Pierre Basieux

Die Welt als Spiel

Spieltheorie in Gesellschaft, Wirtschaft und Natur

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Prolog

Erster Kreis: Spiele in vitro

1 Glück, Geschicklichkeit, Nachahmung

2 Ein paar populäre Spiele – und ein unpopuläres

3 Minimaxen, Eskalieren, Nachgeben, Kooperieren

Zweiter Kreis: Spiele in der Wirklichkeit

4 Geschicklichkeit macht auch Glücksspieler glücklich

5 Menschliches Verhalten: intuitiv, begrenzt rational

6 Spiele um Regelfindung; Macht, Dogmen, Asymmetrien

Dritter Kreis: Spiele um die Interpretation der Welt

7 Grenzen des Rationalen; Illusion des Absoluten

8 Yin-Yang-Spiele, Poppers Welt 3 und der Zufall

9 Zu wissen, was wir nicht wissen

Epilog

Literatur: Quellen und Hinweise

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Fußnote

Michael Rüsenberg gewidmet

Prolog

Spiele erleben seit einigen Jahren einen Boom. Besonders Poker, das einst schmuddelige Halbweltglücksspiel, scheint alle Beliebtheitsrekorde zu brechen. Zehntausende meist junger Zocker treffen sich in privaten Runden oder in Kneipen und Casinos oder spielen im Internet. Zahlreiche Fernsehkanäle übertragen Turniere und heizen so den Boom an. Durch die Welle der Casinogründungen in den letzten Jahrzehnten und die dadurch enger gewordene Wettbewerbssituation haben sich auch die Spielbanken dem Trend angeschlossen; denn die Umsätze und Gewinne mit Roulette und Black Jack stagnieren seit langem oder gehen sogar zurück – eine Entwicklung, die zahlreiche Casinos durch das Automatenspiel wettmachten.

Es ist vor allem das Internet, das sich als ideales Poker-Medium der Computergeneration anbietet. Nur so konnten sich Tausende virtueller Casinos in den Wohnzimmern und Surfecken einnisten. Beim Online-Poker hoffen die meisten Spieler auf das große Geld, und bei den Turnieren träumen viele davon, Millionen abzuräumen.

Die Rolle der Computer ist fundamental, nicht nur für die Ausbreitung der Spiele im Internet, sondern auch, weil sie eine immer bessere Erforschung der Strategien und Handhabung großer Datenmengen erlauben. Die Schachturniere «Mensch gegen Computer» (G. Kasparow vs. Deep Blue, W. Kramnik vs. Deep Fritz) zeugen davon.

Neben nützlichen Lernspielen wie etwa Flugsimulations- oder geographische Erkundungsprogramme gibt es eine weltweite Industrie, die vor allem der Jugend brutalste Videokampfspiele verkauft. Psychologen, Sozialwissenschaftler und Politiker diskutieren regelmäßig über eine Eindämmung oder ein Verbot dieser oft menschenverachtenden Spiele, vor allem wenn wieder ein Jugendlicher nach so einem Kampfschema Amok gelaufen ist.

Casino- und Gesellschaftsspiele sind naheliegenderweise Gegenstand der Spieltheorie, allerdings nur einer von vielen. Im Lauf der Zeit haben sowohl die Analyse zahlloser menschlicher Tätigkeiten als auch die Beobachtung der Natur ihr Feld immer weiter vergrößert. Kämpfe, Jagdszenen, die erwähnten Glücksspiele, Geschicklichkeitsspiele, gemischte Spieltypen, Wettbewerbssituationen in Sport, Beruf und Wirtschaftsleben, Plan- und auch Darstellungsspiele wurden als ständig sich wiederholende Lebenssituationen mit teilweise gleichen oder ähnlichen Grundregeln erkannt.

Das Spiel ist Bestandteil des Lebens – und kann auch bitterernst, tragisch und sogar inhuman sein. Im Grunde genommen gibt es nur ein Spiel: das Leben, das Überleben. Der oberste Spielmacher wird manchmal auch «Gott» genannt und sein wichtigstes Werkzeug «Zufall».

Die Entscheidungstheorie ist auch aus der Wirtschaft schon lange nicht mehr wegzudenken – vor allem seit 1944 nicht, als John von Neumann und Oskar Morgenstern ihr Buch «Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten» publizierten. Fünfzig Jahre später, 1994, wurde die Spieltheorie unter Ökonomen endgültig salonfähig – durch die Verleihung des Nobelpreises für Ökonomie an John Nash, John Harsanyi und Reinhard Selten für ihre «Beiträge zur Entwicklung der nichtkooperativen Spieltheorie».

Strategien, um Preise, Marktanteile, Gewinne zu erzielen, sind das tägliche Brot der Manager – redliche und unredliche. Denn es gibt ja auch kaum einen Bereich, der vor Ausbeutung, Profitgier und Missbrauch geschützt ist – ungerechtfertigte Bereicherung, Korruption allen Kalibers, und zwar von Privaten, von Politikern, von Beamten, von Konzernen und den «Heuschrecken» der Finanzwelt.

Missbräuche der Machtherrschaft auf Kosten der Massen haben eine lange Geschichte – von der repressiven und mörderischen Kirche des Mittelalters über die Feudalherrschaft bis zu den «neuen Herrschern der Welt», den multinationalen Konzernen und großen Banken. Heute gehen damit globale Probleme einher wie die Armut der Dritten Welt und des Klimawandels. Auch regionale Völkermorde, Bürger- und Glaubenskriege sind immer mehr Auswüchse einer globalisierten Vernetzung, in der es um die Sicherung nicht erneuerbarer Ressourcen geht.

Von der Wirtschaft zur (eigentlichen) Politik ist es, spieltheoretisch gesehen, nur ein Katzensprung. Gesetzgebung, Gerichtswesen, Sicherheit, Konflikte aller Art in der Demokratie laufen nach komplexen (und vielfach unvollständigen) Spielregeln ab.

