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Im Tempel des Regengottes


Im Tempel des Regengottes


Edition Marbuelis, Band 4 1. Aufl. d. überarb. Neuausgabe

von: Andreas Gößling

CHF 14.00

Verlag: Mayamedia
Format: EPUB
Veröffentl.: 04.08.2020
ISBN/EAN: 9783944488530
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 434

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

Mittelamerika, um 1870: Der junge englische Künstler und Abenteurer Robert Thompson reist auf den Spuren seines Vorbilds, des berühmten romantischen Malers Frederic Catherwood, nach Mittelamerika. Dort gerät er in die Fänge skrupelloser Schatzjäger, die ihn dazu verleiten, mit ihnen den sagenhaften Goldschatz aus der untergegangenen Mayastadt Tayasal zu suchen. In ihren gigantischen Tempelstädten tief im Dschungel erwarten die Maya-Völker die Ankunft ihres Befreiers, der in ihrer Überlieferung angekündigt und in uralten Kunstwerken abgebildet ist. Als die Priester und Seher der Maya in Robert den Befreier zu erkennen glauben, gerät er zwischen die Fronten eines kriegerischen Konflikts, in dem sich seine romantischen Untergangssehnsüchte auf grausame Weise zu erfüllen drohen ...

»So spannend wie >Die Maya-Priesterin< ... ein Abenteuerroman in schwarzromantischer Tradition.« (Angelika Irgens-Defregger, Bayerische Staatszeitung)

»Aufwühlend, berauschend und oft auch schockierend« (Heike Rau, leselupe.de)
Andreas Gößling, geboren 1958 in Gelnhausen. Der promovierte Literatur- und Kommunikationswissenschafter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit kultur- und mythengeschichtlichen Themen. Neben Romanen für erwachsene und junge Leser hat er zahlreiche Sachbücher publiziert und Forschungsreisen unter anderem im karibischen und südostasiatischen Raum unternommen. Andreas Gößling lebt mit seiner Frau, der Autorin und Sprachdozentin Anne Löhr-Gößling, bei Berlin.
Andreas Gößling

Im Tempel des Regengottes

Ein schwarzromantisches Abenteuer

Roman

Edition Marbuelis - Band 4

(c) Edition Marbuelis im Verlag MayaMedia, Berlin



EINS
1
Robert lag in seinem Boot, ausgestreckt in der lauen Lache, die Schultern an die Heckwand gelehnt. Langsam glitt das Kanu dahin, auf den trägen Fluten des New River, unter dem flirrend grünen Gewölbe, zu dem sich sieben Fuß über ihm der Regenwald verflocht. Auf Ästen knapp über dem Wasser lagen Leguane auf der Lauer, moosfarben und starr wie Skulpturen aus Stein. Blaureiher standen auf Baumstümpfen inmitten der Strömung, hochbeinig, die Hälse lotrecht erhoben, ihre langen, dünnen Schnäbel wie Gedankenstriche im Dämmerlicht. Roberts Kanu glitt durchs Wasser, das rötlichbraun und warm wie lebendiges Blut war, und die Sonne streute helle Sprengsel auf die Wellen, die wieder und wieder über die Wasserfläche rollten, wie Schauer über nackte Haut.
Auf einmal hörte er ein Klopfen, leise, doch beharrlich. Unmöglich, dachte er, zum Blätterdach emporblinzelnd, hier gab es weit und breit keine Menschen, niemanden, der mit Hämmern oder Klöppeln schlug. In einer Palmkrone am linken Ufer entdeckte er einen Papagei, der mit seinem massiven Schnabel auf eine Kokosnuss einhieb. Ach du bist das, dachte er. Da ließ der Papagei von der Kokosnuss ab und stieß ein Krächzen aus, missgelaunt, wie nur Menschen sein können, und noch seltsamer war, dass jenes Klopfen weiter durch den Dschungel hallte, lauter jetzt, dröhnend wie Faustschläge auf Holz.
»Mr. Thompson, ist Ihnen nicht wohl? Nehmen Sie heute keinen Tee?« Die krächzende Stimme klang unangenehm vertraut. Und dazu klopfte es wieder und wieder, und das Kanu zerfiel, und der ganze Regenwald verdampfte im Nu, während Robert mit einem Satz aus Traum und Bett fuhr: »N-nein, Mrs. Molton, nicht sehr wohl und keinen Tee, bitte – verzeihen Sie ...«
Noch mehrere Augenblicke stand er an der Tür seines Pensionszimmers in Molton House. Ein Ohr an das Türblatt gelegt, lauschte er nach draußen, wo nichts zu hören war, nur das leise Klirren hauchfeinen Geschirrs. In seinem Kopf erklang immer noch jenes Klopfen, aber schmerzhaft jetzt, stoßweise, und als er sich mit der Hand über die Stirn fuhr, war seine Haut mit klammem Schweiß bedeckt. »Um die Wahrheit zu sagen, Mrs. Molton«, murmelte er, »ich habe einen Kater, schon wieder. Zu viel Rum gestern Abend, verstehen Sie?«
Nein, das würde Mrs. Molton, ehrbare Offizierswitwe und Mitglied der »Anglikanischen Organisation Ihrer Majestät zur Bekehrung der Urwaldindianer«, sicher nicht verstehen. Robert wandte sich um und zog sich das knöchellange Leinennachthemd über den Kopf. Im Traum war er nackt gewesen oder allenfalls gegürtet mit einem Lendenschurz. Und die schlanke braune Gestalt, die im Kanu vor ihm auf der Ruderbank gesessen und das Boot hin und wieder mit dem Paddel auf Kurs gehalten hatte ... Robert schluckte, sein Mund auf einmal wie verdorrt. Nackt und mager tappte er zum Waschtisch, durch das Halbdunkel seines Zimmers, das mit all den echt britischen Zierdeckchen und Paradekissen und blankäugig stierenden Porzellanpüppchen angefüllt war, vor denen er doch hierher hatte fliehen wollen, nach Fort George, Britisch-Honduras, in die grenzenlose Freiheit der karibischen Kolonie.
Das Dumme war nur, dass ihm der Regenwald dort draußen, die dampfende, vielstimmig rufende Wildnis, eine Furcht einflößte, so rätselhaft und unbezwingbar wie seine Sehnsucht nach Dschungel und Abenteuer, die ihn schließlich hierhergelockt hatte, vor Wochen schon.
Im Rasierspiegel über dem Waschtisch erspähte er das Antlitz der Königin, die golden gerahmt über seinem Bett hing und ihn mit vorwurfsvollem Blick verfolgte, seit er hier eingetroffen war. Da sprang Robert zum Fenster und zog die schweren, altrosafarbenen Musselinvorhänge auf. Vom Mittagslicht überflutet, wandte er sich zu Queen Victoria um. »Bei meiner Ehre, Majestät«, sprach er, und mit einem Mal klopfte sein Herz noch heftiger als der Katerschmerz in seinem Kopf, »ich bin hierhergekommen, um im Dschungel mein Glück zu suchen, und ich schwöre, dass ich vor Ablauf dieses Sommers in die Wildnis vordringen werde, und wenn es mich Leib und Leben kostet.«
Unbewegt sah die Königin auf ihn herab, mit so kalter Missbilligung, dass Robert fröstelnd die Arme vor der Brust verschränkte. Doch unter der rechten Hand spürte er sein Herz, das noch immer rasch und heftig klopfte, wie eine Trommel tief im Regenwald.

