Herzinfarktskandidat? Und wieso unter anderem?«, fragte Caulfield.

Castlemere nickte. »Eben. Sein Tod ist weitaus komplizierter. Er war Analyst in einer der führenden Investment- und Brokerfirmen im Financial District. Ganz hohe Schule. Und in seinem Bereich wohl ein absoluter Rockstar. Hat irgendeine Megasoftware entwickelt, die Trends vorhersehen konnte. Ging dann aber schief. Es hieß, er hätte dran gedreht, Geld wegen Drogenproblemen und Schulden veruntreut und ist dabei erwischt worden. Als ihn unsere Leute von der Wirtschaftsabteilung abholen wollten, ist er aufs Dach gestiegen und gesprungen. Klassisch, könnte man sagen. Wären da nicht die abnormen Blutwerte und das Verdikt unseres Pathologen. Offiziell ist Kramers Abgang ein Suizid. Aber fragen Sie sich selbst: Wenn Sie einen Infarkt haben, hüpfen Sie dann vom Dach?«

Caulfield begann, mit der schwarzhumorigen Lockerheit dieses Lords warm zu werden. Sie hatte einiges von ihm gehört, wenig davon schmeichelhaft. Aber dann war der Flurfunk in der Metropolitan Force nie wirklich nett, schon gar nicht, wenn es um die Upper Class ging. Die wenigen professionellen Ratgeber hatten aber alle das Gleiche gesagt: „Geh hin, Mädel. Wenn dich einer pushen kann, dann Castlemere.“ Und nun saß sie hier, ihr wurde warm ums Herz. Castlemere hatte inzwischen weitergesprochen.

»… mit dem Kollegen Saunders. Folgendes: Dies ist das zweite deutsche Opfer in einer Sache, die mich schon länger interessiert. Daher können wir jetzt offiziell aktiv werden, weil das ein internationaler Fall ist, also unser Terrain. Ich habe schon mit meiner Kollegin vom Bundeskriminalamt in Berlin telefoniert. Birte Halbach, tolle Frau. Eine Stimme wie Marlene Dietrich, soll auch ein ähnliches Temperament haben. Egal. Also, ich habe jemanden aus ihrem Team angefordert. Lustigerweise ist der bereits auf der Insel, in Schottland. Das heißt, er war da und ist schon auf dem Weg zu uns. Saunders, Sie holen den Mann ab, der Name ist Kiran Mendelsohn, Ankunft King’s Cross in anderthalb Stunden.«

»Mendelsohn, ist das der deutsche FBI-Profiler, der sich mit den Russen angelegt hat?«

»Genau der, hat in Quantico studiert, spricht fließend und hoffentlich kein allzu amerikanisches Englisch. Ein sehr interessanter Kollege. Eher buddhistisch, andererseits laut Gerüchteküche mit einer Ausbildung, die der SAS nicht besser hinbekäme. Aber wie gesagt, der Mann ist laut meinen Informationen friedlich, sehr nett und kollegial, also kein Grund zur Beunruhigung.«

Caulfield schielte zu Saunders, der die Neckerei aber locker zu nehmen schien. Cas-tlemere war noch nicht fertig.

»Gwen, Ihr Reisepass ist gültig? Gut. Sie starten gleich durch. Die Witwe unseres aktuellen Opfers, Frau Anstetter, ist vor drei Wochen mit den Kindern nach Deutschland zurückgekehrt. Sie hat sie von einem Tag auf den anderen von der Schule geholt, mitten im Schuljahr, und das von einer sehr teuren internationalen Schule. Ich will wissen, warum. Sie fliegen in zwei Stunden nach Hamburg, dort wird Sie Mendelsohns Kollege, ein Bolko Blohm, in Empfang nehmen und mit Ihnen zur Witwe fahren. – Fragen?«

Caulfield schwirrte der Kopf. Das aber, wie sie erstaunt feststellte, vor Glückseligkeit. Hier lief alles ab wie beim Sprint. Und sie genoss es, nachdem sie die entnervende Langsamkeit im CID oft zur Verzweiflung getrieben hatte. Sie schüttelte den Kopf, stand auf und folgte Saunders nach draußen.

Sie gingen durch den Flur, Saunders tippte etwas in sein Handy und öffnete die Tür zur Terrasse.