Heute liefert die Spieltheorie sogar der Biologie einen Schlüssel zum Verständnis komplexer Anpassungsvorgänge. Denn die verschlungenen Wege der Evolution werden von den Zufälligkeiten genetischer Lotterien ebenso gesteuert wie von den strategischen Möglichkeiten erbitterter Konflikte. So entdecken Wissenschaftler in allen Bereichen der biologischen Evolution immer mehr spieltheoretische Strukturen.

Und der Verbreitungsprozess geht noch weiter. Parallel zur «rationalen» Entscheidungstheorie deckt die Psychologie scheinbar paradoxe Entscheidungen auf, führt Begriffe ein wie den der «begrenzten Rationalität» und bereichert dadurch den Anwendungsbereich der Spieltheorie. Inzwischen lassen sich auch Begriffe wie Reziprozität (Gegenseitigkeit), Kooperation und Fairness spieltheoretisch behandeln. So erwächst in jüngster Zeit eine Wissenschaft der «begrenzt rationalen» Entscheidung, Intuition und Heuristik (oder Faustregel), ganz nach dem Motto «Weniger ist manchmal mehr – und Genauigkeit ist nicht immer Wahrheit». Dabei ist Intuition keineswegs mit Irrationalität gleichzusetzen. Der Mensch schöpft offenbar seine Entscheidungen nicht nur aus seinen bewussten Kenntnissen, sondern ebenso sehr aus seinem Unterbewusstsein, das als eine Art Kompilation sowohl seiner Erfahrungen als auch des Produkts der Evolutionslinie, die er verkörpert, aufzufassen ist. Schließlich ist nicht nur jede Kreatur, sondern auch jedes «Ich» ein Millionen Jahre altes, nach dem Evolutionsprinzip sich immer noch entwickelndes Trägerknäuel von Genen und Memen, das bis heute überlebt hat.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind also nicht nur große Teile der Spieltheorie aus ihren Kinderschuhen herausgewachsen; vor allem sind spieltheoretische Aspekte in immer mehr Bereichen sichtbar geworden. Heute gibt es kaum mehr einen Bereich des menschlichen Handelns und Denkens, der ihr verschlossen wäre: Spiel ist Leben.

 

Das vorliegende Buch ist keine Einführung in die formal-mathematische Spieltheorie – davon gibt es viele und auch exzellente. Es versucht vielmehr, die Anwendungen einiger spieltheoretischer Prinzipien auf die Welt (das heißt auf unser Modell von ihr) sichtbar zu machen und zu hinterfragen – spieltheoretische Prinzipien als Drehscheibe zwischen den Natur-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften. Und das im Plauderton, weitgehend ohne technischmathematisches Gepäck. Insbesondere werden auch die offenen oder unvollständigen Regeln selbst (sowohl der globalen Wirtschaftsspiele um Ressourcen, ihrer Nutzung und Verteilung als auch der Beziehungen zwischen Nationen und Glaubensrichtungen) als ein Spiel um Regelfindung gedeutet, dessen Praxis von einer erträglichen planetarischen Demokratie noch weit entfernt ist.

Ich wüsste nicht, was die Welt als Spiel nicht umfassen würde: sei es die Idee der Welt als Uhrwerk im Sinne von Newton und Laplace, als Zufall im Sinne von Boltzmann und den Evolutionisten oder, nicht zuletzt, als Wettspiel zwischen Gott und Mephistopheles, von Goethe so grandios entfaltet. So mag Ihnen die Auswahl der verschiedenen Teilthemen auf den ersten Blick wie ein Mosaik erscheinen. Doch wenn Sie diese Mosaiksteine in einem gewissen Abstand betrachten, werden Sie das von mir intendierte Gesamtbild unschwer überblicken können.

Der bekannte Essay Homo Ludens des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga führt aus, wie tief die menschliche Kultur ganz allgemein im Spiel verwurzelt ist. Noch allgemeiner kann man sagen, das Spiel sei ein Charakteristikum höherer Tierarten. Doch die am weitesten reichende Sicht dürfte die ganze uns bekannte Welt als Spiel sein: vom Spiel der Kräfte und Teilchen seit dem Urknall über die Entstehung und Evolution des Lebens bis hin zu unseren Interpretationen dieser Welt.

Grobgliederung des Buches

Der Bogen, der in diesem Buch gespannt wird, fängt allerdings nicht beim Spiel der Kräfte und Teilchen seit dem Urknall an, sondern, viel bescheidener, bei Gesellschaftsspielen. Aufgeteilt ist dieser Essay in drei «Kreise»:

 

  • Der erste Kreis, «Spiele in vitro», beinhaltet einige populäre Gesellschaftsspiele mit einfachen Regeln. Bereits einfache Gesellschaftsspiele sind gleichsam Mikrowelten, die dreierlei enthalten: erstens gewisse Eigenschaften des Universums, zweitens gewisse menschliche Reaktionen auf diese Eigenschaften und drittens gewisse Fundamentalfragen des Menschen hinsichtlich der Welt, in der er lebt.

  • Im zweiten Kreis, «Spiele in der Wirklichkeit», begegnen wir zunächst Spielen, bei denen wir oft scheinbar irrational entscheiden, sodann den komplexeren Spielen, Verhaltensweisen und Betätigungen des Menschen in der Gesellschaft, vornehmlich im Rahmen der Wirtschaftswelt. Unter die Betätigungen fallen aber auch alle Kunstformen sowie die wissenschaftliche Betätigung: als Spiele in Dialogform zwischen Mensch und verschiedenen Bereichen der Welt – wobei der Mensch Fragen stellt und sich Antworten erhofft. James Maxwell, der Schöpfer der Grundgleichungen des elektromagnetischen Feldes, meinte, «wir können die tiefsten Lehren der Wissenschaft in Spielen versinnbildlicht finden».