2
Im cremefarbenen Tropenanzug, über der Schulter seine Tasche mit den nötigsten Zeichenutensilien, schlenderte Robert am Kai von Fort George entlang. Der neue Panamahut, den er noch an Bord der Brigantine Prince Albert erstanden hatte, bot enttäuschend wenig Schutz vor der Hitze der Karibik, die selbst hier, an der offenen Seeseite, niederdrückend war. Zu seiner Linken bemerkte er das blendend weiße Dampfschiff, das, weit draußen auf dem Meer noch, kegelförmige Wolken in den Himmel stieß. Die Trade Winds, dachte er, von New Orleans kommend, mit Dutzenden neuer Siedler, die in der Wildnis von Orange Walk, im Westen des Landes, ihr Glück versuchen wollten. Der Gedanke gab ihm einen Stich, doch nicht nur deshalb vermied er es, den Kopf zu wenden und hinaus aufs Meer zu sehen. Der steife, viel zu enge Hemdkragen scheuerte an seinem Hals. Miss Milly, das schwarze Hausmädchen in Molton House, pflegte die Wäsche der Pensionsgäste so gewaltsam zu stärken, dass sich frische Hemden mit leisem Krachen entfalteten, ein Geräusch, als zerbreche man Pappmaché.
Mechanisch versuchte er, sich Linderung zu verschaffen, indem er mit einem Finger unter den Kragen fuhr. Zwei Uhr nachmittags musste vorbei sein, doch bis die Abenddämmerung ein wenig Kühle bringen würde, waren noch Stunden zu überstehen. Und dann? Er stieß einen Seufzer aus. Dann würde er sich unfehlbar wieder in die Mahogany Bar begeben und seinen Durst und seine Selbstbezichtigungen so lange mit Krügen voller Rum beschwichtigen, bis er die Hilfe eines Kutschers benötigte, der ihn tief in der Nacht die steile Holztreppe von Molton House mehr hinauftragen als geleiten würde. Aber nicht mehr lange, dann breche ich auf, dachte Robert und war sich längst nicht mehr so sicher wie vorhin in seinem Zimmer, vor dem Bildnis Ihrer Majestät.
Nun, vorläufig wollte er sich, wie an jedem Nachmittag, in den Park von Government House verfügen, wo Palmen und Bougainvillea-Büsche ein wenig Schatten spendeten. Dort würde er ein weiteres Seestück zeichnen, abermals die malerische weiße Holzvilla des Gouverneurs skizzieren oder die mäßig beeindruckende St. John&apos;s Cathedral gegenüber, die im ersten Viertel des Jahrhunderts mit eigens aus Großbritannien herbeigeschafften Ziegeln in gotischem Stil errichtet worden war – bis zum heutigen Tag das einzige steinerne Gebäude in der gesamten Kolonie.
Doch an diesem Samstag, dem 27. Juli 1878, sollte Robert Thompson nicht bis zum Park von Government House gelangen. Zehn Schritte vor ihm, mitten auf der Hafenstraße, bemerkte er auf einmal eine schlanke, hochgewachsene Mayafrau. Die junge India mochte Mitte zwanzig sein, vielleicht fünf Jahre jünger als er, und so kunstvoll sie ihre Haare zu einer Art Vogelnest geflochten trug, so nachlässig war sie gekleidet, mit einem weißen, nur an den Säumen verzierten Umhang, der ihre kakaobraunen Schultern ebenso wie die kräftigen Unterschenkel unbedeckt ließ.
Ohne es recht zu bemerken, hatte Robert seinen Schritt beschleunigt. Die Straße war ungepflastert und mit Schlaglöchern übersät, die mit dem glitzernden Schweiß aller Einwohner dieses elenden Fleckens gefüllt schienen. Rechter Hand erstreckte sich die von Kreolen, Maya und Schwarzen bewohnte Siedlung, Belize Town, ein Durcheinander dürftiger Holzhütten, die sich auf drei Fuß hohen Pfählen aus dem sumpfigen Untergrund erhoben. Aus dem Wirrwarr der Hütten und mit Unrat bedeckten Gässchen drangen tausendstimmiges Summen und Schreien, vermengt mit Schwaden würziger und fauliger Gerüche, deren Herkunft ihm so unheimlich wie unbegreiflich schien.
Je weiter sie gen Süden gingen, desto belebter wurde die Straße. Immer wieder musste er streunenden Hunden ausweichen, Horden von Kindern, die nackt durch den Schlamm sprangen, oder sogar Rudeln schwarzer Schweine, die sich mit gebieterischem Grunzen ihren Weg bahnten, Gott allein mochte wissen, wohin. Aber die Mayafrau in ihrem schlichten weißen Umhang verlor er nicht einen Moment lang aus dem Blick.
Auf einmal glitt sie mit einem Fuß in ein Schlagloch, aus dem das Schlammwasser nur so hervorgischtete. Robert war mittlerweile so dicht hinter ihr, dass einige Schlammtropfen auf seine Hosenbeine spritzten. Unvermittelt blieb er stehen, während die India ruhig weiterging. Er glaubte vor Hitze zu platzen, mit zwei Fingern fuhr er sich unter den Kragen, so ungestüm, dass der Kragenknopf abgesprengt wurde und vor seinen Füßen in der Jauche versank.
Eine Kutsche ratterte vorbei, gezogen von einem schmutzverkrusteten Maultier. Ein hünenhafter Schwarzer folgte dem Karren, in bunte Lumpen gehüllt, auf dem Kopf einen fleckig weißen Zylinder, der auf halber Höhe von Kugeln durchlöchert war. Zögernd sah Robert auf das Schlammloch hinunter. Der Knopf war aus goldgefasstem Perlmutt, ein Familienstück, seit Generationen in der väterlichen Linie vererbt. Er beugte den Oberkörper vor, als wollte er sich bücken und mit einem Arm in den Tümpel fahren. Aber dann richtete er sich wieder auf und ging mit benommenem Lächeln weiter.
Die Frau war ihm schon zwanzig Schritte voraus, doch sie ging nun langsam und blickte nach links und rechts, und auf einmal war ihm, als habe sie sich über die Schulter zu ihm umgesehen. Eine betäubende Geruchswoge drang aus der Gasse zu seiner Rechten, schwer und süßlich wie gegorener Kakao. Von kakaobrauner Farbe waren auch ihre kräftigen Waden, auf denen sein Blick wie festgeschmiedet haftete, schokoladenbraun und bis zu den Kniekehlen mit Schlamm bespritzt.
Das Meer zu seiner Linken gleißte wie eine zweite, türkisfarbene Sonne, und wieder und wieder, mit hypnotischem Gleichmaß, klatschte die Brandung gegen den Kai. Auf einmal glaubte er zu wissen, was er von ihr wollte, warum er hinter ihr herlief durch Hitze und Schmutz. Ja auf einmal schien ihm, als verstehe er nun endlich, warum er überhaupt hierhergekommen war, weshalb er seine Wohnung am Londoner Charles Square, seine glänzende Laufbahn und selbst Mary, seine Verlobte, Hals über Kopf verlassen hatte, um sich mit der Zielstrebigkeit eines Schlafwandlers in die immerwährende Schwüle der Karibik zu begeben.
Robert umklammerte seine Schultertasche und lief mit wehendem Kragen hinter der India her. Sein Herz klopfte. Ich werde sie zeichnen, dachte er, in ihrer Hütte oder wo immer sie will. Flüchtig wurde ihm bewusst, dass er einen lächerlichen Anblick bieten musste: ein hagerer, hochgewachsener Mann mit bespritzten Hosen und aufgesprengtem Kragen, der mit der Linken seinen Hut auf den Kopf drückte, während er in brütender Hitze durch Schlamm und Unrat sprang.
Die India sah ihn einen Moment lang ernst, beinahe finster an, dann wandte sie sich um und verschwand im Halbdunkel eines Gässchens, das in die Siedlung der Landlosen und freigelassenen Sklaven führte. Ohne sich zu besinnen, lief Robert hinter ihr her.


