Die Autorin

Teresa Wagenbach – Foto © Privat

Teresa Wagenbach ist das Pseudonym der jungen Autorin Teresa Nagengast, unter dem sie bewegende Liebesgeschichten veröffentlicht. Sie wuchs als Drillingskind im ländlichen Gebiet in Unterfranken auf. Schon damals verschlang sie zahlreiche Bücher. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Journalismusstudium. Heute arbeitet sie bei einem Bildungsverlag in Nürnberg.

Das Buch

Eine herzerwärmende Geschichte um Familienbande, ein tragisches Geheimnis und die Liebe in einem kleinen englischen Dorf

Sarah steckt mitten in den Hochzeitsvorbereitungen mit ihrem Taummann, als sie einen Brief von ihrem Vater erhält. Dieser hatte sie und ihre Mutter vor vielen Jahren ohne ein Wort verlassen und bittet Sarah nun, ihn in dem kleinen Dorf in Nottinghamshire zu besuchen, das er inzwischen mit seiner neuen Familie bewohnt. Sarah ist hin- und hergerissen zwischen den negativen Gefühlen, die sie in den vergangenen Jahren ihm gegenüber entwickelt hat, und dem Wunsch, ihn wiederzusehen. Schließlich fasst sie sich ein Herz und macht sich auf die Reise. Sie ahnt nicht, dass sie in England nicht nur ein dramatisches Familiengeheimnis, sondern auch der schweigsame Luke erwartet. Die Tage, die sie mit Luke, dem Sohn der neuen Frau ihres Vaters, verbringt, stellen ihr Herz auf eine harte Probe …

Von Teresa Wagenbach sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Dem Leben so nah
Wenn das Schicksal einzieht
Vielleicht ein Wunder

Teresa Wagenbach

Vielleicht ein Wunder

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-452-7

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Kapitel 1


»Meinst du, die Umschläge reichen?« Etwas skeptisch blickte Lisa von dem Stapel Einladungskarten zum Kuvertstapel.

»Ja, ich habe dreihundert Stück bestellt und wir haben zweihundertfünfundneunzig Gäste«, rief Sarah vom Esszimmertisch aus zurück und zog die nächste Karte hervor.

Tom Bartels schrieb sie in geschwungener Schrift darauf. Er war Rains bester Freund und einer dieser ewigen Junggesellen, die reihenweise Frauen den Kopf verdrehten und es liebten, jeden Morgen in einem anderen Bett neben einer anderen Frau aufzuwachen. Sarah hatte schon seit Längerem die Hoffnung, das zu ändern und ihn mit ihrer Freundin Betty zu verkuppeln – und sie wusste auch genau, wann. Lächelnd nahm sie eine weitere Karte und schrieb Bettys Namen drauf. Mal sehen, wer von beiden sich mehr über seinen Sitznachbarn freuen würde.

»Wollen wir eine kurze Pause einlegen? Ich könnte jetzt wirklich einen Kaffee vertragen«, hörte sie Lisas dunkle Stimme. Lisa war Sarahs allerbeste Freundin, seitdem sie denken konnte. Sie waren Nachbarn gewesen und zusammen aufgewachsen. Lisa hatte knallrotes Haar, das aussah, als wäre es gefärbt – war es aber nicht –, unzählige Sommersprossen auf der Nase und stechend blaue Augen. Sie hatte einen breiten Mund, den sie hauptsächlich zum Lachen verwendete, und war der lebhafteste und lebensfrohste Mensch, den Sarah kannte. Sonderlich hübsch war sie Sarahs Meinung nach nicht, aber ihre unverwechselbare Ausstrahlung machte das wett. Sarah konnte sich keine bessere Freundin vorstellen.

»Meinetwegen. Aber nur eine kurze Pause. Ich möchte das heute noch fertigbekommen«, antwortete sie, als sie Lisas flehenden Blick sah, und legte den Stift zur Seite. Die Hälfte hatten sie bereits geschafft.

Sarah ging in die Küche und setzte Wasser auf. Sie und ihr Verlobter besaßen auch einen Kaffeevollautomaten, doch Sarah bevorzugte Filterkaffee. Den hatte sie bei ihren Eltern immer getrunken. Das hatte sie auch Rain gesagt, als er sie gefragt hatte, warum sie das alte Ding nicht einfach wegschmeißen konnten. Sie wollte nicht zugeben, dass ihr der Kaffee aus dem 800 Pfund teuren Vollautomaten partout nicht schmeckte – und dass sie jedes Mal beim Bedienen Angst hatte, etwas kaputt zu machen.

