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Dr. Laurin
– Box 4 –

E-Book 17-22

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-865-0

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Verzweiflung ist nicht nur ein Wort

Das kann Dr. Leon Laurin nur bestätigen

Roman von Patricia Vandenberg

Seit drei Monaten war Sandra Freytag überzeugt, die glücklichste Frau der Welt zu sein.

Gewiß war sie auch schon glücklich gewesen, als sie mit Bernd Freytag getraut wurde; aber als werdende Mutter wurde sie nun auch von dem Familienclan der Freytags akzeptiert, und vor allem von ihrer Schwiegermutter.

Marion Freytag hatte die bildhübsche Tochter eines mittleren Beamten höchst ungern als Frau ihres einzigen Sohnes betrachtet. Sie hatte zwar der Hochzeit beigewohnt, um nicht nach außen hin zu demonstrieren, daß es zwischen ihnen Differenzen gab, aber in ihrem Haus an der Bürgerweide hatte sie Sandra noch nie empfangen.

Allerdings mußte sie auch auf die Besuche ihres Sohnes Bernd verzichten, denn er zeigte sehr beharrlich, daß er sich Sandra zugehörig fühlte.

Marion Freytag verharrte in Schweigen, bis sie die Nachricht bekam, daß Sandra ein Baby erwartete. Dies geschah kurz vor dem ersten Hochzeitstag des jungen Paares, und nun wollte sie, daß dieser Tag in ihrem Hause festlich begangen wurde.

Bernd war äußerst skeptisch gewesen, doch Sandra war in so versöhnlicher Stimmung, daß sie seine Bedenken wegredete.

Bevor sie nun die Reise in die Schweiz antraten, suchte sie noch einmal Dr. Laurin auf, in dessen Klinik sie ihr Kind zur Welt bringen wollte.

Strahlend wie der Frühlingstag, an dem dieser Besuch stattfand, betrat sie die Prof.-Kayser-Klinik.

Das junge Industriellenehepaar Bernd und Sandra Freytag waren gut bekannt mit dem Arztehepaar Leon und Antonia Laurin.

Dr. Laurin hatte früher oft mit Bernd Freytag Tennis gespielt. Das war allerdings zu einer Zeit gewesen, als Leon Laurin noch nicht an Heirat dachte und der junge Freytag erst recht nicht. Sie waren beide viel umschwärmt gewesen von den Frauen.

Bernd Freytag, fünf Jahre jünger als Dr. Laurin, hatte den Schritt in die Ehe ebenfalls erst mit zweiunddreißig Jahren gewagt, aber er hatte nach mancher leichtsinnigen Affäre eine gute Wahl getroffen. Selbst skeptische Gemüter mußten ihm zugestehen, daß es eine Liebesheirat war.

Sandra war nicht nur bildhübsch, sie war auch gebildet und diplomatisch. Sie hatte nichts erzwingen wollen, und vielleicht hatte sie ihn gerade damit fester an sich gebunden, als sie selbst erwartet hatte. Sie liebte ihren Mann mit aller Hingabe, und sie freute sich unendlich auf das Kind.

Herzlich begrüßte sie Hanna Bluhme, Dr. Laurins tüchtige Hilfe.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht für Ihren Sohn, Blümchen«, sagte sie.

»Münzen aus dem Orient. Mein Mann hat ja keine Muße zum Sammeln.«

»Dafür wird sich mein Junge um so mehr freuen, Frau Freytag«, versicherte Hanna lächelnd.

Bernd war durch einen schweren Unfall noch leicht behindert, aber sonst ging es ihm wieder sehr gut, und seine verwitwete Mutter war herzlich froh, daß sie ihren einzigen Sohn nicht so schnell herzugeben brauchte. Ihre Tochter Cornelia hatte eine gute Partie gemacht, und sie selbst war sehr zufrieden mit ihrer Arbeit in der Prof.-Kayser-Klinik. Das alles wußte Sandra Freytag.

»Der Chef wird gleich kommen. Er mußte nur noch mal in den Kreißsaal. Da kommen wieder Zwillinge.«

»Ich würde auch gern Zwillinge nehmen«, sagte Sandra träumerisch. »Wenn ich dabei an die Laurin-Zwillinge denke, erst recht. Sie sind einfach wonnig.«

Ja, das hörte sie immer wieder, und Hanna teilte diese Ansicht. Dr. Laurins Zwillinge waren einfach bezaubernd.

»Wenn ich doch auch schon soweit wäre«, meinte Sandra seufzend. »Ich kann es kaum noch erwarten. Nicht mal sehen kann man’s. Hoffentlich wird es meine Schwiegermutter überhaupt glauben.«

»Sie ist ja auch Mutter«, stellte Hanna tröstend fest, denn sie wußte sehr gut, daß Marion Freytag, diese energische und tonangebende Frau, die einzigen Schatten auf das Glück der Freytags warf.

Doch jetzt schien sich das auch zu geben, denn Sandra erzählte, daß sie morgen zur Bürgerweide fahren wollten, um dort ihren ersten Hochzeitstag zu feiern.

»Was ein Kind doch ausmacht, selbst wenn es noch nicht auf der Welt ist«, bemerkte sie gedankenvoll.

Ja, diese Erfahrung machte man hier oft, aber manchmal nützte auch ein Kind nichts, um ein besseres Verhältnis herzustellen. Doch Marion Freytag hoffte nun wohl auf einen Erben, und Hanna hoffte es auch im Interesse dieser liebenswerten jungen Frau, daß es ein Sohn werden würde.

Dr. Laurin erschien, sehr in Eile, und Sandra sagte auch sogleich, daß sie ihn nicht lange aufhalten wolle. Sie wollte sich nur noch einmal überzeugen, daß alles in Ordnung sei und sie unbesorgt ihre Reise antreten könnte.

Dr. Laurin konnte es ihr bestätigen. Auch er war über die Familienverhältnisse bestens informiert.

»Na, nun kommt wohl doch alles noch in Ordnung?« fragte er.

»Bernd wollte nicht so recht. Er kann manchmal sehr dickköpfig sein, aber ich habe ihm klargemacht, daß wir seine Mutter jetzt nicht verärgern dürfen. Schließlich ist es doch ihr einziger Sohn.«

Wie versöhnlich sie war! Dr. Laurin freute sich darüber. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, dachte er. Sandra ging den ihren unbeirrbar. Sie hatte nie ein böses Wort gegen ihre Schwiegermutter gesagt.

