Details

Die Flucht nach Megoy Ta


Die Flucht nach Megoy Ta

Band 3 der Engelsjünger-Saga
1. Auflage

von: Manfred Schumacher

CHF 6.00

Verlag: VSS-Verlag
Format: PDF
Veröffentl.: 15.04.2023
ISBN/EAN: 9783961273263
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 428

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

Island, 2040: Aliens, die von anderen Aliens verfolgt werden, verschlägt es auf die Insel im Nordmeer. Einige Einheimische, denen sie ein besonderes Lebenselixier versprechen, verstecken sie. Deren Hilfe haben sie bitter nötig, weil ihnen nicht nur eindlich gesinnte Außerirdische an den Kragen wollen. Auch eine zusammengewürfelte Truppe amerikanischer „Weltraumpolizisten“, die sie einkassieren will, bevor es die internationale Konkurrenz tut, ist ihnen auf den Fersen. Aber sie erhalten auch unerwartet Hilfe - von zwei Menschen mit ganz speziellen Kräften.

Die dreibändige Engelsjünger-Saga präsentiert in einzigartiger Weise Science Fiction, die nahezu ausschließlich auf der Erde stattfindet. Ein Epos, das eine neuartige E.T.-Story für Erwachsene entrollt mit Aliens, die nach Hause wollen und vor ihren Verfolgern auf der Hut sein müssen.

Jeder Band der Engelsjünger-Saga ist in sich abgeschlossen und nahezu
unabhängig von den anderen Bänden lesbar.

Manfred Schumacher lebt in Rheinhessen, studierte Anglistik/Amerikanistik, Politik und Philosophie und promovierte über ein literaturwissenschaftliches Thema. Später leitete er eine PR-Agentur. Im vss-Verlag erschienen bereits von ihm der historische Roman Der Hurenwagen (2021), der Katastrophen-Thriller Eiskalte Berge (2022) sowie – in Zusammenarbeit mit seiner Tochter Eva Vanessa Nagel unter dem Pseudonym E.M. Schumacher - der 1. Band der dreibändigen Engelsjünger-Saga mit dem Titel Das Geheimnis der Wächter (ebenfalls 2022), sowie als alleiniger Autor mit dem Titel Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Kristall den zweiten Band der Saga.
Notteri, Sardinien – 26. September, 2028

