Geschichten aus Nian

Erzbrenner

Paul M. Belt

 

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Erzbrenner

 

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© Copyright 2019 Hunter Verlag

Verlagsauflage 1

 

 

 

Lektorat: Cornelia Schrudde, Kreuztal

Grafische Innengestaltung: Astrid Eckstein

Umschlaggestaltung: Hunter Verlag

Satz & Layout: Hunter Verlag

 

 

 

 

 

Verlag: Hunter Verlag, Kiel, Deliusstr.

Printed in Germany

ISBN: 978-3-947086-61-0

 

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglich-machung.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de
abrufbar.

 

 

Die Reihe:

»Geschichten aus Nian«

 

Band 1:

Lindenreiter

 

Band 2:

Landwandlerin

 

Band 3:

Atalan

 

Band 4:

Erzbrenner

 

Band 5:

Der Keysor

 

Band 6:

Selinqua Baruka

 

Band 7:

Licht

 

 

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Sprich zu meinem Kopf

und er wird einordnen, sortieren und bewerten

Sprich zu meinem Herzen

und es wird zuhören

 

(K. N. Murthy, atalanischer Philosoph aus Feste des Lichts)

 

 

 

Erzbrenner

 

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Vorwort

„Fünf sind nun erschienen“, sagte der Erste zum Ältesten. „Es fehlt nur noch einer.“

Der Älteste nickte stumm. Er wusste genau, dass es bald geschehen würde. Viele Dekazyklen lang hatte diese Macht im Verborgenen geschlummert. Selbst er hatte beinahe vergessen, wer er war. Doch nun, nach dem Großen Wendepunkt, lag sein Pfad leuchtend vor ihm. Wenn jener Klan erschien, dann würde es so weit sein. „Der Eine“ würde er genannt werden. Er, Sid Lucius Albo, würde Turnok und Keysor zugleich sein. So stand es geschrieben. Nur der letzte Schlüssel fehlte ihm noch … Nachdenklich wandte er sich zum Gehen.

„Ältester“, sprach der Erste und verneigte sich tief mit einer Hand vor der Brust. Sid musste grinsen, während er sich gemächlich entfernte. Schon bald würde dieser Rittling vor ihm kriechen.

 

 

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Kranzthaler Ebene

Zeg winkte mit dem Geleucht1 und signalisierte Holk damit, seinen Gehörschutz abzunehmen. „Wirf mal die Schippe rüber“, rief er seinem Kumpel zu. Nach zehn Mittelzeiten hatte sich unter seinem Abbauhammer wieder so viel Erz angesammelt, dass es auf den Grubenhunt geladen werden konnte. Bald würde er voll sein. Dann würde Yon, der Huntstößer und Fördermann, ihn zum Schacht bringen, ans Seil anschlagen und mit einem leeren Hunt zurückkehren, während sie beide fortfuhren, den Berg zu bearbeiten. Zehn Langzeiten täglich, am Vorfriedstag sechs. Zeg spuckte in seine bärenstarken Hände, griff nach der Schaufel und begann, den Hunt zu befüllen. Er war ein junger Mann von einundzwanzig Zyklen, dem das Hauen leicht von der Hand ging, denn die Arbeit unter Tage war seine Berufung und er nahm sie gern wahr.

Die Kranzthaler Mine, auf der gleichnamigen Hochebene in den Scheuerbergen des westlichen Mittellandes gelegen, war für ihren hohen Ertrag berühmt, aber auch wegen ihres geforderten Tributs verrufen. Heerscharen von Steinhauern hatten vor vielen Dekazyklen den ersten Schacht abgeteuft2 und es hatte viele Menschenleben gefordert, mit primitivsten Gezähen3 in drei Mittelmaßen Teufe die erste Sohle4 aufzufahren. Später war der Verbrennungsmotor entwickelt und so weit verbessert worden, dass er in fast alle Lebensbereiche Einzug gehalten hatte. Mit den ersten Modellen des treibstoffbetriebenen Abbauhammers war die Ausbeute der Mine sprunghaft angestiegen, jedoch waren erneut viele Menschen durch die Abgasproblematik zu Schaden gekommen. Erst seit es leistungsfähige Belüftungssysteme und druckluftbetriebene Abbauhämmer gab, jagte der Ertrag von Rekord zu Rekord. Dies bedeutete natürlich eine große Motivation für den Bergvogt5, seine Steinhauer auch weiterhin Höchstleistungen verrichten zu lassen. Und so schaute Ken, der Steiger6 von Schacht Zwei auf Sohle Drei, mindestens einmal pro Langzeit vorbei, um Zegs und Holks Arbeit zu begutachten. Meistens konnte er mit einem Lächeln seinen Weg fortsetzen.

 

Im_Schacht2 

Das Erz der Mine war sehr hochwertig und konnte seit vielen Zyklen in so reichlicher Menge gefördert werden, dass direkt auf der Kranzthaler Ebene mehrere Brennstätten zur Verhüttung errichtet worden waren. Das ersparte den Transport des Roherzes durch das unwegsame Gelände. Nur das im Gestein enthaltene Metall wurde nach dem Verlassen der Ofenkerne aufgefangen und in gegossener Form auf Eisenbahnwagen verladen. Diese quälten sich dann, gezogen von einer pfeifenden Lokomotive, mit der schweren Last durch das Bergland, um den wertvollen Rohstoff überall dorthin zu bringen, wo er zu benötigten Formteilen verarbeitet oder wo Stahl daraus hergestellt wurde.

