Über Henriette Dyckerhoff

Henriette Dyckerhoff, geboren 1977 im Sauerland, studierte Philosophie und Soziologie und arbeitete bei einem Hamburger Verlag. Heute ist sie freie Lektorin und schreibt Sachbücher. Für »Was man unter Wasser sehen kann«, ihren ersten Roman, erhielt sie ein Stipendium des Landes Niedersachsen. Sie lebt in Oldenburg.

Informationen zum Buch

Damals, im Tal

Als ihre Mutter verschwindet, kehrt die junge Luca in ihre Heimat zurück, nach Ronnbach, jenen kleinen Ort zwischen waldigen Hügeln und tiefhängendem Himmel, wo sie zwischen Mutter und Großmutter aufwuchs, zwischen zwei Frauen, die einander das Leben schwermachten. Luca verstand nie, warum, doch nun sucht sie nach Antworten, und bald erkennt sie, dass die Geschichte ihrer Familie ihren Anfang nahm, als das Ronnetal in den Sechzigern gegen den Willen einiger geflutet werden und ein ganzes Dorf versinken sollte.

Henriette Dyckerhoff erzählt von drei Frauengenerationen und einer Liebe zwischen zwei Heimatlosen und lässt dabei ein Stück Zeitgeschichte lebendig werden – klug, berührend, eigenwillig.

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Henriette Dyckerhoff

Was man unter Wasser sehen kann

Roman

Inhaltsübersicht

Über Henriette Dyckerhoff

Informationen zum Buch

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Teil Eins

Montag, 14. September 2015

Donnerstag, 17. September 2015

7. Juli 1956

18. September 2015

2. August 1956

18. September 2015

24. Oktober 1957

18. September 2015

12. Juni 1959

18. September 2015

26. Juni 1959

19. September 2015

26. Juni 1959

19. September 2015

26. Juni 1959

19. September 2015

Teil zwei

19. September 2015

17. September 1962

19. September 2015

16. Juni 1965

Nacht auf den 20. September 2015

29. Juni 1965

20. September 2015

15. September 1965

20. September 2015

Nacht auf den 16. September 1965

20. September 2015

Teil Drei

20. September 2015

16. September 1965

20. September 2015

16. September 1965

20. September 2015

21. September 2015

16. September 1965

21. September 2015

16. September 1965

21. September 2015

16. Oktober 1965

21. September 2015

28. September 2015

23. Oktober 1965

2. Oktober 2015

4. November 1965

4. November 2015

Impressum

Teil Eins

Wo jetzt der See glänzt, da war einst ein Tal. Und in dem Tal war ein Dorf, da lebte die Marie mit ihrem Mann und ihrem Kind. Und neben ihrem Haus floss ein Bach, der alle mit frischem, kühlem Wasser versorgte. Doch dann begann es zu regnen, und es regnete viele Tage und hörte nicht mehr auf. Und der Bach schwoll an, immer breiter trat er über die Ufer, immer gieriger verschlang er Wiesen und Wege, Wälder und Felder. Endlich trat das Wasser in die Häuser, lief in die Keller, stieg in die Stuben und Dielen und hinauf bis zur Scheune. Die Menschen im Tal aber flohen auf die Hügel und sahen zu, wie das Wasser ihre Heimat unter sich begrub. Und da das Wasser ihr Tal nicht mehr freigab, bauten sie neue Häuser oben am Hang. Die Marie aber konnte ihr Tal nicht vergessen. Jeden Tag stand sie am Ufer und sah hinab ins graue Wasser. Und da es nicht zurückwich, ging sie selbst hinein, immer weiter und weiter, bis sie ganz darin verschwand, und so schlang der See seine Arme um sie und ließ sie nicht mehr los.

Montag, 14. September 2015

Unwahrscheinlich, dass sie noch kommt. Sie war ja nie groß weg aus Ronnbach. Sonst schickt meine Mutter höchstens mal eine Nachricht, letzte Woche dann der Anruf: »Hallo Luca, Montag komm ich nach Berlin.«

Montag hat Marion frei. Sie fragte nicht, ob ich auch freihabe, als wäre es ein Riesengefallen von ihr, mich zu besuchen. Hätte ich es ihr doch ausgeredet. Dann hätte ich jetzt nicht dieses irre Kribbeln in den Armen, dieses Sirren im Ohr. Bei jedem Türbimmeln zucke ich zusammen, und das, obwohl meine Mutter sich bisher schön rausgehalten hat aus meinem Leben.

Von Ronnbach hierher sind es ungefähr fünfhundertsechzig Kilometer. So wie Marion fährt, hätte sie längst hier sein können, spätestens abends wollte sie kommen. Noch ist es hell, aber die Sonne ist schon hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite verschwunden. Das sieht man auch von hier drinnen, trotz der gestapelten Ware und der Markise vorm Schaufenster. Bald wird das Licht seine Farbe verlieren, die Dinge werden grau, dann bläulich. Ich werde die Beleuchtung einschalten müssen. Und noch immer kein Wort von Marion.

Wenn ich hinterm Tresen stehe, kann ich von den Leuten draußen nur die Köpfe sehen: gebleichtes Blond, halblanges Braun, akkurates Schwarz, Kopftuch, rasiert und tätowiert – schrilles Rot. Aber nicht Marions Rot. Meine Mutter färbt es dunkler, ihre Tönungen heißen »Wilde Kirsche« oder »Aubergine«. Oma Grete hätte mir erzählt, wenn Marion das geändert hätte. Früher trug sie das Haar zur Mähne auftoupiert, jetzt reicht es nicht mal mehr bis zur Schulter. Es wippt beim Gehen, und das Klacken ihrer Stiefel müsste man bis in den Laden hören. In Ronnbach weiß der ganze Ort Bescheid, wenn meine Mutter zur Arbeit geht. Auch hier in Neukölln würde sie ihre Schritte auf den Gehweg hämmern. Da kennt sie nichts. Sie würde sich nicht anmerken lassen, dass sie das nicht gewohnt ist: die breiten Bürgersteige, die Menschen, das Sprachgewirr, die Luft schwer von Abgasen, der bittere Atem der U-Bahn, der süße Qualm aus Ahmeds Shisha-Bar. Ich bin nicht mal sicher, ob sie das alles überhaupt mitkriegen würde. Oft ist Marions Blick wie versiegelt. Sie wirkt dann auch ohne Sonnenbrille so, als würde sie eine tragen.