3
Das Gässchen war kaum zwei Schritte breit, dicht an dicht gesäumt von Hütten, ein sumpfiger Erdpfad, hier und dort bedeckt mit Bohlen, die vor Nässe schwärzlich glänzten. Betäubender Gestank nach Kot und Fäulnis quoll aus dem Untergrund, aus allen Ritzen der Behausungen, so dass Robert kaum zu atmen wagte. Ein Albtraum, dachte er und wusste doch, dass es die Wirklichkeit der Elenden und Verdammten war.
Den rechten Unterarm vor Mund und Nase gepresst, eilte er auf glitschigem Grund dahin. Weit voraus sah er den Umhang der jungen Mayafrau, im Halbdunkel leuchtend, und da erst kam ihm der Gedanke, dass es womöglich eine Falle war. Mehr als einmal war er gewarnt worden. Dutzende Gräuelgeschichten hatte er in der Mahogany Bar gehört. In jeder von ihnen waren arglose Gentlemen im Gewirr der Elendshütten überwältigt und ausgeraubt worden, von skrupellosen Garifuna, den Nachkommen der afrikanischen Sklaven, oder von verbitterten Maya, die sich noch immer für rechtmäßige Herren über Yucatán, Guatemala und Honduras hielten und infolgedessen jeden Briten oder Spanier als Feind ansahen.
Robert blieb stehen. Ihm war, als ob er beobachtet würde, durch Ritzen in den grob gefügten Wänden oder im Dunkel der Türlöcher, die über Stegen und Leitern klafften. Kaum wagte er es, über die Schulter nach hinten zu sehen, doch als er sich endlich umwandte, den Arm noch immer vor Mund und Nase erhoben, da zeigte sich, dass niemand ihm nachgeschlichen war, niemand ihm den Rückweg versperrte, nur ein einzelnes Huhn stand starr und schwarz am Eingang der Gasse, den Kopf emporgereckt.
Langsam ließ Robert den Arm sinken. Der Gestank war so betäubend wie zuvor, die Luft kochend und erfüllt von Verwesungssüße, doch er befürchtete, die Bewohner dieser Kloake zu erzürnen, wenn er offen zeigte, wie wenig er ihre Ausdünstungen ertrug. Abermals wandte er sich um. Von der Mayafrau war nichts mehr zu sehen, leer lag die Gasse vor ihm, soweit dies im düsteren Licht überhaupt zu erkennen war. Dennoch ging er weiter, argwöhnisch den Boden vor seinen Füßen musternd, da er mehrfach auf weiche Bündel gestoßen war, Lumpen vielleicht nur, vielleicht auch Ärgeres.
Seinen Hut trug er nun in der Hand und fächelte sich mit der Krempe faulige Luft zu. Eine Stimme in seinem Innern beschwor ihn, endlich umzukehren, von diesem wahnwitzigen Abenteuer abzulassen, ehe es zu spät sei. Doch die Stimme klang nur allzu sehr nach Mrs. Molton, die ihrerseits nur zu sehr seiner eigenen Mutter ähnelte, und so stolperte Robert weiter und weiter, durch Dunkelheit und Moder, schreckte schläfrige Hunde auf, erschrak seinerseits über Säuglinge, die hinter Hüttenwänden greinend aus dem Schlaf fuhren, und sah während alledem unablässig die kakaofarbenen Unterschenkel der Mayafrau vor sich, ihren nackten Fuß, der in das Schlammloch fuhr, oder ihr junges Gesicht, das ihn über die Schulter ansah, in finsterem Ernst. Ich werde sie zeichnen, wiederholte er bei sich und sah sich zugleich schon, wie er sie umarmte, seinen Mund auf ihre Lippen presste, wie er ihre Brüste fühlte, kakaobraune Halbkugeln, an seine Brust geschmiegt.
Nur vage wurde ihm bewusst, dass er stehen geblieben war, mit der Schulter an einer Hüttenwand lehnend, während der Panama, seiner Hand entglitten, vor ihm im Schmutz lag. Mary, dachte er, seine Verlobte – sie hatte ihn angesehen wie einen Verworfenen, als er ihr seinen Plan gestanden hatte: in die karibische Wildnis ziehen, als Maler und Schatzsucher, auf den Spuren von Frederick Catherwood, dem berühmten Reisenden, der wie er selbst am Charles Square aufgewachsen war und viele Jahre im Dschungel verbracht hatte, bei den alten Mayastätten, um dort Hunderte von Blättern mit seinen vortrefflichen Zeichnungen zu bedecken. Wie einen Verrückten, dachte Robert, wie einen ekelhaften Teufel hatte sie ihn angesehen, Mary, die die Luft anzuhalten pflegte, wenn er sie zu küssen wagte, Mary, vor deren knochigen Hüften er anfangs zurückgeschreckt war und an die er sich niemals gewöhnt hätte, auch durch Abstumpfung nicht, Mary, deren Vater einen florierenden Stoffhandel betrieb, während er selbst die Tuchmanufaktur seiner Familie erben sollte ...
Aber ich habe ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, dachte er, ich bin einfach auf und davon, wie ein entflohener Sträfling, sagte sich Robert, der auf einmal bemerkte, dass er am Boden lag, rücklings im Schlamm, während die junge Frau sich über ihn beugte und ihn mit ernster Miene ansah. Wie schön sie ist, dachte er.
Tatsächlich kniete sie neben ihm am Boden, und das kunstvolle Vogelnest, zu dem sie ihr funkelnd schwarzes Haar geflochten hatte, schwankte auf ihrem Kopf, der handbreit über ihm schwebte. Robert wollte etwas sagen, sie um ihren Namen bitten, um ein Glas Wasser, denn seine Kehle war wie mit Sand gefüllt, aber er brachte keinen Ton heraus. Das Letzte, was er wahrnahm, waren ihre großen, schwarzen Augen, die ihn mit rätselhafter Intensität musterten, und das Klatschen der Brandung an der Hafenmauer, dann fiel etwas Schwarzes auf ihn herab, vielleicht das gelöste Nest ihres Haares, und es wurde finster um ihn.

