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Als Wilhelm kam


Als Wilhelm kam


1. Auflage

von: Hector Hugh Munro

CHF 5.00

Verlag: VSS-Verlag
Format: PDF
Veröffentl.: 05.07.2018
ISBN/EAN: 9783961271191
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 201

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

Während eines Forschungsaufenthalts in Sibirien erfährt der Engländer Murrey Yeovil vom Seesieg der Deutschen und der Besetzung seiner Heimat durch die Truppen des Kaisers. Bei seiner Rückkehr nach London sieht er die zweisprachigen Hinweisschilder und die Institutionen der Besatzer. Er empfindet ihre Präsenz als nationale Schmach. Der englische König residiert in New Delhi. Viele begüterte Familien sind mit ihm ins indische Exil gegangen. Die Zurückgebliebenen haben sich mit dem Fait accompli abgefunden. Für manchen Patrioten die schlimmste Demütigung: Die Engländer werden von der Militärpflicht entbunden. Die Deutschen setzen auf Kollaboration und endgültige Fakten. Aber wird es ihnen gelingen, die Jugend zu gewinnen - und damit die Zukunft?
In seinem bereits 1913 geschriebenen und 1914 veröffentlichten Roman When William Came schildert Hector Hugh Munro ein England, das vom deutschen Kaiser Wilhelm II. erobert wurde. Das Buch macht sich einerseits über die Verhaltensweisen der preußischen Besatzer lustig (die das Viktoriadenkmal vor dem Buckingham Palast in "Großmutter-Denkmal" umbenennen), wie auch in scharfer Satire über die "vorherzusehenden" peinlichen Anbiederungsversuche weiter Teile der britischen Oberschicht an die Sieger.
Dieser SF-Klassiker liegt hier in der nie veröffentlichen Übersetzung von Dr. Heinrich Schönfeldt aus dem Jahr 1921 unter Bearbeitung von Sarah Schmidt vor.
Cicely Yeovil saß in einem niedrigen Schaukelstuhl und betrachtete abwechselnd sich selbst im Spiegel und den zweiten Anwesenden im Raum in natura. Beide Anblicke erfüllten sie mit sichtlicher Befriedigung. Ohne eitel zu sein, legte sie Wert auf ein gutes Aussehen, sowohl bei sich selbst als auch bei anderen, und der junge Mann am Klavier, den sie betrachtete, hätte auch bei einer strengeren und kritischeren Musterung günstig abgeschnitten. Wahrscheinlich war sie ausgiebiger und mit größerer Anerkennung in den Anblick des Klavierspielers versunken als in ihr eigenes Spiegelbild; ihr gutes Aussehen war ein ererbter Besitz, der sie mehr oder weniger ihr ganzes Leben lang begleitet hatte, während Ronnie Storre eine verhältnismäßig neue Errungenschaft war, sozusagen durch ihre eigene Initiative entdeckt und erworben, mit ihrem persönlichen guten Geschmack ausgewählt. Das Schicksal hatte sie mit hinreißenden Wimpern und einem edlen Profil ausgestattet. Ronnie war eine Schwäche, die sie sich selbst zugestanden hatte.