Der überschaubare Ort an der Südspitze Sardiniens versprühte an diesem Dienstagmorgen rein gar nichts von seinem mediterranen Charme, weswegen ihn Touristen fast rund ums Jahr aufsuchten. Das Wetter war trüb, der Himmel bedeckt und trist. Es nieselte stark und das Wasser in den Buchten ringsum war bleigrau und stumpf. Auch die Lagune, die sich abseits vom Strand bei Notteri am Südzipfel der Insel ausbreitete und ihr den Namen gab, Stagno di Notteri, lag dunkel hinter einem grauen Nebelschleier. Mariedda Sanna bemerkte es, als sie nach links aus dem Wagenfenster blickte. Sie schaute hinüber auf das Wasser, dessen Oberfläche sich im Regen kräuselte. Jenseits davon fiel ihr Blick auf die Kuppe an der Westspitze der Landzunge, wo sie die dunklen, schemenhaften Umrisse der alten Festung wahrnahm.
Sie sah wieder nach vorn, blickte auf den nassen Straßenbelag und lauschte dem quietschenden Geräusch der Scheibenwischer, die über die Frontscheibe kratzten. Sie reckte den Hals und suchte im Rückspiegel das verschlafene, blonde Gesicht ihrer Tochter auf der Rückbank. Mariella schien noch vor sich hin zu dösen. Mariedda löste ihren Blick von der Kleinen und ihre Augen wanderten im Spiegel hinüber zu Alessio, dessen von schwarzen Locken eingerahmtes Gesicht an der Seitenscheibe klebte. Er starrte gelangweilt auf die Lagune, die an ihm vorbeizog. Mariedda seufzte und sah wieder nach vorn auf die Straße.
Während sie den Bogen um die Lagune nahm, machte sie sich zum zigsten Mal Gedanken darüber, wie Mariella wohl im Instituto mit den anderen Kindern, ihren neuen Schulkameradinnen, zurechtkommen würde. Es war noch viel zu früh, etwas darüber zu sagen, gestand sie sich ein. Mariella war erst vor wenigen Tagen frisch eingeschult worden, und Mariedda hatte auf die Fragen, wie es denn in der Schule gewesen war, wenig aus ihr herausbekommen. Am nahen Wasser staksten ein paar einsame Flamingos herum, die der Regen nicht davon abhielt, in der seichten, brackigen Brühe der Lagune nach Nahrung zu stochern. Das lenkte Mariedda von ihren Gedanken ab. Sie setzte den Blinker nach links und bog auf die Via dei Ginepri. Vielleicht hätten sie doch vor Jahren in den Westen der Insel ziehen sollen, kam ihr plötzlich wieder in den Sinn. Sie strich sich eine dunkle Locke ihres langen Haars aus der Stirn, das ihr tief über den Rücken fiel. Es fröstelte sie auf einmal und sie zog sich die Strickjacke fester um die Schultern. Sie hatte sich die Frage seither öfter gestellt.
Sergio und sie hatten es sich damals überlegt, nachdem Sergios Vater gestorben war. Seine Mutter lebte seither allein in einem recht großen Haus und hätte sich gewiss darüber gefreut, wenn sie zu ihr nach Nebida gezogen wären, das ja auch Sergios frühere Heimat war. Sie hätten es vielleicht tun sollen, ging Mariedda durch den Kopf. Sie bog in die Via dei Giunchi ab. Vielleicht hätten sie es damals wirklich tun sollen. Das Leben in den Bergen des Südwestens verlief anonymer und einsamer als an der Südspitze mit Nachbarn ringsherum, die sich gern hinter vorgehaltener Hand über anderer Leute Dinge den Mund zerredeten. Über Mariella hatten sie es getan, sehr früh sogar. Hauptsächlich wegen ihres fremdartigen Aussehens. Jetzt mit sechs war sie im Vergleich zu Gleichaltrigen, auch den Jungs, lang wie eine Latte und hatte flachsblondes Haar. Schwerer fiel noch ein anderer Unterschied ins Gewicht. Die anderen Kinder hänselten sie wegen ihrer langen Finger. Es hatte im Kindergarten angefangen. Sie habe Finger wie eine Spinne, hatte sie ihr zu Hause traurig erzählt. Spinnenfinger würden sie sie nennen. Mariella Spinnenfinger. Habe ich wirklich viel zu lange Finger, Mama, hatte sie ängstlich gefragt. Mariedda hatte sie immer wieder beruhigt, aber die Hänseleien waren geblieben. Mariedda hoffte, dass es jetzt in der Grundschule besser würde. Dass sich ihre kleine Tochter in ihrer neuen Klasse wohlfühlen würde. Mariedda reckte erneut den Hals und warf im Rückspiegel einen kurzen Blick auf Mariella. Dann schaute sie wieder nach vorn, sah das vor wenigen Jahren neu erbaute Instituto Comprensivo von Villasimius vor sich und lenkte den weißen Fiat Punto in den Hof.