4
»Zum Donner, Mr. Thompson«, tadelte Stephen Mortimer mit dröhnender Bassstimme, »bei dieser Witterung empfiehlt es sich, nicht vor der Abenddämmerung zu trinken.«
»Und nicht vor dem Morgengrauen damit aufzuhören.« Paul Climpsey zwinkerte Robert zu, seinen fuchsroten Schnurrbart zwirbelnd. Dazu machte er eine verstohlene Grimasse in Richtung seines Freundes, Stephen Mortimer, der an der Kaimauer lehnte, die Arme vor dem massigen Leib verschränkt. »Es sei denn«, fügte Climpsey hinzu, »Sie gedenken, in der gleichen Nacht noch weiteren Lastern zu frönen.«
Robert hockte zwischen den beiden auf der Mauer, mit dem Rücken zum gleißenden Türkis des Meeres. Nie zuvor hatte er sich so elend und durcheinander gefühlt wie in diesem Moment. Er verstand überhaupt nicht, wie er hierher geraten war, aus der Düsternis des Gässchens zurück in die blendende Helligkeit des Kais, und noch viel weniger vermochte er zu begreifen, wieso er sich auf einmal in der Gesellschaft dieser beiden Gentlemen befand, flüchtiger Rum-Kumpane aus der Mahogany Bar.
Er musste kurzzeitig das Bewusstsein verloren haben, kein Wunder bei dem grauenvollen Gestank, der zwischen den Hütten herrschte, aber was um Himmels willen war dann geschehen? Wohin war die junge Mayafrau davongelaufen? Von der Bildfläche verschwunden war sie zweifellos. So benommen er sich auch fühlte, war er sich doch sicher, dass sie die Nähe von Mr. Climpsey und seinem bulligen Gefährten Stephen Mortimer meiden würde.
Minutenlang hatte sich Paul Climpsey an dem verbeulten und besudelten Panamahut zu schaffen gemacht, nun reichte er ihn Robert mit einer kleinen Verbeugung zurück. »Dort vorne lagen Sie, Mr. Thompson«, sagte er und deutete auf die Straße, wo ein gewaltiges Schlagloch, gefüllt mit braunem Wasser, im Abendlicht funkelte. Eben sprang eine Horde nackter Kinder hinein, so dass die Jauche fünf Fuß hoch spritzte. »Seitlich zu Boden gestreckt«, fuhr Climpsey fort, »und Ihr Arm hing bis zum Ellbogen in jenem Schlammloch, als ob Sie... Verzeihung ...«
Ein Lachanfall schüttelte seine Gestalt, die fleischlos schien, zugleich überbeweglich wie der Körper eines wilden Tieres, gehüllt in schlotternd weiten, sonnengebleichten Tweed. »Bitte um Vergebung, aber es sah in der Tat ... nun, es wirkte ...« Er machte eine um Nachsicht heischende Grimasse, wandte sich um und starrte aufs Meer hinaus. Seine Schultern bebten.
»Aber wie unhöflich, Paul«, tadelte Mortimer seinen Gefährten. »Betrunken oder nicht – es war eben eine Unpässlichkeit, zum Donner, wie sie jedem widerfahren kann.«
Robert sah nur kurz in Mortimers rundes Gesicht, über dem sich schüttere fahlgelbe Haarbüschel himmelwärts sträubten, und senkte gleich wieder den Blick. Der harte Ausdruck seiner wasserblauen Augen strafte Mortimers mitfühlende Worte Lügen. Auch den Panamahut hatte Robert nur kurz angesehen, dann angeekelt auf die Mauer neben sich gelegt. Paul Climpsey hatte gar nicht ernsthaft versucht, seinen Hut zu säubern, sondern ihn nur ärger zerdrückt und den Unrat, mit dem er besudelt war, auf widerliche Art bis unter das Schweißband verschmiert.
Plötzlich empfand Robert Abscheu vor diesen falschen Freunden, die sich auf seine Kosten belustigten und offenbar die niedrigste Meinung von ihm hegten. Wie sehr er es jetzt bereute, dass er sich jemals mit ihnen eingelassen und, die Wahrheit zu sagen, seit seiner Ankunft jeden einzelnen Abend in der Mahogany Bar mit ihnen gezecht hatte – gezecht und von sagenhaften Mayaschätzen fantasiert, die er bald schon im unzugänglichsten Dschungel aufspüren werde.
Am liebsten wäre er einfach aufgestanden und davongegangen, die beiden Halunken ihrer Gemeinheit überlassend, aber seine Knie fühlten sich noch immer weich an. Außerdem musste er in Erfahrung bringen, was ihm überhaupt widerfahren war, in den Minuten seiner Absence, und da er nicht hoffen durfte, dass die beiden ihm geradeheraus die Wahrheit erzählen wurden, musste er eben versuchen, sie ihnen auf andere Weise zu entlocken.
Aber während er sich diesen Plan zurechtlegte, machte er eine Entdeckung, die ihn so sehr entsetzte, dass er die Augen aufriss. Mortimer stand noch immer vor ihm, breitbeinig, die Hände in den Taschen seines karierten Jacketts. Starr blickte Robert auf den glitzernden Punkt, der sich unter Stephen Mortimers Adamsapfel abzeichnete, ein Oval aus Perlmutt, in Gold gefasst, zweifellos genau der väterliche Knopf, der vorhin von seinem eigenen Kragen gesprungen war. Das kann ja nicht sein, dachte er, erschrocken weniger über die Unehrlichkeit der beiden Trinkkumpane als über den Abgrund, der sich in seinem Innern auftat. Das Gässchen zwischen den Hütten, dachte er, die Mayafrau, wie sie sich über ihn beugte – sollte er das alles nur geträumt haben?
Wieder und wieder klatschte die Brandung an die Kaimauer unter ihm, die bei jedem Stoß leise vibrierte. Für einen Moment musste Robert die Augen schließen, von Schwindelgefühl erfasst. Als er sie wieder öffnete, nestelte Mortimer eben an seinem Kragen, halb von ihm abgewandt. Nun drehte er sich wieder um, mit einem aufmunternden Lächeln für Robert, und anstelle des perlmutternen Schmuckstücks prangte an seinem Kragen ein einfacher Knopf aus weißem Schildpatt.
»Der Abend dämmert«, sagte Paul Climpsey. Die Enden seines fuchsroten Schnurrbartes zuckten. »Lasst uns in Ehren einen Krug Rum leeren, Gentlemen. Darin steckt mehr Wahrheit als in allen Schlammlöchern von Yucatán.«

