Die Autorin

Tijan ist New York Times, USA Today und Wall Street Journal-Bestseller-Autorin und hat bereits unzählige Romane veröffentlicht. Sie liebt Filme und ihren Cockerspaniel. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Minnesota.

Das Buch

Meine Geschichte wird dir das Herz rausreißen und dich zu Tränen rühren. Sie ist nicht sanft und unschuldig, sondern brutal und voller Schmerz.


Um in der Stadt zu überleben, in der ich wohne, gibt es zwei Optionen.


Du kannst zu den Normalos gehören – Cheerleader, Sportler, Mitglied des Debattierteams oder im Jahrbuchkomitee sein.


Oder du bist Crew.


Beleidigst du uns, tun wir dir weh.
Verletzt du uns, zeigen wir dir, was wirkliche Schmerzen sind.
Legst du dich mit uns an, löschen wir dich aus.


Mein Name ist Bren. Ich bin die einzige Frau in der Wolf Crew – der besten, wildesten und gefährlichsten Crew, die es gibt. Und wir haben eine Regel: Man darf sich innerhalb der Crew nicht verlieben.


Tja … zu spät.


Von Tijan sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Crew (Band 1)
Still Crew (Band2)
Crew Love (Band 3)

Tijan

Crew

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Anja Mehrmann

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe bei Forever.
Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
© 2018 by Tijan
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Crew

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Übersetzung: Anja Mehrmann
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-424-4

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Widmung

Für meine Leserinnen.
Für alle, in denen eine kleine Bren steckt.

Kapitel 1


Du sollst dir nicht wünschen, tot zu sein. So was will die Gesellschaft nicht hören. Du sollst weder so fühlen noch so denken. Und wenn, dann soll niemand es merken. Aber hier stand ich und sah zu, wie meine Crew einen Typen krankenhausreif schlug, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als an seiner Stelle zu sein.

Ich weiß, dass das makaber klingt. Aber trotzdem stimmte es. Und es bedeutet etwas anderes, als wenn du die Geschichtsklausur vergeigt hast und scherzhaft sagst: »Oh bitte, erschieß mich!« Oder wenn dein Freund dich sitzen lässt, und du denkst: »Ich glaube, ich muss sterben. Warum zum Teufel tut er mir das an?!«

Nein. Ich meinte die dunkle Art des Sterbenwollens. Sie sitzt hinten in deinem Kopf wie eine kleine Tür, die du aufmachen möchtest, um dahinter zu verschwinden …

An manchen Tagen ließ sich dieses Gefühl kaum unterdrücken, und noch schwerer war es, ihm keine Beachtung zu schenken. In diesem Augenblick gelang mir beides nicht.

»Du fasst meine Schwester nie wieder an«, knurrte Jordan, ehe er den ungefähr vierten Faustschlag landete. »Kapiert, Arschloch?«

Es war, als wäre mein Gesicht mit Blut verschmiert gewesen. Nicht das von dem Typen.

Jordan richtete sich wieder auf und grinste höhnisch auf den Kerl hinab, der zu seinen Füßen lag.

Jordan Pitts. Er war der selbsternannte Anführer unserer Crew. Man beachte: selbsternannt. Das heißt, er hat es eines Tages einfach verkündet. Niemand protestierte, und schon stolzierte er breitbeinig daher und glaubte für unsere gesamte Vierergruppe sprechen zu können. Die Wahrheit ist wohl, dass er genau das tut, aber nur, wenn wir kein Problem mit dem haben, was er sagt.

Unsere Clique ist keine Schwanzdiktatur, egal, ob er das glaubt oder nicht.

Jordan bückte sich – sein ganzes eins achtundachtzig großes Selbst -, griff nach dem Hemd des Kerls und hob ihn hoch. Er schüttelte ihn, knurrte ihm erneut ins Gesicht, aber der Typ konnte nicht antworten. Sein Gesicht war kaputt. Buchstäblich. Entweder Cross oder Jordan hatte ihm so heftig auf die Wange geschlagen, dass sie wie eingedellt aussah. Sein Gesicht war eine einzige Sauerei aus Blut und blauen Flecken.

Ich hätte Mitleid mit ihm gehabt, wären da nicht zwei Dinge gewesen: Er hatte Jordans Schwester zu vergewaltigen versucht. Und als Jordan von ihm verlangte, sich selbst anzuzeigen, hatte er auch noch geflucht, Jordan den Mittelfinger gezeigt und ihm auf die Schuhe gespuckt.

Dieser Typ hatte offenbar keine Ahnung, welchen Ruf Jordan und unsere Crew hatten.

