JÜDISCHER ALMANACH

der Leo Baeck Institute

Sex & Crime

Geschichten aus der jüdischen Unterwelt

Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem

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Inhalt

Zu diesem Almanach

Michael Wuliger
Schande fur di Gojim

Schimon Staszewksi
Im Angesicht schwerwiegender Verbrechen – Jüdische Strafgerichtsbarkeit

Alfred Bodenheimer
Der Rabbiner als Ermittlerfigur: Gabriel Kleins komplizierte Doppelfunktion

Robert Rockaway
Jüdisch-amerikanische Gangster als Verteidiger in den dreißiger Jahren

Daniela Segenreich
Die »Kosher Nostra« und die Nachkriegswelt der kleinen Schwindler und ganz normalen Bürger

Tammy Razi
Jugendliche Straftäter, Aufbau der Nation und Kolonialismus während der britischen Mandatszeit in Palästina

Dror Mishani
Warum ist es so schwierig, einen Krimi auf Hebräisch zu schreiben?

Orit Kamir
Die #MeToo-Bewegung in Kollision mit Israels Evolution in Sachen sexuelle Belästigung

Daniel Wildmann
Emotionen, Juden und der Tatort Der Schächter

Yehuda David Shenef
Raubmord am Lech – ein historischer Kriminalfall und sein Echo

Karin Stögner
Von »Geldjuden« und »Huren« – Kritik der antisemitisch-sexistischen Ideologie

Literatur

Irene Stratenwerth
Der »Gelbe Schein«. Am Beispiel Raquel Liberman

Literatur

Laura Jockusch
Verräterin und Femme Fatale? Anmerkungen zum Fall Stella Goldschlag

Literatur

David Biale
Sexuelle Subversionen in der Bibel

Ronit Irshai
Sexualität, Homosexualität und Transgenderismus

Andrew Steiman
Die sexuelle Ordnung der Tora. Ansichten eines Rabbiners

Gerhard Haase-Hindenberg
Sex und Judentum – eine Kausalität! Ein Gespräch mit Ruth Westheimer

Rainer Herrn
Magnus Hirschfeld, Pionier der Sexualwissenschaft

Schriften von Magnus Hirschfeld (Auswahl)

Naomi Rolef
Extreme Gemeinschaftlichkeit – Eis am Stiel als kulturelles Dokument

Oded Heilbronner
Sex, Sadismus und Tod in der israelischen Schundliteratur, am Beispiel der Stalag Fiction

Zu den Autorinnen und Autoren

Bildnachweise

Zu diesem Almanach

Es ist historisch belegt, dass Juden in der Diaspora eine geringere Kriminalitätsrate aufweisen als die Durchschnittsbevölkerung der Länder, in denen sie leben. Erklärt wird das vor allem mit engen Familienbindungen, höheren Bildungsstandards, geringerem Alkoholkonsum und gegenseitiger Hilfsbereitschaft. Dass man sich für die Verbrecher in den eigenen Reihen besonders schämte, hat mit dem antisemitischen Klischee vom kriminellen Juden im Allgemeinen und dem jüdischen Sexualverbrecher im Besonderen zu tun. In dem Eröffnungsbeitrag erklärt Michael Wuliger am Beispiel der beiden Fälle Bernard Madoff und Harvey Weinstein, warum man sich in der Diaspora mit schwarzen Schafen in den eigenen Reihen so schwertut.

Mit der Frage nach dem angemessenen Strafmaß hat man sich im Judentum aber schon lange beschäftigt, das jüdische Rechtssystem blickt immerhin auf eine Geschichte von mehr als 3000 Jahren zurück. Schimon Staszewski gibt einen Einblick in diese uralte Strafgerichtsbarkeit in Tora und Talmud.  

Der amerikanische Autor Harry Kemelman verfasste vor gut fünfzig Jahren sehr erfolgreiche Krimis und schuf dabei den Rabbiner als Ermittlerfigur. Auf seinen Spuren wandelt der deutschsprachige Krimiautor Alfred Bodenheimer, dessen Schauplätze in der heutigen Schweiz liegen. In seinem Essay legt er dar, warum der Rabbiner aus seiner Sicht eine idealtypische Kommissarfigur abgibt: Er fühlt sich von einem Kriminalfall herausgefordert, da er diesen als Symptom einer ethisch aus den Fugen geratenen Gesellschaft wahrnimmt ebenso wie als ein epistemologisches Rätsel.