5
Die Mahogany Bar befand sich in der massiven Außenmauer von Fort George, in einem Gewölbe zehn Fuß unter der Erde. Von Climpsey und Mortimer an den Schultern zugleich geschoben und gehalten, stolperte Robert die schmale Treppe hinab und durch den schmierigen Ledervorhang, der die Türöffnung verschloss. Hier unten herrschte eine ewige, von Petroleumfunzeln nur dürftig aufgehellte Nacht. In langen Reihen standen roh gezimmerte Tische und Bänke aus altersschwarzem Mahagoni, besetzt mit Zechern, die sich in wüsten Gesängen und Prahlereien ergingen. Die Decke war so niedrig, dass Robert im Eintreten wie jedes Mal den Kopf einzog.
Ein atemabschnürender Geruch nach nassem Stein, vergossenem Rum und Schweiß, nach Zigarrenrauch und Erbrochenem erfüllte den weitläufigen Raum, in dem nur der Wirt zu jeder Zeit seinen nüchternen Verstand zu wahren schien. Jedenfalls hatte Robert in all den Wochen, die er nun schon hier verkehrte, noch nie beobachtet, dass der hagere Mann hinter dem Tresen auch nur ein Gläschen Rum zu den Lippen geführt hätte oder gar nach Art seiner Gäste durch den Raum getaumelt wäre.
Immer noch lagen die Hände von Climpsey und Mortimer auf Roberts Achseln, und er musste seine ganze Selbstbeherrschung aufwenden, um die beiden nicht einfach abzuschütteln. Paul Climpsey mochte etwa in seinem Alter sein, Anfang dreißig, Mortimer wenig darüber, und doch fühlte sich Robert in ihrer Gegenwart meist wie ein halbwüchsiger Junge, der von älteren Burschen drangsaliert wurde.
Zielstrebig schoben sie ihn durch den Raum, zwischen Tischen und Bänken hindurch, auf den hufeisenförmigen Tresen zu. Sie behandelten ihn wie ein Besitztum, dachte Robert, aber damit würde noch heute Schluss sein. Er verstand überhaupt nicht mehr, wieso er es so weit hatte kommen lassen, aus Einsamkeit, aus Furcht vor der Fremde, dachte er. Dabei war es doch offensichtlich, dass er selbst den beiden ganz gleich war, allenfalls interessierten sie sich für seine Barschaft, gute hundert Pfund, die er ihnen neulich abends offenbart hatte.
Schnaufend erklomm Mortimer den Hocker zu seiner rechten Seite, behände schwang sich Climpsey zu seiner Linken auf einen Schemel, wobei er dem Wirt ein Zeichen machte. Der nickte ihnen zu und begann, drei Krüge mit Zuckerrohrschnaps zu füllen.
Aus unerfindlichem Grund wurde der Wirt der Mahogany Bar »Youngboy« genannt. Dabei war er sicher schon weit in den Vierzigern, eine knochige Gestalt, beinahe so hochgewachsen wie Robert und von kränklichem, hohläugigem Aussehen. Robert empfand einen unbestimmten Respekt vor dem stets schwarz gekleideten Regenten dieses unterirdischen Reichs, doch da er es weder wagte, ihn nach seinem bürgerlichen Namen zu fragen, noch den albernen Spottnamen über die Lippen brachte, hatte er bis auf einige Floskeln noch kein Wort mit Youngboy gewechselt.
Als Erstes, so hatte er beschlossen, würde er sich durch einen oder zwei Krüge Rum kräftigen und währenddessen versuchen, aus Climpsey und Mortimer herauszuholen, was in den Minuten seiner Ohnmacht geschehen war. Im Grunde gab es nur zwei Möglichkeiten, dachte er, und das Dumme daran war, dass sie sich gegenseitig ausschlossen. Anschließend würde er Mortimer auf den Kopf zusagen, dass er ein Dieb sei, und ihn auffordern, den perlmutternen Kragenknopf herauszugeben, den er unrechtmäßig an sich gebracht habe.
All diese schönen Worte hatte sich Robert zurechtgelegt, während die beiden Kumpane ihn unter munteren Wortwechseln quer durch die Stadt geschleppt hatten, von Belize Town über die stets belebte Swing Bridge und vorbei an Molton House bis hierher, zu dem riesigen Fort George mit seinen himmelhohen, von Alter und Meersalz geschwärzten Mauern, gegen die Piraten und Spanier in früheren Jahrzehnten immer wieder angerannt waren.