Was durchaus Sinn ergab, denn Mallory Pitts, Jordans Schwester, besuchte seit Kurzem eine neue Privatschule in einer Nachbarstadt, und da war dieser Typ ihr begegnet. Hätte er es gewusst, wäre er ihr aus dem Weg gegangen. Trotz allem verdiente der Knabe ein bisschen Respekt, denn er war ehrlich gewesen. Er hatte Jordan genau gesagt, was er von dem Vorschlag mit der Selbstanzeige hielt. Wenn er stattdessen geheuchelt hätte, wären wir trotzdem hinter ihm her gewesen. Und nachdem er sich geweigert hatte, sich der Polizei zu stellen, war ohnehin klar, dass wir ihn krankenhausreif schlagen würden.

So war meine Crew.

Neben Jordan und mir gab es zwei weitere Mitglieder – Cross Shaw und Zellman Greenly. Ich heiße Bren Monroe, und obwohl ich gerade diese Wutrede ablasse und wir in diesem Augenblick die Bösen zu sein scheinen, ist nicht immer alles so, wie es auf den ersten Blick aussieht.

Jordan schleuderte den Typen wieder auf den Boden, dann beugte er sich über ihn und stieß weitere Drohungen aus.

Cross trat einen Schritt zurück. Ich spürte seinen Blick schon, ehe ich aufsah. Ja, da waren sie. Die haselnussbraunen Augen, die so viele Mädchen liebten. Wir waren wie eine Familie – und nicht die Art von Familie. Aber ich hätte blind sein müssen, um nicht zu kapieren, warum so viele Mädchen an der Roussou High bei seinem Anblick zu sabbern anfingen.

Eins fünfundachtzig. Schlank, aber muskulös. Cross hatte ein kräftiges, kantiges Kinn – manchmal biss er die Zähne zusammen – und ein Gesicht, das fast schöner war als meins. Sogar als Mädchen hätte er fantastisch ausgesehen, eine Tatsache, mit der ich ihn wahnsinnig gern aufzog. Aber Spaß beiseite, die Mädchen liebten Cross. Er musste nur irgendwo auftauchen, und schon standen zehn um ihn herum. Er nickte einfach einer zu, und sie blieb den ganzen Abend an seiner Seite und war normalerweise zu allem bereit, was er von ihr verlangte.

Cross wirkte wie der ruhige, nette Typ … nur dass er weder das eine noch das andere tatsächlich war. Ich meine, er war es, und er war es auch wieder nicht. Meistens schwieg er, aber mit mir redete er. Und er war nett, konnte aber auch tödlich sein. Wenn man ihn reizte, war er unberechenbar. Nicht wie Jordan, der die Leute anmotzte und sie herumschubste. Cross kam einfach auf einen zu, und ein paar Tage später wachte man dann im Krankenhaus wieder auf.

Und obwohl ich Jordan und Zellman liebte, waren sie nicht Cross.

Denn Cross war mein bester Freund, der Typ, in dessen Schrank ich mich in so vielen Nächten verkrochen hatte, wenn ich einen Zufluchtsort vor meiner privaten Hölle namens Zuhause brauchte.

Ich sah ihm in die Augen, als er auf mich zukam. Sein goldblondes Haar und die gebräunte Haut machten ihn zum Albtraum jedes gutaussehenden Jungen. Wann würde er endlich aufwachen und merken, dass er mehr Potenzial hatte als wir alle zusammen? Er könnte nach New York gehen und Model werden oder Schauspieler in Hollywood. Warum er in Roussou blieb, war mir unbegreiflich.

Er war nicht verkorkst wie wir anderen alle. Er war nicht so verkorkst wie ich.

»Du hast wieder diesen Blick«, sagte er und blieb neben mir stehen.

Yeah. Ich wusste, worauf er anspielte, schluckte den Köder aber nicht.

»Okay, Arschloch«, verkündete Jordan. »Wir lassen dich jetzt in Ruhe, und wenn du mit dem Gedanken spielst, einen von uns anzuzeigen, dann denk dran, was wir gegen dich in der Hand haben. Kapiert? Nick mit dem Kopf, du Honk.«

Jordan war der Intellektuelle unter uns. Er war clever.

Der Typ auf dem Boden gab ein gurgelndes Geräusch von sich und schaffte es irgendwie, den Kopf zu bewegen.

Das reichte Jordan, er nickte und sagte: »Gut.« Dann drehte er sich um und kam auf seinen langen Beinen zu uns herüber.

Ich lehnte an der Ladefläche von Jordans Pick-up, und Cross stand noch immer neben mir, als Jordan die Tür auf der Fahrerseite öffnete.

Zellman stand ganz in der Nähe, bereit zum Abmarsch. Das tat er meistens – er versteckte sich hinter Jordan und wartete ab. Da Jordan nun zu uns herüberkam, folgte Zellman ihm. Er setzte sich auf die offene Ladefläche hinter uns.