»Komm direkt in den Laden«, hab ich ihr gesagt, »nicht in die Wohnung.«

Bevor ich eingezogen bin, hießen die zwei Zimmer im Hinterhaus »Lager«, in das eine konntest du gar nicht reingehen, da stand die Ware bis an die Tür. Ich hab ein bisschen Ordnung gemacht und eine Schlafecke eingerichtet. Wir haben gar nicht besprochen, wo sie übernachten wird.

Achtzehn Uhr. Noch immer keine Nachricht, auch nicht von Vinz. Sonst fragt er wenigstens, ob alles in Ordnung ist, wenn er nicht mehr in den Laden kommt. Ich könnte Marion anrufen, aber sie soll einfach so kommen, durch die Tür, und mich hier sehen. Ihre Schuld, dass ich mich den ganzen Tag schon fühle, als wäre eine versteckte Kamera auf mich gerichtet. Ich sortiere Nudeln in die Regale und stelle mir vor, sie kommt gerade rein. Ich kassiere, packe die Äpfel, Nüsse, Olivenöl in eine Tüte, und fühle ihren Blick. Dabei ist alles wie immer. Marion ist nicht da. Und draußen verliert das Licht seine Farbe.

Sie wollte sich nur kurz hinlegen nach der Schicht im Frizz. »Sobald es hell wird, setze ich mich ins Auto«, sagte sie. Selbst wenn sie erst später los ist, müsste sie langsam da sein. Sonntags kann sie meistens schon um Mitternacht zumachen, hat sie mal erzählt. Von Ronnbach nach Berlin sind es fünf Stunden, von mir aus auch sechs. In der richtigen Laune würde sie einfach losfahren, gleich nach der Arbeit, die paar Bier – kein Problem.

Neunzehn Uhr. Sie wird keinen Parkplatz finden, dazu der Feierabendverkehr. Das kann dauern. Vielleicht dreht sie schon eine Weile ihre Runden, vielleicht fährt sie immer wieder am Laden vorbei und kann nur nicht halten. Zeit, die Kisten von draußen reinzuholen, dann sieht sie mich gleich, wenn sie kommt.

Die Luft ist noch warm, die Straßenlaternen brennen schon. Der Verkehr fließt allerhöchstens ein bisschen zäh am Laden vorbei. Von einem roten Golf keine Spur. Ich zwinge mich, mir nicht den Kopf danach zu verdrehen, während ich Äpfel und Weintrauben, Brokkoli und Auberginen reinschleppe.

Ahmed sitzt vor der Shisha-Bar und raucht. »Du bist aber früh dran heute«, sagt er, und ich weiß, dass er mir bei meiner Räumerei auf den Arsch guckt.

»Du mich auch«, sag ich.

Und dann schreib ich ihr doch eine Nachricht, da ist es schon fast dunkel:

Komm in den Laden, bin noch ne Weile da. Viel zu tun.

Das leise Ploppen, als der Text verschickt wird. Der Bildschirm wird dunkel, dann schwarz.

Zwanzig Uhr, Vinz wird gleich zu seinen Eltern gefahren sein, er will wohl nicht stören. Ich schicke Marion noch mal die Adresse vom Laden.

»Ist Vinz dein Freund?«, hat Marion gefragt, als wir alles abgemacht haben.

»Er ist mein Chef«, sagte ich, damit sie mich damit in Ruhe ließ.

Dreiundzwanzig Uhr. Die Rechnungen sind sortiert, die Bestandslisten erstellt, ein paarmal kontrolliere ich den Handyempfang. Nichts. Ein Mann im Anzug kommt in den Laden, weil noch Licht brennt und die Tür nicht verschlossen ist. Ich verkaufe ihm zwei Zitronen für zehn Euro, er zuckt nicht mal mit der Wimper. Ich wische den Tresen ab, fege den Boden, hole Wasser, tauche den grauen Wischmopp in den Eimer.

Um Mitternacht gebe ich auf.

Ich rufe sie an.

Eine fremde Stimme überschlägt sich fast vor Freude: »Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar, bitte versuchen Sie es später noch einmal.« Bestimmt ist der Akku leer, sie wird sich verfahren haben. Irgendwer wird ihr schon helfen. Ist doch immer so.

Ich bin schon in der Wohnung, Name steht an der Klingel. Kannst auch anrufen, schreibe ich auf einen Zettel und hänge ihn an die Ladentür, zur Sicherheit tippe ich’s auch ins Handy.

Die Luft ist noch lau, als ich den Laden abschließe. Eine Horde Jungs kommt vorbei, einer pfeift hinter mir her.

»Lass dir Eier wachsen!«, rufe ich.

Die sollen sich nur umdrehen, ich werd’s denen zeigen. Und gleich pocht es wieder so im Hals, und es rauscht in den Ohren. Wie früher auf dem Schulhof. Da wussten alle, dass man mir nicht dumm kommen darf. Da hat keiner mehr über meine Familie gelästert, wenn ich in der Nähe war. Aber die Jungs hier lachen nur und ziehen weiter.

Und mir bleibt nicht mal ein langer Weg, um mich abzureagieren. Nur ein paar Schritte, dann durch die schwere Tür in den Hinterhof. Hier riecht es faulig von den Mülltonnen her, irgendwas huscht in den Busch neben dem Fahrradständer. Zur Wohnung muss man bloß ein paar Stufen hoch. Praktisch, wenn man die Ware reinschleppen muss. Und es ist gut für die Lebensmittel, dass die Sonne nicht direkt in die Zimmer scheint. Das Vorderhaus wirkt wie ein Schutzwall, tagsüber kommt nur graues trübes Licht von draußen. Aber das ist in Ordnung, da bin ich eh im Laden.

In der Wohnung riecht es trocken nach Staub – und nach Reis. Vinz hat eine ganze Palette kommen lassen. Steht alles in dem großen Zimmer hinten, meine Schlafecke ist daneben am Fenster. Vinz hat eine Luftmatratze für Marion mitgebracht, falls sie hier überhaupt schlafen will. Die liegt noch eingepackt auf dem Boden. Ohne Licht zu machen, gehe ich in die Küche, setze mich auf den einen Stuhl und lege die Füße auf den anderen. Das Display des Handys schimmert bläulich.

Wo bist du, Marion?, schreibe ich. Kann ja sein, dass sie das Telefon wieder eingeschaltet hat.

Gegen ein Uhr: Ich geh jetzt schlafen. Klingel einfach.

