Über das Buch:
Nach zehn Jahren im Modebusiness steht Ivy Clarks Modelkarriere vor dem Aus. Ihre letzte Chance: ein Fotoshooting für eine Brautmodenkollektion in einem verschlafenen Inselstädtchen in South Carolina. Ivy ist alles andere als begeistert. Zumal die Auftraggeberin ausgerechnet Marilyn Olsen ist. Deren kürzlich verstorbener Ehemann hatte lange Zeit eine Affäre – und war Ivys Vater.

Als sich zu allem Übel auch noch herausstellt, dass Marilyns Neffe Davis, der seit Jahren keine Kamera mehr in den Händen gehalten hat, die Fotos schießen soll, ist Ivys Stimmung endgültig im Keller. Warum will Marilyn ausgerechnet sie für den Job? Warum muss Davis der irritierendste Mann sein, dem Ivy je begegnet ist? Und warum scheinen in Greenbrier alle unbedingt hinter Ivys perfektes Äußeres schauen zu wollen? Wissen sie denn nicht, dass da längst nichts mehr ist?

Über die Autorin:
Katie Ganshert war Lehrerin, bis ihr der Durchbruch als Romanautorin gelang. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für »Das Motel der vergessenen Träume« bekam sie in den USA einen Preis für den besten zeitgenössischen christlichen Roman des Jahres verliehen.

Kapitel 7

Unverständliches Stimmengewirr von den umliegenden Tischen erfüllte den Raum, während Davis die Speisekarte betrachtete, ohne sie wirklich zu sehen. Joan Calloway, eine Frau mit kurzem kupferfarbenen Haar und limettengrüner Brille, saß ihm gegenüber, Marilyn links von ihm. Joan arbeitete in Charleston, im Hauptbüro von Southern Brides. Sie war Marilyn und ihm die halbe Strecke entgegengekommen und jetzt saßen sie in einem kleinen sizilianischen Restaurant und wollten über den Artikel reden. Joan legte ihre Speisekarte auf den Tisch. „Ich bin ganz aus dem Häuschen, dass Sie die Fotos machen, Davis. Als ich Ihre Arbeiten gesehen habe, war ich sofort hin und weg.“

Die Bedienung ersparte es ihm, eine angemessene Antwort zu finden. „Wissen Sie schon, was Sie heute Abend essen wollen?“, fragte die Frau mit einem freundlichen Lächeln.

Joan gab ihre Speisekarte zurück. „Ich nehme den Orangen-Fenchel-Salat.“

Die Bedienung wandte sich an Marilyn.

„Für mich bitte dasselbe.“

Davis wählte das Erste aus, worauf sein Blick fiel. „Wie wäre es mit der Auberginen-Caponata?“

„Gerne.“ Die junge Frau nahm alle drei Karten und ging davon, um ihre Bestellung einzugeben.

„Reden wir über die Fotosession, ja?“ Joan schob ihre Brille auf der Nase nach oben. „Der aktuelle Modetrend geht in Richtung ungewöhnlich und elegant. Und genau solche Kleider kreiert Ihre Tante. Aber wie Sie selbst wissen, ist die Mode ein unbeständiges Geschäft. Ich muss diesen Trend einfangen, bevor sich die Lage ändert.

Ich dachte an vier bis sechs Doppelseiten. Große Kontraste. Historischer Süden trifft auf moderne Bräute.“ Joan gestikulierte, während sie sprach, so als wollte sie eine imaginäre Überschrift mit den Händen einrahmen. „Ich bin mit Candace Lipowitz befreundet, der Leiterin der alten Primrose-Plantage in Greenbrier. Sie hat sich bereit erklärt, Ihnen am nächsten Sonntagvormittag eine Privatführung zu geben. So können Sie den Ort inspizieren und für mich ein Storyboard zusammenstellen. Wenn wir es noch in die August-Ausgabe schaffen wollen, müssen wir dieses Fotoshooting unverzüglich in Angriff nehmen.“

Davis blinzelte. Es war, als hätte ihn jemand aus der warmen Sonne gezogen und in ein Schwimmbecken geworfen, ohne dass er die Chance gehabt hätte, erst mal die Zehen ins Wasser zu strecken. Gerade war er noch der Hausmeister der Cornerstone Church gewesen und nun saß er mit der Moderedakteurin einer wichtigen Brautmodenzeitschrift zusammen und hörte zu, wie sie alle möglichen vertrauten Einzelheiten abspulte, während er gar nicht zu Wort kam.

„Wann soll unser Model denn ankommen?“, wollte Joan wissen.

Marilyn trank mit einem Strohhalm von ihrem gesüßten Tee. „Ivy fliegt am Samstag her.“

„Ich hätte nie im Leben gedacht, dass mal jemand wie Ivy Clark für meine Zeitschrift modelt. Und Sie mein Fotograf? Das wird der beste Artikel, den wir je gemacht haben.“ Sie streckte den Arm aus und ergriff Marilyns Hand. „Jetzt werden deine Brautmoden ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, meine Liebe. Es würde mich nicht wundern, wenn sich künftig Bräute aus ganz Amerika bei dir melden. Und Sie, junger Mann“ – Joan hielt weiter Marilyns Hand fest, sah aber jetzt Davis an –, „Sie räumen besser Ihren Kalender frei. Ich weiß, dass weitere Aufträge reinkommen werden.“

Ihre Worte hätten ebenso gut ein Donnerschlag genau über seinem Kopf sein können. Die Frage, die er seit gestern nicht mehr loswurde, leuchtete wie eine Neonreklame vor seinem geistigen Auge auf.

Was mache ich hier eigentlich?

Marilyn tätschelte mit der freien Hand seinen Unterarm. „Es wird der perfekte Auftakt zu unserer Kampagne sein. Überleg doch nur, wie viel Geld wir für das Kunstprogramm einnehmen können. Sara wird begeistert sein.“

Seine Tante wusste genau, was sie sagen musste, um seine wachsenden Zweifel verdampfen zu lassen. „Muss ich mich um Hairstylisten und Visagisten kümmern?“

„Das ist alles schon arrangiert, mein Lieber. Sie müssen sich nur Gedanken über die Vision machen.“

Ach ja, die Vision. Etwas, worin er früher besonders gut gewesen war. Aber das war beinahe zwei Jahre her und die einzige Vision, die er seitdem im Blick gehabt hatte, war, wie er Sara helfen könnte, sich an ihre neue Normalität zu gewöhnen. Und jetzt sollte er plötzlich Joans Vision übernehmen und umsetzen. Was, wenn ihm das nicht gelang? Vielleicht hatte er ja bei dem Versuch, seine Leidenschaft zu begraben, sein Talent verloren. Es bestand die reelle Möglichkeit, dass er nicht mehr gut war.