Sie steuerte den Wagen auf den Bedienstetenparkplatz links von dem grün und weiß gestrichenen Gebäude. Glücklicherweise wusste keiner von Mariellas Kräften, schoss es ihr durch den Kopf, als sie den Motor ausschaltete und die Wagentür öffnete. Der Heiligen Mutter Gottes sei Dank! Sie unterdrückte den Impuls, das Kreuzzeichen zu schlagen, und stieg aus. Alessio hatte die hintere Wagentür bereits aufgedrückt und war eifrig damit beschäftigt, sich die Riemen seines Schulranzens über die Schultern zu streifen. Er war noch mitten in der Bewegung, als er sich bereits zum Hof hin umdrehte und quer über den breiten Asphaltplatz auf den Eingang zueilte. Zwei gleichaltrige Jungen nahmen ihn in Empfang und die drei verschwanden im Gebäude. Nur Sergio und sie wussten von den Kräften, dachte Mariedda erneut, als sie den Blick von der breiten gläsernen Eingangstür abwandte. Der Gedanke erfüllte sie mit Erleichterung. Und Sergios Mutter, korrigierte sie sich. Ihre Schwiegermutter ebenfalls, weil Mariella sie vor zwei Jahren mit ihrem außergewöhnlichen Handauflegen von einem ekligen Bandscheibenleiden befreit hatte. Auch Alessio hatte es an dem Tag, als sie Mariella in der Bucht gefunden hatten, mitbekommen. Erstaunt dreingeschaut hatte er, als seine künftige kleine Schwester das lädierte Handgelenk seiner Mutter geheilt hatte. Aber er war noch zu klein gewesen, um es im Gedächtnis zu behalten. Er hatte es einfach vergessen und nie mehr danach gefragt. Mariedda strich sich ihren Rock glatt und umrundete den Punto. Sie öffnete die hintere Wagentür und warf Mariella einen auffordernden Blick zu. „Na, komm schon! Du wirst hier bestimmt viele Freundinnen finden, mein Schatz“, munterte sie ihre Tochter auf, während sie die Beifahrertür aufriss. Sie schnappte sich die geräumige Umhängetasche und klappte die Tür zu.
Mariella war schweigsam, während ihr Mariedda dabei half, die Riemen des bunten Scout-Ranzens über die Schultern zu bekommen. Lustlos arbeitete Mariella daran mit, und sie blieb schweigsam, bis sie die Treppe zum oberen Stockwerk betraten.
„Ella ist ganz nett“, sagte sie plötzlich, als sie den Treppenabsatz erreichten. Sie schaute zu ihrer Mutter hoch.
Mariedda hielt an. „Ist das die Kleine, neben der du sitzt?“, fragte sie mit ehrlicher Neugier. Andere Kinder, die meisten von ihnen älter als ihre Tochter, drängten sich an ihnen vorbei.
Mariella schüttelte den Kopf. „Das ist Lina. Die ist komisch.“ Sie verzog das Gesicht, um deutlich zu machen, was sie von ihr hielt.
„Lina?“, wiederholte Mariedda. „Lina Pilloni? Deren Vater hier unterrichtet.“ Mariedda sah ihre Tochter interessiert an.
Mariella zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“ Damit setzte sie sich wieder in Bewegung.
Wenig später waren sie am Eingang von Mariellas Klasse angelangt. Die Zeiger der Uhr, von der es, groß und rund wie eine Bahnhofsuhr, in jedem Stockwerk eine gab, zeigten 7 Uhr 53. Kinder strömten durch den Flur und steuerten auf ihre Klassenzimmer zu. Mariedda strich ihrer Tochter zärtlich über das helle Haar. Rasch entzog sich Mariella ihrer Berührung, warf ihr einen letzten Blick zu und verschwand in das Zimmer. Auf der Treppe kam Mariedda Luisa Ricci entgegen. Sie war Mariellas Klassenlehrerin und noch jung, kaum fünfundzwanzig. Sie stammte vom Festland und war im zweiten Jahr an der Schule. Sie trug eine blaue verwaschene Jeansjacke über einem geblümten Kleid und hatte einen hellen, speckigen Lederrucksack auf dem Rücken, der mindestens genauso abgenutzt wie die Jeansjacke aussah.