Die Aussicht war herrlich. Das Gebäude der NCA lag unweit des östlichen Themse-Ufers gegenüber dem Milbank. Entlang der Themse blickte man nach Norden auf Westminster Abbey, Aquarium und London Eye, geradeaus auf das Tate Museum. Es war, als ob sie aus dem Moloch in einen Garten getreten war.

»Ging mir beim ersten Mal auch so. Man beginnt ein neues Leben.«

»Waren Sie da so cool, wie Sie jetzt aussehen?

Saunders lachte. »Nein. Ich hatte vom Lord eher Schlechtes gehört und mir ziemlich ins Hemd gemacht. Er hat am Anfang auch nichts getan, um diesen Eindruck zu verwischen. War Absicht, er wusste, wer mir diesen Bullshit gesteckt hatte. Ich bin zwei geschlagene Monate lang verarscht worden, bis er mich Paul nannte. Sie mag er auch. Und das reicht für uns alle hier.« Er grinste Caulfield an.

»Ich bin ehrlich gesagt kein Mensch für diese totale Lockerheit. Entschuldigung, das geht auch alles etwas schnell.«

»Schon klar. Sie gewöhnen sich dran, keine Bange. Und jetzt machen wir einen kurzen Abstecher zu den Rolling Stones. Das soll ich noch mit Ihnen machen, bevor wir losfahren.«

Sie gingen ins Haus und ein Stockwerk tiefer. Flure und Büros sahen unscheinbar und gar nicht nach der Behörde aus, in der laut den Londoner Detectives von der Metro-politan die Musik spielte. Aber dann war der äußere Schein auch meist nichts wert, wie Gwen nur zu gut wusste.

Saunders führte sie in ein Büro, an dessen Tür das übergroße Logo der Stones klebte.

Drinnen saßen zwei blutjunge Kerle an Computern mit monströsen Bildschirmen. An einem leeren Tisch, nur bestückt mit einem überlangen halbrunden Flachfernseher und schmaler Designtastatur, saß die wohl schönste Frau, die Caulfield je bei der Polizei gese-hen hatte. Sie blickte auf, als sie zu ihr traten.

»Darf ich vorstellen, DCI Jane Wyman, gerüchteweise verwandt mit Bill Wyman von den Stones, daher der Name ihres Departments. Jane, das ist DS Gwen Caulfield.«

»Ah, die taffe Lady aus dem Norden.«

Caulfield blickte in meergrüne Augen und lächelte etwas verunsichert. »Irgendwie scheint mich hier jeder zu kennen.«

Jane lachte. »Meine Schuld, Süße, ich habe dich auseinandergenommen und profiliert. Der Chef war beeindruckt. Willkommen im Club.«

Saunders kam zur Sache. »Jane, Castle sagt, du sollst uns briefen?«

»Nicht ganz, eher inoffiziell mündlich unterrichten. Was wir untersuchen und woran ihr arbeitet, hat ein kleines Vorspiel. Es scheint wohl so, dass es in Greater London in den letzten zwei Jahren ein paar Todesfälle gegeben hat, die ähnliche Merkmale aufweisen wie eure beiden Krauts. Ich habe mit dem Autopsiebericht heute Morgen die Order erhalten, alles Datenmaterial dazu abzugrasen. Ich weiß also momentan genauso viel oder wenig wie ihr beiden.«

»Und wozu dann ein Briefing?«, fragte Caulfield

»Wir zwei werden uns gut verstehen. Das Briefing ist meine persönliche Einschätzung: Wir ermitteln jetzt offiziell in einer Sache, in der wir vielleicht schon früher hätten ermitteln sollen, das aus irgendwelchen Gründen aber nicht getan haben. Fragen Sie nicht, auf diese Frage gibt es hier nie eine Antwort, es sei denn, Lord John gibt sie, was er selten tut. Also, Augen auf im Straßenverkehr. Meiner Meinung nach sind wir mehr-gleisig unterwegs.«

»Mehrgleisig?«

»Wir bewegen uns in Bereichen, die andere Dienste betreffen könnten«, erklärte Saunders.

Wyman nickte. »Habt ihr nicht von mir. Und noch was. Gleis ist vielleicht die falsche Metapher. Ich habe so ein Gefühl, als kommt da irgendwann auch Gegenverkehr.«

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