»Wann kommt Rain denn heute heim?«, hörte sie Lisa aus dem Wohnzimmer rufen.

»Keine Ahnung. Erst gegen Abend, vermute ich. Er hat im Geschäft zurzeit recht viel zu tun«, erwiderte Sarah achselzuckend.

»Wann war das jemals anders?«, vernahm sie Lisa so leise murmeln, dass sie es fast nicht gehört hätte. Sie ignorierte den Kommentar.

Sarah und Rain hatten sich vor drei Jahren auf einer Geschäftsparty kennengelernt. Rain war damals Juniorchef eines aufstrebenden Industrieunternehmens gewesen und Sarah war zusammen mit Chris, ihrem schwulen besten Freund, zur Party gekommen, der aufgrund einer zerbrochenen Liebe kurzfristig eine neue Begleitung gebraucht hatte. Eigentlich waren diese oberflächlichen Partys nicht so richtig Sarahs Ding, doch sie hatte Chris nicht enttäuschen können. Er war angesichts der Trennung sowieso schon deprimiert genug gewesen. Also war sie widerwillig mitgegangen und prompt auf Rain gestoßen: Attraktiv, redegewandt, intelligent und charismatisch wie er war, hatte er es Sarah sofort angetan – ungeachtet des sündhaft teuren Anzugs und der kleinkarierten Krawatte, die er trug. Es hatte nicht lange gedauert, da waren sie ein Paar geworden und Sarah war zu ihm in sein Apartment gezogen. 

Sarah schenkte den Kaffee in zwei der Designer-Tassen, die so teuer waren, dass sie Angst hatte, eine davon fallen zu lassen, dann ging sie mit den dampfenden Getränken zurück in den offenen Ess-Wohnbereich. Vorsichtig reichte sie Lisa eine der Tassen.

»Wollen wir uns raussetzen?«, schlug sie vor und ließ den Blick über das Chaos, das hier herrschte, wandern. Sie wusste, Rain hasste Unordnung, doch bis zu seinem Erscheinen würde sie alles wieder aufgeräumt haben.

»Ja, warum nicht«, stimmte Lisa zu. Es war Anfang Dezember und dementsprechend kalt, doch die Sonne schien vom nahezu wolkenlosen Himmel und der Wind, der die letzten Tage noch gestürmt hatte, war weiter Richtung Norden gezogen.

In eine Decke eingewickelt und die wärmende Tasse Kaffee in der Hand machten sie es sich auf dem geräumigen Balkon gemütlich. Rain hatte darauf bestanden, eine Chill-out-Ecke einzurichten, und obwohl Sarah es anfangs für übertrieben gehalten hatte, fand sie es jetzt ganz angenehm. Die sofaartigen Bänke waren weich und bequem und besaßen sogar seitlich eine Getränkeablage für den Wein, den sie manchmal am Abend gerne tranken – zumindest an den seltenen Tagen, an denen Rain vor Sonnenuntergang nach Hause kam. Jetzt diente die Halterung Sarah und Lisa zum Abstellen ihres Kaffees.

»Und du bist dir ganz sicher, dass du dir das wirklich antun möchtest?«, fragte Lisa und zwinkerte Sarah zu.

Die lachte nur leise. »Klar bin ich mir sicher. Meine beste Freundin ist schließlich das beste Vorbild dafür, wie wundervoll eine Ehe sein kann.«

»Du meinst dieses schreckliche Gefängnis, in dem ich seit zwei Jahren sitze, mit einem Mann, der um die Hüfte immer mehr zu- und an Haarpracht immer mehr abnimmt?«, entgegnete Lisa gespielt schockiert.

Sarah grinste nur. Lisa und Andrew, den alle nur Andy nannten, waren bereits seit Schulzeiten ein Paar und für Sarah der Inbegriff wahrer Liebe. Auch wenn sie sich neckten und es stimmte, dass Andy in den vergangenen Monaten etwas zugenommen hatte, wusste Sarah genau, dass die beiden füreinander das Allerwichtigste waren. Und das war es doch, worum es in einer Beziehung ging, oder?