„Ciao, Mariedda!“, begrüßte Luisa sie.
Mariedda erwiderte die Begrüßung. „Ich …“, begann sie.
„Die ersten Tage sind für sie alle schwer“, ersparte Luisa ihr den verlegenen Versuch, sich erklären zu wollen. Sie garnierte es mit einem wissenden Lächeln. Sie ruckte mit dem Kopf zur Seite, als sie einen Riemen des Rucksacks zurechtrückte, und im Halblicht des Treppenhauses glänzte ihr kurzgeschnittenes Haar wie schwarze Seide. „So viel Neues und Ungekanntes, das auf sie einströmt“, erklärte sie. „Die ersten Tage sind für alle nicht einfach. Aber das legt sich ganz schnell. Du wirst sehen.“
„Ja, sicher.“ Mariedda warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Wir sehen uns.“
„Ja“, hörte sie in ihrem Rücken Luisas Antwort, als sich beide Frauen bereits wieder in entgegengesetzte Richtungen entfernten. Mariedda trat von der Treppe auf den Flur des unteren Stockwerks. Sie schritt durch den Flur, der frisch gewischt und noch feucht war. Unterwegs zum Sekretariat begegnete sie Lehrern und Schülern, die zu ihren Klassen und zum Lehrerzimmer eilten. Sie grüßte hier und da, öffnete die Tür zum Sekretariat und hatte den Geruch von frisch gekochtem Kaffee in der Nase. Sie wünschte Andria, die gerade ein Blatt sorgfältig auf die Glasplatte des Fotokopierers legte, einen guten Morgen. Im nächsten Moment beförderte sie die Umhängetasche in einen Spind, der sich neben einem der hohen Fenster befand. Sie ging zu einem Schreibtisch, der direkt hinter dem Tresen stand, und setzte sich auf den Stuhl davor. Sie saß kaum, da beugte sie sich auch schon nach vorn und startete den PC. Während der Rechner noch geräuschvoll hochfuhr, wechselte Mariedda einige Worte mit Andria, um dann die Kaffeemaschine anzusteuern.
Knapp zwei Stunden später rasselte die Pausenklingel deutlich vor der ersten großen Pause los. Mariedda und Andria sahen sich erstaunt an. Während sie noch rätselten, erlöste sie die Stimme von Direktorin Saba aus ihrer Ungewissheit.
„Alle Klassen versammeln sich zügig auf dem Schulhof. Folgt den Anweisungen eurer Lehrerinnen und Lehrer“, tönte eine unangenehm laute und etwas kratzige Frauenstimme aus dem Raumlautsprecher. „Wir haben das geübt. Macht es so, wie wir es geübt haben. Alle Klassen sofort auf den Schulhof. Das ist keine Übung. Ich wiederhole. Das ist keine Übung.“ Die Stimme der Schulleiterin verstummte. Dafür waren jetzt auf dem Flur Geräusche zu hören. Stimmen ertönten, die durcheinanderredeten. Die Tür zum Lehrerzimmer öffnete sich und Maestra Saltini, eine der älteren Lehrerinnen, eilte herein. Sie schien erregt und verwirrt, stützte beide Ellbogen auf den Tresen und sah die beiden Frauen mit großen Augen an.
„Was ist denn los?“, wollte Andria sofort von ihr wissen.
„Die Comando Stazione der Carabinieri hat eben angerufen“, antwortete Signora Saltini hastig. „Alte Minen haben sich vom Meeresboden gelöst und treiben gerade auf die Mole vom Hafen zu.“ Ihre Augen waren jetzt noch größer, ganz so, als sähe sie bereits das Unheil, das allen drohte. „Sie befürchten, dass die an den Mauern im Wasser explodieren und Trümmer unsere Schule treffen“, brachte sie das Unheil im nächsten Moment auf den Punkt.
„Und was soll jetzt passieren?“, fragte Mariedda mit hochgezogenen Brauen. Sie hatte sich erhoben, spürte die Anspannung, die in ihr aufstieg. Alessio und Mariella waren ebenfalls im Gebäude und der Gedanke daran verursachte ihr eine Gänsehaut. Auch Andria hielt den Blick starr auf die Lehrerin gerichtet.