„Ich bin überzeugt davon, dass alles fantastisch wird. Denken Sie daran, am Sonntagmorgen treffen Sie sich mit Candace zu einer Privatführung durch ihre Plantage, und wenn Sie mir dann bis Dienstag das Storyboard schicken könnten, wäre das toll.“

Die Bedienung trat mit drei Tellern an ihren Tisch, die sie einen nach dem anderen abstellte. Joan nahm ihre Gabel und spießte damit etwas von dem Grünzeug auf. „Bis dahin gibt es wohl nur eins, was Sie tun können.“

Davis räusperte sich. „Und was wäre das?“

„Die Kamera rausholen und üben.“

* * *

Davis saß mitten in seinem Wohnzimmer, umgeben von den Gegenständen, die er aus dem Schrank in seinem Keller heraufgeholt hatte. Er nahm seine Mamiya 645 aus dem Koffer und fuhr mit den Fingern über das Display auf der Rückseite des Gehäuses. Diese Kamera hatte er sich selbst geschenkt, kurz vor dem Fotoshooting für die Vogue. Er hatte sie nur das eine Mal benutzt. Nachdem er die Mamiya vorsichtig zurückgelegt hatte, griff er nach der Nikon D2X – und das kühle Gewicht fühlte sich vertraut an. Bei wie vielen Modenschauen war er mit dieser Kamera im Einsatz gewesen? Er zog den Riemen über seinen Kopf und spielte mit dem Zoom.

Die Kamera um seinen Hals gehängt, drehte er sich um und betrachtete die anderen Dinge, die um ihn herumlagen. FireWire-Kabel. Verschiedene Wechselobjektive. Die Softbox und verschiedene Studioleuchten. Ein Ministativ, Klebeband, Gummibänder, passende Polarisationsfilter zu seinen Objektiven. Davis hatte Sorge gehabt, dass er sich möglicherweise nicht mehr daran erinnern würde, was das alles war oder wie man es benutzte. Er hatte befürchtet, zwei Jahre könnten zu lange sein. Jetzt fuhr er mit der Hand über die seidige Oberfläche eines Diffusors.

Seine Sorge war unnötig gewesen.

Er atmete langsam aus und packte die kleinen Gegenstände wieder in seinen Zubehörkoffer, dann legte er die Lampenstative und Schirme zusammen und schob sie vorsichtig in die zugehörigen Etuis. Alles packte er ein, bis nur noch die Nikon um seinen Hals hing – vollgeladen, schwarz und glatt ruhte sie auf seiner Brust. Er trat an die Terrassentür und dann hinaus auf den Balkon seiner Wohnung im dritten Stock.

Sein Wohngebäude ging rechterhand auf den Golfplatz hinaus, linkerhand auf Wanderwege, und dazwischen verlief ein Bach. In der Ferne näherte die Sonne sich dem Horizont. Sie ließ das Wasser des Bachs funkeln und umrandete einen Reiher in Pink- und Orangetönen. Davis nahm die Kamera ans Auge und sah durch den Sucher. Dann betätigte er den Auslöser. Als die Kamera das Bild festhielt, vollführte sein Herz eine komische Art Pirouette.

Davis atmete die feuchte Abendluft ein. Wie oft war sein Vater mit ihm wandern oder klettern gegangen, als sie in Telluride gelebt hatten? Wie oft waren sie auf Bergpfaden unterwegs gewesen und hatten auf den richtigen Augenblick gewartet, um Gottes Schöpfung abzulichten? Sie hatten auf diesen Wanderungen so viele Wunder gesehen – Elche, Bergziegen, eine leuchtend lilafarbene Blume, die auf einem Schneefeld wuchs. Eine Million Sonnenuntergänge und -aufgänge, alle von ihm eingefangen und katalogisiert.

Dad hatte immer gesagt, dass Gott seine Schöpfung für die Welt als Geschenk verpackt habe. Aber in der Hektik des Alltags hielten die Menschen nicht inne, um das Geschenk auszupacken.

„Deshalb musst du die Augen offen halten, Davis. Halte immer die Augen offen. Such diese besonderen Augenblicke.“ Dad war nicht besonders begabt im Umgang mit der Kamera. Seine Leidenschaft für dieses Kunsthandwerk war größer als sein Können, deshalb arbeitete er auch in der Verwaltung. Von der Fotografie zu leben, war für seinen Vater nie eine Option gewesen.

Aber für Davis? Bei ihm war das anders.

„Gott hat dir einen besonderen Blick für seine Schönheit geschenkt. Du siehst Dinge, die wir anderen nicht sehen“, hatte sein Dad zu ihm gesagt. „Das ist eine wichtige Gabe. Also halte die Augen offen, mein Junge. Fang Gottes Schönheit ein und zeige sie dann der Welt. Denn diese Welt leidet, Davis. Die Menschen sind orientierungslos und suchen nach etwas Besonderem. Gott will, dass du ihnen hilfst, es zu sehen.“

Die Erinnerungen schnürten Davis die Kehle zu. Ich habe versagt, Dad.

Er hatte nicht Gottes Schönheit eingefangen. Er hatte die Schönheit der Welt abgelichtet. Anstatt Gnade und Wahrheit zu zeigen, hatte er Sinnlichkeit und Lust veröffentlicht. Er hatte sein Talent nicht nur im Sand vergraben; er hatte es zu einem Götzen gemacht. Er hatte es zu seinem eigenen Ruhm benutzt und unwiderruflichen Schaden angerichtet. Jetzt ließ er das Kinn auf seine Brust sinken.

Hilf mir, den Weg zurück zu finden, Herr. Zeig mir, wie ich wieder dieses Kind werden kann, das früher im Wald für dich Fotos gemacht hat.

Das Gebet erschien ihm aussichtslos. Er war kein kleines Kind mehr. Er war ein Mann. Ein Mann, der Fehler gemacht hatte – nicht aus Versehen, sondern absichtlich. Ganz bewusst. Die Art Fehler, die bewies, wie wenig er dafür geeignet war, irgendetwas mit der Fotografie anzufangen, das nicht danebenging.

Kapitel 8

Marilyns Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Sie verbrachte die Nacht damit, sich in ihrem riesigen Bett hin und her zu werfen, wobei ihr der schwache, aber aufdringliche Geruch von James’ teurem Rasierwasser in die Nase stieg und sie immer wieder auf die Uhr sah, bis sie irgendwann doch in einen rastlosen Schlaf fiel, der sich viel zu früh wieder verflüchtigte. Gerade hatte die Uhr 1:27 angezeigt, jetzt stand sie auf 4:32, aber Marilyn hatte das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Bis 4:58 Uhr zwang sie sich, im Bett zu bleiben, dann gab sie auf.

Um Viertel nach sieben hatte sie die Gästewohnung fertig gemacht, die James und sie vor drei Jahren über der Garage angebaut hatten – hatte das Bett bezogen, den Boden gesaugt, ein ohnehin makellos sauberes Bad geputzt und sogar den Kühlschrank in der Kochnische desinfiziert. Sie war mit Nancy, einer Freundin aus dem Buchklub, walken gewesen, hatte in ihrer Bibel gelesen und gebetet, dann gefrühstückt, ihre Buchhaltung gemacht und geduscht.