»Oder beneidest du die Tatsache, dass im ganzen Haus die muffigen weißen Tennissocken meines ach so tollen Ehemanns herumliegen? Selbst auf dem Fernseher habe ich vor Kurzen eine entdeckt. Aber glaube mir, da ist er mit seinen kurzen dicken Beinen ganz schön schnell vor meiner Edelstahlpfanne davongelaufen … und mit seinem Holzkopf gleich gegen den Türrahmen gerannt.« Lisa schüttelte theatralisch den Kopf. »So viel zu meinem tollpatschigen, bald wohl glatzköpfigen Gatten.«

Sarah lachte. Sie konnte sich die Szene bildlich vorstellen.

»Ach, komm schon. Andy ist der beste Mann, den es gibt. Wenn ich dich nicht so arg lieb haben würde, dann hätte ich schon längst versucht, ihn dir auszuspannen.«

»Okay, dann bekomme ich aber Rain. Groß, durchtrainiert, gutaussehend, erfolgreich – das wäre genau mein Typ, wenn mich Andy nicht genau in meinem schwächsten Moment, mit Pickeln im Gesicht und dem ewigen Warten auf den nächsten Wachstumsschub meiner Brüste, um den Finger gewickelt hätte. Verflucht sei diese dumme Schulzeit.«

»Dafür ist Andy fürsorglich, zuverlässig, aufrichtig und unendlich in dich verliebt … und außerdem kommt er pünktlich um fünf Uhr von der Arbeit heim«, fügte Sarah leise hinzu.

Rain dagegen würde, zumindest ihren Erfahrungswerten nach, erst wieder gegen acht Uhr zurück sein. Was hatte man von all dem Geld und Erfolg, wenn man es nicht einmal nutzen konnte?

»Stimmt. Mein Mann ist ein Schatz und meine beste Freundin auch.«

Lisa beugte sich vor und küsste Sarah flüchtig auf die Wange. Dann trank sie ihren Kaffee aus und stand auf.

»Dann lass uns mal deine heißen Studienfreunde von früher einladen. Wie hieß dieser eine noch mal, der ein bisschen aussieht wie Zac Efron? Steven?«

»Nein, Jonathan«, erwiderte Sarah lachend und folgte Lisa zurück ins Wohnzimmer. »Und mittlerweile sieht er eher aus wie Seth Rogen.«


Drei Jahre zuvor

Sarah stand mit Chris auf der riesigen Dachterrasse und trank ein Glas sündhaft teuren Champagner, der auf der Veranstaltung wie Wasser ausgeschenkt wurde. Von hier oben hatten sie einen fabelhaften Blick über London und für einen kurzen Moment vergaß Sarah, warum sie überhaupt auf der Terrasse stand. Für ein paar Sekunden genoss sie einfach nur die atemberaubende Sicht, bis sich ein Mann neben sie stellte, so nahe, dass sein Arm fast den ihren berührte. Sarah zuckte zusammen und wollte sich genervt zu Chris umdrehen, denn genau das war es, was sie an diesen piekfeinen Veranstaltungen verabscheute: reiche Männer, die dachten, ihnen würde alles und jeder zu Füßen liegen. Doch dann blieb ihr Blick an dem Mann hängen. Er war groß, fast einen Kopf größer als sie, dabei war Sarah mit ihren 1,72 Metern nicht gerade klein für eine Frau. Er hatte dunkelblonde kurze Haare, die an den Spitzen gelbgold schimmerten – und dann diese Augen. Sarah hielt die Luft an. Seine Augen hinderten sie daran, sich einfach wegzudrehen. Sie waren von einem hellen Blaugrün und die Intensität, die von ihnen ausging, hatte eine fast schon hypnotische Wirkung auf sie.

»Guten Tag, mein Name ist Rain Masters. Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?«

Angesichts der Tatsache, dass sie bereits ein halbvolles Glas in der Hand hielt, war seine Frage wohl eher rhetorisch gemeint, dennoch nickte sie, denn wie er die Worte mit seiner tiefen, ruhigen Stimme aussprach, war sehr sexy und verführerisch.

Rain griff blitzschnell nach zwei vollen Champagnergläsern, die eine der zahlreichen Bedienungen gerade vorbeitrug. Sarah blieb nichts anderes übrig, als ihr Glas zu leeren und nach dem vollen zu greifen. Noch immer hielt sie die Luft an.

»Wo waren wir? Ach ja, Sie wollten mir gerade verraten, wie Sie heißen«, sagte Rain zwinkernd und prostete ihr zu.