In Ländern, in denen Juden diskriminiert und verfolgt wurden, unterschieden sich ihre Vergehen zudem von jenen der dominierenden Mehrheitsgesellschaft. So griff eine Gruppe jüdischer amerikanischer Gangster in den 1930ern antisemitische Banden handgreiflich an, um die eigene Gemeinschaft zu schützen. In seinem Beitrag geht Robert Rockaway auf das Dilemma der jüdischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten ein. Man schämte sich für diese Männer und fühlte sich zugleich von ihnen beschützt. Nach 1945 gab es europäische Varianten dieser »Kosher Nostra«. Shoah-Überlebende, die alles verloren hatten, fühlten sich den Behörden, in denen sie ehemalige Nazis vermuten mussten, kaum verbunden. Sie wollten Geld verdienen, handelten auf dem Schwarzmarkt, dachten an die Zukunft ihrer Kinder. Über dieses Nachkriegsmilieu, das sich bevorzugt in Kaffeehäusern traf, schreibt Daniela Segenreich am Beispiel von Wien.

Je mehr sich Juden emanzipierten und am öffentlichen Leben teilhaben durften, desto mehr passten sie sich aber auch in der Art ihrer Gesetzesbrüche an. So sind Gefängnisinsassen in Israel heute vor allem Juden, was wiederum als ein Beweis der Normalisierung ihrer kollektiven Existenz gilt. Israel werde erst ein Staat wie jeder andere sein, formulierte es einst der hebräische Nationaldichter Chaim Bialik, wenn es dort Prostituierte und Diebe gebe. Zuvor, in der britischen Mandatszeit, verfügte Palästina aber bereits über ein eigenes Jugendstrafrecht. Tammy Razi erläutert, wie die britische Regierung unmittelbar nach der Besetzung [Palästinas] 1919 erkannt hatte, dass mit jugendlichen Gesetzesbrechern auf besondere Weise umzugehen war. Unterstützt und vielleicht erst ermöglicht wurde das Engagement der britischen Regierung im Umgang mit jugendlichen Straftätern durch die enge Zusammenarbeit mit jüdischen Amtsträgern in Palästina. Die Befürchtungen der Kolonialmacht und ihr Bestreben, die Einheimischen zu zivilisieren, stießen bei den europäischen Juden, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Palästina niedergelassen hatten, auf ähnliche Sorgen und Wünsche. Zum zionistischen Projekt gehörte es, die nationale Identität ethnisch und kulturell zu den neuen Nachbarn abzugrenzen. Diese Abgrenzung verkörperte sich hauptsächlich im Hinblick auf die Juden orientalischer Abstammung. Sie wurden als Menschen dargestellt, die überwacht und gerettet werden mussten.

Für den israelischen Autor Dror Mishani liegt in dieser Entwicklung auch mit ein Grund, warum es bis heute nur wenige hebräische Kriminalromane gibt. Weil die moderne Literatur lange Zeit integraler Bestandteil des zionistischen Projekts war, sollte sie sich von den populären Formen des Schreibens absetzen. Zudem eigneten sich Polizisten im Land, die oftmals orientalischer Herkunft waren, nicht gut als Heldenfiguren. Mishani hat mittlerweile allerdings großen Erfolg mit seinem Kommissar aus Holon, Avraham Avraham.

Selbstverständlich hat die MeToo-Debatte auch in Israel Diskussionen über den Umgang mit Übergriffigkeit und sexueller Belästigung ausgelöst. Ein entsprechendes Gesetz wurde bereits 1998 verabschiedet und nahm somit eine Vorreiterrolle in der westlichen Welt ein. Die Knesset machte sich damals die feministische Rechtsauffassung von Orit Kamir zu eigen, die hier in ihrem Beitrag zum einen über die stetige Fortentwicklung der israelischen Öffentlichkeit im Hinblick auf relevante Diskurse schreibt, zum anderen aber auch vor Taktiken des Shaming warnt, die ihrer Ansicht nach ebenjene Fortschritte zu unterminieren drohen.