  • Nachdem wir große Bereiche der Welt als riesige Spiel- bzw. Betätigungsfelder entdeckt haben, kommen wir ganz zwanglos zum dritten Kreis, in dem wir uns den «Spielen um die Interpretation der Welt» widmen. In der Tat ist das Denken ein Spiel mit keinesfalls gesichertem Ausgang. Denn in einer ungewissen Welt kann es, als Erweiterung der elementaren Wahrnehmung, ebenfalls zu Täuschungen und Risiken führen. «I think, therefore I err»: so kompakt drückt es Gerd Gigerenzer, Professor für Psychologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, im Titel einer seiner Publikationen aus. Dabei kommt mir auch ein Zitat von Albert Camus in den Sinn: «Außerhalb eines menschlichen Geistes kann es nichts Absurdes geben. So endet das Absurde wie alle Dinge mit dem Tode.»

 

In jedem dieser Kreise beobachten wir Elemente von Dualismen, Doppelheiten und Wechselseitigkeiten, wie etwa Zufall und Determinismus, Intuition und Rationalität, Egoismus und Altruismus bzw. Liberalismus und Gemeinwesen, die zu konkurrieren scheinen, aber von denen niemals der eine Teil den anderen völlig «besiegen» kann, ohne dass eine wesentliche Eigenschaft der Welt verlorenginge. Gut bekannt sind einige der dualistischen Aspekte aus Lehren, die zwei Grundprinzipien des Seins annehmen, zum Beispiel Licht und Finsternis, Geist und Materie, Yin und Yang.

Insbesondere der Dualismus zwischen Intuition und Rationalität, zwischen Heuristik und klassischer Entscheidungstheorie ist ein hochinteressantes, aktuelles interdisziplinäres Forschungsgebiet. Als Erbe der Evolution ist dieser Dualismus zwischen Unbewusstem und Bewusstem fundamental, und es steht zu erwarten, dass eine Reihe philosophischer Konsequenzen (speziell über die Freiheit des Willens), die offenbar voreilig aus der Hirnforschung abgeleitet wurde, wieder revidiert werden muss.

Weiter werden wir lernen – ein Beispiel dafür ist der physikalische Dualismus zwischen Welle und Teilchen –, dass die Antwort auf Fragen in hohem Maß sowohl von der speziellen Fragestellung als auch von den gerade herrschenden Umweltbedingungen abhängt. Im Extremfall müssen wir uns sogar damit abfinden, dass es auf bestimmte Fragen einfach keine Antwort gibt. Als Kronzeugen dieser Erkenntnis dienen uns die Nachweise für das Scheitern der Vollständigkeit eines logischen Formalismus (Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel) und für das Scheitern der Existenz einer rationalen kollektiven Entscheidung, demokratisch gewonnen aus rationalen individuellen Entscheidungen (Unmöglichkeitssatz von Kenneth Arrow). Von da an bis zur Absage an alle Absolutismen ist es nur ein kurzer Weg. Es bleibt zu hoffen, dass die Selbstregulierung der Dualismen im kollektiven Bewusstsein zu einer relativ stabilen Weiterentwicklung der Menschheit beitragen wird.

Von Bereich zu Bereich entdecken wir eine Art Evolutionsmechanismus der Sichtweisen, Verhaltensweisen und der entwickelten Ideen, wobei die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die Aspekte und Details gerichtet ist, sondern vielmehr auf die Synthese der großen, scheinbar widersprüchlichen Dualismen der Welt und unserer Interpretationen von ihr.

ERSTER KREIS

Spiele in vitro

Spielen ist das Experimentieren mit dem Zufall

NOVALIS

KAPITEL 1

Glück, Geschicklichkeit, Nachahmung

Der Begriff Spiel ist als wissenschaftlicher Terminus problematisch geworden. Das mag wohl daran liegen, dass die Analyse zahlloser menschlicher Tätigkeiten im Lauf der Zeit immer mehr gemeinsame Grundstrukturen offenbarte. Zufallsspiele, Geschicklichkeitsspiele, gemischte Spieltypen, Wettbewerbssituationen in Sport, Beruf und Wirtschaftsleben, Planspiele und auch Ahmungsspiele stellen ständig sich wiederholende Lebenssituationen mit teilweise gleichen oder ähnlichen Grundregeln dar.

Es wäre sicher unzutreffend, Spiel als Gegenteil oder Negation von Ernst aufzufassen, da es bitterernste Spiel- oder Wettbewerbssituationen geben kann. Für konkrete Analysen von Spielsituationen empfiehlt es sich, die Spiele in Grundkategorien mit gemeinsamen spezifischen Merkmalen einzuteilen.

F. G. Jünger teilt die Spiele nach ihrem Entstehungsgrad in folgender Weise ein:

  • auf Zufall abgestellte Glücksspiele («Alea», Würfelspiel, Ungewissheit, Glückszufall),

  • auf Geschicklichkeit abgestellte Geschicklichkeitsspiele («Agon», der Wettkampf) und

  • auf Ahmung abgestellte vor- und nachahmende Spiele («Mimikry», Verstellung, Maskierung und Ilinx, Rausch, Trance und Ekstase).

 

Überlässt man dem Zufall den entscheidenden Ausgang des Spiels, so liegt ein Glücksspiel vor; man müsste diese Spiele eher Zufallsspiele nennen. Damit der Zufall tatsächlich zum nicht vorhersehbaren Bestandteil des Spiels werden kann, muss er in dessen räumlichen und zeitlichen Grenzen verfügbar und wiederholbar sein. Die Regeln des Glücksspiels fordern einen klar umgrenzten Bereich zufälliger Ereignisse, den bekannten Ereignisvorrat. Die Ereignisse selbst werden durch einen Mechanismus hervorgebracht, ohne dass das Ergebnis im Einzelnen vorher bekannt ist. Würfelspiele, Schwarzer Peter, Lotto und Roulette zählen zu den klassischen Glücksspielen.