Natürlich gehe ich nicht schlafen. Stattdessen probiere ich die Klingel an der Wohnungstür – sie funktioniert. Ich überlege, wer für mich die Klingel an der Haustür testen könnte. Als mir niemand einfällt, laufe ich selbst runter, über den Hof, und blicke auf die Straße. Kein rotes Haar, kein roter Golf, nur ein einsamer Mann mit einem Hund. Und noch eine Nachricht an Marion:

Du kannst jederzeit klingeln!

Vinz’ Eltern wohnen draußen in Hennigsdorf. Vinz bleibt da öfter über Nacht. Die Mutter kann nicht mehr so, sein Vater hat’s an der Lunge. Kann man auch verstehen, Krieg und Flucht aus Bosnien. War bestimmt nicht einfach. Vinz sieht natürlich nach denen. Offiziell ist er auch bei ihnen gemeldet. Die Adresse hängt an der Pinnwand neben dem Tresen, aber ich war noch nie dort. Einer muss ja hier die Stellung halten. Da müssen wir gar nicht drüber reden.

Er pfeift durch die Zähne, als er am Morgen den sauberen Laden sieht. Ich knie vor dem Regal, sortiere Reis ein und wundere mich, dass ich das kann. Ohne Schlaf und zittrig vom Kaffee.

»Wo ist denn deine Mutter?«, fragt Vinz. Und als ich nicht antworte: »Schon wieder weg?«

Dieser Druck in der Kehle. Dabei war eh klar, dass sie nicht kommen würde. Vinz’ ausgebreitete Arme, ich lehne meine Stirn an seine T-Shirt-Brust und atme Schweiß und Waschmittel. Seine Hand in meinem Haar und dann diese brennenden Augen. Ich stoße mich von ihm ab, solange es noch geht. Die Kisten schleppe ich mit gesenktem Kopf raus.

»Muss los zum Markt.« Vinz klopft mir auf die Schulter. Er sieht ja, dass ich zu tun habe.

Ich frage mich, ob ich Oma Grete verständigen muss oder gerade nicht, da ruft sie schon an.

»Warum meldet ihr euch gar nicht? Marion geht nicht an ihr Telefon.«

»Sie ist nicht hier«, sage ich und schlucke gegen den Druck in der Kehle.

Donnerstag, 17. September 2015

Sie muss das Telefon weggeworfen haben, oder sie hat’s ausgeschaltet, vielleicht hat sie’s auch verschenkt, was weiß ich. Sie geht jedenfalls nicht ran. Würde man das mit ihr machen, sie würde ausrasten. Aber was hilft es, es gibt genug zu tun. Morgens den Laden aufschließen, Kisten raus, frisches Obst und Gemüse einsortieren, das Vinz vom Großmarkt mitbringt. Dann den Transit für den Wochenmarkt beladen, Vinz ist fast jeden Tag der Woche auf einem anderen, am Nachmittag wieder ausladen, zwischendurch die Kunden. Und dann noch die Abrechnung, wenn der Laden schon geschlossen ist. Putzen muss man auch irgendwann. Vinz sollte froh sein, dass sein Laden so in Schuss ist, stattdessen guckt er mich an, als wäre irgendwas ganz und gar nicht in Ordnung. »Hat sie sich immer noch nicht gemeldet?«, fragt er.

Und ich: »Nee, aber ist auch egal.«

Grete hat versprochen, dass sie anruft, wenn sie was von Marion hört. Was soll ich da noch machen?

Vinz wiegt den Kopf. Nichts macht ihn so unruhig wie Ungereimtheiten, die mit ihm oder dem Laden in Zusammenhang gebracht werden können. Nachher kommt die Polizei noch hier rein. Ich kann seinen Kiefer mahlen sehen, wenn ein Beamter den Laden betritt, selbst wenn der einfach nur was kaufen will.

Ronnbach liegt östlich von Köln. Sauerland heißt die Gegend, manche kennen das, aber hier in Berlin klingen diese Namen so fremd wie aus einer anderen Zeit. Vinz meint, ich soll hinfahren und nach meiner Mutter sehen. Aber was soll das bringen? Oma Grete hätte das zwar auch gern, aber sie sagt selbst, dass da keine Spur von Marion ist. Außerdem, wer kümmert sich dann um den Laden, wenn Vinz auf den Märkten ist? Vinz zuckt schließlich mit den Schultern und fährt los. Die endlose Parade von Köpfen hat sich vor dem Schaufenster längst in Bewegung gesetzt. Aber ich wende den Blick ab, ich würde doch wieder nur nach wippendem rotem Haar Ausschau halten.

Das Geschrei des Babys hör ich schon, als die Frau noch gar nicht im Laden ist. Die Mutter sieht aus wie ein Engel, schön mit Kleidchen, Umhängetasche und Stiefelchen dazu. Den Kinderwagen lässt sie natürlich draußen stehen. Die dreht nicht mal den Kopf danach und lässt sich in aller Ruhe Nüsse abwiegen, dann noch Kaffee. Der Kinderwagen draußen zittert schon von dem Geschrei, da überlegt sie es sich anders und will doch lieber andere Nüsse. »Geh erst mal nach deinem Baby gucken«, sage ich.

Und sie: »Ich will hier einkaufen und keine Erziehungstipps.«

»Dann musste wohl woanders einkaufen. Tschüss!«

Sonst bin ich immer freundlich zu Kunden, aber jetzt pocht es schon so im Hals.

»Du kannst jetzt gehen!«, muss ich noch mal sagen. »Du kriegst hier nichts mehr.«

»Was soll denn das? Blöde Kuh!«, zischt die Frau.

»Verpiss dich!«, brülle ich hinterher. Es dauert ewig, bis man das Babygeschrei nicht mehr hören kann. Ich muss die Tür schließen, damit das aufhört. Kann ich jetzt auch nicht ändern, dass da gerade einer reinkommen wollte und irgendwas kaufen, zuckt er eben zusammen und dreht wieder ab. Der ganze Laden scheppert, als ich die Tür zuknall. Diese irre Scheißwut! Im Regal mit den Spirituosen klirren die Flaschen. Mir doch egal, ich trink eh nichts. Diese zittrige, elende Wut! Ein kräftiger Tritt, und die Flaschen wackeln und klimpern, wenn sie gegeneinanderstoßen. Noch ein Tritt, schön fest, und schon stürzt eine Flasche vom mittleren Regalbrett. Glas splittert, Rotwein spritzt, aber es ist kein volles, platzendes Geräusch, sondern mehr ein schüchternes Klatschen. Ich trete wieder, und diesmal stürzt eine Flasche Korn von ganz oben, knallt auf den Boden. Splitter, Spritzer, Gestank. Marion hätte ihre Freude daran. Wie kann sie einfach nicht kommen? Wie kann sie denn nicht mal Bescheid sagen? Und wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang glauben, sie würde hier wirklich auftauchen?