Cicely hatte sich schon vor langer Zeit eine eigene Lebensphilosophie zurechtgelegt und sich mit Entschiedenheit ans Werk gemacht, um diese Philosophie in die Praxis umzusetzen. „Wenn die Liebe vergangen ist, wie wenig versteht dann selbst der Liebende von der Liebe“, pflegte sie einen ihrer Lieblingsdichter im Stillen zu zitieren und verwandelte die Aussage in: „Solange unser Leben andauert, wie wenig versteht da selbst der Materialist vom Leben.“ Die meisten Leute, die sie kannte, nahmen endlose Quälereien und vorbeugende Maßnahmen auf sich, um ihr Leben zu erhalten und zu verlängern und sich die Kraft zur Freude ungeschmälert zu bewahren. Wenige, nur sehr wenige, so schien es, unternahmen jedoch einen intelligenten Versuch, zu begreifen, worum es ihnen eigentlich ging, wenn sie von Lebensgenuss sprachen, oder herauszufinden, welches die besten Mittel waren, um derartige Wünsche zu befriedigen. Und noch weniger setzten ihre ganze Kraft zum Erreichen des einzigen, ungeheuer hochgesteckten Ziels ein, nämlich das äußerste Maß dessen zu bekommen, was sie sich wünschten. Ihr Lebenszweck war nicht ausschließlich egoistischer Natur, doch niemand konnte so gut wissen wie sie selbst, was sie wirklich wollte, und deshalb war sie der Ansicht, dass sie die am besten geeignete Person war, um ihre Ziele zu verfolgen und ihren eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Wenn man zuließ, dass andere für einen dachten und handelten, bedeutete das nur, dass man ständig für eine Menge gut gemeinter und im Allgemeinen unbefriedigender Dienste dankbar sein musste. Es war wie in dem Fall eines reichen Mannes, welcher der Gemeinde eine Bibliothek stiftete, während die Gemeinde vermutlich nichts anderes begehrte als eine freie Vergabe der Angelgenehmigungen und die Senkung der Straßenbahngebühren. Cicely erforschte ihre eigenen Launen und Wünsche, stellte Versuche an, wie sie ihnen am wirkungsvollsten entsprechen konnte, verglich die gesammelten Ergebnisse ihrer Versuche miteinander und gewann schließlich eine sehr klare Vorstellung davon, was sie im Leben wollte und wie sie es am besten erreichen konnte. Sie war von ihrer Veranlagung her keine egozentrische Seele, deshalb beging sie nicht den Fehler, anzunehmen, dass jemand erfolgreich und anständig in einer dicht bevölkerten Welt leben konnte, ohne angemessene Rücksicht auf die menschlichen Wesen ringsum zu nehmen. Sie war instinktiv ihren Mitmenschen gegenüber entschieden umsichtiger als so manch andere Personen, die wahrhaftig, doch ohne das selbst einzusehen, süchtig nach Selbstlosigkeit waren. Überdies bewahrte sie in ihrem Arsenal noch jene Waffe auf, die so unglaublich wirkungsvoll sein kann, wenn sie von einem durch und durch rechtschaffenen Individuum schonend eingesetzt wird — das Wissen darum, wann es gut und angemessen ist, zu lügen.
Ehrgeiz bestimmte bis zu einem gewissen Maß ihr Leben und beeinflusste es vielleicht mehr, als sie es selbst ahnte.
Sie sehnte sich danach, dem düsteren Dasein als ein Niemand zu entfliehen, doch die Flucht musste auf eine ihr passende Weise und zu der von ihr gewählten Zeit durchgeführt werden; von Ehrgeiz beherrscht zu werden, war höchstens eine oder zwei Nuancen besser, als von der Tradition beherrscht zu werden.
Der Salon, in dem sie und Ronnie saßen, hatte solche Ausmaße, dass man nicht so recht wusste, ob er als einer oder mehrere Räume gedachtd war, und er hatte den Vorteil, um zwei Uhr an einem besonders heißen Julinachmittag angenehm kühl zu sein. In der kühlsten seiner vielen Nischen hatten Diener lautlos eine improvisierte Mittagstafel aufgebaut: ein verlockendes Buffet mit Kaviar, Krabben- und Pilzsalaten, kaltem Spargel, schlanken Weißweinflaschen und langstieligen Weinkelchen, die mitten aus einem Gesteck von Charlotte-Klemm-Rosen herauslugten.
Cicely stand auf und ging zum Klavier.
„Komm“, sagte sie und berührte den jungen Mann leicht mit einer Fingerspitze auf dem sehr gepflegten, Kupfer getönten Kopf. „Wir wollen heute ein kleines Mittagessen, eher ein Picknick, hier oben einnehmen; es ist um einiges kühler als in den Räumen unten, und wir werden nicht vom Personal gestört werden, das ständig herein- und hinaustrampelt. Findest du nicht, dass das eine gute Idee von mir war?“
Nachdem Ronnie sich durch einen gierigen Blick davon überzeugt hatte, dass das Wort „Picknick“ nicht Sandwiches mit Zunge sowie Kekse bezeichnete, gab er der Idee seinen Segen.