»Sarah. Sarah Taylor«, presste Sarah hervor und bemühte sich, wieder klar denken zu können. Was geschah hier gerade?

»Also gut, Sarah Taylor. Was verschafft mir die Ehre, Sie kennenzulernen?«

»Ich begleite meinen, ähm, ich meine, einen Freund«, stammelte Sarah und wurde prompt rot. »Das ist Chris«, stotterte sie und wies mit einer Handbewegung auf ihren besten Freund.

Chris grinste breit und reichte Rain selbstbewusst die Hand. Seine dunkelbraunen Augen funkelten. Sarah war allem Anschein nach nicht die Einzige, die Rains Charisma und seinem Sexappeal erlag. »Guten Tag, Rain. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Zu welcher Art Anzugträger gehören Sie?«

»Zu der, die diese langweiligen Feste nutzen, um unter ihrem Anzug Unmengen Champagner und Häppchen zu verstecken«, antwortete Rain und blinzelte Sarah zu.

Chris schaute ihn einen Moment verwirrt an, dann grinste er. Sein hohes Kichern war das Einzige, das sofort verriet, dass er schwul war. »Touché«, prustete er und hob sein Glas. Dann kniff er Sarah kurz in die Hüfte, was sie als Ermutigung deutete, und entfernte sich unter dem Vorwand, nach seinem Vater schauen zu müssen.

»Nach dem fünften Glas Champagner fängt er nämlich immer an zu tanzen«, sagte er noch zwinkernd, ein Spruch, bei dem Sarah unwillkürlich grinsen musste. Chris’ Vater war der letzte Mann, den sie sich auf der Tanzfläche vorstellen konnte.

Rain blickte Chris einen Moment hinterher. Dann wandte er sich wieder Sarah zu. »Netter Kerl, hat er einen Freund? Ich wüsste da jemanden, der perfekt zu ihm passen könnte.«


Es überraschte Sarah selbst, wie schnell sie sich in Rain verliebte. Als er später darauf bestand, sie nach Hause zu bringen, tat sie etwas, was sie bis dahin noch nie nach nur einem Abend zugelassen hatte. Sie erlaubte ihm, sie zu küssen. Es dauerte genau neunundzwanzig Tage, bis sie ein Paar waren – und Sarah im siebten Himmel schwebte. Das war es, worauf sie all die Zeit gewartet hatte, das war es, warum sie trotz Lisas ständiger Nörgeleien, sie solle in die Realität zurückkehren, daran festgehalten hatte, dass es diesen Zauber, den Filme wie Stolz und Vorurteil oder Wie ein einziger Tag versprühten, wirklich gab. Und sie hatte recht gehabt. Zumindest hatte Sarah sich die letzten drei Jahre an diese Vorstellung geklammert – selbst wenn sie ab und an ganz tief in ihrem Inneren in den dunkelsten Momenten daran zweifelte, dass Rain tatsächlich ihr Mr Darcy war.


Sarah konnte noch immer nicht ganz glauben, dass sie wirklich im Begriff war, Rain zu heiraten, oder viel mehr konnte sie nicht glauben, dass er wirklich sie heiraten wollte – ein durchschnittliches Mädchen mit einem durchschnittlichen Job und einem durchschnittlichen Einkommen. Rain dagegen hatte in den vergangenen drei Jahren eine steile Karriere hingelegt. Mittlerweile hatte er eine nicht unerhebliche Führungsposition in einer der größten Banken Londons inne. Und die silbergrauen Strähnchen, die sich inzwischen unter seine dunkelblonden Haare mischten, taten seiner Attraktivität keinen Abbruch, vielmehr unterstrichen sie sie noch. Sarah dagegen hatte, obwohl sie fünf Jahre jünger war als Rain und trotz ihrer ausgesprochen gesunden Ernährung, bereits Probleme, ihre schlanke Figur zu halten. Zumindest wies Rain sie des Öfteren darauf hin, wenn er nach seiner Arbeit mit ihrer Hilfe etwas entspannen wollte, wie er ihre nächtlichen Vergnügungen gerne nannte. Dementsprechend überrascht war Sarah auch gewesen, als er sie vor drei Monaten nach einer »ausgesprochen vergnüglichen Abendentspannung« gefragt hatte, oder viel mehr festgestellt hatte, dass es wohl angemessen wäre, wenn sie heiraten würden. Zwar hatte sich Sarah für ihren Heiratsantrag etwas mehr Romantik erhofft, dennoch hatte sie ohne zu Zögern Ja gesagt. Worauf sollte man schließlich noch warten, wenn man den Jackpot bereits geknackt hatte?