»Lassen Sie sich für alle Fälle von Frau Bluhme den Paß geben mit Ihrer Blutgruppe«, sagte er noch. »Man kann nie wissen, wie man ihn brauchen kann.«

»Oh, Bernd fährt jetzt sehr vorsichtig«, erwiderte sie. »Er weiß, daß er jetzt für sein Kind die Verantwortung hat. Ich hätte nie gedacht, daß er sich so freuen könnte.«

Ja, sie hatte wohl mit einigen Bedenken in diese Ehe gehen müssen, aber wieder einmal erwies es sich, daß Liebe keine Schranken kannte.

*

Während Dr. Laurin wieder ins Geburtszimmer ging, fuhr Sandra Freytag heim.

Ein wunderschönes Haus hatte Bernd Freytag für sich und seine junge Frau bauen lassen. Ein Heim, von dem wohl viele Frauen träumten, und doch wäre Sandra mit ihrem Bernd auch in eine kleine Wohnung gezogen und hätte auf alles verzichtet, nur um bei ihm zu sein. Aber sie hatte alles bekommen, ohne je einen Wunsch geäußert zu haben. Und weil sie so bescheiden geblieben war, wurde sie auch vom Personal verehrt und geliebt.

Heute jedoch wurde sie nicht von Carlos empfangen, der als Sekretär und auch als Hausfaktotum der gute Geist im Haus war, sondern von ihrem Mann persönlich.

»Liebes, du sollst dich doch nicht mehr ans Steuer setzen«, sagte er mit liebevollem Vorwurf. »Du brauchst doch nur anzurufen, wenn du den Fahrer brauchst.«

Sie schenkte ihm ein zärtliches Lächeln und küßte ihn.

»Mir geht es blendend. Es ist alles in bester Ordnung. Dr. Laurin hat es bestätigt, und du kannst sicher sein, daß ich selbst sehr vorsichtig bin.«

Niemand hätte Bernd Freytag früherer Jahre zugetraut, daß er, der sportliche Hüne, einmal so behutsam mit einer Frau umgehen könnte.

Er legte die Lippen an ihre Schläfe und ließ leicht seine Finger durch ihr seidiges Haar gleiten, das ihr schon etwas gebräuntes Gesicht umgab.

»Ich würde durchdrehen, Engelchen, wenn dir etwas passierte«, flüsterte er.

Alles in ihr war Glück. Mit beschwingten Schritten ging sie an seinem Arm ins Haus, das sie ganz nach ihrem Geschmack hatte ausstatten dürfen. Und so war es auch. Hell und freundlich und doch voller Wärme.

»Wir könnten schon am Nachmittag fahren, Liebstes, und dann über Nacht in Zürich bleiben«, schlug er vor.

»Wozu?« fragte sie.

»Um dir ein paar Modellkleider zu kaufen«, bemerkte er.

Sie lächelte verschmitzt.

»Mamas wegen? Bald wird mir alles zu eng, also sind die Ausgaben überflüssig.«

»Es wird Mama nicht gefallen, wenn ich an dir spare«, fuhr er fort.

Sie lachte leise.

»Du sparst ja nicht, Bernd. Ich bin nun mal gewöhnt, das Geld zusammenzuhalten. Das ändert sich auch nicht.«

Aber ihn hatte es verändert. Auch er warf das Geld nicht mehr zum Fenster hinaus, wie er es früher getan hatte. Sie hatte, ohne dies deutlich zu machen, einen guten Einfluß auf ihn gehabt.

Sandra schien immer an seiner Seite zu stehen als sein guter Geist, der ihn anspornte und den er nicht enttäuschen wollte.

Das Kosewort Engelchen hatte eine tiefe Bedeutung für ihn erlangt.

»Übrigens hat Mama vorhin angerufen, daß ich nur recht vorsichtig fahren solle. Ihr ist nämlich immer schlecht geworden beim Autofahren, als ich unterwegs war.«

»Keine Sorge, mein Schatz, mir wird es nicht schlecht. Aber ich finde es lieb, daß sie so besorgt ist.«

Er betrachtete sie mit einem unergründlichen Blick.

Konnte eine Frau wirklich so großzügig sein, diese Demütigungen zu vergessen, die man ihr bereitet hatte? Er fuhr nicht unbeschwert zur Bürgerweide. Er glaubte, seine Mutter zu kennen. Sie dachte bestimmt nur an das Kind. Sandra war ihr gleichgültig, und wenn sie jemals Geltung haben sollte im Clan der Freytags, dann nur als Mutter des Erben.

Aber er hütete sich, dies auszusprechen. Er war darauf bedacht, Sandra die Stellung zu verschaffen, die sie hier von Anfang an eingenommen hatte.

*

Marion Freytags prächtiges Haus war für den Empfang des jungen Paares gerüstet.

Mit der Nonchalance einer Frau, die zeitlebens Mittelpunkt war, hielt sie die Fäden in der Hand. Marion Freytag ließ sich nie gehen. Sie konnte wortlos Anerkennung und auch Tadel zeigen.

Im Salon hatte sie die Familie versammelt. Martin Freytag mit seiner Frau Evelyn und den Töchtern Bianca und Cecile, recht attraktive Teenager, die sich mürrisch diesen Vorbereitungen fügten.

Dann Marions Bruder Franco Devert, verwitwet, mit seinem Sohn Nico, den die Boulevardpresse gern als Playboy bezeichnete. Und nicht zuletzt Madame Devert, die Mutter von Marion und Franco, eine zierliche alte Dame mit schneeweißem Haar und hellwachen Augen, denen nichts entging.

»Wozu eigentlich dieser Aufwand, Tante Marion?« stellte Nico fest. »Es war doch vorauszusehen, daß deine Schwiegertochter auch mal ein Kind bekommen würde.«

»Einen Freytag«, erwiderte Marion gelassen.

»Zudem muß ich zugeben, daß sie eine bedeutendere Rolle spielt, als ich erwartet hatte.«

Ob es ihr recht war, konnte man ihrer Miene nicht entnehmen.