Die Regeln der Geschicklichkeitsspiele fordern von den Spielern besondere Fähigkeiten. Der Umstand, ob diese Fähigkeiten größer oder geringer sind, füllt hier den Spielraum aus. Die Entscheidungen werden nicht einem Zufallsmechanismus zugeteilt, sondern von den spielenden Personen getroffen. Jede Handlung unterliegt dem Anspruch auf Qualität. Wenn jemand beim Roulette auf Rot setzt, ist das weder gut noch schlecht, der Zufall entscheidet über Gewinn oder Verlust. Wenn aber jemand beim Schach eine Figur bewegt, so ist der Zug schwach oder stark; das Urteil ist prinzipiell sofort möglich, auch wenn es erst später offenbar wird. Die Arten von Geschicklichkeit, die in ein Spiel eingehen können, sind zahlreich. Sie reichen von körperlichen bis zu geistig-seelischen Fähigkeiten, die meistens verbunden auftreten, wobei die eine oder die andere Seite überwiegt. Dame, Schach, Fußball, Tennis und Seiltanz sind beispielhafte Geschicklichkeitsspiele.

Ahmungsspiele sind gekennzeichnet durch das Heraustreten aus dem gewöhnlichen Leben und das Schaffen einer Welt des Spiels mit eigenen Ordnungen. Ein kleines Mädchen, das mit einer Puppe spielt, ahmt nach, was es von Erwachsenen gesehen hat, und zugleich ahmt es vor, was es später vielleicht einmal tun wird. Außer den Kinderspielen gehören zur Ahmung alle Arten von Spielen, die etwas darstellen: von Verkleidungen beim Karneval bis zu den künstlerischen Darbietungen in Filmen und auf den Brettern, die die Welt bedeuten.

Man hat vom Menschen behauptet, er sei vor allem ein Nachahmungstier. Das ist gar nicht so abwegig, denn wer im Sport, im Spiel oder allgemein im Leben gut sein will, wird Erfolgreiche nachahmen. Selbst das Lernen durch Versuch und Irrtum, also solches bestimmt nicht die wirtschaftlichste Lernart, enthält eine starke Nachahmungskomponente. Überhaupt legt die Evolution nahe, dass Nachahmung der Elterntiere durch die Nachkommen der wichtigste soziale Lernprozess sein dürfte und ein wichtiges Komplement der Erfahrung. Beide Fähigkeiten, Erfahrung und (evolvierte) Nachahmung, setzen Blickverfolgung (bei der Futtersuche, beim Jagen und Gejagtwerden) voraus und sind als Voraussetzungen des Informationstransfers aufzufassen.

Die drei Grundkategorien von Spielen treten häufig miteinander verknüpft auf. Reine Glücksspiele kommen verhältnismäßig selten vor. Werden Zufall und Geschicklichkeit in gewissen Situationen vereinigt, so entsteht ein gemischter Spieltyp. Zu den Gemischten Spieltypen gehören die meisten Kartenspiele. Über die Verteilung der Karten entscheidet vorwiegend der Zufall, bei den weiteren Entscheidungen kommt es auch auf vernünftige Überlegungen an. Black Jack und Poker sind beispielhafte Exponenten.

Außer den meisten Kartenspielen können etwa noch Sportwetten und Börsenspekulationen als gemischte Spieltypen angesehen werden. Aber selbst das Roulette, das von jeher als reines Glücksspiel galt, können wir unter gewissen Voraussetzungen als einen gemischten Spieltyp betreiben, wie wir noch ausführlich sehen werden.

Die Existenz gemischter Spieltypen mit einer Ahmungskomponente leuchtet uns sofort ein, wenn wir bedenken, dass jemand, der ein Geschicklichkeitsspiel lernen will, bessere Spieler nachahmen muss. Umgekehrt bedürfen die Ahmungsspiele einer besonderen Geschicklichkeit. Der Zufall scheint, als eine Grundstruktur der realen Welt, seine Pfoten bei jedem Spieltyp im Spiel zu haben.

Spiele und Wahrscheinlichkeiten – Geschichtliches

Im 17. Jahrhundert waren Glücksspiele in den höheren gesellschaftlichen Schichten Frankreichs sehr verbreitet: Karten-, Würfel- und Brettspiele; auch das Roulette wurde allmählich bekannt.

Im Jahr 1654 konfrontierte der Chevalier de Méré einen der brillantesten philosophischen und mathematischen Geister der Epoche, Blaise Pascal (1623  1662), brieflich mit einem Problem über die Einsätze in einem Würfelspiel. Der berühmte Physiker und Mathematiker Christiaan Huygens, der von diesem Briefwechsel erfuhr, verfasste daraufhin 1657 die erste Abhandlung der Mathematikgeschichte über die Theorie der Wahrscheinlichkeit: «De ratiociniis in ludo aleae» («Überlegungen beim Würfelspiel»). Das Wort «Erwartung» (lateinisch: expectatio) taucht darin auf, verstanden als «gerechter Preis, für den ein Spieler seinen Platz in einer Partie abgeben würde» – ein sehr suggestiver Begriff, der jedoch nach und nach präzisiert und formalisiert werden musste, da es unzählige Paradoxien zu lösen galt. Nun begann der Aufschwung der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Pierre Simon de Laplace (1749  1827), Professor der Mathematik an der Pariser Militärakademie (wo 1784/​85 Napoleon, der spätere Konsul und Kaiser, sein Schüler war), gab in seiner «Théorie analytique des probabilités» (1812) als Erster eine genaue Definition des Begriffs der Wahrscheinlichkeit an – heute als klassischer Wahrscheinlichkeitsbegriff bezeichnet – und stellte Regeln für das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten auf. Darin schreibt er: «Es ist bemerkenswert, dass eine Wissenschaft, die mit der Betrachtung von Glücksspielen begann, der wichtigste Gegenstand des menschlichen Wissens werden sollte … Die wichtigsten Fragen des Lebens sind in der Tat vorwiegend Probleme der Wahrscheinlichkeit.»