Erleichtert schrieb Sarah den letzten Namen auf die sündhaft teuren Einladungskarten und atmete aus. Da Rain darauf bestanden hatte, sämtliche Arbeitskollegen und wichtigen Geschäftsleute der Stadt einzuladen, war ihre Gästeliste auf unglaubliche dreihundert Personen angewachsen – von denen Sarah höchstens achtzig kannte.

»Wahrscheinlich nutzt er auch noch seine eigene Hochzeit, um beruflich voranzukommen«, hatte Lisa missmutig gemurmelt, als Sarah ihr davon erzählt hatte. Lisa war nicht ganz so ein Fan von Rain, wie Sarah sich erhofft hatte, doch sie akzeptierte ihn. Schließlich machte er ihre beste Freundin »mehr als glücklich«, wie Sarah beteuerte – und das war das Einzige, was für Lisa zählte. Zumindest sagte sie das.

»Ich spüre meine Finger nicht mehr«, jammerte Lisa nun und streckte Sarah theatralisch ihre Hand entgegen. Dann ließ sie sich auf das überdimensionale, schicke, doch leider total unbequeme weiße Ledersofa fallen.

»Versprich mir, dass ich nie wieder auch nur eine einzige Einladungskarte in die Hand nehmen muss!«

Sarah versprach es. Sie hatte schließlich nicht vor, noch einmal zu heiraten, und da sie Geburtstage hasste, würde sie auch für keine andere Party Einladungen verschicken. Sorgsam ging Sarah noch einmal ihre ellenlange Liste durch und überprüfte, ob alle Namen abgehakt waren. Dann stockte sie.

»Oh Mist. Sorry, Lisa. Aber ich muss mein Versprechen jetzt schon brechen. Ich habe doch allen Ernstes Rains Vater vergessen.«

Lisa presste sich mit gespielter Verzweiflung eines der Dekokissen vors Gesicht, bevor sie damit nach Sarah warf.

»Du denkst doch sonst an alles. Wie konntest du da gerade deinen baldigen Schwiegervater vergessen?«, schimpfte sie und rappelte sich auf, um nach einem frischen Umschlag zu greifen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und blickte Sarah entsetzt an.

»Oh, entschuldige bitte. Ich habe nicht nachgedacht!«

Sarah winkte ab und reichte ihr die nun wirklich letzte Karte. Sie wussten beide, warum Sarah sie vergessen hatte. Ihr Vater hatte Sarah und ihre Mutter Karen verlassen, als Sarah vierzehn Jahre alt war. Seitdem hatte sie ihn weder gesehen noch mit ihm gesprochen. Nach dem Verschwinden ihres Vaters hatte sie sämtliche Verbindungen zu ihm gekappt, den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen und sich vorgenommen, ihn nie wieder zurück in ihr Leben zu lassen, und er hatte es – abgesehen von ein paar Anrufen zu Beginn, die Sarah ignoriert hatte – auch nicht versucht. Kein Wunder also, dass Väter bei ihr nicht gerade hoch im Kurs standen.

»So …«, begann Sarah und blickte auf die Uhr. Es war kurz nach vier, was bedeutete, dass Rain aller Wahrscheinlichkeit nach erst in ein paar Stunden nach Hause kommen würde. »Was machen wir mit dem angebrochenen Nachmittag?«

Kapitel 2


Drei Stunden später saßen Sarah und Lisa wieder auf dem Balkon, dick eingepackt in zwei Decken und bereits mit einigen Gläsern Wein intus.

»Das hast du nicht?«, sagte Sarah gerade kichernd. »Du hast doch nicht …«

Hicks.

Ein plötzlich auftretender Schluckauf unterbrach ihren Satz und löste bei Lisa einen so starken Lachanfall aus, dass sie beinahe vom Stuhl fiel. Mühsam hielt sie sich am Tisch fest. Die zwei leeren Weinflaschen sprachen Bände. Die Freundinnnen waren betrunken. Und das erkannte man nicht nur an Sarahs leicht glasigem Blick, sondern auch an Lisas abstehendem roten Schopf. Wenn sie Alkohol trank, sah sie immer gleich aus wie Pippi Langstrumpf – nur ohne Zöpfe, die ihre Mähne in Schacht hielten.