Krimis verhandeln Recht und Gerechtigkeit. Sie diskutieren die Ordnung der Gesellschaft – Verletzungen der Ordnung und ihre Wiederherstellung. Was lässt sich über die gegenwärtige deutsche Gesellschaft erfahren, wenn Juden im »Tatort« zu Verdächtigen erklärt werden? Dieser Frage geht Daniel Wildmann in seinem Beitrag über die Episode »Der Schächter« nach. Er kommt zur Schlussfolgerung, dass der Film nicht nur versucht, kritisch mit Vorstellungen über Juden und mit Antisemitismus umzugehen; sondern dass in ihm selbst Antisemitismus umgeht.

Selten haben Morde an Juden zu ihrer Zeit so viel Interesse hervorgerufen wie im Fall des »Raubmords am Lech« 1862, als der Goldschmied Ludwig Eliezer Bach brutal von einem Bauernjungen umgebracht wurde. Letzterer hatte seine Tat antisemitisch gerechtfertigt, in der Hoffnung auf Strafmilderung. Dem Opfer ist heute ein Goldschmiedebrunnen im Herzen der Stadt Augsburg gewidmet, wenn auch ohne Namen. Über diesen Kriminalfall, dessen Echo bis in die heutige Zeit hineinreicht, schreibt Yehuda David Shenef. Charakteristisch in den gängigen antisemitischen Stereotypen war zu dieser Zeit die Verbindung von Geld und Sexualität. Sie fand ihren Niederschlag in dem »Geldjuden« und der Jüdin als der »sexuellen Frau« und »Hure«. In ihrem Beitrag erläutert Karin Stögner, wie unterschiedliche Formen des Judenhasses immer wieder mit sexistischen Momenten operierten.

Als ein blinder Fleck in der Geschichtsschreibung galt lange Zeit das Schicksal junger Jüdinnen aus Osteuropa, die Ende des 19. Jahrhunderts versuchten, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, sich prostituierten und im Mädchenhandel landeten. Am Beispiel Raquel Libermans erzählt Irene Stratenwerth von den verschlungenen Wegen dieser Frauen.

Das Erscheinen von Takis Würgers Roman Stella Anfang 2019 beschäftigte die deutschen Feuilletons über mehrere Wochen. Kritisiert wurde der leichtfertige Umgang mit der tragischen Lebensgeschichte der Berliner Jüdin Stella Kübler Isaaksohn (geb. Goldschlag), die selbst von den Nationalsozialisten verfolgt, andere Juden an die Gestapo verriet, in dem vergeblichen Versuch, ihre Eltern vor der Deportation nach Auschwitz-Birkenau zu retten. In ihrem Beitrag setzt sich Laura Jokusch mit den Gründen für die allgemeine Faszination hinsichtlich der »schönen blonden, angeblich sadistischen, skrupellosen und machthungrigen jungen Frau« auseinander.

Dieser Almanach, der dem Thema Sex and Crime gewidmet ist, beschäftigt sich aber nicht nur mit Vergehen und Verbrechen. Er versucht auch Antworten zu geben auf die Frage, ob das Judentum die Sexualität befreit oder unterdrückt, wobei man bereits bei der hebräischen Bibel, dem Gründungsdokument der jüdischen Kultur, ansetzen muss. Das führt aber nicht unbedingt zu einheitlichen Ansichten. In seinem Essay legt David Biale dar, welchen widersprüchlichen Leseweisen die Bibel in dieser Hinsicht ausgesetzt ist.

Eine gängige Prämisse auf dem Gebiet der Jüdischen Studien besagt, dass das Judentum der Sexualität positiv gegenüberstehe, betont Ronit Irshai in ihrem anschließenden Beitrag. Dieser widmet sich den »brennenden Themen«, die das jüdische Religionsgesetz und die jüdische Theologie heute verstärkt beschäftigen: Sexualität, Homosexualität und Transgenderismus. Bis Mitte der 1980er Jahre war die Frage »nicht-heteronormativer« Geschlechtsidentitäten im jüdischen Schrifttum kaum aufgegriffen worden.