„Welchen Beruf hat der junge Storre?“, hatte einmal jemand in Bezug auf ihn gefragt.
„Er hat eine Vielzahl von Freunden, die über unabhängiges Einkommen verfügen“, hatte die Antwort gelautet.
Das Mahl wurde in genüsslichem Schweigen begonnen; ein Picknick, bei dem drei Sorten von Cayennepfeffer für den Kaviar dargeboten waren, verlangte einen gewissen Grad von achtungsvoller Aufmerksamkeit.
„Mein Herz sollte wie ein Singvogel jubilieren, schätze ich“, sagte Cicely schließlich.
„Weil dein Gemahl heute nach Hause zurückkehrt?“, fragte Ronnie.
Cicely nickte.
„Man erwartet ihn irgendwann heute Nachmittag, obwohl ich nur ungenau darüber informiert bin, mit welchem Zug er ankommt. Ein ziemlich stickiger Tag für eine Eisenbahnreise.“
„Und hält sich dein Herz an die Sache mit dem Singvogel?“, fragte Ronnie.
„Das hängt davon ab“, sagte Cicely, „ob mir die Wahl des Vogels vorbehalten ist. Eine Misteldrossel wäre vielleicht angemessen; sie singt am lautesten vor Unwettern, soweit ich weiß.“
Ronnie verzehrte erst zwei oder drei Stangen Spargel, bevor er auf diese Bemerkung einging.
„Wird es denn ein Unwetter geben?“, erkundigte er sich.
„Das häusliche Barometer tendiert dahin“, erklärte Cicely. „Verstehst du, Murrey ist so wahnsinnig lange weg gewesen, und natürlich wird es vieles geben, an das er nicht gewöhnt ist; ich befürchte, es wird eine Zeit lang alles ziemlich angespannt und ungemütlich sein.“
„Willst du damit andeuten, dass er Einwände gegen mich haben könnte?“, fragte Ronnie.
„Nicht im Geringsten“, entgegnete Cicely, „er ist in vielerlei Hinsicht sehr großzügig, und es ist ihm bewusst, dass wir in einer Zeit leben, in der vernünftige Menschen ganz genau wissen, was sie wollen, und entschlossen sind, auch das zu bekommen, was sie wollen. Es gefällt mir, dich häufig zu sehen und dich zu verwöhnen und dir ausgefallene Komplimente wegen deines guten Aussehens und deiner Musik zu machen und mir gelegentlich einzubilden, dass ich in Gefahr bin, allzu viel Gefallen an dir zu finden. Ich kann daran nichts Schlimmes finden, und ich glaube nicht, dass es bei Murrey anders ist — tatsächlich wäre ich gar nicht mal überrascht, wenn er ebenfalls Zuneigung zu dir fassen würde. Nein, es ist die allgemeine Situation, die ihn bekümmern und ärgern wird. Er hatte noch keine Zeit, sich an die vollendeten Tatsachen zu gewöhnen, so wie wir. Das Ganze wird mit unerträglicher Plötzlichkeit über ihn hereinbrechen.“
„Er hielt sich bei Ausbruch des Krieges irgendwo in Russland auf, nicht wahr?“, sagte Ronnie.