Sie bemerkten nicht, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und Rain nach Hause kam. Erst als er bereits vor ihnen stand, realisierten die beiden Frauen, dass sie nicht mehr unter sich waren.

»Hallo, Liebling. Ich wusste nicht, dass du schon so früh heimkommst«, säuselte Sarah leicht lallend und stand wackelig auf.

»Schon so früh? Es ist kurz vor halb acht. Ich hatte schon befürchtet, du würdest wieder anfangen zu meckern, aber so wie ich das hier sehe …« – er ließ seinen Blick missbilligend über die Weinflaschen und Lisa gleiten, die ihn mit zusammengekniffenen Lippen anstarrte – » … wäre es dir wohl auch nicht aufgefallen, wenn ich erst um Mitternacht gekommen wäre.«

Damit drehte er sich um und ging zurück ins Haus.

Sarah biss sich auf die Lippe, die Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht war verschwunden, ein schlechtes Gewissen machte sich breit, ein Gefühl, das sie immer verspürte, wenn Rain böse auf sie war.

»Ich werde jetzt besser gehen. Andrew fragt sich sicherlich schon, wo ich bleibe. Und du weißt doch, wie ungern er bei Dunkelheit alleine ist.«

Lisa zwinkerte Sarah zu, die schwach zurücklächelte. Die Stimmung war im Eimer. Sarah hasste es, wenn Rain sie bei etwas erwischte, das ihm nicht gefiel. Dann verstärkte sich noch ihr Eindruck, nicht gut genug für ihn zu sein.

Rain war im Schlafzimmer und zog sich um. Am liebsten hätte Sarah von hinten ihre Arme um ihn geschlungen, ihr Gesicht zwischen seine Schulterblätter gepresst und seine Wärme genossen, doch sie traute sich nicht. Wenn Rain einen schlechten Tag hatte oder sauer auf sie war, dann hasste er es, wenn sie ihm zu nahe kam. Außerdem befürchtete sie, dass ihr Atem schrecklich nach Wein riechen könnte, was seine Laune wohl nicht gerade bessern würde. Also setzte sie sich auf das riesige Boxspringbett und schaute Rain zu, wie er sein weißes Calvin-Klein-Hemd aufknöpfte und sein muskulöser Oberkörper zum Vorschein kam. Sarah raubte es jedes Mal aufs Neue den Atem, wie unglaublich gut er aussah. Kein Gramm Fett war zu sehen und jeder einzelne Muskel war genau richtig proportioniert, um nicht übertrieben zu wirken und dennoch unglaublich sexy zu sein.

Nur noch mit seinen Boxershorts bekleidet drehte Rain sich zu Sarah um. Für einen Augenblick schaute er sie mit ausdrucksloser Miene an, dann lächelte er – und Sarah lächelte erleichtert zurück.

»Wir haben heute alle Einladungskarten vorbereitet«, sagte sie stolz und stand auf. Jetzt traute sie sich wieder, ihn zu umarmen – und es fühlte sich toll an.

»Gut«, murmelte Rain in ihre Haare, während seine Hände ihr Hinterteil liebkosten.

Ich liebe deinen Po. Er hat die perfekte Form und Festigkeit, hatte Rain nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht zu ihr gesagt, und Sarah hatte sich seitdem bemüht, ihren Po in Form zu halten.

Knapp zwanzig Minuten später lag Sarah etwas atemlos, aber selig auf Rains Brust. Sie hätte noch Stunden so liegen bleiben und seinem Herzschlag lauschen können, doch bevor sich Sarahs eigener Puls wieder beruhigen konnte, schob Rain sie vorsichtig zur Seite und stand auf.

»Wie wäre es? Sollen wir heute chinesisch bestellen?«, fragte er, während er sich ein T-Shirt überzog. 

»Okay«, stimmte Sarah seufzend zu. Sie mochte chinesisches Essen nicht sonderlich, aber Rain liebte es, also gewöhnte sich Sarah daran und zwang sich, mindestens einmal in der Woche ein paar Frühlingsrollen und etwas gebratenen Reis hinunterzuwürgen. 