Unter der Voraussetzung, dass nur endlich viele Versuchsergebnisse möglich sind, definiert Laplace die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A, p(A), wie folgt:

Es ist das Verhältnis der Anzahl von Möglichkeiten für das Ereignis A und der Gesamtzahl möglicher Ereignisse – unter der Annahme, dass alle Ausgänge gleichwahrscheinlich sind. Doch was ist unter «gleichwahrscheinlich» zu verstehen? Dass die Wahrscheinlichkeiten alle dieselben sind? Zirkelschluss! Diese Grundsatzfrage hat in der Entstehungsphase der Wahrscheinlichkeitstheorie eine Menge Ärger bereitet (der erst 1933 durch die axiomatische Grundlegung der Wahrscheinlichkeit durch Andrej Kolmogorov behoben wurde).

Im täglichen Leben können wir aber durchaus vorliebnehmen mit dieser einfachsten Definition der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses – das Maß für das Eintreten dieses Ereignisses, also ein Maß des Vertrauens –, die wir wie folgt kurz darstellen können:

Dabei steht p für «Wahrscheinlichkeit» (probabilité, probability), während mit hn (A) die relative Häufigkeit für beliebig viele (n) Wiederholungen des Versuchs bezeichnet wird. Dies stellt eine Brücke zwischen der Fiktion Wahrscheinlichkeit und der Empirie dar, die zum sogenannten Gesetz der großen Zahlen führt. NA stellt die Anzahl der bezüglich der Ereignisqualität A günstigen Fälle dar (zum Beispiel «ungerade Zahl» beim Würfeln, dann ist NA = 3). Und N ist die Anzahl aller möglichen Fälle, unter denen Ergebnisse mit dem Ereignismerkmal A ausgewählt wurden (im Fall des Würfels ist N = 6). p(A) ist also das Verhältnis der Anzahl der bezüglich A günstigen Fälle zur Anzahl aller möglichen Fälle, unter denen diejenigen mit dem Merkmal A ausgewählt wurden (in unserem Beispiel ist p(A) = 3/​6 = 1/​2 oder 50 Prozent). Die klassische Definition führt Wahrscheinlichkeitsfragen auf kombinatorische Abzählprobleme zurück und ist einfach ein probates Konzept, das uns beim Raten hilft. Wird der Versuch tausendmal wiederholt (n = 1000), erhalten wir mit h1000 (A) bei einem unverfälschten Würfel einen guten Näherungswert für p(A).

Das neue Wissensgebiet fand zahlreiche Anwendungen in anderen Wissenschaften und im praktischen Leben. Fast zur gleichen Zeit, als die grundsätzlichen Überlegungen zum Walten des Zufalls angestellt wurden, entstanden auch die ersten Ansätze der angewandten Statistik. Die Quantifizierung von Glück, Unglück und Massenerscheinungen schlug sich in statistischen Tabellen nieder. 1662 machte John Graunt auf Gesetzmäßigkeiten von Geburten- und Todesfällen aufmerksam, und der bekannte Astronom Edmund Halley (1656  1742) lieferte die erste Sterblichkeitstafel von der Art, wie sie heute den Versicherungsberechnungen zugrunde gelegt wird. Wenn Sie zum Beispiel eine Lebensversicherung abschließen, kann dies als eine Wette darüber aufgefasst werden, ob Sie vor Ablauf einer bestimmten Frist sterben; die Versicherungsgesellschaft hält dagegen und wettet, dass Sie nicht innerhalb dieser Zeit sterben. Um zu gewinnen, müssen Sie (Ihr Leben) verlieren!

Nach und nach lieferten viele Gelehrte bedeutende Beiträge zur Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Abraham de Moivre, Jakob Bernoulli, der bereits erwähnte Pierre Simon de Laplace, Daniel Bernoulli, Pierre Remond de Montmort, der englische Geistliche Thomas Bayes, Carl Friedrich Gauß, Siméon Denis Poisson und andere.

Zum Beispiel hat de Moivre den Begriff der zusammengesetzten Wahrscheinlichkeit geprägt; Bayes entwickelte eine Theorie der Wahrscheinlichkeit a posteriori (die Formel für «bedingte Wahrscheinlichkeiten» trägt seinen Namen); Jakob Bernoulli verfasste seine «Kunst des Vermutens» (Ars conjectandi, herausgegeben postum 1713 von dem Neffen Niklaus Bernoulli), worin er als Erster das «Gesetz der großen Zahlen» (1689) bewies; Gauß untersuchte stetige Wahrscheinlichkeitsverteilungen, vornehmlich die «Normalverteilung», gut bekannt durch ihre graphische Darstellung als Glockenkurve.

Spieltheorie als Mathematik der Interessenkonflikte

Ebenfalls bereits im 17. Jahrhundert schlugen berühmte Gelehrte wie Christiaan Huygens und Gottfried Wilhelm Leibniz vor, menschliche Konflikte im Rahmen einer eigenen Disziplin wissenschaftlich zu untersuchen. Im 19. Jahrhundert erdachten führende Ökonomen einfache mathematische Modelle zur Analyse spezieller Situationen bei Konkurrenzverhalten. 1928 war dann ein erster Höhepunkt erreicht, als John von Neumann bewies, dass es für Zweipersonen-Nullsummenspiele stets optimale gemischte Strategien gibt und sich auch ein Wert für ein solches Spiel festlegen lässt, wie wir im 3. Kapitel sehen werden.