Youngboy stellte die gefüllten Krüge vor ihnen auf den Tresen, wortlos. Robert sah ihn an und wollte ihm eben zunicken, als ihm ein weiterer niederdrückender Gedanke kam: Seine Schultertasche – wo um Himmels willen mochte sie abgeblieben sein? Er erstarrte in der Bewegung, und der Schweiß brach ihm aus, obwohl hier im Gewölbe eine fast unangenehme Kühle herrschte. Die Tasche enthielt nicht nur seine Zeichenutensilien, Grafitstifte, Feder, Tintenfass und einige gerollte Papierbögen, sondern ins Futter eingenäht auch die Hälfte seiner Barschaft, vierzig oder fünfundvierzig Pfund.
Er knirschte mit den Zähnen. Diese Schurken, dachte er, wenn ich jetzt nicht ruhig und überlegt handle, bekomme ich weder den Knopf noch mein Geld jemals zurück. Aber wie sollte er vorgehen? An einem der langen Tische hinter ihnen wurde ein neues Trinklied angestimmt, auf spanisch diesmal – Tequila, verstand Robert, Habana, Chica, und als Refrain immer wieder: Paraiso!
»Als Sie mich ... dort fanden, Mr. Mortimer, trug ich da nicht noch etwas bei mir?« Er versuchte seine Worte beiläufig klingen zu lassen, aber seine Stimme zitterte, und er musste sich zwingen, sich nach rechts zu wenden und Mortimer ins Gesicht zu sehen.
Fahlgelbe Augenbrauen schoben sich auf Stephen Mortimers Stirn in die Höhe, so dass sich seine wasserhellen Augen über den fleischigen Wangen unnatürlich weiteten. Warum war ihm nie zuvor aufgefallen, wie sehr Mortimer einer Katze glich, einem massigen, zusätzlich aufgeplusterten Kater, der Gier und Grausamkeit hinter einer gemütvollen Maske verbarg?
»Was für ein Etwas soll das denn ungefähr gewesen sein, Mr. Thompson?«
Robert wandte sich nach links. Climpsey zwirbelte seinen roten Schnurrbart, unter dem die Mundwinkel schon wieder verräterisch zuckten. Treiben Sie doch bitte nicht ein solches Spiel mit mir, wollte er sagen, aber er sah Climpsey nur an, gebieterisch, wie er hoffte.
»Ich war auf dem Weg zum Government House«, erklärte er in unschlüssigem Tonfall, »ich wollte ein Seestück zeichnen, wie jeden Nachmittag. Sollte ich da nicht meine Tasche mit mir geführt haben – Sie erinnern sich doch, Gentlemen, jenen etwas unförmigen Leinenbeutel, in dem ich Stifte, Papier und Ähnliches zu verstauen pflege?« Seine Stimme klang immer noch brüchig, und dieser Klang entsprach nur zu sehr dem Grad seiner Zuversicht, die nahezu in Trümmern lag.
»Wohlsein!« Mortimers Bass dröhnte, die beiden Kumpane hoben die Krüge, und notgedrungen griff auch Robert nach seinem Krug und prostete ihnen zu.
»Ihren Beutel also?« Climpsey knallte den leeren Krug auf den Tresen, rückte seinen Schemel näher zu Robert und blies ihm seinen Rumatem ins Gesicht. »Und Ihren Pinsel, Mr. Thompson?« Er klickerte ein schütteres Kichern in Roberts Ohr.
»Und diese elementare Bestückung vermissen Sie jetzt, sagten Sie?«
Robert wandte sich ab und sah starr vor sich auf den Tresen. Am besten, dachte er, trennte er sich sofort von den beiden, ohne ein weiteres Wort. Wenn er noch länger bei ihnen blieb, würden sie ihn nur immer weiter quälen und sich an seiner Furcht und Entwürdigung weiden, aber sie würden ihm niemals zurückgeben, was ihm gehörte. Und noch viel weniger würde er je von ihnen erfahren, was heute Nachmittag geschehen war, als er bewusstlos am Boden lag.
»Aber vielleicht kann Ihnen diese Fundsache über Ihren Verlust hinweghelfen, Mr. Thompson?« Climpsey hatte sich noch weiter zu ihm herübergebeugt, und jetzt legte er auch noch seinen rechten Arm um Roberts Schultern. Mit der Linken schwenkte er eine Papierrolle, die anscheinend in seinem überweiten Umhang verborgen gewesen war. »Es handelt sich zwar nicht gerade um ein Seestück, Mr. Thompson, aber immerhin ...« Und er entrollte mit großer Gebärde den Bogen und legte ihn vor Robert ausgebreitet auf den Tresen.