Eine halbe Stunde später saßen Sarah und Rain am Tisch, vor ihnen Tüten voll chinesischem Essen, das locker für fünf Personen gereicht hätte. Rain hasste es, wenn etwas ausging. Das sieht so aus, als könnten wir uns kein anständiges Essen leisten, sagte er immer, wenn Sarah ihn daran hindern wollte, viel zu viel zu bestellen. Sie hasste es nämlich, wenn Unmengen an Lebensmittel übrig blieben und letztendlich weggeworfen werden mussten. Doch sie sagte schon lange nichts mehr. Sie würde wie immer die Reste mit zur Arbeit nehmen und dort verteilen. Mittlerweile war das fast schon ein wöchentliches Ritual geworden und ihre Kollegen liebten sie – oder viel eher Rain – dafür.

»Wie war die Arbeit?«, fragte Sarah und griff sich eine Frühlingsrolle, in der Hoffnung, dass dadurch auch der letzte Rest Alkohol aufgesogen würde.

»Gut«, brummte Rain und starrte auf den riesigen Flachbildfernseher, auf dem gerade eine Dokumentation über die großen Weltbanken lief.

Sarah hatte den Versuch, beim Abendessen den Fernseher auszuschalten, nach einer kurzen und hitzigen Diskussion aufgegeben. Resigniert hatte sie sich damit abgefunden, dass Rain nach einem harten Arbeitstag etwas Ablenkung brauchte, wie er es nannte, und ließ ihn in Ruhe. Doch heute machte der Alkohol in ihren Adern ihr Mut und sie versuchte, Rain in ein Gespräch zu verwickeln.

»Lisa und ich haben uns überlegt, ob wir die Dekoration bei der Hochzeit in den Farben Silber und Blau gestalten. Blau ist doch schließlich deine Lieblingsfarbe. Wir könnten zum Beispiel blassblaue Rosen verwenden und dann …«, begann Sarah, doch Rain unterbrach sie barsch.

»Wir haben uns doch geeinigt, dass wir einen Hochzeitsplaner beauftragen. Der kümmert sich um all diese nervigen Dinge.«

»Ja, aber ich dachte … also, Lisa und ich haben uns überlegt, dass es ganz nett wäre, wenn wir uns selbst ein paar Gedanken um die Dekoration machen würden. Es ist schließlich unser großer Tag und ich würde mich gerne daran beteiligen … Außerdem kostet ein Hochzeitsplaner ein halbes Vermögen. Wir haben uns einmal schlaugemacht, und man könnte fast die Hälfte der Kosten sparen, wenn …«

Erneut fiel Rain ihr ins Wort, diesmal noch schroffer.

»Nein, Sarah. Wir stellen einen Experten ein. Ich möchte schließlich, dass das Fest perfekt wird. Und wegen des Geldes musst du dir nicht deinen hübschen Kopf zerbrechen. Ich habe doch gesagt, dass ich dafür aufkomme.«

Dann griff Rain nach der Fernbedienung und schaltete lauter. Sein Zeichen, dass das Gespräch beendet war. 

»Okay«, murmelte Sarah und starrte auf den Bildschirm. Ihr war der Hunger vergangen. Sie fühlte sich gekränkt. Rain wollte, dass ihre Hochzeit perfekt würde, und damit hatte er ihr eindeutig zu verstehen gegeben, dass er ihr nicht zutraute, bezüglich der Gestaltung seinen Ansprüchen gerecht zu werden. Sie kämpfte gegen das Brennen in ihrem Hals und wünschte sich, einen Schluck Wein trinken zu können oder etwas von Rains Bier, doch das konnte sie heute vergessen. Er würde sie glatt als Alkoholikerin abstempeln. Also stopfte sie sich noch eine Frühlingsrolle in den Mund und stand auf, um die Teller wegzuräumen – und um ihre Tränen vor Rain zu verbergen.


»Er hat was

Sarah saß zusammen mit Lisa auf der Veranda. »Ich meine, er hat ja schon recht. Ich bin schließlich kein Profi. Ich habe überhaupt nicht die Erfahrung und das nötige Know-how, um so ein Fest zu planen«, verteidigte Sarah ihren Verlobten.

»Ja, aber es geht hier ja nicht um ein superwichtiges Geschäftsessen mit hochnäsigen Lackaffen, sondern es geht um DEINE Hochzeit!«

Lisa war anzusehen, wie wütend sie war. Sie hatte schon des Öfteren gedroht, zu Rain auf die Arbeit zu fahren und ihm den Kopf zu waschen.