»Sie hat Bernd ganz schön auf Vordermann gebracht, wie mir scheint«, äußerte sich Martin Freytag.

»Ich fand Sandra immer sehr hübsch«, bemerkte Bianca.

»Sie müßten eigentlich schon hiersein«, erklärte Madame Devert.

Und da kamen sie auch schon. Man hatte den Wagen nicht gehört.

Bernd, groß, schlank, blond wie sein Vater, dachte Marion mit mütterlichem Stolz. Sandra voll bezaubernder Anmut in einem rot-weißen Komplet, das an ihr wie ein teures Modell wirkte, obgleich sie es in einem Kaufhaus erstanden hatte.

Heute sah Marion Freytag sie mit anderen Augen, als Mutter ihres ersten Enkelkindes, und nahm zum ersten Mal den Liebreiz dieser jungen Frau wahr.

»Meine liebe Sandra«, sagte sie so herzlich, daß alle den Atem anhielten, »ich freue mich, dich so gesund zu sehen.«

Als wäre Kinderkriegen eine Krankheit, dachte Sandra leicht belustigt, aber sie war dennoch angetan von dieser herzlichen Begrüßung.

Man konnte schon nach einer Viertelstunde sagen, daß es so lebhaft schon lange nicht mehr in diesem vornehmen Haus an der Bürgerweide zugegangen war. Sandra gehörte nun, nicht mehr nur dem Namen nach, zur Familie.

*

Der Name Freytag wurde auch beim Mittagstisch im Hause Laurin erwähnt.

»Heute morgen las ich in der Zeitung, daß Nico Devert und Linda Trentin heiraten wollen«, sagte Antonia zu ihrem Mann.

Er blickte auf. »Ist das wichtig?« fragte er geistesabwesend.

»Linda Trentin war einmal die ständige Begleiterin von Bernd Freytag«, stellte Antonia beiläufig fest.

»Das ist schon eine Ewigkeit her. Jetzt ist er glücklich verheiratet.«

»So weit ich mich erinnere, ist es zwei Jahre her«, bemerkte Antonia. »Und Nico Devert ist ein Cousin von Bernd.«

Dr. Leon Laurin war leicht irritiert. »Na, hoffentlich ist dieser Cousin nicht so taktlos, seine Zukünftige auf diesem Fest zu präsentieren. Das täte mir leid für Sandra.«

»Was sind das nun für Leute?« fragte Konstantin. »Warum redet ihr nicht mit uns?«

Die Zwillinge waren es gewöhnt, daß sie in die Unterhaltung einbezogen wurden, denn schließlich hatten sie ihren Papi nicht oft zu Hause.

»Es sind Bekannte«, erwiderte Leon.

»Wir kennen sie vom Tennisclub.«

»Aber bei uns waren sie noch nicht«, bemerkte Kaja. »Haben sie auch Kinder?«

»Sie bekommen eins«, erwiderte Leon.

»Ach so«, meinte Konstantin, für den dies ein Beweis war, daß sein Vater berufliches Interesse hegte. Schließlich kamen in der Prof.-Kayser-Klinik die Kinder zur Welt, und die Zwillinge konnten sich nicht vorstellen, daß dies auch anderswo möglich wäre.

»Nun, ich denke, daß Marion Freytag viel zu diplomatisch ist, um einen Eklat heraufzubeschwören«, überlegte Antonia.

»Sie nicht, aber die Trentin?« Leon Laurin sah Antonia nachdenklich an. »Sie ist eine Intrigantin.«

Aber Linda Trentin war nicht nur eine Intrigantin. Nico Devert ahnte nicht, daß er nur ein Werkzeug für sie war. Er war völlig im Bann dieser schönen und skrupellosen Frau.

*

Man legte im Hause an der Bürgerweide eine Siesta ein, um für den Abend frisch zu sein. Niemand hegte einen Zweifel, daß es ein gelungener Abend werden würde. Jedenfalls noch nicht zu dieser Stunde.

Nico hatte das Haus verlassen.

Seine Tante Marion hatte ihn mit einem denkwürdigen Blick bedacht, als er ihr sagte, daß er noch einen Gast mitbringen würde.

»Wen?« hatte sie lakonisch gefragt.

»Es soll eine Überraschung sein, eine angenehme Überraschung, Tante Marion.«

»Du hältst dich doch an unsere Spielregeln, Nico?« fragte sie.

»Aber selbstverständlich. Meine Überraschung wird zum Gelingen des Abends beitragen.«

Man mußte ihm zugute halten, daß er nichts Böses dachte, denn er war überzeugt, daß Linda Trentin die begehrenswerteste Frau der Welt war.

Sie hatte eine phantastische Figur, wundervoll geformte Beine, und ihr Gesicht war von einer madonnenhaften Schönheit. Ein trügerisches Spiel der Natur, denn diese Hülle, die so vollkommen war, umschloß einen verdorbenen Kern.

Aber wer wußte das schon? Nico Devert hatte nicht die geringste Ahnung, mit wem er sich da eingelassen hatte.

Linda Trentin war zwei Jahre älter als er. Ihr Mann, ein bekannter Schauspieler, war vor drei Jahren bei einem Segelunglück ertrunken.

Nico hatte die junge Frau, die von allen bedauert wurde, damals schon flüchtig gekannt. Von den engen Beziehungen zwischen ihr und seinem Cousin Bernd hatte er aber nicht die leiseste Ahnung. Selbstverständlich waren auch sie sich begegnet, hatten miteinander getanzt und geplaudert, aber als die Gerüchte auftauchten, daß Bernd Freytag und Linda liiert seien, studierte Nico, wie es sich für einen Devert gehörte, in England. Und diese Gerüchte waren schnell verstummt, dafür hatte einst Marion Freytag gesorgt.

Sie hätte gewiß nicht so ruhig geschlafen, hätte sie gewußt, wen Nico an diesem Abend in ihr Haus bringen würde.

Bernd Freytag wäre bestimmt nicht so gut gelaunt gewesen wie jetzt, als er, sich von allen Sorgen befreit glaubend, mit Sandra scherzte.

Sie hatten allen Grund, sorglos zu sein, denn Marion hatte Sandra ein ganz wundervolles Saphirarmband geschenkt. Es war der äußerliche Beweis, daß sie ihre Schwiegertochter bedingungslos akzeptierte.