„Signora Saba meint, dass wir uns draußen sammeln und dann die Klassen geordnet die Lagune hoch bis zur Piazza begleiten“, erwiderte Signora Saltini. „Dort sollen wir erst mal bleiben, bis … .“ Weiter kam sie nicht. Vom Hafen her dröhnte eine gewaltige Explosion, die die Scheiben erzittern ließ. Es gab dumpfe Einschläge, Steine prasselten und irgendwo klirrten Scheiben. Nachdem sich die Frauen von ihrem ersten Schreck erholt hatten, stürmten sie an die Fenster und spähten neugierig hinaus. Der Schulhof war mit kleineren Betonbrocken übersäht, und im Straßenbelag vor dem Hof klaffte ein Loch so groß wie eine Wellness-Badewanne.
„Alle bleiben im Gebäude“, schrillte die sich überschlagende Stimme der Direktorin aus dem Lautsprecher. „Ich wiederhole. Alle bleiben im Gebäude.“ Signora Saba schnappte hörbar nach Luft. „Die Kolleginnen und Kollegen sorgen bitte unbedingt dafür“, erfüllte ihre hektische Stimme erneut den Raum. „Unbedingt!“ Dann: „Keiner verlässt das Schulgebäude!“
Die Frauen warteten. Doch der Lautsprecher blieb stumm. Die Sekretariatstür wurde aufgestoßen und Uccio Pilloni, der Klassenlehrer der 1A, stürzte herein und eilte an den Tresen. Die Brille saß ihm tief auf der schmalen Nase. Er fasste sie an beiden Bügelenden und rückte sie zurecht. Im nächsten Moment umklammerte er den Tresen, als schwankte der Boden unter ihm. Er beugte den Oberkörper nach vorn und blickte angespannt in die Runde. „Was geht denn da draußen ab?“ Sein fragender Blick hing auf dem Gesicht von Andria und wanderte dann zu der Lehrerin. „Ein Seebeben kann´s doch nicht sein. Das muss was anderes gewesen sein“, bastelte er sofort an seiner eigenen Erklärung. „Bei uns gibt´s überhaupt keine Vulkane. Weder im Wasser noch an Land.“ Er kniff die Lippen zusammen und sein Gesicht zeigte plötzlich einen fast trotzigen Ausdruck.
Signora Saltini, die sich anscheinend verpflichtet fühlte, ihm zu antworten, klärte ihn auf.
„Minen?“, stammelte er fassungslos. „Aber wie …?“ Er brach ab. Ihm fehlten die Worte. Er schüttelte den Kopf und breitete die Arme aus. „Minen?“, wiederholte er ungläubig.
„Ja, Minen“, bestätigte Mariedda ihm. „Die gibt es da draußen seit dem Zweiten Weltkrieg.“
Die anderen starrten sie neugierig an.
„Vor gut fünf Jahren hat die Marine doch schon mal Minen vor der Küste entdeckt“, klärte sie sie auf. „Das ging damals durch die Presse.“
Die Lehrerin nickte, während Uccio unwissend die Schultern hob und Andria fassungslos dreinschaute.
„Ich erinnere mich, jetzt wo Sie es erwähnen, Mariedda“, sagte Signora Saltini. „Die haben sie damals bei einer NATO-Übung entdeckt.“
Mariedda nickte zustimmend.
„Die wurden aber doch anschließend entschärft“, fuhr Signora Saltini fort.
„Anscheinend nicht alle“, entgegnete Uccio trocken. „Und eine davon hat womöglich eben die Kaimauer zerlegt.“ Sein Blick flog umher und blieb an Andria hängen. Dann stieß er ein „Buff!“ aus und machte mit den Händen eine Bewegung, die eine Explosion verdeutlichen sollte.
Während sich alle noch schweigend anstarrten, knackste es im Lautsprecher. Die Stimme der Direktorin meldete sich zurück, die diesmal weniger aufgeregt als vorher wirkte: „Alle begeben sich sofort hinüber in den Keller. Ich wiederhole. Alle begeben sich sofort in den Keller.“ Als sie den Satz nahezu identisch wiederholte, betonte sie das Wörtchen „sofort“ so, als hätte sie es an einer Tafel dreimal unterstrichen.
Uccio presste die Lippen zusammen und sah von Signora Saltini zu Mariedda. „Ich muss in meine Klasse. Ihr habt es gehört.“ Er schlug wie zum Abschied mit den Handflächen auf den Tresen, drehte um und eilte zur Tür. Er riss sie auf und Lärm schlug ihnen entgegen. Als er um die Ecke verschwand, kam auch Bewegung in die Frauen.
„Der Keller ist besser“, stieß Andria hervor, während sie sich auf die Armlehnen stützte und sich aus dem Stuhl hochstemmte. „Besser als hier im Gebäude oder mit ihnen unter freiem Himmel ins Dorf zu marschieren.“