Ich hörte, wie er die Kühlbox öffnete und Jordan ein Bier zuwarf.

»Bren? Cross?«, rief er.

Cross schüttelte den Kopf.

Ich drehte mich um und musterte die Jungs. »Nein, ich will keins. Danke.«

»Sicher?« Zellman hielt mir ein Bier hin.

»Ja.«

Jordan verdrehte die Augen – seine Reaktion auf vieles, was ich tat. Wir waren immer füreinander da, aber für Jordan hieß das, dass ich machte, was er wollte. Manchmal waren wir unterschiedlicher Meinung, und immer, wenn ich anders handelte als er, glaubte er, dass wir eine Meinungsverschiedenheit hatten.

So funktioniert eine Familie nicht.

Ich beobachtete ihn, nur für einen Moment.

Eines Tages würden wir miteinander kämpfen.

Eines Tages würde es heißen: Ich gegen ihn.

Eines Tages würde seine Missbilligung dazu führen, dass ich durchdrehte, oder er würde sich nicht mehr nur wie ein Idiot benehmen, weil ich nicht tat, was er wollte. Er würde zu weit gehen, und an jenem Tag würde ich ihm auf halbem Weg entgegenkommen.

Ich wusste schon jetzt, wie sich die Grenzen in unserer Clique verschieben würden, wenn es so weit war. Cross würde mir beistehen. Zellman würde wahrscheinlich Jordan unterstützen. Zwei gegen zwei. Obwohl ich das einzige Mädchen in der Crew war – eins von nur zweien im gesamten System -, kam ich sehr gut allein klar, und ich wusste, dass ich es genießen würde, auf Jordan loszugehen. Aber heute war nicht dieser Tag, und ich hoffte, dass er noch lange auf sich warten lassen würde. Tatsächlich hatte ich Jordan so gern wie einen Bruder, obwohl wir nicht blutsverwandt waren.

»Also.« Jordan knallte die Tür so kraftvoll zu, dass sein Pick-up schaukelte, und stützte einen Fuß am Wagen ab. »Was ist der Plan für heute Abend?«

Es war der letzte Abend vor dem Beginn unseres letzten Schuljahres. Sonntagabend. Am Morgen waren die Leute zur Kirche gegangen, und am Abend schlugen wir jemanden zusammen. Irgendwie war das ironisch. Ich war nur zu müde, um mich damit zu beschäftigen.

»Ryerson schmeißt heute Abend eine Party«, meinte Zellman. »Ich finde, wir sollten hingehen.« Seine wirren Locken wippten, während sein Blick zwischen uns hin und her huschte.

»Ach ja?«, sagte Jordan mit leuchtenden Augen.

Zellman nickte. »Ich will da unbedingt hin. Ich glaube, Sunday Barnes hat sich diesen Sommer neue Titten machen lassen«, sagte er grinsend. »Hoffentlich kann ich die höchstpersönlich begutachten.«

Jordan lachte. »Damit käme ich auch klar.« Er legte den Kopf zurück und trank sein Bier aus, dann warf er die Flasche zwischen die Bäume hinter uns. »Bren, Cross, was ist mit euch?«

Cross würde sowieso auf mich warten, also sagte ich: »Mir reicht’s für heute Abend.«

»Keine Party?«

»Ich mache mich auf den Heimweg.«

Jordans Missbilligung schwebte über uns in der Luft, aber niemand sagte ein Wort.

»Ich glaube, ich geh mit euch zu der Party«, fügte Cross einen Augenblick später hinzu.

Zellman stieß die Faust in die Luft. »Yeah, verdammt! Hier, nimm«, sagte er und bot ihm seine halbleere Bierflasche an.

Cross lachte, schüttelte aber den Kopf. »Ich warte lieber auf den guten Schnaps auf der Party. Ryerson hat immer was da.«

»Ja! Genau darum geht es doch.« Zellman trank sein Bier aus und griff in die Kühlbox, um sich ein weiteres zu nehmen. »Jordan?«

»Nein, ich muss noch fahren.« Dann blickte er mich an und fragte: »Nach Hause?«

Ich sah zu der Stelle, wo der Typ noch immer am Boden lag. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

Kopfschüttelnd sagte ich: »Nein, ich glaube, ich gehe zu Fuß. Ich nehme den Weg durch den Wald.«

»Bist du sicher?«

Cross ging um uns herum und schlug Jordan auf die Schulter. »Komm, auf geht‘s. Bren kann selbst auf sich aufpassen.« Er warf mir noch einen Blick zu und umrundete den Pick-up, um auf der Beifahrerseite einzusteigen. Er wusste, dass ich an diesem Tag allein sein wollte. Er wusste es, weil er es spürte. So, wie ich in diesem Augenblick seine Gedanken beinahe hören konnte.