»Ich habe gewußt, daß ich mich eines Tages mit Mama gut verstehen würde«, sagte Sandra. »Sie ist ein Mensch, der einem nicht gleich um den Hals fällt und Gefühle heuchelt. Wer war ich denn schon, als ich deine Frau wurde, Bernd?«

»Die einzige, die ich mir als meine Frau vorstellen konnte«, erwiderte er. »Du warst so ganz anders als alle anderen, Engelchen, so natürlich und unverdorben. Ich war so glücklich, als du mir dein Jawort gabst.«

»Und hast nicht gedacht, daß ich es dem vermögenden Bernd Freytag gab?« fragte sie lächelnd.

»Nicht einen Augenblick. Dann wärest du jetzt nicht meine Frau. Ich liebe dich sehr, Engelchen!«

Sie glaubte es ihm. Sie hatte sich keine Illusionen gemacht, als sie ihn kennenlernte. Im Tennisclub war es gewesen, und immer waren hübsche Mädchen um ihn herum. Sie gehörte nicht zur High-Society. Für sie war Tennis nur ein Sport. Sie war nicht auf Männerjagd wie die anderen. Aber gerade das war es gewesen, was ihn gereizt hatte, anfangs jedoch nur, weil sie nicht so schnell zu erobern war.

Doch dann hatte sie entdeckt, daß in diesem verwöhnten, reichen jungen Mann sehr viel Gefühl war.

Es wurde mehr und immer mehr auch bei ihm, während sie schon lange ihr Herz an ihn verloren hatte.

Aber wenn Bernd Freytag sich verliebte, war es meistens auch ebensoschnell vorbei. Bei Sandra war es anders gewesen, und so langsam seine Liebe gewachsen war, so beständig war sie geworden.

Wie hätten sie ahnen sollen, daß heute, an ihrem ersten Hochzeitstag, der erste Schatten auf ihr Glück fallen sollte!

*

»Du hast nicht gesagt, daß ich komme?« fragte Linda lauernd.

Nico Devert lachte. »Ich lasse mir doch die Überraschung nicht entgehen, dich als meine zukünftige Frau zu präsentieren. Vater wird Augen machen, und Tante Marion wird nun wohl doch von ihrer plötzlich so heißgeliebten Schwiegertochter etwas abgelenkt werden.«

»Wie ist sie denn so?« fragte Linda leichthin.

»Sehr reizvoll, das muß man ihr lassen. Natürlich nicht so reizvoll wie du. Aber die Geschmäcker sind eben verschieden. Für Bernd ist sie die richtige Frau, denn im Grunde ist er irgendwie doch ein Spießer.«

»Mit einer recht bewegten Vergangenheit«, stellte sie sarkastisch fest.

»Wer denkt heute noch daran? Bald wird er treusorgender Familienvater sein.«

»Du willst doch nicht sagen, daß er seiner Frau treu ist?«

»Und wie, Darling. Sie hat ihn gezähmt. Im Hause Freytag herrscht eitel Sonnenschein. Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Kind – in einem Hause versammelt sind. So sagt man doch«, spottete er.

Er wußte nicht, daß er mit jedem Wort ihre Eitelkeit traf. In ihr brannte maßlose Wut. Sie konnte sich kaum noch beherrschen.

»Laß mich jetzt allein, Nico«, sagte sie.

»Ich brauche noch etwas Ruhe. Schließlich möchte ich vor den Augen der Familie auch bestehen können.«

»Das wird dir nicht schwerfallen, Darling«, erklärte er sorglos. »Für mich bist du die Schönste.«

»Schmeichler. Man wird manches an mir auszusetzen haben.«

»Unsinn. Das paßt nicht zu dir, Linda-Darling. Du hast mir noch gar nicht erzählt, was du in den vergangenen Wochen getrieben hast.«

Nun, das würde sie ihm auch nicht auf die Nase binden. Der charmante Nico würde aus allen Wolken fallen, wüßte er es, und ihr Auftritt im Hause Freytag könnte dadurch in Frage gestellt werden.

Lange, zu lange schon, hatte sie auf den Tag gewartet, sich in Bernd Freytags Erinnerung zu bringen. Und nicht einmal sich selbst gestand sie es ein, daß sie insgeheim immer gehofft hatte, er würde derjenige sein, der den Weg zu ihr zurückfand.

*

»Wunderschön siehst du aus, Engelchen«, sagte Bernd bewundernd.

Das stellten auch die anderen fest, als Sandra am Arm ihres Mannes den Speisesaal betrat, in dem dienstbare Geister am Nachmittag ein kaltes Büfett aufgebaut hatten, das wie ein Gemälde wirkte.

Alle Familienmitglieder waren versammelt, bis auf Nico. Marion bemerkte es mißbilligend.

»Was führt dein Sohn eigentlich im Schilde, Franco?« fragte sie ihren Bruder.

»Mich darfst du nicht fragen. Er liebt Überraschungen.«

»Leider nicht immer angenehme«, mischte sich Madame Devert ein. »Komm, Kind«, wandte sie sich dann an Sandra. »Wir setzen uns noch in eine stille Ecke.«

Marion und ihr Bruder tauschten einen vielsagenden Blick. Wenn sich die alte Dame zurückzog, besagte das immer, daß sie kritisch gestimmt war. Und daß sie ausgerechnet Sandra zu ihrer Gesellschaft auswählte, ließ in Marion Freytag eine bange Ahnung aufsteigen.

Ihre Mutter war eine sehr eigenwillige Frau, die sich nie in interne Angelegenheiten einmischte. Sie lebte ihr Leben. Sie hatte damals, als Bernd Sandra heiratete, die Bedenken ihrer Tochter angehört, sich aber nicht dazu geäußert.

Sie war eine kluge Frau, die sich auch in die manchmal recht turbulent verlaufenden Ehen ihrer Kinder nicht eingemischt hatte. Zu Bernds Eskapaden hatte sie ebenso geschwiegen wie zu Nicos Extravaganzen.

»Erschrick nicht, wenn Nico irgend so eine verrückte Frau daherbringt«, sagte sie zu Sandra. »Er weiß manchmal nicht, was er tut.«

Sandra konnte natürlich nicht wissen, daß die Großmama die einzige gewesen war, die auch heute Zeitungen gelesen hatte und die seit Stunden bange Ahnungen mit sich herumtrug.