Zeg hatte gerade die letzte Schaufel auf den Hunt gefüllt und wollte sich wieder dem Abbauhammer zuwenden, als plötzlich im Grubenbau7 vor ihm ein weiteres Geleucht geschwenkt wurde. Überrascht hielt er inne. Ken war doch gerade erst da gewesen, weshalb sollte er schon wieder vorbeischauen?

Tatsächlich erschien der Steiger vor dem dunklen Hintergrund des Querschlags8. Er hatte Yon im Schlepptau. Etwas ärgerlich erklang seine Stimme: „Ey Zeg, mein Besten9! Schnapp dir allet wat da is und fahr nach’m Schacht. Du muss über Tage einspringen. Hab grad erfahrn, datter Anlieferer ausgefallen is. Kannsse doch de Karine fahrn, oder? Yon übernimmt, bisse wiederkomms.“

Der Steinhauer nickte stumm, packte etwas mürrisch statt des Hammers den Hunt und schob ihn quietschend zur Richtstrecke10. Es geschah selten, dass Yon an seiner Statt eingesetzt werden musste. Der Fördermann war im Gegensatz zu ihm etwas schwächer gebaut und lieferte längst nicht denselben Ertrag pro Langzeit. Aber eine Karine konnte er eben auch nicht fahren. Diese kleinen Grubenbahn-Triebwagen fuhren auf Schienen geringer Spurbreite und sammelten die mit zerkleinertem Erz und Zusätzen befüllten Hunte an der Erzbrech- und Mölleranlage11 ein, um sie zu den Brennstätten zu fahren. Die leeren wurden dann wieder zurückgebracht.

Nachdem Zeg den Hunt angeschlagen12 hatte, hockte er sich darauf und packte das Förderseil. Erst dann zog er am dünnen Signalseil. Dies löste oben am Maschinenstand ein Klingeln aus. Es dauerte nicht lange, dann erhob sich das Förderseil mit Fracht und Steinhauer daran ruckelnd in die Höhe. Im Förderturm an der Hängebank13 erwarteten ihn Dan und Mart, zwei Anschläger, und Max. Der Fördermaschinist hatte wie üblich ein Grinsen im Gesicht. „Bor, fährsse heut aber früh aus!“, rief er mit gespielter Überraschung. „Hass’ne Freischicht? Oder willsse vielleicht abkehren14?“

Wenn man mit Max sprach, konnte man nicht lange schlechter Laune bleiben. Schmunzelnd erwiderte Zeg: „Du Vogel weißt doch genau, dass ich komme, weil die Karine nicht stillstehen darf. Ich spiele zwar nicht gern den Anlieferer, weil ich dann hinterher den Förderrückstand wieder aufholen darf, aber so gibt’s wenigstens mal ’n Wetterwechsel.“

„Hatter recht“, knurrte Dan, während er den Hunt mit einem Hubkran aufs Gleis setzte und in Richtung der Erzbrechanlage davonschob. „Immer nur matte Wetter15 schnuppern, da wirsse bedröppelt von.“ Er war lange genug Hauer gewesen, um zu wissen, wovon er sprach. „So, dann komma mit und mach dich mit unsern lieben Stahlmädchen auf’m Weg. Grüß die Öfen!“, rief er Zeg zu. Mart hatte bereits einen leeren Hunt angeschlagen und verschwand auf ihm sitzend unter Tage.

Wenige Mittelzeiten später fuhr die kleine Lokomotive ratternd über das Grubengleis. Mit mäßigem Tempo steuerte Zeg sie in Richtung der Brennstätte A über das Hochplateau. Lang war der Zug geworden. Aus mehr als sieben oder acht Hunten bestand er normalerweise nicht, aber durch den Ausfall des Anlieferers hatten sich bereits dreizehn Wagen voll Möller angesammelt, die nun entsprechend vorsichtig zum Hochofen gefahren werden mussten. Durch eine Öffnung in einem alten Drahtgitterzaun hindurch schnaufte die Lok mit ihrem gewichtigen Anhang auf das Anlieferungsgebäude zu und dann durch ein Holztor ins Innere. In gebührendem Abstand vom Prellbock, der das Gleis abschloss, ließ Zeg die Karine stoppen und sprang herunter, um die vollen Hunte über die Anlieferweiche zu schieben und die leeren stattdessen vorn anzukoppeln.

Hinter einer Mauer erschien ein ziemlich frustriert aussehender Erzschaffer mit von Hitze gegerbter Gesichtshaut in einem Schutzanzug. Deutlich genervt stieß er hervor: „Ey, wat’ los? Kommsse verdorri spät! Brauchmer de Dinger gar nich mehr im Bunker reinfahrn, Ofen Drei brauch Futter, dem isser Möller am Ausgehn! Wenn dat Zeuch da nich rappzapp aufschlägt, musser gedämpft werden und der Boss is wieder am Rumbandusen!“

„Also direkt zum Dreier“, antwortete Zeg knapp.