Sara war noch nicht einmal wach.

Jetzt saß Marilyn mitten auf ihrem Bett, Georgia, ihren weißen Zwergspitz, auf dem Schoß und eine Ansammlung verschiedener Fotos und Zeitungsausschnitte um sich herum ausgebreitet, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Sie nahm ein zehn mal fünfzehn Zentimeter großes Hochglanzfoto in die Hand und fuhr mit dem Daumen über Ivys dünne Beine. Ihre Jeans waren halb hochgekrempelt, da sie auf einem Pedikürestuhl saß und auf ihre Füße hinunterblickte, die in einem Fußbad steckten. Dieses Foto war während ihres ersten Wochenendbesuchs entstanden, bei dem Gott seinen heiligen Ruf ausgestoßen und Marilyns Welt ins Wanken gebracht hatte. Es war ein Besuch, der nie stattgefunden hätte, wäre da nicht ihre morbide Neugier gewesen.

Aber welche Frau wäre nicht neugierig gewesen?

Erfahren zu müssen, dass der Mann, mit dem sie seit vierzehn Jahren verheiratet war, nicht nur eine Geliebte hatte, sondern auch noch ein Kind mit ihr? Ein grausamer Schicksalsschlag. Ein Schicksalsschlag, der sie an Gott hatte zweifeln lassen, obwohl sie ihm im Laufe der Jahre mit immer größerer Hingabe gedient hatte. Welche Frau in dieser Situation hätte das Kind nicht wenigstens sehen wollen? Egal, wie viel Widerstand James leistete, egal, wie sehr ihre Eltern sie davor warnten, Marilyn konnte nicht anders. Ihr Mann hatte eine Tochter. Sie konnte ihm seine Untreue verzeihen, auch wenn das sehr schwer war, aber sie konnte ihm nicht vergeben, dass er seinem eigen Fleisch und Blut so leichtfertig den Rücken kehrte. Also hatte sie mit einer Beharrlichkeit, die ihrer ohnehin zerbrechlichen Ehe noch weiter zugesetzt hatte, darauf bestanden, dass Ivy sie besuchte. Es war das erste Mal gewesen, dass sie jemals wirklich auf etwas beharrt hatte – und wie durch ein Wunder hatte sie ihren Willen bekommen.

Ivy kam. James versteckte sich in seinem Arbeitszimmer. Und Marilyn verliebte sich.

Seit damals waren sechzehn Jahre vergangen und noch immer konnte sie sich daran erinnern, wie ihr Magen sich angefühlt hatte, als sie Ivy die Treppe hinauf zu einem der Gästezimmer gebracht hatte. Sie wusste noch, wie unsicher Ivys Bewegungen gewesen waren, wie sie mit großen Augen alles ganz genau beobachtet und aufgesogen hatten. Sie war furchtbar schüchtern und still gewesen, während Marilyn ihr half, Kleider und Zahnbürste aus ihrem Aschenputtel-Rucksack zu nehmen …

„Ich verspreche dir, dass ich keine böse Stiefmutter bin.“ Ein nervöses Lachen folgte Marilyns Worten, das in der Stille viel zu laut klang. Sie hatte nicht mit solch überwältigenden Gefühlen gerechnet und konnte sie noch gar nicht recht einordnen. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Hattest du schon mal eine Pediküre?“

Ivy betrachtete den dunkelroten Nagellack auf ihren Zehennägeln, der schon halb abgeblättert war, und schüttelte den Kopf. Marilyn fragte sich, ob Ivy sich die Nägel wohl selbst lackiert hatte oder ob es ihre Mutter gewesen war – Renee, die andere Frau.

Marilyn fuhr mit dem Fingernagel über eine Macke am Bettpfosten. „Würdest du gerne mal eine haben?“

Ivy nickte.

Also ließen sie eine Pediküre machen.

Ivy wählte einen leuchtend pinkfarbenen Nagellack und die vietnamesische Fußpflegerin klebte sogar kleine Edelsteine in Herzform auf ihre großen Zehennägel. Ivy sagte nicht viel mehr als „Ja, bitte“ und „Nein, danke“, aber das spielte keine Rolle. Das Lächeln, mit dem sie ihre Füße ansah, erfüllte Marilyn mit einer albernen Freude. Vielleicht war in dem ganzen Durcheinander ja doch Gnade zu finden.

Als sie wieder nach Hause kamen, roch es im ganzen Haus nach würzigem Jambalaya, das ihre kreolische Haushaltshilfe zubereitet hatte, und James saß im Wohnzimmer und schaute ein FootballSpiel. Als er sie sah, versteifte sich seine entspannte Haltung. Er schaltete den Fernseher aus und stand auf.

„James“, sagte Marilyn und hielt ihn auf, bevor er flüchten konnte. „Sieh dir mal Ivys Zehennägel an. Sind sie nicht hübsch?“

James fuhr sich mit dem Finger unter dem Hemdkragen entlang. „Sehr schön.“

Hätte er sich die Mühe gemacht, seiner Tochter ins Gesicht zu sehen, hätte er bemerkt, dass ihre Wangen rot wurden. Er hätte gesehen, dass sie sich ihm zuwandte wie eine Blume, die sich nach Sonne sehnt.

Aber er sah sie nicht an.

Ivy blickte ihm nach, während er in seinem Arbeitszimmer verschwand, und ihre hoffnungsvolle Miene erlosch. Sofort verspürte Marilyn einen beinahe unbändigen Drang, Ivy in den Arm zu nehmen und den Kummer durch ihre Umarmung verschwinden zu lassen. Aber dadurch hätte Ivy sich vielleicht bedrängt gefühlt, und das wollte Marilyn auf keinen Fall. Also sagte sie stattdessen: „Er hat viel Arbeit.“

Damals war das ihr subtiler Versuch, Ivy zu versichern, dass es nicht an ihr lag; es lag an James. Er war das Problem. Jetzt, sechzehn Jahre weiser, erkannte sie die Worte als das, was sie waren – eine armselige Ausrede. Worte, von denen sie sich wünschte, sie könnte sie zurücknehmen.

Ein leises Klopfen an der Tür riss Marilyn aus ihren Träumereien. Georgia hob den Kopf von ihrem Knie und stieß ein hohes Bellen aus. Schnell schob Marilyn die Fotos zu einem Stapel zusammen und legte sie wieder in eine Kiste aus Kirschbaumholz, die eigentlich für Rezepte gedacht war.