»Du bist glücklich, mein Kind. Man sieht es dir an«, stellte sie fest. »Bernd hat das große Los gezogen.«

So viel wußte Sandra von Bernds Großmutter, daß aus ihrem Munde eine solche Feststellung noch mehr wog, als hätte Marion sie getroffen.

»Danke, Großmama«, erwiderte sie erfreut.

»Ich werde euch im Sommer einmal besuchen, wenn ich willkommen bin.«

»Oh, du würdest uns eine sehr große Freude machen.«

Nora Devert seufzte. »Jetzt kommen die Gäste. Der Trubel beginnt. Wenn es dir zuviel wird, gib mir ein Zeichen, Sandra. Mir verzeiht man alles, auch wenn ich die Hauptperson entführe.«

Sie küßte Sandra rasch auf die Wange, und das sah Bernd gerade noch, der kam, um seine Frau zu holen.

»Du hast aber einen Stein im Brett bei Großmama«, raunte er ihr zu.

Auch für die nächste Viertelstunde konnte sie unbeschwert lächeln, doch dann kamen Nico und Linda Trentin.

Sandra spürte, wie ihr Mann zusammenzuckte. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Hilfesuchend blickte sie zu Madame Devert, aber diese widmete ihre Aufmerksamkeit ihrer Tochter, die wie erstarrt dastand.

Als Nico mit Linda auf Marion zuging, drehte sich Nora Devert abrupt um und kam auf Bernd und Sandra zu.

»Darf ich dir meine zukünftige Frau vorstellen, Tante Marion«, sagte Nico so laut, daß sie es hören mußte. »Linda Trentin.«

Marion Freytag hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

»Du hättest uns vorbereiten sollen, Nico«, sagte sie reserviert.

Es war eine eigentümliche Atmosphäre. Worte wurden gewechselt, an die sich später niemand mehr erinnern konnte, aber ein paar blieben jedem im Gedächtnis haften, nämlich die, mit denen Linda Trentin Bernd begrüßte.

»Nett, dich endlich einmal wiederzusehen«, sagte sie. »Wann trafen wir uns eigentlich das letzte Mal? Richtig, du warst noch nicht verheiratet.«

Und dabei maß sie Sandra mit einem Blick tödlichen Hasses, der Madame Devert zu einer Bemerkung veranlaßte, die keines Kommentares mehr bedurfte.

»Überraschungen solcher Art, Nico, sind in diesem Hause noch nie üblich gewesen. Wann endlich wirst du erwachsen werden?«

*

Sandra bemühte sich, keine Fragen an Bernd zu richten. Es war von jeher ihr Grundsatz gewesen, ihm keine zu stellen, die ihn in Bedrängnis bringen könnten.

Hätte sie sich nicht schon durch das werdende Kind ihren Platz in dieser Familie erobert, dann durch ihre Haltung, die so damenhaft war, daß sie Marion Freytag größte Bewunderung abnötigte.

Lange Zeit gelang es Bernd, Linda Trentin aus dem Wege zu gehen, aber dann brachte sie es doch fertig, sich an seine Seite zu schieben.

»Ich habe dir etwas zu sagen, Bernd, und du wirst guttun, dich nicht zu drücken. Ich erwarte dich morgen in meinem Hotel.«

»Du wirst umsonst warten«, erwiderte er heiser.

Sie lachte auf, als Nico nahte. »Ich werde euch in München besuchen«, sagte sie leichthin. »Schließlich werden wir ja nun verwandt.«

Dann wandte sie sich Nico zu.

»Jetzt weiß ich erst, was es bedeutet, in euren Clan einzudringen«, fuhr sie fort. »Hoffentlich werde ich nach einem Jahr Ehe auch so akzeptiert wie Bernds Frau. Sie wird allerhand durchgemacht haben. Aber jetzt kann sie ja mit einem Kind aufwarten.«

Bernd drehte sich brüsk um.

Nico sah Linda befremdet an. »Mußtest du das so spöttisch sagen?« fragte er.

Ihre Augen verengten sich. »Mein lieber Nico, ich möchte jetzt gehen. Diese Gesellschaft langweilt mich.«

Nico Devert wurde sich plötzlich bewußt, daß er einen riesigen Fehler begangen hatte, einen, der vielleicht nicht mehr wiedergutzumachen war. Aber er begleitete sie.

*

»Wir hätten diesen Tag im Familienkreis feiern sollen«, sagte Marion zu Sandra, als die letzten Gäste gegangen waren. »Ich bedaure Nicos Taktlosigkeit sehr, mein Kind. Es sollte euer Fest sein.«

»Er hat sich dabei sicher nichts gedacht, Mama«, meinte Sandra versöhnlich.

Marion Freytag sah ihre Schwiegertochter erstaunt an. »Meinst du das ehrlich?«

»Ich bemühe mich, immer ehrlich zu sein, Mama.«

Marion ergriff ihre Hand. »Du liebst Bernd sehr«, sagte sie leise.

»Mehr als mein Leben, Mama.«

»Du vertraust ihm?«

»Selbstverständlich. Zu jeder Zeit.«

»Ich habe dir sehr viel abzubitten, Sandra. Ich möchte nicht nur deine Schwiegermutter sein, sondern auch deine Freundin. Das Leben ist sehr wechselvoll. Aber du wirst dich immer auf mich verlassen können.«

»Danke, Mama. Du darfst nicht denken, daß du etwas abzubitten hast. Für mich warst du immer Bernds Mutter, und weil ich ihn liebe, liebe ich dich auch.«

Tränen standen in Marion Freytags Augen. »Alles was ich besitze, soll dir und dem Kind gehören, auch dieses Haus.«

Sandra blickte ihre Schwiegermutter an. »Wir wollen nicht nur das eine Kind, Mama«, sagte sie verlegen. »Und ich möchte nichts für mich. Bernd, nur ihn möchte ich immer behalten.«

»Ich danke dir dafür«, sagte Marion leise.

*

»Mama war rührend«, sagte Sandra, als sie mit Bernd allein war.

