Die Autorin

Alexandra Zöbeli – Foto © Carole Fleischmann und Alexandra Zöbeli

Alexandra Zöbeli lebt gemeinsam mit ihrem Mann im Zürcher Oberland in der Schweiz. Sie bekennt sich selbst als Britoholikerin — verrückt nach allem, was von der Insel kommt. Für Alex gibt es kaum etwas Schöneres, als die verschiedenen Ecken Großbritanniens zu entdecken und sich dabei vorzustellen, welche Geschichte sich an Ort und Stelle gerade abspielen könnte. Seit sie das Schreiben für sich entdeckt hat, leidet zwar der Haushalt, aber zumindest hat ihr Kopfkino endlich ein Ventil erhalten. Unter der Aufsicht ihres Katers Noah, der mit Vorliebe neben Alex' Laptop schläft, sind bisher sechs Romane entstanden.

Das Buch

Autorin Caitlin ist eigentlich recht zufrieden mit ihrem Leben in Glasgow: Ihre Krimis sind erfolgreich, ihre Agentin ist ihre beste Freundin und ihre Wohnung ihr ruhiger Schaffensort. Wäre da nur nicht ihr schreckliches Lampenfieber. Bei einer Lesung geht alles schief und am nächsten Tag findet sich Caitlin komplett verkatert in einem Hotelzimmer wieder mit einer Notiz eines rettenden Helfers, der sie fürsorglicherweise dorthin verfrachtet hatte. Als kurz darauf auch noch ihre nervige Schwester bei ihr einzieht, ist Caitlins ruhiges Schriftstellerinnenleben endgültig vorbei. Kurzerhand flüchtet sie aus der Stadt auf eine abgelegene Farm am Fuße der walisischen Black Mountains um endlich zu schreiben. Bereits in der ersten Nacht in der Abgeschiedenheit wähnt Caitlin einen Einbrecher auf dem Grundstück, der sich jedoch nicht nur als der charmante wie gutaussehende Tierarzt Ben herausstellt, sondern auch als ihr Retter in der Not in Glasgow. Fast scheint es Schicksal, dass die beiden sich hier wiedertreffen sollten…

Von Alexandra Zöbeli sind bei Forever erschienen:
Ein Bett in Cornwall
Ein Ticket nach Schottland
Die Rosen von Abbotswood Castle
Der Himmel über den Black Mountains
Der Pub der guten Hoffnung
Die Sterne über den Black Mountains

Alexandra Zöbeli

Die Sterne über den Black Mountains

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat/ Carole Fleischmann
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-481-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

1. Kapitel


»Warum habe ich mich bloß dazu überreden lassen?!«, schimpfte Caitlin in leiser Verzweiflung, während sie eine Beruhigungstablette aus dem Blister drückte. Bereits die zweite heute, aber es war weniger als eine Stunde bis zu ihrer allerersten Lesung, und ihre Nerven lagen blank. Schon der Gedanke daran, vor Publikum zu stehen, zu lesen und Fragen zu beantworten, ließ ihr den kalten Schweiß ausbrechen. Aber ihre Agentin und gleichzeitig beste Freundin Rachel löcherte sie schon seit einer Ewigkeit, endlich ihre Angst zu überwinden und den Leuten das zu geben, was sie wollten. »Die fressen dich schon nicht«, hatte Rachel an diesem verflixten Abend im Drum and Monkey geschmunzelt. Sie hatten sich, wie so oft, in ihrem Lieblingspub verabredet. »Die wollen dich nur kennenlernen, und du musst auch nichts weiter tun als aus deinem neuesten Buch vorzulesen. Das kann doch nicht so schwer sein.«

»Wenn ich vor Publikum sprechen wollte, wäre ich Schauspielerin oder Pfarrerin geworden. Ich will aber nur schreiben. Warum versteht das keiner?«

»Weil es zum Job einer Autorin nun mal dazugehört. Du kannst die Öffentlichkeitsarbeit nicht einfach links liegen lassen.«

»Das tue ich doch gar nicht«, hatte sich Caitlin etwas eingeschnappt gewehrt.