Das Telefon klingelt, als ich gerade wieder zutreten will, mir ist schon warm von der Anstrengung.

Grete.

»Die Polizei hat gerade angerufen, der Wagen von Marion steht oben auf’m Parkplatz bei der Brücke. Wir sollen den da wegholen.«

Nur das Auto, von Marion keine Spur.

Ich hab den Hörer noch am Ohr, als Vinz kommt. Ausgerechnet jetzt. Er sieht den Scherbenhaufen gleich, obwohl ich mich davorstell, und schüttelt den Kopf auf so eine Art, dass mein Gesicht ganz heiß wird.

»Mann, Luca.«

Jemand muss ihm erzählt haben, dass ich der Frau mit dem Baby was hinterhergerufen hab. Bestimmt Ahmed, der Wichser.

Vinz bringt fast nichts aus der Ruhe, immer ist noch Zeit für eine Zigarette oder einen Plausch mit den Kunden, nur ganz selten werden seine Gesichtszüge hart, dass man denken könnte, gleich zieht er los und lyncht jemanden. »Kunden beleidigen geht gar nicht«, sagt er mit einer Stimme, die ich bedenklich finde.

Ich fange an, die Scherben in den Mülleimer zu räumen. Nachher werde ich alles aufwischen. So lange, bis man nicht mal mehr ahnen wird, dass hier was kaputtgegangen ist. Er wird schon sehen.

»Du fährst da jetzt hin und schaust, was mit deiner Mutter ist«, sagt er, als könnte er das entscheiden.

Aber das kann er vergessen.

7. Juli 1956

Sie kamen von Bosbach. Cord blinzelte gegen die Sonnenstrahlen, die durch die Tannen fielen. Etwas raschelte rechts von ihnen zwischen den Bäumen, wo es steil den Bissberg hinaufging. Vielleicht nur der Wind oder irgendein kleines Tier. Links gluckste die Ronne. Es roch nach Erde und Harz.

Die Riemen des Rucksacks schnitten in die Schultern. Cord trug den Proviant und das Werkzeug, das er mit Mutter besorgt hatte. Einen Hammer, Nägel und eine Zange. Eigentlich kaum erschwinglich für sie, aber der Stall musste gemacht werden. Alles andere konnten sie von Lisekes kriegen.

Er spürte den Schotter des Weges unter den Sohlen, kleine Steinchen waren in seine Schuhe gelangt und drückten spitz gegen seinen Fuß. Doch Cord blieb nicht stehen, sondern ging immer einen Schritt vor der Mutter, nahm ihr noch das Bündel mit der Jacke ab.

»Lass mich auch was tragen«, lachte sie. Doch er schüttelte stolz den Kopf. Sie sollte weiter mit den Armen schlenkern beim Gehen wie ein Mädchen. Was störten ihn da schon die Riemen auf den Schultern oder der Schweiß im Rücken. Der Wald lichtete sich und gab den Blick frei auf das Tal, die Wiesen mit dem Vieh darauf, die Ronne wand sich silbrigblau in Richtung Dorf.

Gleich vor ihnen tauchte der Gerber-Hof auf. Alma stand mit dem Reisigbesen vor dem Haus und winkte sie zu sich. Unmöglich, an der ungesehen vorbeizukommen. Immer stand sie fegend im Hof und hatte den Weg im Blick. Bei ihr blieb man stehen, wenn man wissen wollte, was es Neues gab. Sie schüttelte der Mutter die Hand und zog einen Apfel für Cord aus ihrer Schürzentasche, als sei er noch ein kleiner Junge. Und während er sich fragte, ob sie jemals etwas anderes tat, als den Hof zu fegen, erzählte sie von dem silbernen Wagen, der hier vorbeigekommen sein sollte, gestern erst.

»Das hättet ihr sehen sollen, wie der hier gerade langgebraust ist! Und ohne Dach«, sagte Alma. Die Mutter schüttelte den Kopf und lachte. Hier fuhr höchstens mal der Hitzke mit seinem Hanomag oder der Howald mit seinem Käfer, das war dann aber auch schon alles. Wo sollte so ein Wagen hier auch hin? Aber Alma blieb dabei, der sei an ihrem Haus vorbei, weiter nach Ronnbach. Cord und seine Mutter lachten noch darüber, als die kleine Brücke in Sichtweite kam und das Plätschern lauter wurde.

Gleich hinter der Brücke zwischen der Ronne und dem Weg lag der Hennes-Hof, zweistöckig, ganz oben der Speicher, dann der Anbau mit Schuppen, gegenüber auf der anderen Seite der Straße der Stall. Aus der Entfernung war nicht zu erkennen, wie baufällig er war. Und dann das Haus: Erst wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass das Dach durchhing. Auch die Außenwände waren zur Mitte hin abgesackt. Die Reihe der kleinen Fenster, die eigentlich schnurgerade in einer zum Boden parallelen Linie verlaufen sollte, bog sich zur Mitte leicht durch, so dass das Haus lachend seine Zähne zu zeigen schien. Gleich dahinter war der Liseke-Hof. In der Mitte die Einfahrt zu beiden Höfen, wo ihre Hühner sich mit den Gänsen der Nachbarn angefreundet hatten.

Die Mutter ließ sich auf die Bank fallen, die vor dem Haus stand, Cord gleich neben sie.

»Ich bin schneller«, sagte sie. Er sah, wie sie sich die Schuhe abstreifte, und beeilte sich. Mit bloßen Füßen lief sie am Haus vorbei Richtung Ronne, als Cord mit roten Druckstellen an Fersen und Zehen hinterhersetzte. Er überholte sie an der Weide und tauchte seine Füße als Erster ins Wasser. Die Kälte nahm ihm fast den Atem. Die Mutter sog die Luft ein und lachte. Sie hatte den Rock zusammengerafft, damit er nicht nass wurde, und machte kleine Schritte im knöcheltiefen Wasser.