Er drehte sich langsam zu ihr um. »Ich muß dir eine Erklärung geben, Engelchen.«

»Das klingt ja so ernst. Nicos wegen? Man darf ihn nicht tragisch nehmen.«

Ein Schweigen trat ein. Er zerrte die Smokingschleife von seinem Hals.

»Linda Trentin war nicht nur eine flüchtige Bekanntschaft von mir, Liebstes«, stieß er rauh hervor. »Deshalb messe ich dem allem mehr Bedeutung bei als du. Seit ich dich kenne, gibt es keine andere Frau mehr, Engelchen. Aber manche Frauen wollen nicht begreifen, daß es so kommen kann.«

»Es ist für uns doch nicht wichtig, Bernd«, sagte sie gedankenvoll. »Ich wollte noch nie wissen, was vorher war. Ich will es auch jetzt nicht wissen.«

Sie umschloß sein Gesicht mit beiden Händen.

»Bernd, ich liebe dich so, wie du bist, und ich werde nie an dir zweifeln. Ohne dich möchte ich nicht mehr leben. Was geht uns also Linda Trentin an?«

Er konnte nichts mehr sagen und bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen.

*

Linda Trentin wartete umsonst auf Bernd Freytag. Nico erschien gegen Mittag. Er machte einen deprimierten Eindruck.

»Es tut mir schrecklich leid, Darling, aber die Familie bildet eine geschlossene Phalanx gegen uns. Ich weiß nicht, warum.«

Sie hätte es ihm sagen können, aber sie dachte nicht daran. Marion Freytag wußte natürlich, daß ihre Bekanntschaft mit Bernd keine oberflächliche gewesen war.

In Bezug auf ihre Familie war sie zu keinen Zugeständnissen bereit, und Linda war es schon jetzt klar, daß Nico sich dem Willen und der Macht seiner Familie beugen würde.

»Ich teile also das Schicksal von Bernds Frau«, meinte sie entsagungsvoll.

»Sandra ist akzeptiert worden, warum nicht auch du?« fragte er deprimiert. »Ich hätte mir doch einen anderen Tag aussuchen oder zumindest Vater einweihen sollen«, sagte er niedergeschlagen.

»Man muß wohl erst ein Kind in die Welt setzen, um dieser Familie willkommen zu sein. Und das war wohl auch der Grund, daß Bernd sich von mir getrennt hat. Ich kann nämlich keine Kinder bekommen«, sagte Linda verächtlich.

Er duckte sich, als hätte er einen Schlag bekommen.

»Bernd? Was hast du mit Bernd zu tun?«

»Ich hatte«, fuhr sie herablassend fort. »Anscheinend bist du der einzige, der es nicht weiß. Auch damals hat deine liebe Tante Marion verstanden, ein Machtwort zu sprechen. Schließlich ist es ja auch gleich, wer die Erben zur Welt bringt. Hauptsache, man ist dazu fähig.«

Nun hatte sie sich in ihrem Haß doch vergaloppiert, aber es wurde ihr zu spät bewußt.

»Dann bin ich hier wohl überflüssig, wenn es so ist«, sagte er heiser. »Aber täusche dich nicht, Linda. Bernd liebt seine Frau, und sie ist keine unbedeutende Person. Sie ist eine Dame!«

Er stürzte blindlings hinaus, entsetzt über ihre Boshaftigkeit.

*

»Ich hätte es gern, wenn ihr noch bleiben würdet«, sagte Marion Freytag bekümmert, als Bernd und Sandra zur Heimfahrt rüsteten.

»Ich kann jetzt nicht so lange wegbleiben, Mama. Wir haben wichtige Verhandlungen«, erklärte Bernd. »Kommt uns doch besuchen.«

»Ja, Mama, wir freuen uns. Komm mit Großmama. Unser Haus ist schön«, schloß sich Sandra an. »Ihr werdet nichts vermissen.«

Marion zwang sich zu einem Lächeln. »Du wirst dich wundern, wie bald wir kommen, Kleines«, sagte sie liebevoll. »Hoffentlich wird es dir dann doch nicht zuviel. – Gib auf sie acht, Bernd. Nicht nur des Kindes wegen«, flüsterte sie ihm noch zu.

Noch einmal blickte Sandra zu Madame Deverts Fenster empor. Die alte Dame winkte, und es schien, als würde sie mit dem Taschentuch über ihr Gesicht fahren.

»Es war schön, es war wunderschön«, rief Sandra ihrer Schwiegermutter zu.

Die Dämmerung sank herab. Bernd hatte schon früher fahren wollen, aber Nora Devert hatte Sandra noch für sich beansprucht.

»Wir müssen noch tanken, Liebes«, sagte er.

»Auf die paar Minuten kommt es nicht an«, lächelte sie. »Um Mitternacht sind wir daheim.«

Er fuhr an die nächste Tankstelle heran. Sandra bemerkte das rote Kabriolett nicht, das hinter ihnen hielt. Sie dachte an die Großmama, die ihr so gütige Worte mit auf den Weg gegeben hatte.

Bernd hatte inzwischen gezahlt. Er sah das rote Kabriolett, und er sah Linda Trentin am Steuer sitzen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er stieg rasch ein, und mit Vollgas schoß der Wagen davon.

»Nicht so schnell, Bernd«, sagte Sandra mahnend. »Wir wollen doch heil nach Hause kommen.«

*

Sie fuhren der Grenze zu.

Es war noch ziemlicher Verkehr. Die Abfertigung an der Grenze war zügig, doch unentwegt folgten ihnen zwei Scheinwerfer.

Sandra merkte es nicht. Sie hatte den Kopf an Bernds Schulter gelehnt und die Augen geschlossen.

Er schaute immer wieder in den Rückspiegel, aber die beiden Scheinwerfer blieben ihm auf den Fersen.

Er fuhr schneller. »Es ist kein Gegenverkehr«, sagte er, als sie emporschrak.

»Aber die Straße ist so kurvenreich, Bernd.«

Und dann geschah es. Plötzlich sprang ein Schatten vor den Wagen.

Er bremste scharf, geriet ins Schleudern, und dann krachte es.

»Sandra!« schrie er auf.

Dann war es Nacht um ihn.

Er schrak empor, als etwas an ihm zerrte. Eine Stimme tönte an sein Ohr.