Ihre Haushaltskraft streckte den Kopf zur Tür herein. „Guten Morgen, Marilyn.“

„Guten Morgen, Annie.“

„Die Gästewohnung sieht aber sehr sauber aus.“

„Möglicherweise habe ich dort ein wenig aufgeräumt.“

Annie lächelte wissend. „Soll ich ein paar Blumen raufbringen?“

Marilyn schloss den Deckel der Schatulle und rutschte zur Bettkante. „Nicht nötig. Ich habe noch Zeit, bevor ich zur Boutique muss. Ich kann selbst einen Strauß zusammenstellen.“

Sie ging in den Garten hinunter und schnitt mehrere Rhododendronzweige ab. Sie waren in den Südstaaten eigentlich nicht zu Hause und brauchten mehr Pflege und Fürsorge als die anderen Pflanzen. Aber Marilyn ließ sie trotzdem in ihrem Garten wachsen. Seit vierzehn Jahren schon – seit sie herausgefunden hatte, dass das Ivys Lieblingsblumen waren.

* * *


Davis drehte den Wasserhahn am Haus zu und rollte den Gartenschlauch auf. In der Damentoilette gab es unter dem rechten Waschbecken ein leckendes Abflussrohr, das nachgezogen werden musste, und danach würde er nach der Eiche sehen, die über den Parkplatz hinausragte. Pastor Voss vermutete, dass dort in der letzten Woche ein Blitz eingeschlagen sein könnte, und machte sich Sorgen, dass einige der Äste abbrechen könnten. Davis schob den Arm durch den aufgerollten Schlauch, nahm ihn auf die Schulter und ging damit zum Lagerschuppen der Kirche, wobei er sich einredete, dass er keine Zeit schindete. Wenn morgen während des Gottesdienstes ein Ast auf einem Auto landete, würde er sich ewig Vorwürfe machen.

Er stieß die Schuppentür mit dem Fuß auf und sofort schlug ihm eine Wand aus drückender Hitze entgegen. Als er die dunkle Hütte betrat, rann ihm augenblicklich der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinunter. Er hängte den Schlauch auf einen rostigen Halter neben dem Aufsitzmäher und stapfte gerade durch das Inferno zu seiner Werkzeugkiste, als ein Klopfen an der offenen Tür seine Aufmerksamkeit erregte.

„Sind Sie da, Davis?“

Er spähte durch das Halbdunkel und erblickte die Silhouette des Pastors in der sonnendurchfluteten Türöffnung. Sein zerzaustes rot-weißes Haar lockte sich aufgrund der Luftfeuchtigkeit. Davis schnappte sich seine Werkzeugkiste und begab sich durch den Hindernisparcours zurück ins Freie. Die sechsundzwanzig Grad draußen begrüßten ihn wie eine kühle Brise.

„Dachte ich’s mir doch, dass ich Sie durch mein Bürofenster gesehen habe.“ Pastor Voss fächelte sich mit seiner verschlissenen Baseballkappe der Atlanta Braves Luft zu und die Falten in seinem Gesicht wirkten tiefer als sonst.

„Alles in Ordnung?“

„Nur die normalen Sorgen und Probleme. Gottes Methode, mir altem Mann ein bisschen Geduld beizubringen.“

Eines seiner Probleme glaubte Davis zu kennen. Seine Tochter, Trudy Piper. Egal, wie oft der arme Mann gegen loses Geschwätz predigte, seine jüngste Tochter tratschte unbeirrt weiter und befeuerte damit die Gerüchteküche im Ort. „Sie sind doch sonst samstagsmorgens nicht hier“, sagte Davis.

„Ich organisiere für heute Nachmittag eine Gebetswache für Twila Welch.“

Sara gab der zwölfjährigen Twila kostenlosen Klavierunterricht. Ihre Mutter Annie putzte jeden Samstag und Dienstag bei Tante Marilyn das Haus. Davis umfasste den Griff seiner Werkzeugkiste fester und ging durch das Gras, das gemäht werden musste, auf den Hintereingang der Kirche zu. „Wie läuft die Chemo?“

„Das wissen wir noch nicht. Können Sie vielleicht zu dem Gebetstreffen dazukommen? Sie kann jeden zusätzlichen Beter gebrauchen.“

Wenn der Pastor ihn nur früher gefragt hätte. Zum Beispiel gestern, bevor er sich bereit erklärt hatte, Ivy vom Flughafen abzuholen. Davis öffnete die Tür und wartete, bis der Pastor hindurchgegangen war. „Das würde ich wirklich gerne, aber ich habe meiner Tante versprochen, dass ich ihre Stieftochter vom Flughafen abhole.“

„Das große hübsche Mädchen?“

Davis betrat die Kirche, froh über die Klimaanlage, die immer noch treu ihren Dienst tat. „Genau die.“

Pastor Voss musterte Davis von der Seite mit geübtem Blick. „Alles in Ordnung?“

Eine so einfache Frage, die es jedoch in sich hatte. Und eine, die er nicht beantworten konnte. „Ich bin mir nicht sicher.“

„Wollen Sie darüber reden?“

Er ging in den Eingangsbereich des Gebäudes. „Marilyn hat mich gebeten, ihr bei einem besonderen Projekt zu helfen.“

„Sie kann eine Ablenkung sicher gut gebrauchen.“

„Sie haben noch nicht gehört, um was für ein Projekt es sich handelt.“

„Ach so.“

„Eine Werbekampagne für ihre Brautkleidkollektion. Ich werde wieder fotografieren.“

Pastor Voss zupfte an seinem Ohrläppchen.

„Marilyn will die Kampagne mit einer Benefizmodenschau eröffnen. Alle Erlöse fließen in ein Kunstprogramm für blinde Studenten.“

„Ah.“

„Es ist etwas, das ich tun muss.“ Für Sara. Wenn er es doch nur tun könnte, ohne seinen Schwur zu brechen.

„Und Marilyn hat ihre Stieftochter gebeten, das Model zu sein?“

„Ja.“ Davis sah Ivys Gesicht noch genau vor sich und ihren Blick bei der Beerdigung, bevor sie ihn dabei ertappt hatte, wie er sie anstarrte. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er diesen Gesichtsausdruck. Und jedes Mal hinterließ er ein unbehagliches Gefühl, so als hätte er etwas übersehen und müsste genauer hinschauen. „Ich muss immerzu an sie denken.“

„Das ist verständlich. Sie ist eine ziemliche Schönheit.“

In Davis machte sich Frustration breit. Es ging nicht um ihre Schönheit. Er suchte krampfhaft nach den richtigen Worten, unsicher, wie er sich erklären sollte. „Ich habe jede Menge Frauen kennengelernt, die ebenso schön waren wie Ivy, Pastor, und keine von ihnen hat sich so in meinem Kopf festgesetzt. Das hat nichts mit ihrem Aussehen zu tun.“

„Womit dann?“

„Ich weiß nicht. Ich meine, ich bin doch gerade erst gerettet worden. Diese Welt, in die ich da wieder eintrete, ist so, als würde man essen und dadurch nur noch mehr Hunger bekommen.“

„Und Ivy gehört zu dieser Welt?“

„Ivy ist diese Welt.“

Pastor Voss nahm seine Kappe ab, kratzte sich am Kopf und setzte die Kappe dann wieder auf, während er mitfühlend dreinblickte. „Wenn wir versuchen, unseren Bauch mit Essen zu füllen, das nur noch mehr Hunger verursacht, ist das ein anstrengendes Leben, meinen Sie nicht? Klingt so, als könnte das Mädchen eine anständige Mahlzeit brauchen. Lebendiges Wasser. Das Brot des Lebens.“

Davis trat von einem Fuß auf den anderen, woraufhin das Werkzeug in der Metallkiste klirrte.