„Irgendwo in der Wildnis von Ostsibirien, jagend und Vögel sammelnd, meilenweit von jeglicher Eisenbahnlinie oder Telegrafenstation entfernt, und alles war vorbei, bevor er etwas davon erfuhr; es hat ja auch nicht allzu lange gedauert, wenn man es genau bedenkt. Ungefähr zu jener Zeit hätte er nach Hause zurückkehren sollen, und als die Wochen verstrichen, ohne dass ich etwas von ihm hörte, lag für mich die Vermutung nahe, dass er im Baltikum oder irgendwo auf dem Rückweg gefangengenommen worden war. Es stellte sich dann heraus, dass er an irgendeinem gottverlassenen Ort mit Malaria darniederlag, und alles war geschehen und vollbracht, bevor er in die Zivilisation und in die Nähe von Zeitungen zurückkehrte.“
„Das muss ein gewaltiger Schock für ihn gewesen sein“, sagte Ronnie, während er sich eifrig mit einem fantasievoll angerichteten Salat beschäftigte. „Trotzdem leuchtet mir nicht ganz ein, warum es bei seiner Rückkehr ein häusliches Unwetter geben sollte. Du bist doch wohl kaum für die Katastrophe, die sich ereignet hat, verantwortlich zu machen.“
„Nein“, sagte Cicely, „aber er wird bei seiner Rückkehr selbstverständlich erschüttert und erbost sein über all das, was er um sich herum sieht, und er wird nicht gleich erkennen, dass wir diese Gefühle ebenfalls durchgemacht haben und inzwischen in einem Stadium angelangt sind, in dem wir uns mit finsterer Gleichgültigkeit in das Unvermeidliche fügen. Er wird beispielsweise nicht verstehen, dass uns Gorla Mustelfords Debüt begeistern und erfreuen kann, und derartige Dinge; er wird uns für eine Bande von gefühllosen Genusssüchtigen halten, die tanzen, während Rom brennt.“
„In diesem Fall“, warf Ronnie ein, „brennt Rom nicht, es ist bereits verbrannt. Das einzige, was uns übrig bleibt, ist, es wieder aufzubauen - falls möglich.“
„Genau, und er wird sagen, dass wir nicht viel zum Wiederaufbau beitragen.“
„Aber“, ereiferte sich Ronnie, „das alles ist doch gerade erst geschehen. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und wir können Rom nicht an einem Tag wiederaufbauen.“
„Ich weiß das“, sagte Cicely, „aber viele unserer Freunde, besonders Murreys Freunde, haben das Ganze überaus tragisch genommen und sich in die Kolonien abgesetzt oder sich in ihren Landhäusern vom Leben zurückgezogen, als ob eine Art von moralischer Lepra-Epidemie London heimgesucht hätte.“
„Ich verstehe nicht, was damit erreicht werden soll“, sagte Ronnie.
„Damit wird gar nichts erreicht, aber viele von ihnen haben so gehandelt, weil es ihrem Gemütszustand entsprach, so zu handeln, und Murreys Gemütszustand wird es ebenfalls entsprechen, so zu handeln. Deshalb rechne ich mit Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten.“
Ronnie hob die Schultern.
„Ich würde das Ganze ebenfalls tragisch nehmen, wenn ich einen Sinn darin sähe“, sagte er. „Beim derzeitigen Stand der Dinge ist es bereits zu spät, um noch etwas zu tun, und zu früh, um sich in irgendeiner anderen als der rein philosophischen Weise mit einer möglichen Hilfe zu befassen. Im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als das Beste aus der Situation zu machen. Außerdem kann man Gorla wohl schlecht im letzten Moment hängenlassen.“
„Ich werde Gorla nicht hängenlassen und auch sonst niemanden“, sagte Cicely entschieden. „Mir käme das töricht vor, und ich halte nichts von Torheit. Deshalb sehe ich ein Unwetter am häuslichen Horizont heraufziehen. Schließlich muss Gorla an ihre Karriere denken. Weißt du“, fügte sie mit verändertem Tonfall hinzu, „ich wünschte mir eigentlich, du würdest dich in Gorla verlieben, das würde mich schrecklich eifersüchtig machen, und ein bisschen Eifersucht ist ein wunderbares Elixier für eine Frau, die auf ihr Äußeres etwas gibt. Außerdem, Ronnie, würde das beweisen, dass du fähig bist, dich zu verlieben, woran ich bis zum heutigen Tag meine heftigsten Zweifel habe.“
„Die Liebe ist eins der wenigen Dinge, bei denen der Vortäuschung gegenüber dem Echten der Vorzug gebührt“, sagte Ronnie. „So dauert sie länger, man hat mehr Spaß daran, und es findet sich schneller ein Ersatz, wenn es vorbei ist.“
„Dennoch, es ist eher wie das Spielen mit buntem Papier anstatt mit Feuer“, widersprach Cicely.