Sie hat immer schon selbst auf sich aufgepasst.

 … und daran wird sich auch nichts ändern, beendete ich den Satz in meinem Kopf.

Cross‘ Feststellung schien die anderen Jungs zu beruhigen, und Jordan ließ den Pick-up an. Er fuhr um mich herum, wirbelte eine Staubwolke auf und sauste den Weg hinunter, auf dem wir gekommen waren. Im Vorbeifahren grüßte er mich mit dem Mittelfinger. Zellman hatte sich neben die Kühlbox auf die Ladefläche gesetzt und hob zum Abschiedsgruß seine Bierflasche.

Ich schüttelte den Kopf, ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte meinen Mund, aber das war die einzige Reaktion, die sie von mir bekamen.

Als sie weg waren, gab es nur noch mich, den blutverschmierten Typ und dieselbe düstere Stille, die ich zuvor schon empfunden hatte.

Manchmal kam sie wie aus dem Nichts und verschlang mich in einem Stück. Manchmal verschwand sie genauso schnell wieder. Bei anderen Gelegenheiten, wie an diesem Abend, hielt sie länger an.

Früher hatte mir die Stille immer Angst gemacht. Jetzt vermisste ich sie, wenn sie nicht da war, aber ich wusste immer, dass sie vorübergehen würde. Sie war wie ein Glühwürmchen, das in die Nacht hinausflog. Wenn das passierte, blieb ich mit dem Gefühl zurück, dass mir etwas durch die Finger geglitten war.

In dieser Nacht blieb das Glühwürmchen. Es wärmte mich.

Kapitel 2


Die Erde knirschte unter meinen Schuhen, als ich auf den Typ zuging. Er war nicht bewusstlos, obwohl er so getan hatte. Ich kam näher, er öffnete ein Auge, und ich sah Panik darin aufflackern. Er versuchte zu entkommen, schaffte es aber nicht. Er war zu schwer verletzt.

Ich setzte mich neben ihn und fischte mein Handy aus der Tasche. »Hör auf damit.« Noch immer versuchte er abzuhauen, fügte sich dabei aber nur neue Verletzungen zu. »Ich tu dir nichts.«

Ein gurgelndes Stöhnen kam aus seinem Mund. »Jeder Versuch zu reden ist sinnlos«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Die Energie kannst du dir sparen.« Ich wedelte ihm mit dem Handy vor der Nase herum. »Wie sind hier mitten im Nirgendwo.«

Genau aus diesem Grund brachte Jordan seine Opfer gern in diesen Teil der Stadt. Es war eine kleine Mauernische auf einem Hügel. Die Straße endete hier oben, und wir waren von lauter Bäumen umgeben.

Der Typ verstummte und musterte mich erneut mit diesem panischen Blick.

»Ich werde jetzt einen Krankenwagen rufen. Ich nenne ihnen deinen Namen, und dann bleibe ich hier bei dir sitzen, bis sie kommen. Wenn du mich anzeigst …« Ich ließ die Drohung zwischen uns in der Luft hängen.

Schuldbewusstsein blitzte in seinen Augen auf. Er wusste, was dann passieren würde.

Ich wählte 911 und setzte mich neben ihn.

Die Szene hätte mich beunruhigen sollen: ein Typ, der sich kaum rühren konnte und neben mir zu verbluten drohte. Die Stille im Wald ringsumher. Die Tatsache, dass er wegen meiner Clique in diesem Zustand war. Aber sie beunruhigte mich nicht.

Jetzt, wo die Jungs weg waren, blieb das Glühwürmchen bei mir und leistete mir Gesellschaft.

Ich schloss die Augen, in mir sah es genauso aus wie draußen.

Ich fühlte mich, als wäre ich eins mit der Dunkelheit.

Nein. Diese Szene beunruhigte mich kein bisschen.

Ich liebte die Stille. Ich hieß sie willkommen, und nichts störte sie, bis die schrillen Sirenen des Krankenwagens die Luft zerrissen.

Ich stieß einen Seufzer aus, denn ich wusste, dass die dunkle Stille jetzt zu Ende gehen würde, und ich blickte von dem Hügel aus auf die Umgebung. Von hier oben konnte ich die Lichter des nahenden Krankenwagens schon sehen, als er noch meilenweit entfernt war.

Ich würde von hier verschwinden müssen. Sie durften mich nicht bei ihm finden, aber vorläufig wartete ich noch ab.