Jetzt wirkte der Bach seicht und harmlos und war nur so breit, dass man ihn mit wenigen Schritten durchschreiten konnte, aber im Herbst und im Frühjahr schwoll er an und wurde zu einem weißschäumenden Strom, der Bäume und Tiere mitreißen konnte, nicht selten auch Menschen, wenn sie nicht achtgaben. Heute gluckste der Bach nur leise, an einigen Stellen war er so klar, dass man den steinigen Grund sehen konnte. Nur da, wo sie hintraten, wirbelte Erde auf und färbte das Wasser bräunlich.

Die Mutter setzte sich mit gerafftem Rock ans Ufer, die Füße noch in der Ronne. Sie schloss die Augen und summte vor sich hin. Ein paar Sonnenstrahlen fielen durch die Weidenzweige auf das Wasser, dort schimmerte die Oberfläche golden. Der dunkle, langgestreckte Ruf der Kühe erinnerte sie an die Arbeit, doch die Mutter hielt die Augen geschlossen, und auch Cord ignorierte es für einen Moment.

»Hört ihr das denn nicht?«

Grete stand neben der Mutter im Gras. Eine Schürze über dem Kleidchen. Die Haare zu hellen Zöpfen gebunden.

»Wir gehen gleich hin«, sagte Cord.

»Was macht ihr?«, fragte das Kind.

»Wir kühlen die Füße.« Mutters Stimme klang schläfrig.

»Habt ihr keine Angst vor der Ronne-Marie?«

Cord schüttelte den Kopf. Mit sechzehn war man zu groß, um daran zu glauben, und zu alt, um es zu zeigen, falls man doch heimlich Angst hatte. Grete streifte die Schuhe ab und setzte vorsichtig einen Fuß ins Wasser, dann den zweiten. Sie lachte über die Kälte, raffte den Rock hoch, wie es die Mutter schon getan hatte, und hüpfte von einem Fuß auf den anderen, dass es spritzte. Ein Schwall Wasser traf Cord unvermittelt an der Schulter. Wie die Kleine lachte. Die Mutter stimmte ein. Er formte die Hände zu einem Gefäß und schaufelte Wasser Richtung Grete. Sie schrie spitz auf, verschluckte den Laut aber gleich erschrocken und sah in Richtung Liseke-Hof. Und tatsächlich kam da auch schon Herta über die Wiese vom Nachbargrundstück.

»Habt ihr alles gekriegt?«

»Ist noch vorne im Rucksack«, nickte die Mutter.

»Habt Glück mit dem Wetter.«

Während die Frauen redeten, war Grete blitzschnell aus dem Wasser gekommen, zog sich die Schuhe über und flitzte rüber zum Haus. Herta musste ihr nicht einmal einen Blick zuwerfen. Sie konnte freundlich mit den Nachbarn plaudern und Grete gleichzeitig stumm Befehle erteilen. Als hätten die beiden eine geheime Sprache miteinander, von der man nichts sah und hörte.

»Hat die Alma euch auch das von dem silbernen Wagen erzählt, der hier gewesen sein soll?«, fragte Herta.

Mutter nickte, dann erst reagierte sie auf das langgezogene Blöken der Kühe und erhob sich seufzend aus dem Gras.

»Ich mach schon«, sagte Cord.

Und als sie gerade ums Haus gingen, hörten sie noch etwas anderes als das dunkle Muhen der Tiere. Das Dröhnen eines Motors, und das kam weder von Howalds Käfer noch von Hitzkes Hanomag. Es war heller, rasanter, so wie Cord sich das Geräusch eines Rennautos vorstellte. Er hielt inne und sah hinauf zum Bissberg, dann rüber zur Ronnhöhe. Da war auch ein Knirschen von Reifen auf Kies, ganz anders als das der Laster vom Walzwerk, das hinter dem Bissberg lag.

Und dann sahen sie den Wagen, silbern, mit offenem Verdeck, Scheinwerfer wie vorstehende Augen, kam er von Bosbach den Hügel runter, bremste kaum, bevor er die Brücke überquerte, und fuhr die Dorfstraße entlang direkt auf sie zu. Darin ein einzelner Mann, auf dem Kopf eine Kappe, wie sie die Rennfahrer in den Zeitungen trugen. Er hielt direkt vor ihnen, der Kies spritzte, kleine Steinchen trafen Cords Waden. Die Leute aus der Umgebung passten besser auf. Der hier wusste nicht, wie man auf den unbefestigten Wegen zu bremsen hatte. Graue, kalte Augen sahen sie aus einem sonnengebräunten Gesicht an. Er lächelte wie ein Gast, der erwartet wird.

»Schreiber, mein Name. Ist das hier der Hennes-Hof?«, fragte er.

18. September 2015

Ab Hagen wird die Landschaft hügliger, die Täler werden tiefer und enger, Fachwerkhäuser drängen sich zu kleinen Ortschaften, und fast alle Hügel sind mit Wald bedeckt. Dazwischen mal eine Weide, darüber der tiefhängende Himmel, kein Blau. Der Zug zwängt sich an einem Hang vorbei, schroff geht es links in die Höhe, Tannen krallen sich an der Böschung fest, rechts ein winziger Bach, kann man kaum erkennen, weil die Ufer so mit Büschen zugewachsen sind. Ab und zu hält die Bahn: Altena, Werdohl, Plettenberg, Finnentrop, Heggen, Attendorn. Diese Namen. Schon ewig nicht gehört, nie ausgesprochen in Berlin.

Ich fahre also doch nach Ronnbach. Grete hat am Telefon fast geweint. Sie hat nie verstanden, warum ich aus Ronnbach weg bin. Ich hätte doch wenigstens noch die Ausbildung zur Tourismusfachwirtin zu Ende bringen können. Damit hätte ich nachher super in der Gegend arbeiten können. Wer braucht schon eine Bauingenieurin, gibt doch genug Bauten auf der Welt, findet Grete. »In fünf Jahren warste nur dreimal hier«, hat sie am Telefon gejammert. »Und wer soll denn sonst das Auto von der Marion holen?«

Vinz wollte ja sowieso, dass ich fahre. Dabei ist der Laden Freitag und Samstag immer gerammelt voll. Muss er selbst wissen. Die Bullen wären schon nicht gekommen, nicht wegen Marion. Aber er kennt sie ja nicht, und ich konnt es ihm nicht erklären. Für Vinz sind Mütter grundsätzlich Heilige. Seine Stimme wird sanft und gefügig, wenn seine Mutter am Telefon ist. Die kenne ich nun wieder nicht, aber ich stelle sie mir als rundbackige, vollbusige Matrone vor, die einen in die Wange kneift und mit Leckereien vollstopft.