»’raus, Bernd, bring dich nicht um Kopf und Kragen!«

Er öffnete die Augen. Er sah Sandra. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Er stöhnte. Alles drehte sich um ihn.

»Engelchen«, flüsterte er und griff nach ihrer Hand, die eiskalt war.

»Hilfe! Hilfe!« ächzte er und wälzte sich aus dem Wagen, noch völlig benommen und nicht Herr seiner Sinne.

Ein Arm stützte ihn, eine Hand schob ihn.

»Sandra ist tot!« stöhnte er. »Sie ist tot! Ich will nicht mehr leben.«

Und immer wieder war da die Stimme, die er haßte und die unentwegt auf ihn einredete. Er verstand nichts. Er wußte nur, daß er nicht allein war.

*

Sandra kam langsam zu sich.

Ihre Hand tastete auf den Fahrersitz. Er war leer. Ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, schob sie sich mühevoll hinüber.

»Bernd«, kam es gequält über ihre Lippen. »Bernd?«

Bremsen kreischten. Eine Hand faßte nach ihrem Puls.

»Sie lebt«, sagte eine ferne Stimme. »Sie hat Glück gehabt. Fahr los, Reni. Hole Hilfe. Hier ist weit und breit kein Telefon.«

Etwas regte sich in Sandras gequältem, schmerzendem Kopf.

»Prof.-Kayser-Klinik«, flüsterte sie. »Dr. Laurin. Meine Tasche.«

»Sie hat etwas gesagt«, vernahm sie die Stimme des Mannes. »Schau mal, ob du eine Tasche findest, Reni. Das andere klang wie Klinik.«

Und dann schwanden Sandra wieder die Sinne.

In der Prof.-Kayser-Klinik war alles in Alarmbereitschaft. Dr. Thiele sagte zur Schwester Otti: »Wir sollten Dr. Laurin verständigen. Es handelt sich um Frau Freytag.«

Sie lief schon zum Telefon. Eben erst hatten sie den Anruf von einer Frau bekommen. Von einem schweren Autounfall hatte diese berichtet. Eine Karte von der Prof.-Kayser-Klinik sei in der Tasche der Verletzten gewesen.

Dr. Laurin kam nach knappen zehn Minuten. Der Unfallwagen war noch nicht da.

»Haben Sie sich auch nicht verhört?« fragte er Dr. Thiele.

»Nein, den Namen habe ich deutlich verstanden, wenn die Frau am Telefon auch aufgeregt war.«

Sandra Freytag allein, ging es Dr. Laurin durch den Sinn. Und ihr Mann? Um Gottes willen, er wird doch nicht tot sein?

*

»Komm zu dir, Bernd, komm endlich zu dir«, sagte die klirrende Stimme, die an seinen Nerven zerrte.

»Was ist los?« fragte er schrekkensvoll.

»Du bist zu schnell in die Kurve gegangen.«

Er öffnete mühevoll die Augen. Er sah Linda Trentin. Sein Bewußtsein kehrte zurück.

»Ich muß zu Sandra.«

»Sie ist tot«, sagte sie kalt. »Aber du lebst, und wenn du jetzt durchdrehst, wirst du im Gefängnis landen.«

»Ich will zu Sandra!« schrie er sie an. »Ich beschwöre dich, halt an!«

Aber sie dachte nicht daran, das Tempo zu verringern. Jetzt hatte sie ihn in der Hand. Endlich konnte sie sich dafür rächen, daß er sie damals hatte fallenlassen.

»Was bezweckst du eigentlich?« fragte Bernd Freytag tonlos.

»Ich will dir helfen. Eines Tages wirst du mir dafür noch dankbar sein, Bernd. Deine Frau wird nichts mehr sagen können. Überlaß alles mir.«

Sandra ist tot, tot durch meine Schuld, hämmerte es in seinem Kopf.

Der Schmerz zerriß ihn fast, und dann war grenzenlose Leere in ihm.

*

Dr. Laurin hatte Sandra Freytag untersucht.

Die Schnittwunden im Gesicht waren am schlimmsten. Es tat ihm weh, wenn er sich dieses bezaubernde Gesicht vorstellte, wie er es neulich noch gesehen hatte. Aber immerhin lebte sie.

Seit ein paar Minuten schon spürte Sandra seine Nähe. Sie hatte seine Stimme gehört und wußte, daß es Dr. Laurin war.

Ihre Gedanken begannen zu arbeiten.

Bernd hatte nicht mehr neben ihr gesessen. War er herausgeschleudert worden aus dem Wagen? War er verletzt oder gar tot? Nein, er konnte nicht tot sein, sie lebte ja auch noch.

»Bernd«, flüsterte sie.

Dr. Laurin schrak zusammen. Er wußte nichts von Bernd Freytag, aber sehr genau wußte er, daß er Sandra keinen neuen Schock versetzen durfte.

»Es geht ihm gut«, sagte er eindringlich. »Nicht aufregen.«

Es geht ihm gut, hatte er gesagt. Aber warum war er nicht bei ihr gewesen?

Ich darf nichts sagen, was Bernd schaden könnte, dachte sie mechanisch. Ich muß alles erst genau überlegen.

Dann kam der Gedanke an das Kind. An ihr Kind, auf das sie sich so unsagbar gefreut hatte. Sie begann zu zittern.

»Jetzt werden Sie schlafen«, sagte Dr. Laurin.

Sie spürte einen feinen Stich.

Wie in Trance sagte sie monoton: »Ich fuhr den Wagen, Dr. Laurin. Etwas sprang über die Straße. Ich habe gebremst…«

Gedankenvoll blickte er auf sie herab und sah dann Dr. Thiele an.

»Eigenartig, daß sie sich so gut erinnern kann«, sagte er leise. »Ich frage mich nur, wo Herr Freytag ist. Hat er sich schon gemeldet?«

»Ich frage gleich nach«, sagte Dr. Thiele.

Als er zurückkam, schlief Sandra schon fest.

»Herr Freytag ist nicht da. Er hat sich auch noch nicht gemeldet. Ein junges Ehepaar hat Frau Freytag gefunden. Sie warten unten. Sie sagen, daß sie allein im Wagen gewesen sei.«

Unvorstellbar, dachte Dr. Laurin. Bernd Freytag sollte seine Frau allein zu so später Stunde fahren lassen? Haben sie Differenzen gehabt? Vielleicht wegen seiner Mutter? Es mußte einen triftigen Grund dafür geben.