Die Straße wand sich um den Hügel herum. Als der Krankenwagen um die letzte Biegung fuhr, klopfte ich dem Typ auf das Bein. »Okay, ich bin dann mal weg«, sagte ich und musterte ihn kurz, als ich bereits stand. »Du kommst schon wieder in Ordnung.« Ich klopfte mir den Staub von der Jeans. Offenbar war etwas Erde in seinem Auge gelandet, denn er blinzelte mehrmals heftig, während er mich gleichzeitig ununterbrochen anstarrte. Er schien mich bitten zu wollen, bei ihm zu bleiben, aber ich schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht bei dir bleiben. Komm in Zukunft einfach keinem Mädchen mehr blöd, okay?«

Ich wartete noch einen Moment. Der Krankenwagen war fast da. Ich musste jetzt los, dennoch beugte ich mich ein weiteres Mal über ihn. Ich holte mein Messer heraus und hielt es ihm an die Kehle. Er erstarrte.

»Wenn ich noch einmal höre, dass du ein Mädchen gegen ihren Willen angefasst hast …«, ich drückte das Messer an seine Haut, » … komme ich nächstes Mal allein, und dann sorge ich dafür, dass du nicht wieder aufwachst. Kapiert?«

Er blinzelte. Zu mehr war er nicht in der Lage.

Die Scheinwerfer kamen auf uns zu, also trat ich rasch in die Dunkelheit und steckte das Messer wieder in die Tasche.

Als der Krankenwagen hielt, zog ich mich zwischen die Bäume zurück. Die Dunkelheit schluckte mich in dem Moment, in dem ich einen der Sanitäter fluchen hörte.

»Fuck. Wer hat das getan?«

Der andere Sani antwortete nicht, und auch der Typ am Boden schwieg anweisungsgemäß. Während einer der Rettungssanitäter mit ihm zu reden begann und seine Vitalfunktionen kontrollierte, öffnete der andere die Hecktür und zog eine Krankentrage heraus. Wenige Minuten später waren sie verschwunden.

Ich trat zwischen den Bäumen hervor und ging wieder zu der Stelle, an der er gelegen hatte, während der Krankenwagen den Hügel hinunterfuhr. Die Rücklichter verschwanden in der Dunkelheit, und ich war ganz allein.

Es gab mehrere Abkürzungen durch den Wald, aber ich ging mitten auf der Straße. Ich folgte einfach den weißen Strichen.

Kapitel 3


Ich ging an den Motorrädern vorbei, die auf dem Rasen vor der Tür parkten. Ich wusste, dass das Haus nicht abgeschlossen war.

Was ich nicht wusste, war, ob mein Bruder zu Hause war. Es war Sonntagabend, der Abend, an dem er nicht in der Bar arbeiten musste, aber das hieß nicht immer, dass er zu Hause war. Sein Zeitplan war ziemlich chaotisch, er kam und ging zu merkwürdigen Tages- und Nachtzeiten. Meistens fand ich es gut, wenn er weg war, aber nicht, weil er ein mieser Kerl gewesen wäre. Er war nur ein abwesender Kerl; so war es fast mein ganzes Leben lang gewesen.

Ich trat ein und schloss leise die Tür hinter mir. Ich hielt die Luft an, wartete, lauschte. Kein Licht brannte, aber ich roch Rauch, der in einem Windhauch an mir vorbeiwehte. Die Terrassentür stand offen. Ich durchquerte die Küche und blieb an der Spüle stehen. Auf der Terrasse waren sie nicht, aber ich sah, dass in der Feuerstelle etwas brannte, und eine Sekunde später wehte mir mit einem weiteren Lufthauch Heathers Stimme entgegen.

» … kannst du ihr nicht vorwerfen. Sie ist jetzt in der Abschlussklasse.« Die Freundin meines Bruders oder seine On-off-was-zur-Hölle-gerade-dran-war-Kindheitsfreundin-und-Geliebte beugte sich auf ihrem Gartenstuhl vor.

Mein Bruder Channing saß neben ihr und trank einen Schluck Bier, dann sagte er: »Jetzt halt mal die Luft an. Sie müsste längst zu Hause sein, und das weißt du auch.«

Es waren nur die beiden da. Sie redeten über mich. Dennoch ließ ich zu, dass sich die Dunkelheit wieder einschlich. Als ich sie spürte, schob sie alle anderen Gefühle beiseite. Ich empfand so etwas wie Frieden, aber ich wusste, das hatte seinen Preis. Dass die Dunkelheit da war, hatte einen Grund. Ich war keine Idiotin. Ich wusste, dass ich völlig abgewrackt war, aber manchmal konnte ich nichts dagegen tun. Oder ich begrüßte es sogar, wie in diesem Moment. Das Glühwürmchen hatte mich auf dem Heimweg verlassen. Ich liebte es, das Surren seiner Flügelchen wieder neben mir zu hören.