»Nächster Halt: Bosbach!«

Wolf wollte mich abholen, aber auf dem Bahnsteig wartet nur eine ältere Frau mit Hackenporsche. Keine Spur von meinem Vater. Auch vorn nicht, wo man parken kann. Letztes Mal war er schon da und hat gehupt, damit ich ihn sehe. Jetzt steht hier ein Bus mit der Aufschrift Leerfahrt, kein Taxi an der Stelle mit dem Schild. Und auch die Straße runter ist Wolfs Lieferwagen nicht in Sicht. Gegenüber dem Bahnhof erhebt sich der Bosberg, an dem lauter Häuschen kleben: Fachwerk natürlich, an der Wetterseite mit Schiefer bedeckt. So ist das hier, die Gebäude müssen alle irgendwie in die Berge gehauen werden, nur wer im Tal wohnt, darf auf ebenem Grund stehen.

Wolf ist eigentlich Klempner, aber er repariert auch Möbel, bessert Wände aus und macht Gartenarbeiten. Man erreicht ihn eigentlich nur übers Handy. Erst als ich Laras Stimme höre, merke ich, dass ich aus Versehen seine Festnetznummer gewählt habe. Lilli und Lara sind meine Halbschwestern, siebzehnjährige Zicken, die nur nett sind, wenn sie was wollen.

»Nö, Papa ist nicht da. Weiß auch nicht, wo der ist. Du sag mal, Lilli und ich wollen in den Herbstferien nach Berlin. Können wir bei dir pennen?«

»Tut mir leid, da muss ich total viel arbeiten. Andermal vielleicht.« Und dann gibt sie den Hörer auch noch an ihre Mutter Yvonne weiter.

»Luca! Das ist ja eine Überraschung. Wie geht’s dir?«

»Gut. Ich wollt nur …«

»Ist denn deine Mutter wiederaufgetaucht?« Dieser besorgte Tonfall, dabei ist es ihr doch gerade recht, dass Marion weg ist. Wenn ich nicht Wolfs Tochter wäre, würde sie mich wahrscheinlich gar nicht in die Nähe von Lilli und Lara lassen.

Da kommt der Lieferwagen endlich auf den Parkplatz gefahren. Mein Vater winkt schon. Und ich zu Yvonne: »Ich wollte nur fragen, wo Wolf bleibt, aber da kommt er gerade. Also …«

»Wolf holt dich in Bosbach ab?«

»Ja, also …« Man kann auch umsteigen und von hier mit der Bimmelbahn weiter nach Ronnbach fahren, aber das machen nur Omis oder Schüler. Alle, die können, fahren mit dem Auto.

»Sag ihm, dass er den Elternsprechtag nicht vergessen soll.«

»Ist gut, mach ich. Bis dann.«

Ein Wunder, dass ich so klein bin, wo mein Vater so ein Riese ist. Er springt aus dem Wagen und schlingt seine Arme um mich. »Lucaluca!« In seiner Umarmung hebe ich ein Stück vom Boden ab, wie früher. Er sieht mich an, fährt mir über die kurzen Haare. Mir wird ganz warm.

»Schön!«, sagt er, als wir im Auto sitzen, und klopft mir mit der Hand aufs Knie. »Wie geht’s dir in Berlin?«

»Gut.«

»Und wo arbeitest du jetzt noch mal?«

»Lebensmittelbranche, hab ich doch erzählt. Ich bin da so reingerutscht.«

»Und die brauchen Ingenieure?«

»Klar. Die planen einen ganz großen Neubau.« Irgendwann erkläre ich ihm das mit der Uni und Vinz und dem Laden, aber jetzt wechsle ich lieber das Thema: »Und bei dir? Wie laufen die Geschäfte?«

»Gut.« Wolf lacht. »Mit wem hast du gerade telefoniert, mit deinem Freund?«

Ich kämpfe gegen ein Grinsen.

»Also. Wie heißt er?«

»Vinz.« Obwohl es komisch ist, Vinz meinen Freund zu nennen. Wir gehen nicht Hand in Hand durch die Gegend oder knutschen rum. Wir arbeiten zusammen, der Rest ist auch so klar.

Wolf lächelt wissend, startet den Wagen.

»Hast du was von Marion gehört?«

Wolf wird ernst, schüttelt den Kopf.

»Die geht nicht an ihr Telefon.«

»Ich versteh das auch nicht«, sagt Wolf. Er legt die Stirn in Falten, biegt ab auf die Ronne-Umgehungsstrecke. Aber da, wo sonst silbergrau das Wasser glänzt, ist nichts. Das Ufer scheint gewachsen zu sein, braun und karg, es sieht aus wie der Rand in der Badewanne, nachdem man das Wasser rausgelassen hat. Erst als ich den Kopf recke, sehe ich die Ronne tief unten, als wäre sie geschrumpft. Wenig breiter als ein Fluss windet sie sich Richtung Bissberg, die raugraue Oberfläche tief unten.

»Was ist hier passiert?«

»Sie haben den Wasserspiegel gesenkt, weil der Ronnedamm neu gemacht werden muss. Hinten sieht man jetzt sogar die Bahntrasse, die früher durchs Tal geführt hat. Und die alten Wege, guck mal.«

»Sieht scheiße aus!«

Wolf zieht den Kopf ein, als wäre er daran schuld.

»Kommt das Wasser denn wieder?«

»Jaja, die sind eigentlich schon fertig. Dauert bloß, bis das Becken wieder voll ist. Im Herbst ist ja großes Jubiläum, die Talsperre wird fünfzig.«

Ich blicke runter auf den traurigen Rest der Ronne. Sonst stand der See bis zum Wald, Zweige hingen ins Wasser. Kati und ich haben uns zwischen den Bäumen umgezogen und sind dann gleich rein. Auf dem rauen Holz der Floßinsel haben wir ganze Nachmittage verbracht, einmal eine ganze Nacht. Jetzt liegt das Floß auf Grund.

»Was glaubst du, wo sie ist?«, frag ich ihn.

Er hebt die Schultern. »Die braucht bestimmt einfach mal Ruhe.«

»Wovon denn?«

»Wird doch jedem mal alles zu viel«, sagt er mit für meinen Geschmack etwas zu viel Verständnis in der Stimme.