Stellung zum diesem Thema bezieht anschließend auch der Rabbiner Andrew Steiman. Die Erziehung zum mündigen Bürger sollte aus seiner Sicht eine mündige Sexualität für alle bewirken. Allerdings kann das nicht erreicht werden, wenn Fragen sexueller Vielfalt im Mittelpunkt stehen. Vielmehr soll eine sexuelle Ordnung vermittelt werden, damit jedem Kind bewusst wird, dass es Rechte hat und zu Recht von der Gesellschaft Schutz erwarten und einfordern darf.

Weil Sex in der jüdischen Religion nie eine Sünde war, sagt Ruth Westheimer, hat sie immer frei darüber gesprochen. Im Gespräch mit Gerhard Haase-Hindenberg erzählt die 1928 in Deutschland geborene, weltbekannte Ratgeberin von ihrem Zugang samt aller Rechte und Pflichten, die dazu gehören. Um einen ebenfalls aus Deutschland stammenden Juden geht es im darauffolgenden Beitrag. Rainer Herrn schreibt über das Leben und Werk von Magnus Hirschfeld, Pionier der Sexualwissenschaft.

Ende der 1970er Jahre hat eine synchronisierte Filmreihe aus Israel zur Aufklärung vieler deutscher Jugendlicher beigetragen. Eis am Stiel zeigte freizügige Sexszenen und hatte großen Erfolg. Von den Kritikern, falls überhaupt wahrgenommen, wurde die Serie als schlechte Mutation des israelischen Kinos abgetan. In ihrem Essay »Extreme Gemeinschaftlichkeit« zeigt Naomi Rolef, dass die Reihe vor allem viel über die Epoche ihrer Entstehung aussagt.

Ähnliches könnte man auch über die Stalag-Fiktion im jungen israelischen Staat behaupten. Es handelte sich um eine Schundliteraturgattung mit sadistischen Inhalten, die Sex, Gewalt und Nazismus verquickten. Oded Heilbronner analysiert die Funktion dieser populären Groschenhefte, die letztlich die seinerzeit herrschende Unsicherheit im Umgang mit Nazismus und dem Deutschland nach 1945 widerspiegelten.

Gisela Dachs

Jerusalem/Tel Aviv

Michael Wuliger

Schande fur di Gojim

Als der New Yorker jüdische Anlageberater Bernard Madoff am 11. Dezember 2008 verhaftet wurde, weil er seine Kunden um die Rekordsumme von 65 Milliarden Dollar betrogen hatte, war der erste Reflex unter Amerikas Juden Sorge. Man könnte auch sagen Angst. »Bernard Madoff ist das, was die Antisemiten sich vom Nikolaus gewünscht haben«, fasste Bradley Burston in der israelischen Zeitung Ha'aretz die Stimmung zusammen. Und Abraham Foxman, damals Chef der Anti-Defamation League, nannte die Affäre einen »idealtypischen Fall für Judenhasser«.

Ähnlich die Reaktionen im Oktober 2017, als bekannt wurde, dass Harvey Weinstein, einer der mächtigsten Hollywood-Produzenten, über Jahre und Jahrzehnte zahlreiche Frauen vergewaltigt und sexuell belästigt hatte, unter ihnen Stars wie Gwyneth Paltrow, Salma Hayek, Angelina Jolie und Uma Thurman. Wieder wurde von jüdischer Seite die potenzielle antisemitische Dimension des Falls beschworen. »Harvey Weinsteins Visage ist das jüdische Traumbild eines jeden Antisemiten«, kommentierte Anne Bayefsky, die Direktorin des Touro-Instituts für Holocauststudien auf Fox News: »Fett, hässlich und ungepflegt. Ganz zu schweigen von Gier, Narzissmus und ekliger Völlerei. Kein Hollywood-Maskenbildner hätte es besser hinbekommen können.«