„Genau, machma los“, brummte der Arbeiter, während er den hintersten Hunt auf den entsprechenden Schienenstrang bugsierte. „Helf mich ers mitti annern, ankoppeln kannsse später.“

Als Steinhauer war Zeg sehr kräftig und einiges gewohnt. Als er drei Hunte zugleich auf den Strang schob, staunte der Erzschaffer nicht schlecht. „Leckomio! Wenne dat bis zum Beschickungsaufzug16 schaffen tuhs, holnwer de Zeit wieder auf! So’n Kerl wie du könntwer gut füre Rabotti17 gebrauchen! Wat machsse sonss, anschlagen?“

„Nee, hauen“, erwiderte Zeg laut, denn der Lärmpegel in der Anlage wuchs mit jedem Kurzmaß zurückgelegter Strecke.

„Kehr, wat ’ne Kraft, dat gibbet gar nich! Aber de Knabberleisten krichse nich auseinander, ne? Egal, getz hier rechts, simma gleich da. Und fahr mich nich inne Hacken mitti Dinger!“

Der Beschicker von Ofen Drei trat in der großen Halle bereits besorgt von einem Bein auf das andere, als endlich die Hunte um die letzte Biegung geschoben wurden. „Ey Frank, verdorrich, dat wird getz aber höchsse Zeit!“

„Is gut, Pit. Kumma lieber, wat da hinter mir am Herrollen is!“

„Bor!“ Dem Beschicker fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Durchgerädert! Keiner tut drei beieinander schieben – oder is da nur Watte drin?“

 

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„Beste Ware“, grinste Frank und strich sich den Schweiß von der Stirn, nachdem er seinen Hunt an den Aufzug angekoppelt hatte. „Hier schomma ’ne Probe vorwech. Geh ich ma direkt den nächsten holen. – Ach ja, und tuen gar nich ers abwerben versuchen, so’n Hauer kricht mehr Patte18 als wie du und ich middenander!“

Einer nach dem anderen fuhren die Hunte mit dem Aufzug zur Gichtschleuse19 hoch. Der Verschluss wurde geöffnet und krachend ergoss sich der Möller jeweils zeitgleich mit dem Koks vom anderen Aufzug in den Ofen. Als der zweite leer wieder herunterfuhr, meinte Pit: „So, kannsse mitnehmen. Wie viel komm’ noch?“

„Neun“, antwortete Zeg. „Wir hatten Stau, ein Anlieferer ist ausgefallen.“

„Schick! Dann reichtet ersma wieder.“

Nachdem Zeg losmarschiert war, um weitere Grubenwagen zu holen, erschien Frank keuchend mit dem nächsten am Beschickungsaufzug. „Gehsse nachher spachteln, wenn allet drin is?“

„Klar. Müssenwer aber ersma warten, is gleich wieder Zwangspause.“

„Gut. Tu ich ma solange beien annern Frank anne Koksbeschickung gehn.“

Wenig später ächzte Zeg erwartungsgemäß mit den nächsten drei gefüllten Hunten um die Biegung. Dieses Mal war er wirklich schweißgebadet. „Sieht aus, als ob ich doch bei zweien bleiben sollte.“

„Is klar“, grinste Pit und klopfte dem Steinhauer kräftig auf die Schulter. „Getz mach ersma Pause, da hinter de Trennmauer gibbet gleich ’n Abstich20. Wenne meins, datte getz am Schwitzen dran biss, dann waddema ab! Wenne kucken wills, dann geh nich so dicht am Eisen bei, dat is dioblasisch heiß!“

Zeg nickte. Er war gespannt, bei einem Abstich war er bisher noch nicht dabei gewesen. Also ging er zum Ende der Mauer und lehnte sich daran um zuzuschauen. Dann aber sollte alles ganz anders kommen.

Tretball

„Böööh, nicht schon wieder da rauf!“, erklang Fritz’ Stimme, als Marcs Schuss in hohem Bogen über die Torauslinie hinwegflog und auf dem Dach der Garage landete. „Du sollst aufs Tor schießen und nicht auf die Blumen!“

In der Tat blühten Mohn und Arnuch zwischen der Garagenzeile und der Mooswiese, auf welcher die Jungs aus der Nachbarschaft gern zu fünft oder zu siebt Tretball spielten. Dieses Mal waren sie allerdings nur zu viert, was ein gewichtiges Problem aufwarf: Sie hatten nur einen ehemaligen Wäscheständer als Torgestänge, an den sie ein altes Baunetz gebunden hatten. Da Tretball ohne Torwart aber wenig Sinn machte, sollte die Zahl der Spieler schon ungerade sein, um gerechte Mannschaften bilden zu können. Ansonsten musste man, wie auch an diesem Tag, auf Spiele wie „Ball aus der Luft“ ausweichen oder „Idiotenschießen“ an der Garagenwand machen.

Kai im Tor ärgerte sich wohl am meisten über den Fehlschuss. Nicht nur, dass er selten in die Feldmannschaften gewählt wurde, weil er ja zwei Zyklen weniger trug als sein mitspielender Bruder, nein – er wurde von allen als der ideale Torhüter angesehen. Nach Meinung der Feldspieler war es dessen Aufgabe, Bälle zu holen, die versehentlich danebengingen. Und das konnte Kai in diesem besonderen Fall am besten.