Ein Diener kam in die Nische, und zwar mit der geübten Lautlosigkeit, mit der man sich auf taktvolle Weise bemerkbar macht.
„Mr. Luton ist gekommen, um seine Aufwartung zu machen“, verkündete er. „Soll ich sagen, dass Sie zu Hause sind?“
„Mr. Luton? O ja“, sagte Cicely. „Er wird uns sicher noch etwas zu Gorlas Auftritt mitzuteilen haben“, fügte sie, an Ronnie gewandt, hinzu.

Tony Luton war ein junger Mann, der aus dem einfachen Volk emporgestiegen war und gut dafür gesorgt hatte, nicht wieder dahin zurückzufallen. Er war höchstens zwanzig Jahre alt, doch hinter seiner munteren und unbekümmerten äußeren Erscheinung verbarg sich eine dicht gepackte Chronik voller Wechselhaftigkeit. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er davon gelebt - der Himmel mochte wissen wie -, dass er irgendwelche kleineren Engagements bei irgendwelchen kleineren Musikbühnen bekam. Manchmal arbeitete er auch vorübergehend als Sekretär-Kammerdiener-Gesellschafter eines lebenslustigen Invaliden und aß hin und wieder Straußeneier und Spargel in einem der besseren Restaurants des West End; ein andermal genoss er einen Hering oder ein Würstchen in einem stickigen Speisehaus in der Edgware Road - dem Anschein nach stets vom Leben amüsiert, und auch stets selbst amüsierend. Es ist möglich, dass in einem Herzen wie dem seinen eine schwärende Verbitterung gegen die ungerechten Seiten des Lebens lauerte oder auch ein Fetzen Dankbarkeit für den einen oder anderen seiner Freunde, die ihm uneigennützig geholfen hatten, doch seine nächsten Vertrauten hätten das Vorhandensein solcher Gefühle nicht einmal erahnen können. Tony Luton war einfach nur der frohgemute, tanzende Faun, den das Schicksal in die Großstadt anstatt in den Wald verschlagen hatte, und es wäre im höchsten Maße unkünstlerisch gewesen, ihm eine Heilung des Herzens oder seines Herzeleids vorzuschlagen.
Der Tanz des Fauns gewann eines Tages einen lebhafteren und selbstsichereren Schwung, die Heiterkeit wurde echter, und die schlimmste Wechselhaftigkeit schien plötzlich überstanden zu sein. Ein musikalischer Freund, der mit einer mittelmäßigen, aber vermarktbaren Begabung ausgestattet war, lieferte Tony einen Song, mit dem ihm probeweise ein Auftritt in einem Saal am East End zugestanden wurde. Er kleidete sich als Jockey, und zwar allein aus dem Grund, weil ihm dieses Kostüm gut stand, und sang: „Die Buben schluckten sprudelnden Blubberfusel und glucksten am Lustgarten-Brunnen“ vor einem wohlgesinnten Publikum, zu dem auch der Geschäftsführer eines berühmten Varietétheaters des West End gehörte. Tony und sein Song gewannen das geschäftsführerische Interesse und wurden sofort in das Haus am West End verpflanzt, wo sie einen Erfolg verbuchten, den die angeschlagene Musiktheater-Branche in diesem Moment dringend nötig hatte.
Es war die Zeit unmittelbar nach der Katastrophe, und die Menschen der Londoner Welt waren nicht in der Stimmung, nachzudenken. Sie hatten erlebt, wie das Unbegreifliche über sie hereingebrochen war, sie hatten nichts, auf das sie den Blick richten konnten, außer dem politischen Ruin, und sie waren eifrig bemüht, in die andere Richtung zu sehen. Der Text von Tonys Song war so gut wie bedeutungslos, obwohl er ihn bemerkenswert gut sang, doch die Melodie mit ihrem Hauch Durchtriebenheit und der verstohlenen Fröhlichkeit sprach auf eine unerklärliche Weise die Leute an, die insgeheim unglücklich waren, jedoch eine hartnäckige Fröhlichkeit an den Tag legten.