»Öffentlichkeitsarbeit bedeutet nicht nur die Mails der Fans beantworten, Caitie. Die Leute wollen deine Stimme hören, dich sehen …«

»Wenn du jetzt noch sagst, dich anfassen, schreie ich.«

Lachend hatte sich Rachel von ihrem gemütlichen Ledersessel erhoben, um eine Runde Weißwein beim Barkeeper zu bestellen. Wie immer war der Pub ziemlich voll gewesen, aber da die Tische nicht zu dicht beieinanderstanden, konnte man sich dennoch gut unterhalten, ohne sich anschreien zu müssen. Das dunkle Holz des Tresens war so blitzblank poliert, dass es mit den schwarzen Marmorsäulen um die Wette funkelte. Ihnen gefiel die Atmosphäre in diesem alten ehemaligen Bankgebäude, das einem das Gefühl gab, in eine andere Epoche einzutauchen, sobald man durch die Eingangstüre trat. Auf den bequemen Ledersesseln hatten die beiden Frauen sich schon viele Geheimnisse anvertraut, auf Erfolge angestoßen oder sich auch mal Trost gespendet. Die großen romantischen Leuchter an der Stuckdecke verbreiteten ein angenehmes warmes Licht, und es hätte ein wunderbarer Freundinnenabend werden können, hätte Rachel nicht dieses leidige Thema zur Sprache gebracht. Sie hatte den ganzen Abend auf Caitlin eingeredet. »Es ist doch nur eine einzige Lesung hier in deiner Heimatstadt. Du bist Glasgow etwas schuldig.«

»Bin ich nicht! Ich wüsste nicht, was Glasgow je für mich getan hätte.«

»Okay, okay, ich sehe schon, auf dein Heimatgefühl kann ich nicht zählen. Aber dann tu’s für mich. Bitte, Caitie.«

Caitlin hatte gezögerte. »Ich kann das wirklich nicht …«

»Du hast es doch noch gar nie ausprobiert. Versuche es wenigstens ein einziges Mal.«

Nach zwei Gläsern Weißwein hatte Caitlin schließlich widerwillig zugestimmt. »Aber das ist wirklich eine Ausnahme, die ich nur für dich mache, und bitte achte darauf, dass es nur eine klitzekleine Lesung sein wird, ja?«

Rachel hatte gejubelt, was die Leute an den Nebentischen sich verwundert nach ihnen umdrehen ließ. Das war mittlerweile einen Monat und fünf Sitzungen bei einer Psychiaterin später. Die Psychiaterin hatte Caitlin von Anfang an gesagt, dass die kurze Zeit nicht ausreichen würde, ihre Ängste zu besiegen, aber dass sie ihr zumindest Unterstützung in Form von Tabletten anbieten könnte. Tja, und nun saß sie da und ließ Temesta unter ihrer Zunge vergehen in der Hoffnung, die lähmende Angst vertreiben zu können. Nur noch eine Viertelstunde, dann sollte sie sich auf den Weg machen. Ihr Magen grummelte und meldete, dass sie den ganzen Tag aus Nervosität kaum was zu sich genommen hatte. Sollte sie jetzt noch etwas essen? Es wäre zu peinlich, wenn sie am Lesepult säße und ihr Magen plötzlich so laut knurrte, dass die Zuhörer es über das Mikrofon hören könnten. Caitlin verließ das Badezimmer und ging in die moderne Küche ihres Apartments. Ihre Wohnung war ein echter Glückstreffer gewesen, und sie fühlte sich wohl in dem Mix aus Moderne und Geschichte. Seit gut fünf Jahren wohnte sie nun schon im West End District von Glasgow, ein sehr beliebtes Wohngebiet, das an den Botanischen Garten angrenzte. Bereits das altehrwürdige Treppenhaus hatte Caitlin bei der Besichtigung beeindruckt. Es gab darin schon einen Aufzug, aber den nahm Caitlin nur, wenn sie schwere Einkaufstaschen trug. Ansonsten bevorzugte sie die steinerne Treppe, die sie an hübsch verzierten Glasfenstern und einer antiken hölzernen Wandverkleidung vorbeiführte. Auch im Korridor ihres Apartments setzten sich die Wandpaneele fort. Von da aus gelangte man in ein lichtdurchflutetes Wohnzimmer, das über zwei riesige Erkerfenster verfügte, in die Caitlin gemütliche weiße Sofas gestellt hatte, damit man den Ausblick in den Park genießen konnte. Auf dem dunklen Holzboden lagen elfenbeinfarbene flauschige Teppiche, in die Caitlin gerne ihre nackten Zehen grub. In der Küche waren die Möbel winterweiß gehalten. Nur der Herd, der Kühlschrank und die Küchenabdeckung funkelten in gebürstetem Edelstahl. Aber was nützte einem ein glänzender Kühlschrank, wenn er leer war? Eigentlich hatte sie heute einkaufen gehen wollen, doch sie war so in ihrer Angst gefangen, dass sie es nicht geschafft hatte, an irgendetwas anderes zu denken als an ihre bevorstehende Hinrichtung: die Lesung. Um etwas vom Italiener zu bestellen, war es jetzt auch zu spät. Seufzend schloss Caitlin die Tür des unergiebigen Kühlschranks und beschloss, sich stattdessen noch einen Tee zu kochen. Langsam fühlte sie, wie die Wirkung des Medikaments einsetzte. Ihr Herz raste nicht mehr so sehr, und auch das Zittern ihrer Hände ließ etwas nach. Vielleicht bekam sie es ja doch noch in den Griff, bevor sie losmusste. Sie öffnete den Schrank neben dem Herd und griff nach der Packung Earl Grey, da fiel ihr Blick auf die Kekstüte daneben. Ihre Rettung! Sie hatte völlig vergessen, dass ihre Schwester ihr vor ein paar Tagen die Kekse vorbeigebracht hatte, bevor sie weiter auf eine Party wollte. »Meine ersten Backversuche«, hatte Kendra stolz verkündet und ihr gleichzeitig zugezwinkert. »Genieße es, Schwesterchen.«