6
Robert spürte die Blicke der beiden Kumpane, die einander über seinen Kopf hinweg Zeichen machten, doch in diesem Moment kümmerte es ihn nicht. Still sah er auf das Blatt hinab, das er auf den ersten Blick wiedererkannt hatte, selbst im kargen Schein der Petroleumlampe, die entschieden mehr Qualm als Licht von sich gab.
Die Skizze zeigte einen reizvollen Fleck im Park von Government House. Auf einem penibel beschnittenen Grasstück erhob sich eine Zwillingspalme, deren beide Stämme so eng nebeneinander und in solchem Gleichmaß emporgewachsen waren, dass man nicht mit der flachen Hand dazwischenkam und selbst die Strahlen der Sonne sich kaum hindurchzwängen konnten. Auf dem Rasen dahinter bildete die Doppelpalme einen länglichen Schattenfleck, der von der Helligkeit ringsum so scharf abstach, dass er beinahe wie ein Abgrund wirkte, ein klaffender Schacht ins Nirgendwo.
Zögernd hob Robert den Kopf, noch immer vermied er es, Climpsey oder Mortimer anzusehen. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. So stand es also fest, dachte er, sie hatten auch seine Tasche gestohlen, denn natürlich stammte diese Zeichnung aus seinem Besitz. Er selbst hatte sie angefertigt, vor einigen Tagen, und kaum erst zur Hälfte vollendet, eine von Mary gern getadelte Gewohnheit. Auch wenn er sich nicht daran erinnerte, genau dieses Blatt in seiner Schultertasche mit geführt zu haben, so nahm er doch stets mehrere unfertige Blätter auf seine Exkursionen mit, da er meist an etlichen Zeichnungen gleichzeitig arbeitete. Und wie anders hätte Climpsey diese oder irgendeine seiner Zeichnungen an sich bringen sollen, wenn nicht, indem er sie aus seiner Tasche stahl?
Abermals sah er auf das Blatt hinab, und seine Gedanken schweiften von den ungetreuen Kumpanen zu dem reizvollen Fleck im Park der Gouverneursvilla zurück. Irgendetwas befremdete ihn an dieser Zeichnung, er rückte sogar die fauchende Ölfunzel ein wenig näher, um die Einzelheiten der Skizze besser zu sehen. »Der Besitz dieses Bildes«, hörte er Climpseys spöttische Stimme, »scheint Mr. Thompson so vollkommen zu trösten, dass er weder Beutel noch Pinsel vermisst.«
Doch Robert nahm die Hohnworte nur am Rande wahr, wie ihm auch die Gesänge der Betrunkenen in seinem Rücken und die gurgelnden Laute, mit denen Mortimer seinen zweiten oder dritten Rumkrug leerte, nur vage bewusst wurden. Unverwandt starrte er auf das Bild hinab, als wäre es das Werk eines Fremden, und auch nachdem er herausgefunden hatte, was ihn an dieser Zeichnung so sehr erstaunte, blieb er noch längere Zeit in derselben Haltung sitzen, tief über das Blatt gebeugt.
Es kann ja nicht sein, dachte er wieder und wieder, das ungewisse Licht hier im Gewölbe foppt mich, oder ist es mein Verstand, der sich verdunkelt hat? Er nahm einen Schluck aus seinem Krug, den er kaum erst angerührt hatte, und zugleich mit dem Rum, der durch seine Kehle herabrann, spürte er, mit untrüglicher Gewissheit, dass er keinem Irrtum, keiner Verwirrung aufgesessen war.
Der längliche Schattenfleck auf seiner Zeichnung hatte die Umrisse eines liegenden Menschen, genauer gesagt, einer auf der linken Seite liegenden Frau. Das allein war erstaunlich genug, als er die Zeichnung angefertigt hatte, war ihm durchaus nicht bewusst gewesen, dass der Schatten irgendetwas anderes darstellen könnte als eben einen länglichen Schatten, wie er sich durch die zufällige Konstellation von Sonnenwinkel und Palmstämmen ergab. Aber vollkommen unbegreiflich schien ihm, dass der Schattenriss klar und deutlich das Profil jener jungen Frau zeigte, der er heute gefolgt war, tatsächlich oder im Ohnmachtstraum.