„Was sein muss, muss sein“, und: „Es muss ein armes Herz sein, das niemals jauchzt“, waren beliebte Aussprüche des Londoner Volks zu jener Zeit, und die Menschen, die diesem Volk etwas bieten wollten, waren dankbar, wenn sie über eine Idee stolperten, die in die vorherrschende Stimmung passte. Zum ersten Mal in seinem Leben erkannte Tony Luton, dass Agenten und Manager zur gemächlich arbeitenden Klasse gehörten und dass Bürogehilfen ein gutes Benehmen hatten.
Er betrat Cicelys Salon mit der Art eines Menschen, für den ein gutes Benehmen lediglich ein schmückender Degen in der Scheide war, eher ein höfisches Zubehör als ein Handwerkszeug. Er war dezenter gekleidet als die übliche Meute von Musiktheater-Kleinstars; er hatte das Leben aus zu vielen Blickwinkeln kritisch betrachtet, um nicht zu wissen, dass Kleider zwar keine Leute machen, diese jedoch sehr wohl in Verruf bringen können.
„Vielen Dank, ich habe bereits gegessen“, antwortete er auf eine Frage von Cicely. „Vielen Dank“, sagte er ein zweites Mal fröhlich zustimmend, als ihm ein Weißwein in einem hohen, eiskalten Kelch angeboten wurde.
„Ich bin gekommen, um Sie über die letzten Neuigkeiten hinsichtlich des Gorla-Mustelford-Abends zu unterrichten“, fuhr er fort. „Der alte Laurent macht sich für die Veranstaltung stark, und es wird ziemlich viel Wirbel darum gemacht. Sie wird die Russen an russischer Seele übertreffen. Natürlich verfügt sie weder über deren Technik noch über ein Zehntel deren Übung, aber sie wird mit massiver Werbung unterstützt. Der Name Gorla ist fast schon Werbung an sich, und dazu kommt der Umstand, dass sie die Tochter eines Adligen ist.“
„Sie hat Temperament“, bemerkte Cicely mit der Entschlossenheit von jemandem, der eine unklare Äußerung zu einer guten Sache abgibt.
„Das sagt Laurent auch“, bestätigte Tony. „Er entdeckt bei jeder Person Temperament, die er groß rausbringen will. Er hat mir gesagt, ich hätte Temperament in den Fingerspitzen, und ich war zu höflich, ihm zu widersprechen. Aber das Wichtigste über das Mustelford-Debüt habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt. Es ist quasi ein streng gehütetes Geheimnis und Sie dürfen bis um halb fünf keiner Menschenseele etwas davon flüstern; um die Zeit wird es dann in den Sechsuhrausgaben aller Zeitungen zu lesen sein.“
Tony hielt zur Unterstreichung des dramatischen Effekts inne, während er den Inhalt seines Weinkelchs hinunterkippte, und dann rückte er mit seiner Mitteilung heraus.
„Seine Majestät wird zugegen sein. Informell und inoffiziell, aber immerhin leibhaftig anwesend. Ein zwangloser Besuch, sorgsam durch unbestätigte Gerüchte eine Woche im Voraus verbreitet.“
„Herrje!“, rief Cicely in echter Empörung aus. „So ein hinterhältiger Streich! Ich möchte wetten, dahinter steckt Lady Shalem. Das wird ein schöner Reinfall werden, vermute ich.“
„Vertrauen Sie Laurent, er wird sich um alles kümmern“, sagte Tony. „Er weiß, wie er das Haus mit der richtigen Art von Leuten füllen kann, und er ist kein Mann, der ein Fiasko riskiert. Er weiß, was er tut. Ich sage Ihnen, es wird ein großartiger Abend werden.“
„Weißt du was?“, rief Ronnie plötzlich aus. „Veranstalte doch einfach anlässlich des Abends ein Essen für Gorla in deinem Haus, und lade diese Shalem und ihren ganzen Anhang ein. Das wird schrecklich witzig.“
Cicely nahm diesen Vorschlag mit verhaltener Begeisterung auf. Sie hatte für Lady Shalem nicht besonders viel übrig, aber sie fand, dass sie zumindest dem äußeren Anschein nach einen freundlichen Umgang mit ihr pflegen sollte.