Doch lange Zeit hatte man die einfacheren Nullsummenspiele gegenüber allen möglichen abweichenden Bedingungen und Unsymmetrien überschätzt. Vor allem hatte man unterschätzt, dass das menschliche Verhalten sich oftmals nicht nach scheinbar rationalen Kriterien richten wollte.

Das Spiel und seine Elemente

Woraus bestehen nun die Elemente eines Spiels? Im Wesentlichen sind es seine Spielregeln, dann der Spielraum, der mit Handlungen und Strategien der Akteure belebt wird. Und zu jedem Spiel gehören auch ein Einsatz und eine Auszahlung. Zunächst ein paar einführende Bemerkungen zu den Spielregeln.

Spielregeln

Zu jedem Gesellschaftsspiel gehört die Freiheit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden; wollen wir ein paar Partien spielen, dann müssen wir uns allerdings seinen Regeln fügen – die für Gesellschaftsspiele meistens klar und übersichtlich definiert sind.

Für das Leben in der Gemeinschaft sind die Regeln vielschichtig, komplex und nicht immer klar oder eindeutig: Gesetze, moralische Gebote, Usancen usw. Hier haben wir als Akteure nicht immer die Freiheit, uns dafür oder dagegen zu entscheiden – vorausgesetzt, wir wollen uns nicht radikal entziehen.

In einer erweiterten Deutung der Welt und des Lebens als Spiel haben auch die Kreativität und die kriminelle Energie ihren Platz. Bei Verhandlungen müssen nicht selten erst die Spielregeln vereinbart werden: die Spielregelfindung als Spiel. Davon wird noch an vielen Stellen die Rede sein, vor allem dort, wo es um Kooperation und Fairness geht und wo es sich in unserer Welt darum handelt, Forderungen nach Beendigung von Machtmissbrauch zu erheben.

Einsatz und Auszahlung

Einsatz und Auszahlung sind wichtige Elemente des Spiels. Sie müssen nicht in barer Münze bestehen. Beim Kampf um eine ersehnte Stellung im «Spielfeld», das wir Arbeitsmarkt nennen, wird der Einsatz in Form von Wissen, Fertigkeiten und Arbeitskraft geleistet. Und der Preis, den jeder Spieler am Ende einer Partie erhält oder zahlt, kann, außer Geldgewinn oder -verlust, auch Prestige, der begehrte Pokal, ein Kuss, die Beeinträchtigung der Gesundheit oder gar der Verlust des Lebens sein, wovon extreme Sportspiele zeugen.

Bei biologischen Spielen, in denen keine kognitiven Berechnungen und Planungen stattfinden und die man deshalb «Spiele ohne Rationalität» nennt, bedeutet Auszahlung «Zuwachs an Nachkommen» – was die Darwin’sche Fitness (als durchschnittliche Anzahl von Nachkommen) widerspiegelt.

Spielräume und Strategien

Die Regeln legen den Spielablauf nicht restlos fest, sondern lassen gewisse Möglichkeiten offen. Diese Unbestimmtheit ist der Spielraum, der zum Wesen des Spiels gehört und es vor Erstarrung bewahrt. In unserem Spiel mit Fiktionen kommt kreativen Gedanken eine große Bedeutung zu: Sie bewirken die Handlungen und beleben den Spielraum. Nicht die Regeln sind das eigentlich Wichtige, sondern die Spielräume. Das gilt für jedes Spiel: beim Scrabble, in der Mathematik, in der Medizin, in Wirtschaft und Politik, im Leben. Definitionen und Gesetze sind zwar notwendig, stecken aber nur die formalen Raumgrenzen ab, in denen sich jeder frei bewegen darf, und diese Freiheit ist allein beschränkt durch die Kreativität der Akteure. Wirtschaft und Politik bieten ungeheure Spielräume für Visionen, Konzepte, Innovationen, Problemlösungen – und deren Realisierung. Nur bornierte Bürokraten reduzieren den Spielraum auf die Regeln.

Die Aktionen zur Belebung eines Spielraums führen zum zentralen Begriff der Strategie. Eine Strategie ist ein Plan oder Programm für den Spieler – eine Abfolge spezieller Aktionen und Entscheidungen – mit dem Ziel, einen Mitspieler zu überlisten, der das Gleiche versucht (der oft gebrauchte Ausdruck «Taktik» stellt eine Art lokale Strategie in begrenzten Verwicklungen dar). Nach Austeilen der ersten beiden Karten (und der ersten Karte für die Bank) muss der Spieler beim Black Jack (der Spielbankversion von «17 und 4») entscheiden, ob er noch eine weitere Karte haben möchte (um möglichst nahe an die Punktezahl 21 zu kommen), ob er seinen Einsatz verdoppelt (falls die ersten beiden Karten eine Punktezahl zwischen 9 und 11 ergeben) oder ob er seine beiden Karten, falls sie die gleiche Punktezahl haben, splitten will – wobei er dann noch einen gleich hohen Einsatz auf das geteilte Blatt zu leisten hat. Das Pokerspiel erfordert noch viel differenziertere Strategien, die letztlich die Absichten der Gegner durchkreuzen sollen.

Die Strategien im unerschöpflichen Spiel mit mathematischen Fiktionen werden aus kreativen Gedanken geboren. Dabei übersteigen bereits die Eröffnungsmöglichkeiten für so manchen Beweis diejenigen einer Schachpartie beträchtlich. Bevor allerdings die Gedanken ihre Kreativität wirksam entfalten können, ist viel Übung erforderlich.