Mit dem Nagel seines linken Ringfingers fuhr er die Umrisse behutsam nach: Ihre kräftigen Waden, die sich selbst im Liegen nach außen wölbten, die schlanke, hochgewachsene Gestalt, der üppige Busen, das ein wenig vorgereckte Kinn unter der aufgestülpten Nase – kein Detail ließ sich entdecken, das nicht zu ihr gepasst hätte, wie umgekehrt keine charakteristische Einzelheit fehlte, nicht einmal die Umrisse des Vogelnestes, zu dem ihr Haar so kunstvoll aufgesteckt war.
Robert lächelte nun vor Verwunderung, während er auf die Skizze hinabsah, auf den rätselhaften Schattenriss, der von seiner Hand war und doch nicht sein eigenes Werk schien. Dann erst wurde ihm eine weitere Analogie bewusst, die weit offenkundiger war als der winzige Umriss einer aufgestülpten Nase oder die komplizierten Konturen nestförmig aufgesteckten Frauenhaars. Die Gestalt auf seiner Skizze, wen immer sie darstellen mochte, ruhte in genau der gleichen Haltung am Boden, in der Mortimer und Climpsey ihn angeblich vorgefunden hatten, ohnmächtig am Rand jenes Schlammlochs liegend.
Was auch immer all diese Vorfälle zu bedeuten hatten, Robert fühlte, dass sie ihn kräftigten. Als er neuerlich aufsah, war sein Blick so entschieden wie der Ton, mit dem er sich an Climpsey wandte. »Meine Tasche, Mr. Climpsey, wo ist sie?«
Paul Climpsey zog die Schultern hoch. »Sie werden uns doch nicht grollen, Mr. Thompson, wegen unseres kleinen Scherzes?« Er griff unter seinen Umhang, unter dem er jederzeit die absonderlichsten Dinge hervorzuzaubern verstand.
»Zum Donner, einen Moment noch, Paul.« Mortimers Bass grollte gebieterischer, als Roberts Zorn es jemals vermocht hätte. »Selbstverständlich vergreifen wir uns nicht am Eigentum eines Gentleman. Also soll Mr. Thompson seine Tasche zurückerhalten – wenn er gelobt, sich künftig auch wie ein Gentleman zu betragen.«
Robert wandte sich zu ihm um. »Wann hätte ich ...«
Mortimer legte einen fleischigen Finger auf seine Lippen, eine unerwartet feierliche Gebärde. »Geloben Sie, Mr. Thompson, künftig nicht mehr Ihre Kameraden zu verdächtigen, die Ihnen gewiss nichts Übles wollen und Sie heute aus einer mehr als unangenehmen Lage gerettet haben?«
Robert nickte überrumpelt. Er fing einen Blick von Youngboy auf, der hinter seinem Tresen an der Wand lehnte und ihnen aufmerksam zuzuhören schien. Als Robert ihm ein Zeichen mit den Augen machte, wandte sich der Wirt um und begann drei neue Rumkrüge zu füllen, dabei hatte er ihm nur bedeuten wollen, dass bei ihnen alles in Ordnung sei.
»Hier ist Ihre Tasche, Mr. Thompson.« Climpsey hängte ihm den leinenen Beutel über die Schulter, auch er klang nun ein wenig gekränkt. »Bitte überzeugen Sie sich, dass nichts von Ihrem Besitztum fehlt.«
»Das ... wird nicht nötig sein«, presste Robert hervor. »Ich stehe in Ihrer Schuld und danke Ihnen vielmals, Gentlemen.«
Erst später an diesem Abend wagte er es, verstohlen über das Futter seiner Tasche zu tasten, und noch viel später, nach dem sechsten oder siebten Krug, begann ihm zu dämmern, dass Mortimer ihn der Möglichkeit beraubt hatte, jemals den Kragenknopf von ihm zurückzufordern, ohne sein Gelöbnis zu brechen. Und je betrunkener er wurde, desto schmerzlicher schien ihm gerade der Verlust des väterlichen Erbstücks. Doch nicht nur dieses Schmerzes wegen verbrachte er den Abend und die halbe Nacht zwar in Gesellschaft der beiden Freunde, am Tresen der Mahogany Bar, wechselte aber in all den Stunden mit Mortimer und Climpsey kaum mehr als die nötigsten Worte.
Vor seinem geistigen Auge sah er unablässig die rätselhafte Mayafrau, einmal ihre wirkliche Gestalt, die vor ihm durch die Straßen eilte, dann wieder ihren liegenden Schattenriss im Gras.

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