„Sie sind kein Gefangener dieser Welt mehr, Davis.“

„Ja, Pastor.“

„Das ist doch ein gutes Gefühl, oder?“

Davis nickte.

Pastor Voss drückte seine Schulter. „Vielleicht will Gott Ivy Clark dieselbe Freiheit zeigen.“

Kapitel 9

Ivy lehnte neben einem der Flughafenausgänge an einer Mauer und las in der abgegriffenen Ausgabe ihres Lieblingsgedichtbandes. Wer könnte sie besser von der bevorstehenden Fahrt von Hilton Head nach Greenbrier ablenken als Billy Collins? Von allen zeitgenössischen Dichtern mochte sie ihn mit Abstand am liebsten. Seine brillante Sprache und Ironie, dazu die Art, wie er das Banale spannend machen oder das Geheimnisvolle enthüllen konnte, schafften es immer wieder, sie zu verzaubern. Und in ihrer jetzigen Situation konnte sie ein bisschen Zauber oder zumindest Ablenkung gut gebrauchen. Unbehagen machte sich in ihrem Inneren breit. Worüber sollten Marilyn und sie auf der fünfzigminütigen Heimfahrt nur reden?

Ein Laufband erwachte ratternd und brummend zum Leben und setzte eine ganze Reihe Reisender in Bewegung. Ivy blätterte gerade zur nächsten Seite ihres Buches weiter, als die Tür aufging, einen Schwall schwüler Luft hereinließ und dazu ausgerechnet Davis Knight – den Mann, der sie während der Trauerfeier angestarrt und ihr beim anschließenden Mittagessen ein Sandwich gebracht hatte. Mit selbstbewussten Schritten kam er durch die Tür und ging an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken, weil sie an der Wand lehnte, während er den Blick über die Reisenden an der Gepäckausgabe wandern ließ. Ein Militärseesack fuhr auf dem Laufband vorbei. Ein untersetzter Mann mit Springerstiefeln trat vor und ergriff das Gepäckstück. Eine runde weiße Reisetasche kam als Nächstes, gefolgt von zwei dazu passenden braunen Koffern. Der Ballon, der sich in Ivys Brust ausgedehnt hatte, zerbarst und zischte davon. Mit Marilyns Neffen würde sie schon fertigwerden.

Sie schob Billy in ihre Handtasche, umfasste den Griff ihres Rollkoffers im typischen Design von Diane von Fürstenberg und zog ihn zu ihrem unerwarteten Chauffeur. „Und ich dachte schon, die Fahrt würde langweilig.“

Davis drehte sich um, einen leichten Bartschatten am kantigen Kinn, und nickte zur Begrüßung. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns wiedersehen würden.“

„Von Angesicht zu Angesicht, meinst du?“ Ihre Lippen formten sich zu einem Grinsen. Wenn er ihre Karriere verfolgt hatte, wie er es vor Marilyns Haus zugegeben hatte, sah er sie sonst eher in Zeitschriften, Werbungen und Katalogen.

Eine leichte Röte stieg in seine Wange, als er auf ihren Koffer zeigte. „Ist das dein ganzes Gepäck?“

„Ich packe sehr effizient. Ein Nebenprodukt der Reiserei durch die ganze Welt.“ Sie zeigte mit der Hand auf die Schiebetür und trat hinter ihn. „Ich folge dir raus.“

„Lass mich deinen Koffer nehmen.“

Sie überließ ihm das Gepäckstück, wobei ihre Hand flüchtig die seine berührte.

Er ignorierte die Berührung und begab sich zum Ausgang.

Ivy musterte ihn. Volles, kurzes dunkelblondes Haar. Breite Schultern, von denen aus sein Rumpf sich zu einer schmalen Taille verjüngte. Und dann war da sein Gesicht – der Inbegriff eines Surfers. Er war vielleicht jünger als die Männer, auf die sie normalerweise stand, aber schließlich war das hier Greenbrier. Da musste sie schon einen kleinen Kompromiss eingehen.

Wieder grinste sie. Vielleicht würde ihr Exil in South Carolina ja doch nicht so furchtbar. Wie sollte es auch – mit einer schnuckeligen Ablenkung wie Davis Knight?

* * *

Davis spürte ein Kribbeln auf seiner Wange von Ivys gründlicher Begutachtung. Er ignorierte die Musterung jedoch und konzentrierte sich darauf, sie zu seinem Jeep zu führen, während ihm die Worte von Pastor Voss durch den Kopf gingen. Er versuchte, sie beiseitezuwischen, aber sie ließen sich nicht vertreiben.

Gott, wenn du Ivy die Freiheit zeigen willst, die du für sie bereithältst, dann wissen wir beide, dass ich für diesen Job nicht der Richtige bin.

Er warf einen verstohlenen Blick über seine Schulter. Ihre Augen waren von einer Sonnenbrille verdeckt, die für ihr Gesicht viel zu groß war, und sie hatte die Mundwinkel zu einem süffisanten Grinsen verzogen.

Und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob sie überhaupt befreit werden will. Auf mich wirkt es so, als würde sie sich ziemlich wohlfühlen.

Aber bei der Beerdigung war das anders gewesen.

Und sosehr er sich auch bemühte, wurde er das Bild doch nicht wieder los. Das gleißende Sonnenlicht brach sich am Beton und traf Davis ins Auge, als er unter der Überdachung die Straße überquerte. Blinzelnd rollte er den Koffer über die Bordsteinkante, öffnete die Heckklappe seines Jeep Cherokees und verstaute Ivys spärliches Gepäck im Kofferraum. Entweder hatte sie nicht vor, lange zu bleiben, oder sie war wirklich extrem gut im Packen. Er schloss die Kofferraumklappe und öffnete ihr die Beifahrertür.

Ihre Absätze klackerten in einem langsamen Rhythmus auf dem Gehweg, als sie näher kam, und ihre Hüfte schwang wie bei einem Zeitlupengang auf dem Laufsteg. „Und da behaupten die Leute immer, es gäbe keine Gentlemen mehr.“ Sie trat vor ihn und sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. „Offensichtlich kennen sie Mr Knight noch nicht.“

Davis schluckte und ärgerte sich über seine eigene körperliche Reaktion.

Nimm sie wahr.

Das Flüstern überrumpelte Davis. Nimm sie wahr? Wie konnte jemand sie nicht wahrnehmen? Diese Frau fiel jedem auf, vor allem Männern. Und doch folgte diesem Gedanken der Widerhall von Worten, gesprochen vor langer Zeit.