Unterhaltungswert als Element der Nutzenfunktion

Die Motive zum Casinobesuch oder zur Teilnahme an einem Pokerturnier mögen vielfältig sein. Lust am Nervenkitzel und Schicksalsspruch, die Hoffnung zu gewinnen, ein bisschen Spielleidenschaft, etwas Unterhaltung: heute ist das Spielcasino eine gesellschaftliche Experimentierstube mit Zerstreuungscharakter, ein Ort der ungezwungenen Begegnungen und auch ein Ort der (ent)spannenden Traumfreiheit, der die hohe Regelungsdichte unserer Gesellschaft mildert. Das macht einen Großteil unseres persönlichen Nutzens aus.

Für viele Casinobesucher besteht jedoch der Unterhaltungswert gerade darin – zumal sie es ja mit einem Geldspiel zu tun haben –, einen monetären Nutzen aus dem Spiel ziehen zu können, meist unter Zuhilfenahme einer Taktik oder einer Strategie. Nutzenbewertung setzt eine Präferenzrelation voraus: Von zwei Dingen oder Ereignissen ist jenes nützlicher, das man vorzieht, wenn man die Wahl hat. Ein Kauf kommt nur zustande, wenn der Verkäufer den entsprechenden Geldbetrag der verkauften Sache vorzieht und der Käufer die Sache lieber hat als das Geld; der Preis muss also zwischen dem Nutzen des betreffenden Gegenstandes für den Verkäufer und dem für den Käufer liegen:

 

Nutzwert für den Verkäufer ≤ Preis ≤ Nutzwert für den Käufer.

 

Die Präferenzen jedes Individuums sind natürlich dessen höchstpersönliche Angelegenheit, und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Die durch empirische Ermittlung einem Individuum zugeordnete Nutzenfunktion in Abhängigkeit von den Gewinnalternativen hängt daher von der subjektiven Einstellung der Einzelnen ab; zudem kann sich der Nutzen für ein und dieselbe Person als Funktion der jeweiligen Umweltsituation ändern. Trotzdem gelingt es, auf empirischem Weg repräsentative Nutzenfunktionen monetärer Ergebnisalternativen zu ermitteln und rational zu diskutieren, nicht zuletzt im Hinblick auf innere Kohärenz und Widerspruchsfreiheit.

Einmalige und wiederholte Spiele

Spielen lebt von der Wiederholung. Denken wir nur an Glücks- und Kartenspiele, an Tennis- und Fußballspiele, an die Olympischen Spiele, aber auch an die Musik, die ja geradezu die Kunst der Wiederholung ist. Bei wiederholten Spielen und mannigfachen Risikosituationen hat sich das Bernoulli-Prinzip, das Prinzip der maximalen Nutzenerwartung, von dem noch die Rede sein wird, als die rationale Entscheidungsregel entpuppt.

Es gibt aber auch Spiele, die nur einmal oder sehr selten gespielt werden. Das führt dazu, dass für sie oft andere optimale Strategien gelten als für oft wiederholte Spiele. Ein klassisches Beispiel hierzu ist das Gefangenendilemma, wie wir im 3. Kapitel sehen werden. Aber auch bei reinen Glücksspielen kann es vorkommen, dass ein einzelner Spieldurchgang andere Entscheidungen nahelegt als solche, die sich bei beliebigen Wiederholungen als optimal erweisen. Auch dazu werden wir ein paar Beispiele kennenlernen.

Strategische Spiele und das Militär

Beim Militär war strategisches Denken schon seit Urzeiten in Gebrauch. Doch dieses strategische Denken wurde hauptsächlich von der Erfahrung der Kriegsherren gespeist und weitaus weniger von spieltheoretischen Modellen, die meistens gar nicht in der Lage waren, die Komplexität der realen Gegebenheiten zu berücksichtigen – geschweige denn, auf unvorhergesehene oder größere zufällige Änderungen zu reagieren.

Die moderne Spieltheorie begann ihren Aufstieg 1944 mit der Veröffentlichung des Buches «Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten» von John von Neumann und Oskar Morgenstern. Der Zeitpunkt war günstig, denn während des Zweiten Weltkriegs hatten mathematische Methoden in der Planung, Logistik und Technik enorm an Bedeutung gewonnen. In diese Zeit fiel auch die Entschlüsselung von deutschen Geheimnachrichten (ENIGMA) durch eine Gruppe um Alan Turing in England. Zum ersten Mal in der Geschichte trugen Mathematiker wesentlich zum militärischen Aufgebot bei. Zahlreiche jüngere Spieltheoretiker boten ihre Dienste an. Euphorisch bejubelte Forschungsprojekte stellten Anwendungen auf die Taktik von Abfangjägern, die strategische Planung von Bombenabwürfen und die Führung von Nachkriegsverhandlungen in Aussicht. Doch die überzogenen Anpreisungen weckten beim Militär überhöhte, unerfüllbare Erwartungen, und die Beziehungen kühlten sich allmählich ab – zumindest bis zum jeweils nächsten bevorstehenden militärischen Einsatz.

Vor dem vorerst letzten großen Einsatz, dem amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak (2003), war es wieder so weit. Mike Davis, einer der bedeutendsten Stadtsoziologen der Vereinigten Staaten, nahm die hochtrabenden spieltheoretischen Phantasien des Pentagons in einem Artikel aufs Korn, der im April 2003 in der ZEIT erschien: «Umzingelt von einer unfehlbaren Armee. Das Pentagon arbeitet an der Abschaffung des Zufalls. Die neuen Kriege sollen geführt werden wie eine Supermarktkette.» Auszug:

 

Das imperiale Washington gleicht mittlerweile dem Berlin der späten dreißiger Jahre. Es ist eine psychedelische Hauptstadt, in der eine größenwahnsinnige Halluzination die andere jagt. Wie uns die Vordenker des Pentagons mitteilen, wird die Invasion des Iraks nicht nur zur geopolitischen Neuordnung des Nahen Ostens führen, sondern auch «die wichtigste Revolution in Militärangelegenheiten (RMA) seit zweihundert Jahren einleiten».