„Na los, Brüderchen, du darfst mal wieder zeigen, was du draufhast!“, meinte Marc grinsend, während der Angesprochene sich bereits auf den Weg zur Garagenwand machte. Kurz vorher hielt er inne und formte in sich eine Bitte, bis ein Blatt des am nächsten stehenden Grasbuschs sich zu ihm herabsenkte. Er nahm darauf Platz und wurde dann sanft wie mit einem Lift auf die Höhe des Garagendachs gehoben, so dass er ohne Mühe den Ball holen und sich danach vom Gras wieder herunterheben lassen konnte. So was. Als ob er seine Fähigkeiten dazu bekommen hätte, für seine Mitspieler den Balljungen zu machen! Manchmal glaubte er, sie ließen ihn nur deswegen mitspielen.

Dann aber erinnerte er sich wieder an das, was er bei den vielen Gesprächen mit Gras und seinem großen Freund, einem Merkantusbaum an einem Feld im Süden, gelernt hatte: Niemand sonst war dafür verantwortlich, was er gerade tat, nur er selbst. Lamentieren oder Hadern half gar nicht – entweder es machte ihm Spaß mitzuspielen oder er sollte besser aufhören. Und so überlegte er sich auf dem Rückweg, die Konsequenzen zu ziehen. Er lächelte, als er den nächsten aufs Tor geschossenen Ball hielt. Und als kurz darauf wieder jemand eine Bogenlampe aufs Garagendach setzte, sagte er fest, aber ruhig zum Schützen: „Lenk, jetzt bist du an der Reihe mit Ballholen!“

„Nee, das macht der Torwart“, entgegnete der Junge mit den roten Haaren und den Sommersprossen. Wie Marc trug er zwei Zyklen mehr als Kai und war entsprechend kräftiger. „Los, geh schon!“

Kai stemmte lächelnd seine Arme in die Hüften. „Hmm … so bestimmt nicht. Vielleicht möchtet ihr ja doch lieber zu dritt weiterspielen?“

Das wollten die drei anderen Jungs aber auch nicht. Sie alle waren Stürmer, ins Tor wollte niemand gehen. Lenk überlegte kurz und ging dann mit verkniffenem Mund auf die Garagenzeile zu. Kai folgte ihm mit dem Blick, bis er auf einmal stutzte. Dort stand ja ein Mädchen auf dem Garagendach. Sie war noch recht klein, augenscheinlich etwas jünger als er selbst und trug vielleicht acht Zyklen. Und sie sah ihn lächelnd an, winkte nun sogar.

 

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Kai wunderte sich. Es war selbst für einen Zwölfzykler kein Kinderspiel, an einem der Pflanzenstängel hochzuklettern, um aufs Dach zu gelangen. Wie sollte diese Kleine das bewerkstelligt haben? Erst langsam, dann immer schneller setzte er einen Fuß vor den anderen und überholte schließlich Lenk, der daraufhin meinte: „Ach! Schlägst du dich jetzt doch darum, Balljunge zu sein?“ Kai jedoch beachtete ihn überhaupt nicht. Als er die Graspflanze erreichte, hatte diese bereits ein Blatt gesenkt und im Nu war auch er oben auf dem Dach.

„Hallo“, sagte er mit einem überraschten Gesichtsausdruck zu dem Mädchen. „Du bist doch bestimmt nicht nur gekommen, um unseren Ball zu holen, nicht wahr?“

„Nein“, sagte das Mädchen lächelnd, „um den geht es mir nicht. Ich bin übrigens Saia. Und wenn ich das eben richtig gesehen habe, habe ich schon gefunden, wen ich gesucht habe!“

„Wie bist du denn hier heraufgekommen?“

„Vielleicht genauso wie du?“ Saia kicherte. „Jetzt sag nicht, das kommt dir komisch vor!“

Darüber musste Kai erst einmal nachdenken. Schließlich erwiderte er: „Also, ich bin Kai. Und warum hast du mich gesucht?“

Das Kichern wurde intensiver. „Du bist gar nicht so, wie ich dachte, als mir das Gras von dir erzählt hat! So ein Erster weiß doch sonst immer so viel. Zumindest ist es bei Reitern so.“

Langsam begann Kai zu begreifen. Seine Gedanken wurden aber unterbrochen von einem lauten Ruf von unten: „Was ist denn nun? Spielen wir Tretball oder redest du lieber mit kleinen Kindern?“

Kai ging zum Ball und warf ihn hinunter. „Tut mir leid, Jungs, aber ich glaube, das hier ist wichtiger“, brachte er hervor.

Ein enttäuschtes „Böööh“ erklang aus drei Kehlen. „War ja klar, Brüderchen“, fügte Marc laut hinzu. „Na, dann spiel du mal mit deiner Freundin.“ Dreckiges Lachen schloss sich an. Kai kümmerte es nicht, es tat ihm nur leid, dass sein Bruder manches offenbar auch nach dem Erlebnis vor zwei Zyklen an der Küste noch nicht verstanden hatte. Er wandte sich wieder Saia zu.

„Dein Name ist selten! Bist du hier aus Dohrlegen oder kommst du von weiter weg?“

„Eigentlich komme ich aus Schönefeld, das liegt weiter im Osten. So weit wie jetzt war ich noch nie von zu Hause weg. Aber nach so einer Nachricht wollte ich dich natürlich kennenlernen.“

„Gras hat dir von mir erzählt? Das ist ja ein Ding … Ich treffe zum ersten Mal jemand anderen, der auch das Wispern in sich spüren kann.“

„Jetzt klingst du mehr wie so ein Erster. – Was muss man eigentlich machen, wenn man dich trifft? Reiter machen immer so …“ Saia deutete eine Verbeugung an.