*

Jörg und Irene Fischer waren ein modernes junges Ehepaar, das nicht zu Sentimentalitäten neigte. Aber jetzt waren sie niedergeschlagen.

»Ich war ziemlich müde«, erzählte Jörg Fischer. »Von Verona aus sind wir durchgefahren. Gesehen haben wir nicht, wie es passiert ist.«

»Ein Wagen hat uns überholt«, warf seine Frau verwirrt ein. »Er fuhr sehr schnell.«

»Ja, das stimmt. Ich habe noch geschimpft«, stellte Jörg Fischer fest. »Wir blieben zurück, weil Reni ängstlich geworden war. Als wir an die Unglücksstelle kamen, dachten wir zuerst, es wäre dieser Wagen.«

»Aber er war es nicht«, erklärte seine Frau. »Das andere Auto war ein Sportwagen. Herr Doktor, die junge Frau wird doch am Leben bleiben?« fragte sie dann ängstlich.

»Ja, mit Bestimmtheit. Sie hatte allerdings einen starken Blutverlust, und wenn Sie nicht gekommen wären, würde es sicher schlimm um sie stehen. Eine Frage: Frau Freytag war tatsächlich allein?«

»Ja, sie saß am Steuer«, sagte Jörg Fischer.

»Nicht direkt«, mischte sich seine Frau wieder ein. »Sie hing halb aus dem Wagen. Etwas war noch da, aber vielleicht bilde ich es mir auch nur ein«, flüsterte Irene Fischer. »So was Dunkles, aber es war nicht groß. Ach, ich bin so durcheinander, und dann war es ja auch wichtig, daß der jungen Frau geholfen wurde. Wir fanden in ihrer Tasche eine Karte von Ihrer Klinik. Deswegen dachten wir, es wäre gut, wenn sie hierhergebracht wird.«

»Ja, das war sehr gut«, stellte Dr. Laurin fest. »Frau Freytag wird es Ihnen zu danken wissen. Ich übrigens auch.«

Und Bernd Freytag? fragte er sich wieder. Es war Dr. Laurin rätselhaft, wo er geblieben sein konnte. War Sandra gar allein aus der Schweiz zurückgekommen?

Dr. Laurin rief die Privatnummer der Freytags an. Carlos meldete sich.

Nein, die jungen Herrschaften seien noch nicht zurück, antwortete er erschrocken, als Dr. Laurin ihm die Frage gestellt hatte. Und er konnte zuerst gar nichts mehr sagen, als Dr. Laurin ihm erklärte, daß Frau Freytag verletzt in seine Klinik gebracht worden wäre.

Man müsse sofort Marion Freytag anrufen, war seine Meinung, als er sich halbwegs gefangen hatte. Doch, das würde er trotz der späten Stunde tun.

*

Marion Freytag war von der Ruhelosigkeit ihrer Mutter angesteckt worden. Die alte Dame mit ihren Ahnungen hatte sie vollends nervös gemacht.

Marion konnte nicht schlafen. Sie kannte Linda Trentin zwar nicht so gut, um ihre Gefährlichkeit einschätzen zu können, aber sie sah dennoch eine Bedrohung für Bernds Ehe in ihr.

Als das Telefon läutete, blickte sie auf die Uhr. Vielleicht war es Bernd, der ihr sagen wollte, daß sie gut daheim angekommen wären. Doch dann schwanden ihr fast die Sinne, als sie Carlos Stimme vernahm.

Als sie aufblickte, stand ihre Mutter in der Tür.

»Es ist etwas geschehen«, sagte Nora Devert tonlos. »Ich fühle es.«

»Ja, Mutter, es ist etwas geschehen«, wiederholte Marion. »Sandra hatte einen Autounfall.«

»Sandra? Und Bernd?« fragte Nora Devert.

»Er war nicht im Wagen. Ich wecke Jules. Er wird mich sofort nach München bringen. Ich kann hier nicht abwarten.«

Nora Devert nickte. »Ich denke, es wird gut sein, Marion, wenn du dort bist.«

*

»Ungeschehen kannst du das doch nicht machen. Man wird dir die Schuld an dem Unfall geben.«

Linda Trentins Stimme hämmerte auf ihn. Er wußte nicht mehr, was sie alles zu ihm gesagt hatte.

»Bei mir können wir alles besprechen. Du brauchst einen Drink. Du mußt klar denken«, drängte sie.

»Nein«, sagte er heiser. »Ich will wissen, was geschehen ist. Ein Tier muß mir gegen den Wagen gesprungen sein.«

Und Sandra ist tot, dachte er wieder.

Linda hatte es so oft gesagt. Du mußt an dich denken. Es ist immer noch besser, wenn bekannt wird, daß du mit mir gefahren bist. Ihr habt euch gestritten und euch dann getrennt. Ich werde es beschwören.

Ja, damit wollte sie ihn festnageln, ihn abhängig von sich machen.

Aber warum? War es nicht gleich, was mit ihm geschah? Wenn er Sandra verloren hatte, war ihm alles gleichgültig. Was bedeutete ihm sein Leben noch?

Er stöhnte auf.

»Warum bist du uns gefolgt?« fragte er grübelnd.

»Es war Zufall«, sagte sie.

Lindas Hand legte sich auf seinen Arm. Ihr Gesicht war ihm ganz nahe.

»Ich habe vergessen, was du mir angetan hast, Bernd«, sagte sie. »Ich liebe dich. Ich werde alles für dich tun.«

Er sah sie an Nicos Seite. Ihre drohenden Worte von jenem Abend tönten in seinen Ohren.

»Ich habe dir etwas zu sagen, und du wirst guttun, dich nicht zu drücken.«

»Du hast dich verrechnet, Linda«, sagte er rauh, und schon hatte er die Wagentür geöffnet. »Für mich ist ohne Sandra alles zu Ende.«

Ihre Augen verengten sich. »Nun, das werden wir sehen. Du weißt, wo du mich erreichen kannst«, erwiderte sie.

Er taumelte über die Straße. Die Nachtluft machte seinen Kopf etwas klarer, aber sie konnte den Schmerz nicht nehmen, der in ihm bohrte.

*

Carlos starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.