Schwarze Schafe sind jeder ordentlichen Familie peinlich. Lieber schmückt man sich mit angesehener Verwandtschaft. Auch die Hannoveraner nennen als berühmten Bürger ihrer Stadt eher den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz als den Serienkiller und Kannibalen Fritz Haarmann. Im jüdischen Fall aber ist es mehr als bloße Besorgnis vor der Blamage, die den Umgang mit Kriminellen aus den eigenen Reihen so heikel macht. Fast 2000 Jahre als verfolgte Minderheit haben im kollektiven Bewusstsein der Diaspora einen Angstreflex hinterlassen: Um des Überlebens willen alles vermeiden, was dem Antisemitismus einen Vorwand liefern könnte. Und was könnte Judenhassern gelegener kommen als jüdische Kriminelle? Deshalb schwingt, wenn Juden über Figuren wie Madoff oder Weinstein sprechen, oft der Vorwurf mit, dass neben ihren eigentlichen Taten ihr größtes Verbrechen gewesen ist, Schmach über ihr Volk gebracht zu haben. »Schande fur di Gojim«, wie es auf Jiddisch heißt: eine Schande vor den Nichtjuden. Nicht zufällig wohl widmet Oppenheimers und Bin Girions Lexikon des Judentums von 1971 dem Stichwort »Kriminalität« gerade mal eine halbe Seite; für die Musiker sind es elf.

Die Schande ist umso größer, wenn es sich um Taten handelt, die judenfeindlichen Stereotypen entsprechen. Der raffinierte jüdische Gauner und der geile jüdische Mädchenschänder gehören zum Grundrepertoire des Antisemitismus. »Betrug, Wucher, Bankrott, Hehlerei sind typisch jüdische Verbrechen. Unverhältnismäßig hoch ist der Anteil des Judentums an … Unzuchtsdelikten«, heißt es beispielsweise in Der Jude als Verbrecher von J. Keller und Hanns Andersen (1937). Madoff und Weinstein passen perfekt in dieses Zerrbild, zur Freude der Antisemiten und zur Bestürzung der Juden. Deshalb fällt deren Verdammungsurteil möglicherweise so viel härter aus als das über andere Verbrecher aus den eigenen Reihen. Die gab und gibt es zwar zuhauf, vor allem in den USA. Arnold Rothstein baute Anfang des 20. Jahrhunderts mit Wettbetrug und Alkoholschmuggel ein kriminelles Imperium auf; F. Scott Fitzgerald hat ihn in seinem Roman Der große Gatsby als »Meyer Wolfsheim« verewigt. Rothsteins Schüler Meyer Lansky war jahrzehntelang zusammen mit Lucky Luciano der Kopf der organisierten Kriminalität der USA, die praktisch ein jüdisch-sizilianisches Joint Venture war. Benjamin »Bugsy« Siegel verwandelte mit Mafiageld das Wüstenkaff Las Vegas in ein Zockerparadies. Doch die jüdisch-amerikanische Mafia der 1930er-Jahre genießt inzwischen dank Filmen wie Es war einmal in Amerika und Fernsehserien wie Boardwalk Empire so etwas wie nostalgischen Kultstatus.

Möglicherweise spielt dabei mit, dass die »tough jews« der »Kosher Nostra« das Klischee des feigen Juden so augenfällig widerlegen. Mickey Cohen etwa, der Boss der organisierten Kriminalität in Los Angeles (und finanzieller Förderer von Menachem Begins Irgun), hatte seine Karriere als Preisboxer begonnen. Die amerikanisch-jüdischen Mafiosi des 20. Jahrhunderts waren, wie ihre italienischen und irischen Kollegen, Gewaltverbrecher. Sie mordeten und raubten mit der Waffe in der Hand. Anstand kann man diesen Männern absprechen; Mut nicht. Und nicht zuletzt waren sie offen kriminell. Madoff und Weinstein dagegen handelten heimlich und hinterrücks, getarnt hinter der Fassade des angesehenen Zeitgenossen. Ganz wie aus dem Lehrbuch des Antisemitismus. Wobei selbst ihre bürgerlichen Berufe für Judenfeinde schon einen gewissen Hautgout hatten: Anlageberater der eine, Filmproduzent der andere – klassische Strippenzieherrollen.