Lisa und Sarah kannten sich seit dem Kindergarten. Schon damals hatte Sarah versucht, es all ihren Kindergartenfreunden und Erzieherinnen recht zu machen. Wenn ein Kind weinte, weil es keinen Nachtisch mehr bekommen hatte, dann war Sarah immer diejenige gewesen, die ihren eigenen angeboten hatte. Wenn ein Kind ausgeschlossen wurde, konnte man darauf warten, dass Sarah hinging und es zum Spielen mitnahm. Lisa und Sarah waren schon immer ein sehr seltsames Paar gewesen, denn während sich Sarah sanftmütig und nett gegenüber jedem verhielt, konnte Lisa auch einmal austeilen und wurde von den Erzieherinnen häufig getadelt, wenn sie anderen Kindern verbot, mit ihr zu spielen. Trotzdem waren sie im Alter von fünf Jahren die besten Freundinnen geworden – und es über zwanzig Jahre hinweg geblieben.

»Es geht um UNSERE Hochzeit. Und ich möchte, dass Rain das Fest genießt, ganz egal, wer sich um die Dekoration gekümmert hat«, widersprach Sarah bestimmt. Lisa öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Sarah kam ihr zuvor.

»Nein! Ich will dazu nichts hören. Ich liebe Rain und er liebt mich. Das ist das Einzige, was zählt!«

Mit diesen Worten stand Sarah auf und ging ins Haus. Sie hatten diese Diskussion schon zu oft geführt, und so wichtig ihr Lisa auch war und so sehr sie ihre Meinung schätzte, sie würde sich nicht in ihre Beziehung reinreden lassen. Sie hatte es versucht: Monatelang hatte sie gehofft, dass ihre zwei liebsten Menschen auf Erden Freunde werden könnten, doch diese Hoffnung hatte sie aufgegeben. Lisa und Rain waren schlichtweg zu unterschiedlich. Sie akzeptierten einander und führten Small Talk, darüber hinaus war auf beiden Seiten nichts zu machen.

»Als ob sie wüsste, was oder wer gut für mich ist«, murmelte Sarah wütend und stellte ihre leere Kaffeetasse in die Spüle.

»Ist alles in Ordnung?«

Als sie hinter sich Andrews besorgte Stimme vernahm, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie hatte ihn überhaupt nicht bemerkt.

»Ja, ja, natürlich«, sagte Sarah schnell und atmete tief durch. 

»War meine bezaubernde und manchmal doch etwas ungehobelte Frau etwa gemein zu dir?«

Sarah schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. 

»Wenn doch, dann kannst du mir das ruhig sagen. Ich liebe Lisa zwar, aber das hält mich nicht davon ab, ihr den Kopf zu waschen, sollte sie die süße Sarah verletzt haben.«

Andrew ballte gespielt die Fäuste und hob sie, als wollte er Lisa boxen, während er Sarah gleichzeitig zuzwinkerte.

Sarah entfuhr ein leises Kichern. Andrew und geballte Fäuste – das passte so gut zusammen wie Sarah und High Heels. Andrew konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.

»Nein, es ist wirklich alles gut. Du weißt doch: Manchmal sind Lisa und ich einfach verschiedener Meinung.«

Just in dem Augenblick kam Lisa in die Küche. Sie wirkte zerknirscht.

»Es tut mir leid, Sarah. Ich habe kein Recht, mich in deine Beziehung einzumischen. Aber du kennst mich. Ich mache mir immer Sorgen, dass irgendjemand dich verletzen könnte. Das war schon früher mit Fabian so.«

Fabian war Sarahs erster Freund und damalige große Liebe gewesen – zumindest, wenn man in der siebten Klasse von Liebe sprechen konnte. Dummerweise war er ein Jahr, nachdem sie zusammengekommen waren, mit seinen Eltern umgezogen, und aus dem »Ich werde dich für immer lieben« wurde ein »Ich werde dich nie wiedersehen«.

»Ich weiß. Aber du musst dir keine Sorgen um mich machen. Es ist alles gut.«

»Okay, weil ich dich nämlich arg lieb habe«, sagte Lisa und wischte sich demonstrativ über die Augen.

»Ich dich doch auch, du Esel«, erwiderte Sarah lachend und zog sie in eine Umarmung. Aus den Augenwinkeln bemerkte Sarah, wie Andrew verdutzt auf die beiden kichernden Freundinnen blickte, den Kopf schüttelte und den Raum verließ.

»Die spinnen, die Frauen«, hörte sie ihn noch murmeln und musste unwillkürlich grinsen. Damit hatte er nicht ganz unrecht.