„Unfug“, stieß Kai hervor. „Ganz ehrlich, ich glaube, das muss nicht sein. Schon gar nicht, wenn es nur zwei von uns gibt.“

„Oh, es gibt mehr“, erwiderte Saia grinsend. „Neulich traf ich einen auf der Durchreise, einen Mann aus Irania. Und ein Bekannter erzählte, dass in der Zeitung etwas von einem Federer stand, der in der Nähe des Elvons lebt.“

„Wie bitte, du hast noch weitere kennengelernt?“

Saias Kichern ging in ein glucksendes Lachen über: „Haha! Du hast ja gar nichts mitbekommen! Jetzt mal ehrlich – wer ist denn hier von uns eigentlich der Erste?“

Kai wurde ein bisschen rot, aber er hatte beschlossen, sich nicht zu ärgern. Das Lachen des Mädchens fand er sogar ganz niedlich, was ihm ungemein dabei half. So sagte er: „Weißt du, diese Sache mit dem Ersten, die sollten wir zunächst mal bei den Reitern lassen. Ich kann mir kaum vorstellen, demnächst in einem silbergewirkten Gewand über die Wiesen zu reisen und aus allen Richtungen Verneigungen zu empfangen. – Nun aber mal zurück zum Anfang: Warum genau hast du mich gesucht?“

„Na ja, wenn man von seinem Ers… äh, ich meine, wenn man von jemand anderem mit seiner Gabe erfährt, dann möchte man ihn doch kennenlernen, oder?“ Saia lächelte wieder ihr gewinnendes Lächeln.

„Gut, nun kennen wir uns, zumindest ein bisschen. Und was machen wir nun?“

„Och, weißt du … eigentlich hatte ich gehofft, du würdest mitkommen und mit mir die anderen besuchen, auch solche, die ich noch nicht kenne. Aber es sieht ja so aus, als wäre ich die erste, die du triffst!“

Kai überlegte. Dann sagte er: „Vermisst dich in deiner Heimat denn niemand? Reist du einfach so ohne Begleitung durch die Lande? Ich meine, du kommst heute doch sicher nicht mehr nach Hause, oder?“

„Nach Schönefeld? Nein, natürlich nicht. Meine Mutter besucht hier in der Nähe eine Freundin und hat mich mitgenommen, da ich unbedingt hier in die Gegend wollte, um dich zu treffen. Sie hat es nicht leicht als Mutter einer Federin. Alle behandeln einen ein bisschen komisch und das ändert sich auch nach dem Großen Wendepunkt nur langsam.“

„Ah, die Sache an der Küste vor zwei Zyklen … Ich war mitten drin.“

Saia riss erstaunt die Augen auf. „Was? Ich habe noch nie jemanden getroffen, der dabei war, außer Reitern, und die sagen einem ja nichts! Würdest du mir erzählen, was passiert ist?“

„Wie viel Zeit hast du denn?“ Kai schaute auf seinen Kronom. Bis zum Abendessen war es noch eine gute Langzeit.

„Ich soll noch im Hellen zurück sein. Aber wenn du dabei bist, habe ich auch im Dunkeln keine Angst.“

Kai schmunzelte. „Nein, nein, das schaffen wir schon. Hier möchte ich aber nicht erzählen“, sagte er mit Blick auf die drei Jungs, die am Tor standen, tuschelten und grinsend zu ihnen hochspähten. „Komm, wir besuchen meinen Freund.“

„Oh, toll! Kann er auch irgendwas Besonderes?“

„Sicher, er ist ein Merkantusbaum! Komm!“

Als die beiden kurz danach am Rand der Wiese entlang in Richtung Süden davonfederten, staunten die zurückbleibenden Jungen nicht schlecht. „Noch eine davon … nun weiß ich wenigstens, warum es ihm so wichtig war“, dachte Marc, während er ihnen nachstarrte.

Abstich

Die Hitze war wirklich furios, sogar noch an der Mauer. Hell gleißte der Schein des geschmolzenen Eisens und beleuchtete die Hallendecke, auch die Wände und Streben der diversen Aufbauten glühten wie die Abendsonne. Zugleich war es, als ob sich ein heißer Wind erhoben hätte – selbst der Schweiß brannte wie Feuer auf der Haut, und der ansonsten so gefasste Zeg staunte fasziniert über die Gewalt des fließenden Roheisens. Was für eine entfesselte Kraft … und diese Männer erlebten das jeden Tag mehrfach!

„Mach dir kein Kopp, is allet auffe Rinne im Fuchs21 rein am Laufen“, ließ sich der grinsende Pit von hinten vernehmen. „Außerdem hamse alle Schutzmasken und Spezialanzüge an. Dat da sind de einzige Jungs hier, denen se beinah so viel latzen tun wie dir …“

Abrupt wurde seine Rede durch ein lautes Geräusch und ein darauffolgendes durchdringendes Zischen unterbrochen, welches den normalen Lärm in der Halle übertönte. Mörderische Hitze traf Zeg wie ein Faustschlag ins Gesicht, während sich das Glühen des Abstichs im Bruchteil einer Kurzzeit zu einem blendend grellen Licht steigerte. Einen Herzschlag später ertönten gellende Entsetzensschreie und auch Zeg erstarrte mit vor Schreck geweiteten Augen. Was er sah, überstieg sein kühnstes Vorstellungsvermögen.