Der Keller war wirklich besser, fuhr es Mariedda durch den Kopf. Sie dachte daran, welchen Schutz das alte, mächtige Gemäuer Alessio und Mariella, welchen Schutz es ihnen allen bot. Der Gedanke beruhigte sie ein wenig. Der Keller war der Rest einer alten Olivenmühle und befand sich hinter der Schule unter dem Kräutergarten. Mariedda war schon ein oder zwei Mal dort gewesen und hatte deshalb eine grobe Vorstellung von dem, was sie und die Kinder unten erwartete. Ein Tunnel, aus schweren Granitsteinen gemauert, verband die Kellerräume des Instituto mit dem Gewölbekeller der alten Olivenmühle. Aus irgendeinem Grund hatten sie den Gang damals beim Bau der Schule nicht zerstört. Ein glücklicher Umstand, der ihnen jetzt zugutekam.
„Kommst du?“ Andria stand im Türrahmen und warf Mariedda einen auffordernden Blick zu.
„Gleich!“, gab Mariedda mit gepresster Stimme zurück. Sie gab ihrem Stuhl einen Schubs, dass er gegen den Schreibtisch polterte, eilte zu dem hohen schmalen Spind und schnappte sich ihre Umhängetasche. Sie warf sich den Tragegurt über die Schulter und dachte an das Obst und das belegte Fladenbrot, das sie sich morgens für die Arbeit eingepackt hatte. Die Kinder und sie bekämen dort unten vielleicht Hunger, weil es womöglich länger dauerte, bis sie Entwarnung gaben. Mit diesem Gedanken hastete sie aus dem Sekretariat. Die Geräuschkulisse im Flur war gewaltig. Erwachsene riefen Anweisungen und Kinder eilten hinter oder vor ihnen her in Richtung der Treppen. Manche nörgelten, viele drängelten und alle folgten dem Strom aus Leibern wie eine Herde ängstlicher blökender Lämmer. Mariedda schaute sich nach allen Seiten um, konnte jedoch in dem Pulk, in dem sie sich voran schob, nirgends Alessio oder Mariella entdecken. Auch von Andria war nichts mehr zu sehen.
„Haltet euch am Geländer fest, wenn ihr runtergeht!“, ertönte vorne an der Treppe eine Frauenstimme. Mariedda entdeckte Andria und winkte ihr zu, als Andria sich umdrehte und in ihre Richtung schaute. Andria winkte kurz zurück, wandte sich um und war im nächsten Augenblick im Gewühl aus Köpfen und Schultern verschwunden. Auch Mariedda stoppte und drehte sich um. Ihr suchender Blick huschte durch den Korridor. Doch sie erspähte weder Mariella noch Alessio. Enttäuscht folgte sie dem Strom der Schutzsuchenden.
„Die Größeren drängeln nicht!“, hallte dieselbe Stimme wie vorhin von der Treppe herüber. „Nehmt Rücksicht auf die Kleineren unter euch!“
Die Treppe, die es hinunterging, war alt und aus Stein. Die Stufen waren abgetreten und glatt. Unten angekommen, hasteten sie an wandhoch gestapelten Tischen und Stühlen vorbei. Nach wenigen Metern zeichnete sich der breite Bogeneingang der Tunnelmündung ab, wo es hinüber zum alten Gewölbekeller ging. Mariedda fröstelte in der kühlen Kellerluft und Neonleuchten, die den Tunnel in ein kaltes Licht tauchten, verstärkten die Empfindung noch. Der Gang, dem sie folgten, war recht breit, die Decke hoch, aber das Granitsteinmauerwerk wirkte dennoch beengend. Die Stimmen der Kinder hallten laut von den Wänden wider und das Geräusch veränderte sich, als sie endlich den riesigen Gewölbekeller erreichten. Auch hier hingen Neonleuchten an der hohen Decke und tauchten den großen hohen Raum in ein künstliches Licht.
Die Kinder drängten sich bereits in Grüppchen zusammen. Links erteilten zwei Lehrerinnen inmitten eines ganzen Pulks von Kindern Anweisungen. Eine davon war die mollige Signora Brandi mit dem Herzgesicht. Sie gestikulierte wild und war von Schülerinnen und Schülern umringt. Mariedda erkannte einige von ihnen. Sie gehörten zur Klasse ihres Mannes, den Signora Brandi heute wohl vertrat.