„Du siehst Dinge, die wir anderen nicht wahrnehmen. Das ist eine wichtige Gabe.“

Die Worte seines Vaters.

Weil er nicht wusste, was er damit anfangen sollte, ging Davis um seinen Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Der Motor gurgelte ein paarmal, bevor er zum Leben erwachte.

„Also: Bist du Marilyns Laufbursche oder darf ich mich geschmeichelt fühlen, weil du angeboten hast, mich abzuholen? Weil du ein Fan bist und so?“

„Marilyn wurde in der Boutique gebraucht. Sie hat mich gebeten, dich zu fahren.“ Er setzte rückwärts aus der Parkbucht, bog auf die Straße ab und fuhr in Richtung Norden. Das silberne Kreuz, das an seinem Rückspiegel hing, bewegte sich und reflektierte einen Sonnenstrahl.

Ivy schnalzte mit der Zunge. „Erst Esme und jetzt du.“

„Wer ist Esme?“

„So eine alte Dame im Flieger, die ständig vom ‚lieben Gott‘ geredet hat.“ Ivy berührte die Halskette. „Interessante Wahl als Autoschmuck.“

Davis warf ihr einen Blick zu. „Glaubst du?“

„Glaub ich an was – Gott?“

„Was sonst?“

Sie stieß die Kette mit dem Kreuz einmal an und legte die Hand dann wieder auf ihren Schoß. „Es gibt ein ganzes Arsenal an Alternativen.“

„Zum Beispiel?“

„Geld. Ruhm. Schönheit. Buddha.“ Sie zählte die Worte an ihren Fingern ab.

„Du glaubst an einen Menschen?“

„Jesus war ein Mensch.“

Er konnte nicht anders. Er musste einfach lachen. Die junge Ivy, die religiöse Philosophin. „Ganz Mensch und ganz Gott. Ein großes Geheimnis des Glaubens. Ich kann mich natürlich irren, aber Buddha hat nie behauptet, Gott zu sein, oder?“

„Und was willst du damit sagen?“

„Dass es mir albern vorkommt, jemanden anzubeten, der ein fehlbarer Mensch ist – so wie du und ich.“

Sie runzelte die Stirn.

Die kleine Falte ließ ihn genauer hinschauen. Er wollte wissen, was sie bedeutete. „Bist du wirklich Buddhistin?“

„Nein, ich bin keine Buddhistin. Aber ich war mal mit einem Buddhisten zusammen.“ Ivy ließ ihr Fenster herunter, sodass der Wind Strähnen ihres zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haares um ihre nackten Schultern wehte. „Es war sehr erleuchtend.“

Ihr Tonfall triefte vor kaum verhohlener Doppeldeutigkeit. Er wandte sich ihr ein wenig zu. „Bist du immer so?“

„Wie denn?“

Er suchte nach dem zutreffenden Wort und entschied sich für kokett. Das entlockte Ivy ein belustigtes Lächeln. Davis setzte den Blinker und fädelte sich in den Verkehr auf der Autobahn ein. Grünes Laub rauschte an ihren offenen Fenstern vorbei und schwüle Luft füllte das Auto. Der Geruch von Meersalz mischte sich mit dem Kokosaroma des Autoduftspenders, den er unter seinem Sitz deponiert hatte, bevor er zum Flughafen aufgebrochen war. „Darf ich meine ursprüngliche Frage noch mal konkretisieren? Glaubst du an Gott?“

„Ja.“

Ihm wurde sofort leichter ums Herz. „Wirklich?“

„Ob ich glaube, dass es einen Schöpfer irgendwo da draußen im Weltall gibt? Ja. Glaube ich, dass dieser Schöpfer, oder Gott, wie du ihn oder sie oder es nennst, sich auch nur im Entferntesten für mich armes kleines Ding interessiert? Nein.“ Sie runzelte die Stirn, so als hätte sie zu viel verraten und würde ihre Worte am liebsten wieder zurücknehmen. Dann zog sie ihre Schuhe aus und stellte einen perfekt pedikürten Fuß auf sein Armaturenbrett. „Normalerweise philosophiere ich mit Männern nicht über Religion, Dave. Das ist nicht gerade mein Spezialgebiet.“

Sie warf ihre Worte wie Haken mit Ködern aus. Jeder andere Mann hätte angebissen – und sie gefragt, was denn ihr Spezialgebiet sei. Davis machte einen Bogen um die Würmer. Er konnte sich die Antwort ohnehin denken. „Kann ich dich was fragen?“

„Hast du doch gerade schon.“

„Sehr witzig.“ Er legte seinen Ellbogen auf die Gummidichtung des Fensters, das komplett im Innern der Tür verschwunden war, und hielt das Lenkrad mit zwei Fingern fest. „Warum hast du eingewilligt, für meine Tante zu modeln?“

Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. „Es ist ein Job.“

„Jemand wie du hat doch wahrscheinlich Millionen Angebote, aus denen er auswählen kann. Warum gerade dieses?“ Vor ein paar Wochen hatte sie gar nicht schnell genug abreisen können – hatte sogar zugegeben, dass sie floh –, und jetzt war sie wieder da?

„Es ist doch nur ein Artikel.“

„Marilyn hat deutlich mehr geplant als nur einen Artikel.“

Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, als hätte jemand ihn mit Schwung angestoßen.

Davis zog die Augenbrauen hoch. Hatte Bruce Ivy nicht erzählt, was Marilyn von ihr wollte? Aber bevor er fragen konnte, machte sein Wagen einen Satz. Er packte das Lenkrad mit beiden Händen. Ivy riss den Fuß vom Armaturenbrett. Das Auto stotterte, ruckelte noch einmal und verreckte dann mitten auf der Autobahn. Davis glaubte eigentlich nicht an Omen, aber das konnte kein gutes sein.

* * *

Ivy drehte den Fußballen im Kies. Wind fegte über die Straße und streifte ihren Körper mit seinem heißen Atem. Als ihr Blick über die Autobahn hinaus zu den Wildblumen wanderte, die im Wind schwankten, ertappte sie sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, eine dieser wilden Blumen zu sein, die von etwas so Riesigem wie der Sonne geliebt und versorgt wurden.

Der Drang, über die Straße zu laufen und mit ihnen zu tanzen, schwoll in ihrer Brust an. Kein Tanz wie im Nachtklub, sondern freie Bewegungen, mit vollem Arm- und Beineinsatz, wild und gelöst und voller Freude. Aber sie konnte nicht wie ein Kind über die Straße laufen. Nicht, wenn Davis ein Stück außerhalb ihrer Hörweite auf dem Grünstreifen auf und ab lief, das Telefon am Ohr und den Daumennagel zwischen den Zähnen. Er benahm sich nicht wie ein normaler Mann. Statt sie mit Verlangen anzusehen, sah er sie an, als wäre sie etwas Kleingedrucktes, für das er eine Lesebrille brauchte. Außerdem stellte er zu viele Fragen. Dadurch fühlte sie sich alt und müde und verärgert. Sie streckte die Arme aus wie Flügel und hob das Gesicht zur Sonne auf.