Offenbar war das Gemäuer des Hochofens beim Aufbohren des Spundstopfens gerissen und nun aufgeplatzt. Roheisen trat unkontrolliert aus und schwappte in erheblicher Menge neben die Rinne auf den Hallenboden. Eine tiefe Wasserpfütze war dabei anscheinend schlagartig verdampft, der entstehende Nebel ließ die Szene noch unwirklicher erscheinen. Männer rannten brüllend durcheinander, Werkzeuge und Stangen wurden weggeworfen und knallten scheppernd auf den Boden. Kurz darauf erklang in der gesamten Halle ein ohrenbetäubendes Jaulen: Die Betriebssirene war ausgelöst worden. Aus den durcheinanderschreienden Stimmen konnte Zeg eine einzelne heraushören: „Karl! Et is Karl, er steht mitten drin! So tu doch einer wat!!“

„Ey, bisse völlich panne? Hau ab, Mann, sonss wirsse geröstet!!“, brüllte Frank ihn von hinten aus Leibeskräften an. Pit hatte bereits die Beine in die Hand genommen und war unterwegs zum nächsten Notausgang.

Der Steinhauer spürte die Panik zwar ebenso wie die anderen, aber er wollte nicht einfach davonlaufen. Niemand ließ unter Tage nach einer Schlagwetterexplosion seine Kumpel allein und das wollte er auch hier nicht tun. Denn dort inmitten der Dampfwolke und der glühenden Schmelze stand ein einzelner Mann in Schutzkleidung. Dies war offensichtlich Karl. Man konnte weder seine Augen noch sonst ein Detail seines Gesichts hinter der Maske erkennen, musste aber kein Prophet sein, um seine namenlose, nackte Angst zu erahnen. Offenbar hatte er in der Pfütze gestanden und nun steckten seine Sicherheitsstiefel in der teilweise erstarrten Masse fest und rauchten bereits wie zwei Schlote. Der Mann zerrte panisch daran, konnte sich aber kein Haarbreit bewegen. Am Rand des Schmelzesees standen drei seiner verzweifelten Kollegen und versuchten, dicke Kanthölzer darauf zu werfen, um zu ihm zu gelangen. Diese gingen jedoch sofort in Flammen auf.

 

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„Weg! Weg mit euch!!“, hörte Zeg sich in ungeahnter Lautstärke brüllen. „Verschwindet da!“ Irgendetwas bewegte sich in ihm, beschleunigte seinen Herzschlag, führte seine Arme maschinenartig nach vorn und hob seine Hände. „Ich mache das!“

Die drei Männer starrten ihn durch ihre Schutzmasken hindurch entgeistert an. Was war das denn für ein Wahnsinniger, ohne Schutzkleidung neben das auslaufende heiße Roheisen zu treten? Selbst die letzte Flachpfeife wusste doch, dass auch die besten Sicherheitsstiefel den direkten Kontakt mit geschmolzenem Metall weniger als eine Mittelzeit lang aushielten – und dieser Dötschkopp trug nicht mal welche, geschweige denn Maske und Schutzanzug gegen die Strahlungshitze! Was sollte das heißen, „er macht das“?

Zeg wusste nicht, wie ihm geschah. Es war, als würde sich sein Körper verselbständigen. Er konnte nur wie in Trance miterleben, dass seine Hände schließlich ausgestreckt in Karls Richtung zeigten und in seinem Inneren eine metallische Stimme erklang:

„Heiß und fort!“

Was nun geschah, konnte nicht sein. Er musste träumen. Da waren zwei rötlichgelbe Feuerstrahlen, die seine Handflächen verließen und das Metall neben Karls Schuhen trafen. Hell gleißte das sich erneut verflüssigende Eisen neben den schmorenden Stiefeln auf, um sich dann von diesen zu entfernen, als würde es von einem Gebläse fortgetrieben werden.

„Lauf!!“, schrie Zeg aus Leibeskräften.

Es dauerte einen Atemzug lang, bis Karl realisierte, dass er sich wieder bewegen konnte. Mit ein paar Sätzen jagte er mit seinen rauchenden Schuhen durch die glühende Schmelze, stürzte zu einem nahen Kühlbecken, riss sich seine Maske vom Kopf und flankte über den Rand hinweg hinein. Es folgten ein kurzes Zischen und ein lautes Platschen. Das Letzte, was Zeg mitbekam, war, dass die Schmelze wieder über die Stellen hinüberfloss, an der Karls Stiefel gestanden hatten. Danach sackte der Steinhauer zusammen, Dunkelheit umhüllte ihn und er fiel widerstandslos auf den Boden.

Die anderen Erzschaffer standen wie angewurzelt neben der Szene und waren unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, bis sie hinter sich ein Blubbern vernahmen und eine gequälte Stimme rief: „Hol mich wer hier raus!“ Daraufhin rannte einer von ihnen zum Kühlbecken und ergriff die Hand, die über den Rand ragte. Gemeinsam mit dem zweiten Kollegen schaffte er es, den pudelnassen Karl aus dem offensichtlich glitschigen Becken zu befreien. Währenddessen fasste sich der dritte Arbeiter ein Herz, packte den reglosen Zeg an den Armen und zerrte ihn von dem erstarrenden, aber immer noch glutheißen Roheisen fort hinter die Trennmauer. Ungläubig schaute er ihm in sein ungeschütztes Gesicht und auf seine Hände, in denen nicht die Spur einer Verbrennung zu sehen war.