„Wir stellen uns nach Klassen auf!“, schrillte von irgendwoher die Stimme der Direktorin, die das laute Stimmengewirr, das durch den Keller hallte, zu übertönen versuchte. „Sind alle da?“, kreischte sie erneut aus Leibeskräften. „Abzählen!“, schallte ihre aufgeregte Anweisung durch den Raum.
„Abzählen! … Abzählen!“, wiederholten andere Stimmen, wahrscheinlich die der Klassenlehrer.
„Eins … zwei … drei …“, meldeten sich Kinderstimmen, und aus einer anderen Kellerecke klang es „Eins … zwei … drei …“ zurück, als sei es ein Echo. Mariedda ließ ihren Blick schweifen. Etwas weiter hinten entdeckte sie Uccio mit seiner 1A. Rechts, fast in der Kellerecke, erspähte sie den lockigen Haarschopf ihres Sohnes. Er unterhielt sich gestikulierend mit zwei Jungen. Er brauchte sie jetzt nicht, entschied Mariedda. Wahrscheinlich war das, was gerade passierte, für ihn und seine Kumpel ein Riesenspaß. Sie ließ ihren Blick erneut durch den Keller wandern, bis sie vorne links, am äußeren Ende des mächtigen Gewölbes, die blassblaue Jeansjacke und den schwarzen Bubikopf von Luisa Ricci entdeckte. Eine Sekunde später hatte sie auch Mariellas flachsgelben Haarschopf ausgemacht, der sich deutlich von der dunklen Haarfarbe ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden abhob. An verschiedenen Stellen wurde immer noch abgezählt.
Mariedda drängte sich durch das Gewimmel der Kinder und deren aufgeregtes Geschnatter zu ihnen durch. Sie nickte Luisa zu, die ihr Kommen bemerkte. Dann trat sie zu ihrer Tochter und drückte sie, was die Kleine hastig und etwas verlegen abwehrte.
„Mama!“, stöhnte sie genervt und sah Mariedda missbilligend an, während sie sich von ihr löste.
Mariedda stand sekundenlang schweigend und reglos neben Mariella, umgeben von anderen Kindern, von denen einigen die Angst in den Augen stand. „Du musst dich nicht fürchten, Schatz“, sagte sie, während sie sich zu ihrer Tochter runterbeugte.
„Das tu´ ich nicht“, entgegnete Mariella ruhig. Sie sah ihrer Mutter fest in die Augen, bis die sich wieder aufrichtete.
Mariedda tastete nach Mariellas Hand und fand sie. Sie drückte sie, hielt sie fest, und Mariella ließ sie gewähren.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“, beruhigte jetzt auch Luisa ihre Klasse. „Wir sind hier sicher.“
Wenn Sergio bloß da wäre, dachte Mariedda. Aber ausgerechnet heute war er auf einer Fortbildung in Cagliari. Sie blickte auf den Boden und bemerkte erst jetzt, zwei Meter von ihren Füßen entfernt, das runde Metallgitter. Darunter klaffte ein Loch im Boden, groß wie ein altes Speichenrad. Es bedeckte, solange Mariedda sich erinnern konnte, den ehemaligen Brunnenschacht.
Sie hatten die Brunnenmauer, nachdem der Brunnen bereits im vorletzten Jahrhundert dauerhaft ausgetrocknet war, beim Bau des Fundaments für die Olivenmühle entfernt. Nur über ihnen in der gewölbten Decke hatte man aus unerfindlichen Gründen die ursprüngliche Brunnenöffnung mit Resten der ehemaligen Mauer belassen. Oben in dem von den Schülern versorgten Kräutergarten ragte die Rundmauer der ehemaligen Wasserversorgung wie ein schmucker Zierbrunnen einen knappen Meter in die Höhe. Als Abdeckung diente heute ein alter zentnerschwerer Mahlstein der ehemaligen Mühle.
Auf dem starken Gitter, das den Schacht bedeckte, tummelte sich eine kleine Gruppe Kinder. Zwei von ihnen, Mädchen aus Mariellas Klasse, deren Namen Mariedda kannte, tuschelten miteinander und schauten ängstlich nach unten.
„Das Gitter ist aus dickem Eisen, Giuanna“, beruhigte Mariedda die Kleine, die ihr am nächsten stand. „Da passiert euch nichts.“
„Keiner bricht ein, Kinder“, beteiligte sich Luisa, die Marieddas Worte mitbekommen hatte. „Stochert aber nicht mit den Füßen in den Gitterritzen herum, hört ihr!“

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