Paradoxerweise tauchten derartige Assoziationen nach Bekanntwerden der Fälle Madoff und Weinstein öffentlich jedoch kaum auf. Gibt man bei Google die Stichworte »Madoff« beziehungsweise »Weinstein« und »jew« ein, kommen – sieht man von der »lunatic fringe« der Hardcore-Judenhasser wie dem »Black Muslim«-Führer Louis Farrakhan oder dem Ku-Klux-Klan-Häuptling David Duke einmal ab – hauptsächlich jüdische Fundstellen. Nicht neuer Antisemitismus war offenbar die Folge der Skandale, wohl aber die Angst vor ihm, die in zahlreichen Wortmeldungen beschworen wurde. Am weitesten ging dabei Mark Oppenheimer, der in einem halb satirisch gemeinten, aber von vielen so nicht verstandenen Kommentar in dem angesehenen jüdischen Online-Magazin Tablet von der »spezifisch jüdischen Perversität Harvey Weinsteins« schrieb. Weinstein, so Oppenheimer, sei der Realität gewordene Alexander Portnoy aus Philip Roth' Roman, der an nichtjüdischen Frauen seine jüdischen Machtphantasien austobe: »All die Jahre, die er nach unerreichbaren Nichtjüdinnen gelüstete, aber zuvor noch nie die Mittel hatte, sie zu locken.« So denke es wahrscheinlich im Antisemiten, schob Oppenheimer später nach. Weil aber kein realer Judenhasser das so oder ähnlich wirklich gesagt hatte, war der Autor selbst – und sehr gelungen – in die Mentalität eines Antisemiten geschlüpft.

Paranoia? Projektion? Selbsthass? In extremer Form brachte Mark Oppenheimer eine amerikanisch-jüdische Mentalität auf den Punkt. Nirgends auf der Welt und nie zuvor in der Geschichte sind Juden derart in der Mehrheitsgesellschaft angekommen wie in den USA. Amerikas Juden sind das Musterbeispiel einer gelungenen Assimilation. Doch kratzt man am Firnis des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Erfolges, kommen die Urgroßeltern zum Vorschein, die glaubten, dem Ghetto zu entkommen, es aber mit sich über den Atlantik brachten. »Schande fur di Gojim«, dieser unter amerikanischen Juden so geläufige Begriff, kommt aus dem Jiddischen, der Sprache der entrechteten Schtetl-Juden Polens und Russlands. Für sie war das nächste Pogrom nur eine Frage der Zeit. Und ihre Urenkel scheinen, allem Erfolg in der »Goldenen Medine« USA zum Trotz, unterbewusst ihre Existenz als genauso prekär zu empfinden.

Nach allen Statistiken der Kriminologie sind Madoffs und Weinsteins Taten nicht spezifisch jüdisch. Spezifisch jüdisch ist die Angst, sie könnten von den Nichtjuden so gesehen werden. Genauer: Sie ist spezifisch Diaspora-jüdisch. Auch in Israel hat die Tatsache, dass Madoff und Weinstein Juden sind, natürlich für besonderes Interesse an ihren Fällen gesorgt. Die Aufmerksamkeit war allerdings vor allem voyeuristischer Natur. Angstbesetzt, wie in den USA, war sie nicht. Chaim Bialik, der hebräische Nationaldichter, hat lange vor der Gründung des Landes geschrieben, der jüdische Staat werde nur dann ein normales Gemeinwesen sein, wenn es dort auch jüdische Diebe und jüdische Nutten gebe. Mag vieles am zionistischen Projekt nicht so gelaufen sein, wie es die Gründerväter erhofft hatten: Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. In Israel gibt es jüdische Verbrecher, die von jüdischen Polizisten gefasst, von jüdischen Richtern verknackt und von jüdischen Schließern in jüdischen Knästen eingesperrt werden. Von »Schande fur di Gojim« spricht dabei niemand.