In das immer noch tönende Jaulen der Betriebssirene mischte sich weiteres Heulen. Die Werksschadensabwehr war eingetroffen. Vier Fahrzeuge hielten quietschend auf der Notzufahrtsstraße zu Hochofen Drei, viele Männer sprangen heraus. Einige begaben sich sofort zu den fassungslosen Erzschaffern und zum auf dem Boden hockenden, tropfnassen Karl. Weitere setzten sich Masken auf, rollten Schläuche aus und schlossen sie an einen Hydranten an. Inzwischen floss kein Roheisen mehr aus dem Riss, sondern nur noch Schlacke. Mit äußerster Vorsicht besprühten die Männer der Schadensabwehr den geronnenen See aus Eisen und die sich darüber ausbreitenden Rückstände. Sie durften den Hochofen nicht treffen, um den Riss nicht noch zu vergrößern, und mussten darauf hoffen, dass die Schlacke schnell genug im Löschwasser erstarren würde, um nicht noch mehr Schaden anzurichten. Zischend verdampfte die Löschflüssigkeit auf dem heißen Metall, welches knackte und seinerseits Risse bekam. „Aufpassen!“, brüllte jemand.

Mittlerweile war auch der Schichtmeister eingetroffen. Blass und erschüttert eilte er herbei, während der am ganzen Körper bebende Karl bereits auf einer Trage in den ersten Sanitätswagen gebracht wurde. „Große Mutter … Seid ihr in Ordnung?“, stieß er durch den Löschnebel in Richtung seiner schreckensstarren Arbeiter hervor und schnappte nach Luft. „Was ist passiert? Ist noch jemand verletzt worden?“

Die Männer standen immer noch unter Schock und waren kaum fähig zu antworten. Derjenige, welcher Zeg weggezogen hatte, trat schließlich vor und zeigte verstört hinter die Trennmauer. „Da liecht noch einer, aber der is … weissi nich …“

Der Schichtmeister verlor keine Zeit. Er lief zu einem Sanitäter und deutete durch den Nebel hindurch über die Mauer hinweg. „Dort muss noch jemand sein!“

Der Angesprochene ergriff eine weitere Trage und rief einen Kollegen. Gemeinsam umrundeten sie in gebührendem Abstand den Hochofen, bis sie hinter die Trennmauer kamen. Der bewusstlose Zeg wurde untersucht und dann auf der Trage zum zweiten Sanitätswagen gebracht.

Weitere Fahrzeuge waren eingetroffen. Inzwischen hatten sich Eisen und Schlacke ein wenig abgekühlt und der dichte Löschnebel hatte sich etwas verzogen, so dass er den Blick auf die groteske Szene wieder freigab. Aus dem Riss lief keine Schmelze mehr heraus. Die drei Erzschaffer hatten ebenfalls angefangen, wie Espenlaub zu zittern; die Sanitäter hatten alle in einiger Entfernung in Schocklage gebracht und ihre Beine ans Kühlbecken gelehnt. Endlich wurde auch die Betriebssirene abgestellt.

„Gibt es hier irgendjemanden, der mir sagen kann, was genau passiert ist?“, ließ sich der Schichtmeister wieder vernehmen. Aber es war niemand Ansprechbares da, der den Unfall miterlebt hatte. Fast alle Mitglieder der Belegschaft hatten das Gebäude beim ersten Aufheulen der Sirene vorschriftsmäßig verlassen. Der Schichtmeister konnte sich allerdings auch ohne Beschreibung einigermaßen vorstellen, was geschehen war. Besorgt und ärgerlich rieb er sich am Kinn. Hoffentlich würde sich der Hochofen rasch genug abkühlen, damit nicht noch mehr Material herausfloss. Die Belüftung war zum Glück beim Auslösen des Alarms automatisch abgestellt worden. Das würde wieder Theater geben wie das letzte Mal vor ein paar Zyklen, als sie einen gerissenen Ofen hatten abreißen müssen … Na, wenigstens hatte es niemanden erwischt. Er fragte sich allerdings, wie Karls Schuhe so übel hatten verschmoren können. Im flüssigen Eisen hatte ja offenbar niemand lange gestanden.

Wat biss du?

Als Zeg erwachte, lag er auf einem Heilbett. Über ihm befand sich eine Zimmerdecke mit heller künstlicher Beleuchtung. Dies musste eine Heilstation sein. Warum hatte man ihn hierhergebracht? Er war doch mit den Hunten zur Brennstätte gekommen und … Nach und nach kehrte die Erinnerung zurück. Oder war es doch nur ein durchgeräderter Traum gewesen? Warum war er zusammengebrochen? Hatte es etwa tatsächlich einen Unfall gegeben?