Folgt man einem Cheftheoretiker dieser Revolution, Admiral William Owen, dann war der erste Golfkrieg «noch kein neuer Kriegstyp, sondern der letzte der alten Kriege». Die Luftkriege über dem Kosovo und Afghanistan waren ebenfalls nur schwache Kostproben des postmodernen Blitzkriegs, der gegen das Baath-Regime geführt wird. Anstelle altmodischer, gestaffelter Schlachten wurde uns eine Simultanwirkung durch «Schock und Einschüchterung» versprochen. Aber obwohl sich die Medien in ihren Vorberichten auf die science-fiction-haften technischen Spielereien konzentrierten – auf thermobarische Bomben, Mikrowellenwaffen, unbemannte Flugkörper, Pack-Bot-Roboter, Stryker-Kampffahrzeuge –, werden die wahren radikalen Umwälzungen im Bereich der Organisation und sogar im Begriff des Kriegs selbst liegen (das zumindest behaupten die Kriegsperfektionisten).

Die bizarre Sprache des Büros für Truppenumbildung im Pentagon […] hat ein neuartiges Fabelwesen geboren, eine Art «strategisches Ökosystem», auch als «netzwerkzentrierte Kriegsführung» (NCW) bekannt. Militaristische Futuristen preisen diese Technik, die Leben schont, indem sie Zermürbung durch Präzision ersetzt, als eine «minimalistische» Form des Kriegs. Tatsächlich aber könnte NCW den Weg zum Atomkrieg bahnen. […]

Donald Rumsfeld ist wie Dick Cheney, aber anders als Colin Powell, ein Anhänger von RMA/​NCW-Phantasien. Der zweite Irak-Krieg ist in ihren Augen die unverzichtbare Bühne, um dem Rest der Welt Amerikas absolute Überlegenheit zu demonstrieren. Bis heute verfolgt von der Katastrophe in Mogadischu 1993, als schlecht bewaffnete somalische Milizen die besten Elitetruppen des Pentagons besiegten, müssen die Kriegsperfektionisten nun zeigen, dass sich die Vernetzungstechnik in Straßenkämpfen bewährt. Zu diesem Zweck setzen sie auf eine Kombination aus Schlachtfeld-Allwissenheit, intelligenten Bomben und neuen Waffen mit Mikrowellenimpulsen und

Was aber, wenn das von RMA/​NCW erwartete neue Zeitalter der Kriegsführung nicht so prompt eintritt, wie es verheißen wurde? Was, wenn der Feind Wege findet, die ausschwärmenden Sensoren, die Spezialkräfte mit Nachtsichtausrüstung, die kleinen, Treppen steigenden Roboter und die mit Raketen bestückten Drohnen auszuschalten? Und was, wenn es irgendein nordkoreanisches Cyberwar-Kommando (beziehungsweise ein 15 Jahre alter Hacker aus Iowa) schaffen sollte, das «System der Systeme» hinter dem Gefechtsraum-Panoptikum im Pentagon zum Absturz zu bringen? […]

So wie die Präzisionswaffen die irren Allmachtsphantasien mit ihren strategischen Bombern von gestern wieder zum Leben erweckt haben, nährt RMA/​NCW die monströsen Phantasien einer funktionalen Einbeziehung von taktischen Nuklearwaffen in den elektronischen Gefechtsraum. Man sollte keinesfalls vergessen, dass die USA den Kalten Krieg mit der ständigen Androhung des «Ersteinsatzes» von Atomwaffen gegen einen konventionellen Angriff der Sowjetunion bestritten. Diese Schwelle ist nun herabgesetzt worden auf einen irakischen Gasangriff, auf nordkoreanische Raketenstarts oder sogar auf Terroranschläge in amerikanischen Städten.

Irak, «die unverzichtbare Bühne, um dem Rest der Welt Amerikas absolute Überlegenheit zu demonstrieren»? Das war im Wesentlichen die irrsinnige Ideologie des Triumvirats George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld. Und was aus den größenwahnsinnigen Plänen der Militärs im Irak geworden ist, nämlich Chaos und barbarischer Bürgerkrieg, wissen wir ja.

Dass die Sonne morgen wieder aufgehen wird, ist wesentlich wahrscheinlicher, als dass ich es erleben werde; und Letzteres ist wiederum wesentlich wahrscheinlicher, als dass mir in den nächsten Minuten ein Flugzeug aufs Dach fällt. Doch auch das Unwahrscheinlichste passiert. Roy Sullivan, Park Ranger aus Virginia, wurde in seiner 35-jährigen Karriere siebenmal vom Blitz getroffen, meist bei der Arbeit, aber einmal auch im Büro oder vor seinem Haus auf dem Weg zum Briefkasten; er erschoss sich mit über 70 Jahren, angeblich aus Liebeskummer. Wer nicht an den Zufall glaubt, sagt «Bestimmung» dazu; doch besser und wirklich erklären kann er damit bestimmt nichts. Sie haben es erraten: Es geht in diesem einleitenden Kapitel bereits um Zufall und Determinismus, einen grundlegenden Dualismus.

prinzipiell REINE

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Determinismus impliziert die Herausforderung, den Lauf der Welt vorherzusagen. Doch die Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit war für den Wissenschaftsphilosophen Karl Popper der «reinste Aberglaube». Beweis: Der Lauf der Welt ist wesentlich vom Zuwachs des menschlichen Wissens bestimmt; das ist aber nicht vorhersehbar – sonst wüssten wir bereits, was wir erst wissen werden.

 

(alles ist vorherbestimmt)

Ist dann der Laplace’sche Dämon, dieses absolute Extrem, in der Makrowelt im Prinzip überhaupt ernsthaft denkbar? Oder ist er vielmehr von vornherein ein prinzipiell unmögliches Denkkonstrukt? Darauf werde ich im Kapitel 8 zurückkommen.