Grace, Lady Shalem, war eine Frau, die plötzlich zu Wichtigkeit erblüht war, indem sie sich zu so etwas wie der Ziehmutter des Fait accompli, der vollendeten Tatsachen, aufgeschwungen hatte. Zu einem Zeitpunkt, als London die meisten früheren Größen des öffentlichen Lebens verloren hatte, hatte sie ihre Chance gesehen und sie zu ihrem Vorteil genutzt. Sie hatte sich nicht damit begnügt, sich dem Unausweichlichen zu beugen, sie hatte ihm die Hand hingestreckt und sich gezwungen, ihm mit einem reizenden Lächeln zu begegnen, und ihre höfliche Aufmerksamkeit wurde erwidert. Lady Shalem, die weder schön noch geistreich war und auch keine große Dame im herkömmlichen Sinn, war auf dem besten Weg, eine mächtige Person im Land zu werden. Andere, die fähiger waren und ein größeres Anrecht auf gesellschaftliche Anerkennung hatten, würden sie zur gegebenen Zeit sicher in den Schatten stellen und sie auf ihren Platz verweisen, doch im Moment war sie jemand, deren Gunst einiges wert war, und Cicely war sich durchaus des Vorteils bewusst, diese Gunst zu besitzen.
„Es wäre ein netter Spaß“, sagte sie, während sie sich die Möglichkeiten der vorgeschlagenen Dinnerparty durch den Kopf gehen ließ.
„Es wäre angenehm und nützlich zugleich“, ergänzte Ronnie eifrig. „Du könntest alle möglichen interessanten Leute zusammenbringen, und es wäre eine ausgezeichnete Werbung für Gorla.“
Ronnie schätzte Abendgesellschaften grundsätzlich, doch er dachte auch an den Vorteil, den das Hauskonzert, das Cicely in ihrem Salon plante (mit ihm selbst als Hauptattraktion) und bei dem er einem größeren Kreis von Musikförderern vorgestellt werden konnte, ihm bieten würde.
„Ich weiß, dass es nützlich wäre“, sagte Cicely, „man könnte es beinahe als historisch bezeichnen; man weiß ja nie, wer nicht alles zu einem solchen Anlass erscheint - und im Bereich der Unterhaltung herrscht zurzeit eine entsetzliche Flaute.“
In diesem Moment machte sich die ehrgeizige Seite ihres Charakters bemerkbar.
„Lass uns in die Bibliothek gehen und eine Liste der einzuladenden Leute zusammenstellen“, sagte Ronnie. Ein Diener trat ein und machte eine knappe Meldung.
„Mr. Yeovil ist angekommen, Madam.“
„Mist“, sagte Ronnie übel gelaunt. „Jetzt wird deine Begeisterung für die Dinnerparty erst einmal wieder abkühlen und du wirst Gorla und dem Rest von uns eine Abfuhr erteilen.“
Es stimmte allerdings, dass der Vorschlag, ein Essen zu geben, in Cicelys Augen jetzt entschieden schwieriger durchführbar erschien, als noch einen Moment zuvor.
„Du wirst meine einzige Tochter nicht vergessen, auch wenn Saphia übers Meer gekommen ist“, zitierte Tony mit einem spöttischen Grinsen in der Stimme und in den Augen.
Cicely ging hinunter, um ihren Mann zu begrüßen. Sie hatte das Gefühl, wahrscheinlich ziemlich froh darüber zu sein, dass er wieder einmal zu Hause war; und sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich in dieser Hinsicht nicht sicherer war. Doch selbst ein geliebter Mensch kann den falschen Augenblick für seine Rückkehr wählen. Wenn Cicely Yeovils Herz einem Singvogel glich, dann einer Sorte, die häufig in Schweigen verfällt.

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