Wenn sie fliegen könnte, wohin würde sie dann fliegen?

Sie ließ die Arme wieder sinken, wobei ihre Hände gegen die Außenseiten ihrer Oberschenkel schlugen. Sie war kein Vogel. Keine Fledermaus. Und auch kein Pegasus. Oder irgendein anderes Wesen mit Flügeln. Oder auch nur mit Blütenblättern. Sie saß in der Klemme. Ihr Agent saß Hunderte von Kilometern entfernt in New York City – und hatte nichts außer einem einfachen Artikel für die Zeitschrift Southern Brides erwähnt. Dafür schuldete er ihr eine Erklärung. Ivy trat auf die Straße und ging auf den Jeep zu, der halb auf der rechten Spur, halb auf dem grasbewachsenen Randstreifen stand, die Warnblinkleuchte eingeschaltet. Sie öffnete die Beifahrertür, kramte in ihrer Handtasche und wählte mit ihrem Smartphone die Handynummer von Bruce. Er ging nicht dran. Als die Mailbox ansprang, legte sie auf und versuchte es in der Agentur. Nach zweimaligem Klingeln begrüßte sie Mayas Stimme.

„Guten Tag. Modelagentur Olsen.“

„Hi, Maya, Ivy hier. Kannst du mich bitte mit meinem Onkel verbinden?“

„Tut mir leid, Ivy. Er ist heute gar nicht im Haus. Soll ich ihm was ausrichten?“

Ivy schluckte das Knurren hinunter, das in ihrer Kehle aufstieg. Es war nicht Mayas Schuld, dass Bruce sie zu einem Auftrag geschickt hatte, ohne sie umfassend zu informieren. „Wenn du mit ihm sprichst, sag ihm bitte, dass er mich anrufen soll. Es ist wichtig.“ Sie verabschiedete sich und schrieb Bruce eine Textnachricht, in der sie von einem Notfall sprach, bevor sie das Handy wieder in ihre Handtasche warf. Ihr Onkel hatte es verdient, erwürgt zu werden. Aber stattdessen musste sie hier die brennende Sonne ertragen, als wäre sie es, die sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. Sie hob die Hand, um ihre Augen gegen das grelle Licht abzuschirmen, und drehte sich zu Davis um, der immer noch telefonierte und auf seinem Daumennagel kaute. Wie lange dauerte es denn, einen Abschleppdienst zu rufen?

Ein Auto raste vorbei, ohne seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Davis steckte sein Handy ein und kam auf Ivy zu. Sie stellte ihn sich ohne Hemd und mit Surfbrett vor und nahm sich vor, ihn zu fragen, ob er mal mit ihr an den Strand kam. „Surfst du?“

„Wie bitte?“

„Surfen.“ Sie streckte die Arme aus und tat, als würde sie einige Wellen reiten. „Du weißt schon, so auf dem Meer.“

Davis kniff die Augenbrauen zusammen.

„Nein? Du solltest es lernen.“

„Okaaay.“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihren Vorschlag abschütteln. „Ich habe die Werkstatt in Greenbrier angerufen. Jemand kommt, um uns abzuschleppen.“ Wie er jemand sagte, klang irgendwie merkwürdig.

„Weißt du, wer dieser Jemand sein wird?“

„Der Sohn des Eigentümers.“

„Und du magst ihn nicht, weil …?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nicht mag.“

„Das war auch gar nicht nötig. Ich habe diese Schlussfolgerung aus der grimmigen Miene gezogen, die ich vor mir sehe.“

„Ich finde ihn völlig okay. Es ist nur …“ Davis rieb sich den Nacken und schüttelte den Kopf, so als spielte es keine Rolle.

„Nur was?“

„Er war mal mit meiner Schwester zusammen.“

Davis’ Schwester. Weißblonde Haare und Sonnenblumenkleider. Ständig am rumhüpfen. An sie erinnerte Ivy sich deutlich besser als an Davis, weil Sara und sie altersmäßig viel dichter beieinanderlagen. Als Ivy irgendwann auf Dauer zu James und Marilyn gezogen war, war Davis bereits zum Studium weggegangen. „Ich erinnere mich an sie. Sara, richtig?“

Davis nickte.

Ivy durchforstete ihre Erinnerungen. Bei der Trauerfeier hatte sie Sara nicht gesehen. Nur Marilyn und Davis. Aber andererseits hatte Ivy auch keinen geschulten Radar für Frauen. „Dieser Typ hat Sara also das Herz gebrochen und du machst jetzt einen auf großen Bruder mit Beschützerinstinkt?“ Ein dumpfer Schmerz pochte in ihrem Bauch. Wann hatte ein Mann sie jemals so beschützt? „Das dürfte interessant werden.“

„Was?“

„Die Fahrt.“ Ein weiteres Auto fuhr vorbei, dieses wurde jedoch etwas langsamer, so als könnte der Fahrer sich nicht recht entscheiden, ob er anhalten und helfen oder weiterfahren sollte. „Wie lange dauert es noch, bis ich den Herzensbrecher kennenlerne?“

„Etwa eine Dreiviertelstunde. Und er heißt Jordan.“ Davis trat mit der Schuhspitze gegen den Reifen. „Ich kann nicht fassen, dass mein Wagen eine Panne hat.“

Ivy betrachtete das Fahrzeug und konnte Davis’ Fassungslosigkeit nicht teilen. Das Ding sah genauso aus wie ein Auto, das jeden Augenblick eine Panne haben konnte. Ein Sattelschlepper fuhr vorbei, gefolgt von einem Wohnmobil. Sie fingerte an der Gummidichtung am Fenster der Beifahrerseite herum und stützte dann den Kopf auf die Hand. „Und was machen wir jetzt, Davis? Eine Dreiviertelstunde ist lang.“

„Wir könnten uns unterhalten.“

„Worüber? Gott? Politik? Den Sinn des Lebens?“ Was hatte jemand wie sie schon über solche Themen zu sagen? Nichts Hörenswertes jedenfalls. „Das hatte ich eigentlich nicht vor.“

Er zupfte an seinem Kinn.

„Mache ich dich nervös?“, fragte sie.

„Nein.“

„Lügner.“

„Du machst mich nicht nervös. Du machst mich neugierig.“

„Das ist ja mal ganz was Neues. Und was genau interessiert dich so?“

„Wer du bist.“ Davis streckte die Hand aus und bewegte sie vor ihrem Körper auf und ab. „Unter all dem.“

Unter all dem? Meinte er mit all dem ihre Haare, ihre Beine, ihr Gesicht? Ivy nahm ihren Arm vom Wagendach. Unter all dem war sie gar nichts. All das war alles. Sie wandte sich nach Süden und blickte die Straße hinunter. In der Ferne sah sie einen roten Sportwagen. „Es macht keinen Sinn, hier draußen in der Hitze auf den Abschleppwagen zu warten, wenn es nicht nötig ist, meinst du nicht auch?“ Sie trat um ihn und seinen kaputten Jeep herum, baute sich so auf, dass der vorbeifahrende Fahrer sie gut sehen konnte, und streckte den Daumen raus.