Ich drehte mich um und setzte mich, lehnte den Rücken an das Schränkchen unter der Küchenspüle.

Die Augen geschlossen.

Den Kopf gesenkt.

Hörte ich ihnen zu.

Ein Gartenstuhl quietschte, und eine Flasche stieß klirrend gegen eine andere. Dann das zischende Geräusch, als eine weitere Flasche geöffnet wurde.

»Sie ist meine Schwester, Heather. Du benimmst dich, als sollte ich mir keine Gedanken um sie machen.«

Ein frustrierter Seufzer war zu hören. »Darum geht es doch gar nicht. Ich finde nur, du vergisst, wie wir in dem Alter waren. Wir waren ständig unterwegs. Wir haben unglaublich viel Mist gebaut, verdammt. Du willst, dass deine Schwester sich wie ein normales Mädchen benimmt, aber das geht einfach nicht. Nicht nach allem, was mit ihr passiert ist. Sei realistisch, Channing.«

»Vielen Dank auch«, sagte er kurz angebunden.

»Eure Mom ist gestorben, als sie in der siebten Klasse war, und euer Dad sitzt im Gefängnis. Vor ein paar Jahren ist Max gestorben. Gib ihr etwas mehr Zeit.«

»Das ist schon zwei Jahre her.«

»Sie hat ihre Eltern und ihren Halbbruder verloren, und sie musste aus dem Haus ausziehen, in dem sie aufgewachsen ist.«

»Die verdammte Bank. Ich habe angeboten, den Rest der Hypothek zu zahlen. Aber dieses Arschloch von Berater war stur wie ein Esel.«

»Channing«, sagte sie besänftigend. »Es ist nicht deine Schuld.«

»Doch.« Glas zersprang. »Ich hätte mich mehr um sie kümmern müssen, wenigstens das.«

Bei Gesprächen dieser Art hatte ich sie schon oft belauscht. Mein Bruder machte sich selbst verantwortlich – wofür, wusste ich nicht. Ich konnte ihm seine Abwesenheit nicht vorwerfen. Verdammt, meistens beneidete ich ihn darum. Ich wünschte, auch ich hätte einfach verschwinden können, wie er es als Heranwachsender getan hatte. Den Großteil der Zeit ab der achten Klasse bis zum Kauf eines eigenen Hauses hatte er auf den Sofas anderer Leute verbracht. Das hätte ich auch getan, wenn ich gekonnt hätte. Ich war nur zu jung dazu gewesen.

Heather versuchte ihn halbherzig zu trösten, aber auch sie war frustriert, wie immer. Ich hörte es an ihrer Stimme. Eigentlich zeigte sich ihr Frust überall, sogar in der Art, wie sie durchs Haus lief. An manchen Tagen wünschte ich mir, sie würde bei ihm einziehen, aber ein Teil von mir fürchtete sich vor dem Tag, an dem das passieren würde – denn wenn es dazu kam, würde noch etwas anderes passieren. Ich wusste nicht, was, aber ich spürte es genau. Ich trug es in meinen Eingeweiden mit mir herum.

Darum war die Beziehung zwischen Heather und mir eine halbe Sache. Wir waren halb befreundet. Und halb waren wir es nicht. Wir waren halb anwesend, halb abwesend. Halb gehetzt, halb lebendig. Oder nein … vielleicht galt das nur für mich? Aber Heather wandte manchmal den Blick ab, wenn wir miteinander sprachen, und vor allem vermied sie es, überhaupt mit mir zu reden. Dann wieder sah sie mir ins Gesicht, und ihre Augen strahlten vor wilder Entschlossenheit. Ich wusste nie, welche Heather ich bekommen würde, aber ich wusste, dass es nicht um sie oder mich ging. Es ging um ihre Beziehung zu Channing. Das verstand ich. Wirklich. Ich empfand sogar so etwas wie Mitgefühl für sie.

Obwohl ich Gefühle sonst möglichst vermied.

Heather war nett. Sie liebte meinen Bruder, aber ich stand zwischen ihnen. Wegen mir konnten sie keine normale Beziehung führen.

Einem Teil von mir tat dieser Gedanke weh. Wer war ich, dass ich ihnen im Weg stand? Aber das brachte mich wieder zu den Gesprächen zurück, die sie ständig führten:

Ich war nicht zu Hause.

Channing schimpfte.

Heather beruhigte ihn.

Und wenn ich sie belauschte, fragte ich mich immer: Warum ließen sie mich nicht einfach in Ruhe? Warum versuchte mein Bruder ständig, den großartigen Ersatzvater zu spielen? Diese Rolle passte nicht zu ihm.