»Warum wollte sie dann nach Berlin?«

»Vielleicht einfach mal mit dir reden?«

Ich hebe die Augenbrauen, schüttle den Kopf. »Warum sollte Marion mit einem Mal mit mir reden wollen?«

»Jetzt wart doch ab. Du bist manchmal ganz schön hart mit ihr.«

Und das ist echt die Höhe. Denn was weiß schon Wolf? Er und Marion haben sich getrennt, als ich zwei war. Jetzt lebt er mit Yvonne und den Zwillingen in Hitzmark. Er hat keine Ahnung, was für eine Scheißmutter sie war.

»Hast du mit Marion gesprochen?«, frage ich nach einer Weile.

»Schon länger nicht mehr.«

»Wann zuletzt?«

»Vor zwei Wochen, glaube ich.« Er klingt, als fiele es ihm aus irgendeinem Grund schwer, sich daran zu erinnern.

»Und? Wie war sie da?«

»Kennst ja deine Mutter.«

»Was habt ihr denn besprochen?«

Wieder wiegt er nur den Kopf. »Weiß gar nicht mehr so genau. War wahrscheinlich nicht so wichtig.«

Und bevor ich mich wundern kann über Wolfs komische Antwort, kommt der Abzweig. Fünf Jahre bin ich jetzt in Berlin, seit fast drei Jahren war ich nicht mehr hier. Willkommen in Ronnbach am See! Der geschwungene helle Schriftzug auf dunklem Holz. Und da stehen die weißen Häuschen auch schon in Reih und Glied und blicken mit ihren Balkonen und Terrassen auf die Ronne-Pfütze. Am anderen Ufer die Ronnhöhe bedeckt mit Tannen. Das Schild Zum Campingplatz hat Moos angesetzt. Und dann ist da der Hitzmarker Weg, der weiße Glockenturm der Kirche und gegenüber, ein bisschen höher gelegen, das Haus, haargenau wie früher, also wie alle anderen: weiß, oben der Balkon, den wir nie benutzen, daneben die Küchenfenster. Rechts windet sich die schmale Treppe zur Haustür hoch. Die untere Etage verschwindet halb im Hang, die Terrasse zum Vorgarten raus, zwei Gartenstühle, die Lehnen vornüber an den Tisch gelehnt. Das Windspiel aus CDs, das ich mal in der Schule gebastelt habe, hängt auch noch und wirft blitzend das trübe Licht zurück.

Wenn Wolf früher zu uns kam, um mich abzuholen oder irgendetwas zu reparieren, stand Marion genau da neben dem Windspiel, Zigarette in der Hand, und fixierte Wolf mit einem Blick, mit dem Katzen Mäuse ansehen.

»Kommst du mit rein?«, frage ich.

Wolf schüttelt den Kopf. »Muss weiter. Sag Grete, dass ich ihren Stuhl nächste Woche bringe. Der muss noch geleimt werden.«

»Und wenn du was von Marion hörst …«

»Die taucht schon wieder auf, wirst sehen.« Aber seine Stimme klingt, als würde er an etwas vollkommen anderes denken.

Ich öffne die Wagentür und rutsche nach draußen. Wie kühl die Luft hier ist.

»Sehen wir uns noch mal, bevor du wieder abhaust?«, ruft Wolf mir nach.

»Vielleicht.«

2. August 1956

Die Sonne schien wie durch trübes Glas. Nebel lag dicht über der Ronne, dahinter ballten sich dunkel die Tannen, die die Ronnhöhe bedeckten. Cord sog die Luft ein. Es roch frisch nach Erde und Tannen und nach Vieh. Sie kauerten hinter einem Busch und hatten die Rückseite des Stalls im Blick. Franz Liseke deutete auf das feuchte Gras gleich neben der dunklen Bretterwand. Mit Mühe erkannte Cord die schwarzen Punkte im Gras. Auf Rattenkot wäre er gar nicht gekommen, für Steine hätte er das gehalten. Er drückte den Schaft gegen seine Schulter und entsicherte, wie Liseke es ihm gezeigt hatte. Schon einäugig und mit gespanntem Finger suchte er die Umgebung nach einer Bewegung ab. Die Viecher waren in diesem Jahr eine Plage, sie fraßen den Tieren das Futter weg, kamen in die Keller und Vorratsräume und knabberten alles an, was sie fanden. Und da bewegte sich auch schon etwas. Cord zielte, krümmte den Finger.

Ein schnalzendes Geräusch, ein spitzer Schrei.

»Grete!«

Er hatte das Mädchen um Haaresbreite verfehlt. Gleich neben Gretes Fuß war das Projektil in die Bretterwand des Stalls geschlagen. Liseke hielt seine Tochter schon am Arm, mit der anderen hätte er zugeschlagen, wenn er nicht die Krücke gehabt hätte. Die Kleine starrte in das bleiche Gesicht ihres Vaters, sah dann zu Cord. Ihre hellen Augen, dazu dieser Mund, ebenmäßige rote Lippen, die eher zu einer erwachsenen Frau als zu einer Elfjährigen gepasst hätten. Ihr schmaler Körper versank in einem viel zu großen Pullover, von ihrem Rock war nur der Saum zu sehen, und ihre bloßen Füße steckten in groben Schuhen. Bei ihrer Mutter hätte sie sein sollen, hier hatte sie nichts zu suchen. Franz und Herta Liseke hatten schon ihre beiden Söhne Hans und Rudolf im Krieg verloren, im Zweiten, im Ersten hatte der Alte sein Bein gelassen. Die großen Töchter, Lisbeth und Ursula, waren längst aus dem Haus. Auf Grete, die Kleine, gaben Lisekes acht wie Schießhunde. Herta wenigstens, Franz ließ sich von seiner Tochter ab und zu erweichen. Und Cord störte sie nicht. Besser, man ließ sie dabei sein, sie schlich einem sowieso ständig hinterher. Nur beim Angeln mit den älteren Jungs, mit Howald und Hitzke und manchmal mit Schmalscheid, die rauchten und mit ihren Freundinnen angaben, schickte er sie barsch weg.

»Nie auf Menschen, hörste!«, sagte Liseke zu Cord, als ob das einem Sechzehnjährigen nicht klar wäre. Den Hennes-Hof führte Cord mit der Mutter allein, sein Vater war auch im Krieg geblieben. Erst hieß es »vermisst«, dann »gefallen«.