„Was machst du da?“

„Per Anhalter fahren.“

„Sei nicht albern.“

Sie reckte den Daumen nur noch weiter vor. „Vertrau mir, Dave.“

Der rote Wagen wurde langsamer.

Davis packte sie am Arm und bedeutete dem Fahrer mit der anderen Hand, dass er weiterfahren solle.

„Du hast uns gerade eine Mitfahrgelegenheit vermasselt.“

Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. „Du weißt doch nicht, ob der Kerl nicht ein Serienmörder ist.“

„Ein Serienmörder? Hier?“ Das war statistisch gesehen ziemlich unmöglich. „Du bist paranoid.“

„Wahrscheinlich.“ Davis presste die Lippen zusammen. In seinen Augen blitzte etwas auf, das jedoch schnell wieder erlosch. „Aber ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du in Gefahr gerätst.“

Eine faszinierende Reaktion. Leider hielt sie das Klingeln ihres Handys davon ab, sie näher zu ergründen. Dem Klingelton nach zu urteilen war es ihr lieber Onkel, der anrief.

* * *

Davis schlenderte den Grünstreifen hinunter und setzte sich unter das dichte grüne Blätterdach eines Baumes, um etwas Schutz vor der Sonne zu finden. Er starrte auf den Mohn und die Kornblumen, die den Streifen Land zwischen der Spur nach Norden und der nach Süden zierten. Obwohl er sich einen Platz gesucht hatte, der so weit von Ivy entfernt war, dass sie ungestört telefonieren konnte, kam er nicht umhin, Bruchstücke von ihrem Teil der Unterhaltung aufzuschnappen.

Sie wippte mit dem Fuß, hatte aber zum Glück die Hand mitsamt Daumen sicher in der Tasche ihrer dunkelblauen Shorts verstaut. Eine Frau wie sie sollte auf keinen Fall per Anhalter fahren. Er vergrub die Sohlen seiner Schuhe im Gras und schlang die Ellbogen um seine Knie, während er sich wünschte, die Worte seines Vaters würden ihn in Ruhe lassen.

„Für mich war das ein Notfall!“ Ivys erhobene Stimme unterbrach einen Vogelchor bei seinem Gesang.

Zweifellos sprach sie mit Bruce. Wahrscheinlich verlangte sie von ihm, dass er sie mit dem nächsten Flieger nach New York zurückholte, sobald Davis das letzte Foto für den Artikel geschossen hatte. Er wischte den Schweiß fort, der seine Schläfe hinunterlief, und sah auf seine Armbanduhr. Er musste sie beide heil nach Greenbrier bringen, Ivy zur Boutique und seinen Wagen zur Werkstatt, und das alles vor dem Festessen anlässlich des Hochzeitstags seiner Großeltern. Außerdem musste er vierzig Minuten mit Jordan Ludd in einem Auto sitzen, der behauptet hatte, Sara zu lieben, sie aber sofort sitzen gelassen hatte, als es Schwierigkeiten gab. Davis spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Er hatte kein Recht, wütend auf Jordan zu sein. Nicht wenn doch die Schuld für Saras ganzen Kummer letzten Endes bei ihm selbst lag.

„Und du bist überzeugt davon, dass ich damit in die Presse komme?“ Ivy scharrte mit der Schuhspitze im Gras. Ihre gebräunten Beine waren unglaublich lang. Als sie Davis den Rücken zuwandte, war ihre Stimme nicht mehr zu hören. Nach einer Weile nahm sie das Handy vom Ohr.

Davis ließ seine Knie los. „Alles in Ordnung?“, rief er zu ihr hinüber.

„Ja, alles bestens.“

„Willst du darüber reden?“

Sie fuhr herum. „Du hältst ja echt viel vom Reden.“

„Du willst nicht bleiben, oder?“

Sie kam zu ihm herüber, schwang die Hüfte und stemmte eine Hand in die Taille. Sie hatte sich genau vor ihm aufgebaut. Davis hielt den Blick starr auf ihr Gesicht gerichtet, auch wenn das bedeutete, dass er seinen Hals unangenehm überstrecken musste. „Du weißt noch, wie ich als Kind war, nicht wahr?“

Er nickte.

„Bin ich dir damals sehr glücklich vorgekommen?“

Nein, Ivy war nicht glücklich gewesen. Sie hatte traurig ausgesehen. So wie bei der Beerdigung. Er pflückte einige Kleeblüten. „Ich finde, du solltest bleiben.“

„Vor einer halben Stunde konntest du nicht fassen, dass ich den Job angenommen habe. Und jetzt erwartest du von mir, dass ich hierbleibe?“

„Ich erwarte es nicht. Ich finde nur, dass du es tun solltest. Es könnte gut für dich sein.“ Er stützte die Hände hinter sich auf, streckte die Beine aus und kreuzte sie, als könnte seine entspannte Haltung davon ablenken, dass er seiner eigenen Aussage zwiespältig gegenüberstand. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Greenbrier gut für Ivy sein könnte, aber er wusste auch, dass ihre Anwesenheit die klaren Grenzen verwischen würde, die er so sorgfältig um sein Leben gezogen hatte. „Ich wollte deine Entscheidung übrigens nicht infrage stellen. Ich war nur neugierig. Als du das letzte Mal hier warst, hast du zugegeben, dass du wegläufst, und jetzt kommst du für eine Arbeit wieder, die du nicht brauchst.“

In ihrem Gesicht zuckte etwas.

Oder brauchte sie den Job vielleicht doch? Er wusste besser als die meisten anderen Menschen, wie schnell das Wetter in der Modebranche für Models umschlagen konnte. Drehte der Wind für Ivy? Er warf den Klee auf den Boden. „Aber ist ja auch egal. Dein Onkel hat recht, was die Publicity angeht. Marilyns Brautkleidkollektion wird der Hit. Schon jetzt kommen Bräute aus dem ganzen Süden von South Carolina in ihre Boutique.“

„Du bist also ein Experte in Sachen Brautmoden?“ Ivy setzte sich neben ihn. „Das ist ein merkwürdiges Hobby für einen Mann wie dich.“

Für einen Mann wie ihn? Ivy wusste doch sicher, dass er früher Fotograf gewesen war.

„Jetzt guck nicht so ängstlich, Dave. Bruce hat mir versichert, dass ich meine Zeit hier nicht verschwende.“ Sie beugte sich näher und flüsterte ihm die nächsten Worte ins Ohr. „Sieht so aus, als würde ich bleiben. Jedenfalls erst einmal. Glück für dich.“

Sein Adamsapfel zuckte. Ja. Glück für ihn.