Er war eine Legende.

Er war ein Kämpfer.

Er war der Anführer einer Crew.

Das Häusliche stand ihm nicht. In dieser Hinsicht war ich Heathers Meinung.

Er war nicht dagewesen, als es nur Dad und mich gab. Unser Halbbruder war auch nie bei uns gewesen, fast nie. Den Großteil seines Lebens hatte er bei seiner Mutter verbracht. Auf der Highschool hatte Channing seine eigene Crew ins Leben gerufen – auf diese Weise war das System überhaupt entstanden. Und als er die Schule abschloss, fing er sofort zu arbeiten an. Zwei Jahre zuvor hatte er die Bar meines Dads übernommen und sie besser geführt als er. Er holte unseren Cousin ins Team, und sie machten den Laden zu einem Erfolg. Und immer war er bei den Kämpfen dabei gewesen, wenn etwas passiert war. Er sprach davon, sich zurückzuziehen, aber ich war mir nie sicher, ob er sich das wirklich wünschte, so, wie er sich wünschte, erwachsen zu werden. Oder wünschte er sich, er hätte keine Schwester im Teenageralter, um die er sich kümmern musste? Vielleicht wollte er auch sein eigenes Leben zurückhaben.

Ungefähr so war das.

Vielleicht waren die Kämpfe seine Art, mit all dem fertigzuwerden? Auch das wusste ich nicht genau.

Schließlich hatten er und mein Dad sich nie nahegestanden.

Channing war wie unsere Mom, und als sie starb, war es, als ginge er mit ihr. Er verließ die Familie. Ich meine, ich habe ihn manchmal in der Stadt oder auf einer Party gesehen – bis er mich entweder selbst rauswarf oder meine Jungs und mich rauswerfen ließ. Er sagte, wir seien alle viel zu jung.

Jordan war erleichtert, als Channing aufhörte, dieselben Partys zu besuchen wie wir, und wir hatten gelernt, ihm bei größeren Festen aus dem Weg zu gehen. Die Szene in Roussou war anders als in anderen Städten. Die Leute gingen nicht weg. Und wenn sie es taten, waren sie nicht im System, und diese Leute – die Normalos – existierten für uns eigentlich gar nicht. Im System der Crews sind wir allesamt Teil einer großen, abgefuckten Familie, in der das Alter keine Rolle spielt.

»Ich hole mir noch was zu trinken.« Heathers Stuhl quietschte. »Willst du noch ein Bier?«

Das war mein Stichwort.

Ich stand auf und schlich über den Flur in mein Zimmer, gerade als die Terrassentür sich öffnete. Dann ging der Kühlschrank auf und erleuchtete Küche und Esszimmer.

Ich schnappte mir meinen Rucksack und trat wieder in den Flur. Ich zögerte, hörte, wie Heather ein paar Flaschen öffnete und etwas in ein Glas goss. Ich roch Rum. Flaschen klirrten, und die Kühlschranktür schloss sich wieder.

Erneut war das Innere des Hauses in Dunkelheit getaucht.

Die Fliegengittertür öffnete sich und fiel wieder zu.

Als ich ihre Schritte auf der Terrasse und hinunter zum Garten hörte, schlüpfte ich bereits zur Haustür hinaus.

Kapitel 4


Ich schlug die Augen auf, weil ich knirschende Schritte im Gras hörte.

Als ich aufblickte, ragte Cross über mir auf, aber er blickte mich nicht an. Er betrachtete den Grund meiner Anwesenheit hier draußen. Seufzend nahm er neben mir Platz. »Warum wusste ich, dass du heute Abend hier bist?«

»Du hast mein Handy geortet?« Ich setzte mich auf und grinste ihn an.

Leise lachend griff er nach der Whiskeyflasche in meiner Hand. Ich hatte den Verschluss bereits aufgedreht. Er trank einen Schluck und sog hörbar die Luft durch die Zähne ein. »Fuck«, sagte er und gab mir die Flasche zurück. »Warum trinkst du dieses Zeug?«

Mit einem selbstgefälligen Grinsen trank ich ebenfalls einen Schluck. Im Gegensatz zu ihm genoss ich das Brennen in der Kehle. »Warum trinkst du es?«

»Weil du es tust.« Er sagte das, als sei es das Normalste auf der Welt.

Ich lachte und trank noch einen Schluck, dann richtete ich mich auf. Unter uns, am Fuß des Hügels auf der anderen Seite der Straße, lag mein altes Zuhause. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber es war schon dunkel, und im Haus hatte sich nichts geregt, seit ich diesen Ort erreicht hatte. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.