Seit Cord denken konnte, war er der Mann auf dem Hof. Aber Liseke war noch nicht fertig: »Mit dem Ding kriegste zwar keinen tot, aber muss ja nicht sein. Musst schon richtig an den Kopp halten, wenn du wen erschießen willst.« Er drückte sich die Öffnung des Laufs von unten gegen sein Kinn. Dann ließ er die Flobert sinken und sah für einen Moment so aus, als würde er das Gesagte am liebsten zurücknehmen.

»Du gehst jetzt mal zur Mutti«, wandte er sich mit rauer Stimme an Grete. Aber es dauerte nicht lange, da hielt Grete das Gewehr ihres Vaters und traf gleich die erste Ratte, die auftauchte. Sie musste heimlich geübt haben. Der Geruch nach Schießpulver hatte etwas Feierliches, er erinnerte an Schützenfeste, an den Geschmack von Limonade und Liebesäpfeln. Gretes Lächeln passte dazu, wie eine kindliche Soldatin stand sie da und warf Cord einen Blick zu, der ihn aufforderte, es ihr gleichzutun. Ihr Lachen, als die Ratte nach seinem Schuss quietschend unter einem Busch verschwand. Wieder hatte er in die Bretterwand des Stalls getroffen. Selbst Liseke lachte rau, so sehr, dass auch Cord einstimmte, bis Lisekes Lachen in Husten überging.

»Immer gut gucken, Cord. Dein Oppa hat es ja mit den Augen gehabt, und dein Vatter …« Liseke räusperte sich und klopfte Cord auf die Schulter. »Und wegen dem Stall, machste dir keine Gedanken, den machen wir eh nächste Woche neu.«

Sie hatten fünf Tiere erledigt, als die Sonne endlich den Nebel durchdrang. Er blieb zwischen den Wipfeln der Tannen hängen wie gefrorener Rauch. Liseke machte ein Zeichen, dass die Jagd beendet sei. Cord schulterte die Flobert, Grete die Waffe ihres Vaters. Die Kleine machte große Schritte, um neben ihm zu bleiben. Ihm gefiel, dass sie zu ihm hochgucken musste, mit Howald und Hitzke war er immer der Kleinste.

Sie brauchten nur die Dorfstraße zu überqueren. Dahinter lagen links der Liseke-Hof, mit dem Gemüsegarten vorn und dem Schuppen daneben, rechts der Hennes-Hof, zweistöckig, oben der Speicher, dabei langgestreckt, die Fensterreihen wie gebleckte Zähne.

Der Mercedes stand mit geschlossenem Verdeck quer in der Einfahrt, die beide Höfe miteinander verband. Cord verlangsamte seine Schritte, als er Schreibers Wagen erkannte. Dieser Mann aus der Stadt, der ständig mit seiner Mutter reden wollte. Sie schickte Cord weg, wenn er kam, und winkte nur ab, wenn Cord nachfragte. Jetzt stand der Kerl mit seiner Mutter und Herta Liseke vor dem Hennes-Hof, mit zurückgekämmtem Haar und ohne Jacke, die Hemdsärmel hochgeschlagen, obwohl es noch frisch war. Er redete auf Cords Mutter ein, aber die schüttelte nur den Kopf dazu. Sie war etwas kleiner als er, aber ihre Schultern konnten es locker mit seinen aufnehmen. Herta Liseke, rund und mit schon ergrautem Haar, stemmte die Hände in die Hüften. Sie hielt den Kopf geneigt, wie jemand, der nicht glaubt, was er da hört.

Schreiber sah sie zuerst: »Herr Liseke und der junge Hennes!«, rief er. »Nicht zu vergessen das Fräulein Liseke«, lächelte er die Kleine an. Cord gab ihm benommen die Hand und sah dann erst das Gesicht seiner Mutter. Bleich und starr.

»Sie haben auch noch nicht von dem neuen Gesetz gehört, nehme ich an?« Wie munter dieser Kerl redete, wo doch seine Mutter aussah, als würde sie kaum Luft kriegen. Cord und Liseke schüttelten die Köpfe. »›Talsperrengesetz‹ – sagt Ihnen das etwas?« Er wartete keine Antwort ab. »Seit dem zehnten Juli ist die Ronnetalsperre beschlossen. Sie kriegen hier einen See hin.«

Cord hatte davon schon gehört, das ganze Ronnetal sollte überflutet werden, ein Stausee sollte entstehen. Aber das war doch ein Witz, die Leute lachten, wenn sie davon redeten.

»Von dem Baustopp wissen Sie aber? Keine Neubauten mehr, keine Renovierungen!« Er warf einen Blick rüber zum Stall. »Das gilt auch dafür. Lohnt ja eh nicht mehr.«

Liseke räusperte sich, doch Schreiber lachte nur. »Sie sollten mal in die Zeitung gucken oder das Radio anschalten.« Er klang wie ein Lehrer, der sich über seine dummen Schüler amüsiert.

Cord warf Liseke einen Blick zu. Der runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, als würde er selbst nicht verstehen. Herta warf einen besorgten Blick zum Liseke-Hof. Unter anderen Umständen hätte sie Grete längst ins Haus geschickt, über die Waffe hätte sie die Nase gerümpft. Aber das alles schien sie im Moment nicht einmal zu bemerken.

Schreiber wandte sich an Cords Mutter. »Sie wissen, was das bedeutet, Frau Hennes? Haben Sie schon entschieden, wohin Sie umziehen?«

Cords Mutter presste die Lippen zusammen.

Schreiber machte einfach weiter: »Dort oben am Hang wird Ronnbach wieder aufgebaut. Sichern Sie sich einen Bauplatz.« Er wies in Richtung Bissberg, der ganz und gar mit Wald bedeckt war. Als Kinder hatten sie dort gespielt, die Bäume standen an manchen Stellen so dicht, dass man kaum durchkam. Es würde Jahre dauern, bis man dort bauen können würde.

Der Mercedes-Mann wandte sich an Lisekes. »Der Talsperrenverband macht den Leuten hier unten gute Angebote. Ich habe die Unterlagen dabei. Möchten Sie sehen?«

»Jetzt reicht’s!« Cord hatte nicht bemerkt, wie seine Mutter sich aus ihrer Erstarrung gelöst hatte. »Das reicht!«, wiederholte sie mit fester Stimme. »Gehen Sie jetzt!«

»Na, na, warum denn so unfreundlich.« Immerhin hatte der muntere Tonfall einen kleinen Knacks bekommen.

»Strenggenommen gehört der Hof ja sowieso längst dem Verband. Weiß Ihr Sohn, dass sein Vater schon vor dem Krieg verkauft hat?«