Stimmen näherten sich dem Raum, in dem er lag. Ein Mann sagte: „… keine Verletzungen zu haben. Ich glaube, wir können ihn gehen lassen, sobald er aufwacht. Es sei denn, er fühlt sich dann nicht wohl.“

Eine Frau, offenbar eine Schwester, ging besorgt klingend darauf ein. „Aber Doktor, wenn nicht alle übereinstimmend Blödsinn erzählt haben, dann hat er lange ungeschützt in der Strahlungshitze gestanden! Wie kann es dann sein, dass noch nicht mal seine Haare versengt sind, geschweige denn seine Haut?“

Drei Personen betraten das Heilzimmer. Die erste Stimme gehörte offenbar dem Arzt, der Zegs Untersuchung leitete. „Man muss das nicht gleich alles verstehen. Wichtig ist erstmal, dass er wieder zu Bewusstsein kommt. Drei Langzeiten lang präkomatös ist kein Pappenstiel. Es kann sein …“ Der Arzt hielt inne, denn die Schwester tippte ihn an: „Der Patient ist wach!“

Die drei Heiler umringten Zegs Bett. „Guten Abend, mein Name ist Dr. Merlek. Können Sie mir Ihren Namen sagen?“, fragte der Arzt.

„Zeg Ranolok“, erwiderte der Angesprochene. „Was mache ich hier? Sollte ich nicht Möller an die Brennstätte liefern?“

„Sie erinnern sich nicht?“

Zeg seufzte. „Ganz ehrlich … das, an was ich mich zu erinnern glaube, wirkt total vernebelt. Es erscheint mir wie ein Traum.“

„Haben Sie Schmerzen oder sonstige Beschwerden?“, wollte Dr. Merlek nun wissen. Als Zeg verneinte, fuhr er fort: „Können Sie mir erzählen, woran Sie sich erinnern?“

Zeg versuchte, klare Gedanken zu fassen. Es fiel ihm aber schwer. Das Ganze dann auch noch in Worte zu packen, erschien ihm vollkommen unmöglich. Nach einer Weile meinte er daher mit leichtem Kopfschütteln: „Es geht irgendwie nicht.“

„Bereiten Sie eine Cranialographie22 vor, bitte“, sagte der Doktor zur Schwester. „Nicht, dass wir etwas übersehen.“ Zu seinem Patienten gewandt fügte er hinzu: „Gibt es jemanden, den wir verständigen sollen, dass Sie hier sind?“

Zeg dachte nach. Seine weit entfernt lebende Familie würde er erst am Vorfriedstag abends wiedersehen, dort würde ihn niemand vermissen. Seine Vorgesetzten mussten allerdings erfahren, wo er steckte und warum die Karine nicht zurückkam. „Ken Harlesh, der Steiger von Schacht Zwei auf Sohle Drei der Kranzthaler Mine, sollte wissen, dass ich hier bin. Und der Hutmann23 auch.“

„Die Minenverwaltung weiß bereits Bescheid. Sonst niemand?“

„Ist heute noch Wochenmitte? Und – wo bin ich hier überhaupt?“

„Also, dies ist das Dr.-Langerat-Heilzentrum in Fichtenberg. In der Tat ist Wochenmitte und es ist halb acht am Abend.“

Zeg schloss für einen Moment wieder die Augen. Bilder erschienen vor seinem inneren Blick, aber er konnte einfach nicht zuordnen, was davon Traum und was Realität war. Fichtenberg – das war nicht weit von der Kranzthaler Ebene entfernt. Vielleicht sollte er sich einfach mal richtig ausschlafen … „Ist es möglich, dass ich heute Nacht hierbleibe?“

„Aber unbedingt, Herr Ranolok!“, sagte der Arzt. „Wir werden Ihren Kopf noch einmal untersuchen, um verborgene Folgen auszuschließen. Wenn es Ihnen besser geht und Ihnen wieder etwas vom Tag einfällt, dann können Sie das gern erzählen, auch meiner Kollegin während der Nachtschicht. – Schwester, bitte übernehmen Sie die stationäre Aufnahme, ja?“

 

Als Zeg am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich gut ausgeschlafen und erholt. Selten war er mit mehr Energie aufgewacht. Die Arbeit unter Tage war äußerst kraftraubend, und wenn er nach dem Ausfahren, der gründlichen Reinigung und dem Abendessen zu seinem Quartier gelangte, schlief er meist sofort auf der unbequemen Pritsche ein, noch bevor sein Kumpel Holk zu Bett ging. Offenbar war er am Vortag notdürftig aus seiner Bergmannskleidung geschält und in eine Stationskluft gesteckt worden. Er hatte ein großes Verlangen nach einer heißen Dusche und einem ausgiebigen Frühstück.

Die Cranialographie war gut verlaufen. Nichts wies auf irgendeine Störung seiner Körperfunktionen hin. Und so waren die Ärzte ziemlich ratlos bezüglich der Frage, was seine lange Bewusstlosigkeit verursacht haben könne. Nachdem Zeg zwei vollständige Frühstücksmahlzeiten vertilgt und sich unter den stirnrunzelnden Blicken des Ausgabepersonals drei Nachtische genehmigt hatte, entschied Dr. Merlek etwas widerwillig, seinen wortkargen Patienten als voll arbeitstauglich einzustufen. Zeg hatte keine Lust, länger als nötig dem Bergwerk fernzubleiben. Der Gedanke an Yon am Abbauhammer und die sich daraus ergebenden Förderrückstände trieben ihn dazu, bereits am Mittag wieder zur Schachtanlage zu fahren. Er war eben Hauer mit Leib und Seele und etwas Normalität würde ihm sicher guttun.

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