Ich kannte die Menschen nicht, die dort lebten. Sie waren neu in Roussou, aber ich wusste, dass es sich um ein junges Paar um die Dreißig handelte, und sie waren in mein Zuhause gezogen, nachdem die Bank es weiterverkauft hatte. Sie hatten kleine Kinder, auf dem Rasen vor dem Haus lagen Spielzeuge. Ich wollte hingehen und die Sachen wegräumen, sie in die Spielzeugkiste auf der Veranda legen, aber das war keine gute Idee. Von wegen Stalking. Das war eine Grenze, die ich nicht übertreten durfte, jedenfalls jetzt noch nicht. Vorläufig kam ich nur her, um mein altes Zuhause zu betrachten.

»Wie war die Party?«, fragte ich.

Cross zuckte mit den Schultern, schlang die Arme um die Knie und faltete die Hände. »Ganz okay«, sagte er mit einem halben Grinsen. »Ich hätte lieber hier rumgehangen und mir dein altes Haus angesehen.«

»Das ist totaler Bullshit, und das weißt du auch.« Ich reichte ihm den Whiskey.

»Habt ihr euch wieder getrennt, du und Monica?« Sie war seine On-off-Freundin, aber ich wusste, dass die beiden seit Freitag wieder zusammen waren. Es schien, als hätten sie sich an diesem Abend erneut getrennt, gerade rechtzeitig, ehe am nächsten Tag die Schule wieder losging. Diese Beziehung war sowieso total einseitig. Cross neigte dazu, mit jeder zu schlafen, auf die er Lust hatte, obwohl nur wenige Mädchen über die Zeit sprachen, die sie mit ihm verbracht hatten. Cross legte Wert auf Verschwiegenheit, und ich war eine der wenigen Personen, die in seine unbekümmerte Rumhurerei eingeweiht waren. Monica war die andere. Cross hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sich einen anderen suchen musste, wenn sie eine exklusive, feste Beziehung haben wollte.

Warum ich so viel über Cross‘ Sexleben wusste, war mir schleierhaft. Eigentlich redeten wir nie darüber.

Erneut zuckte er mit den Schultern, griff nach der Whiskeyflasche und trank noch einen Schluck. Wieder atmete er zischend ein und gab mir gleich darauf die Flasche zurück.

Ich nahm sie und legte den Kopf in den Nacken, um einen großen Schluck zu trinken.

Gottverdammt.

Das Brennen war noch da. Gut. Es war nicht schwächer geworden.

»Bren.«

Ich spannte mich an, denn ich hörte den fragenden Unterton in Cross‘ Stimme. Ich hörte auch den Widerwillen. Keiner von uns wollte an den Ort gehen, an den er uns mit seiner nächsten Frage führen würde.

»Warum kommst du dauernd hierher?«

Ich war nicht dauernd hier. Nur ungefähr in zwei von sieben Nächten. Ich starrte auf die Whiskeyflasche und sagte: »Du weißt, warum.«

»Nein, weiß ich nicht.« Er drehte sich zu mir und musterte mich durchdringend.

Ich fand es schrecklich, wenn er das tat. Es war, als stürzte ein Teil meiner Mauer ein, und er könnte direkt in mein Inneres sehen.

Diesmal trank ich zwei Schlucke Whiskey. »Ich weiß es nicht.«

Aber ich wusste es sehr wohl. Ich kam hierher, um nach ihr Ausschau zu halten, um zu sehen, ob sie durch dieses Haus lief. Ich wollte einen Blick auf sie erhaschen, obwohl ich wusste, dass sie tot war, obwohl ich wusste, dass ich nach einem Geist Ausschau hielt. Ich kam trotzdem her.

Ich wollte sie ein letztes Mal sehen.

»Du sollst mich nicht anlügen.«

Ich hörte die Enttäuschung in seiner Stimme und atmete durch. Ich ließ die Luft durch meine Lunge kreisen und wieder entweichen. Ein tiefer Atemzug. Dann murmelte ich: »Du weißt, warum ich hier bin.«

»Wegen deiner Mom?«

Ich runzelte die Stirn. Warum musste er es unbedingt aussprechen? Ich wollte es nicht hören. Ich wollte es nur fühlen.

Ich nickte.

»Dachte ich mir.« Erneut nahm er mir den Whiskey ab, trank und gab ihn mir zurück. »Ich wollte, dass du es aussprichst. Nur ein Mal.«

Meine Kehle brannte, aber nicht vom Alkohol. Ich wischte mir die Augenwinkel. »Die Party war also stinklangweilig?«

»Ja.«

Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen. »Na, wer ist hier der Lügner?«

Er lachte und griff ein weiteres Mal nach der Flasche. »Ja. Kann schon sein. Aber ich wäre trotzdem lieber bei dir gewesen.«

Ich nickte.

Ich freute mich.