Na, mal sehen, ob die Kekse essbar waren. Denn Kendra war alles andere als häuslich. Sie war eine Partymaus, die selten vor dem Morgengrauen nach Hause kam. Obwohl sie bereits zweiunddreißig Jahre alt war, lebte Kendra immer noch bei ihren Eltern. Zwar hatte sie ein paar Ausbildungen angefangen, aber alle wieder abgebrochen. Caitlin staunte über ihre Eltern, die das mitmachten und ihrer Schwester nach wie vor ein Dach über dem Kopf wie auch finanzielle Sicherheit boten. »Ach, sie wird bestimmt bald einen Ehemann finden«, hatte ihre Mutter gemeint, als Caitlin sie mal darauf angesprochen hatte. Ihre Eltern waren wohlhabend und lebten in einer großzügigen Villa etwas außerhalb von Glasgow. Trotzdem wäre es Caitlin nie in den Sinn gekommen, sich von ihnen aushalten zu lassen. Natürlich war es für sie auch ein Glücksfall gewesen, dass sie für ihre Bücher einen Verlag gefunden hatte und sie sich ihren Lebensunterhalt mit einer Arbeit verdienen konnte, die ihr richtig Spaß machte. Es gab für Caitlin nichts Schöneres, als sich eine Geschichte auszudenken und sich auf ihre Protagonisten einzulassen. Für sie war es, als schlüpfte sie dadurch für eine Weile in eine andere Rolle. Sie konnte dann viel mutiger sein als im wirklichen Leben. Denn auch wenn es in ihren Geschichten meistens ganz schön gruselig zuging, siegten am Ende die Guten immer. Das musste sie allein schon für ihr eigenes Seelenheil so halten. Ein ungelöster Mordfall würde sie ansonsten nachts nicht schlafen lassen.

Caitlin legte den Kopf schief und betrachtete die Kekse etwas genauer. Eigentlich sahen sie ganz appetitlich aus. Auf der Verpackung war ein selbst gebasteltes Etikett angebracht, auf dem in zierlicher Handschrift Happy Cookies stand, verziert mit bunten Blümchen und Marienkäfern. Das war so typisch für Kendra, schmunzelte Caitlin und löste das Schnürchen der Cellophantüte. Mit spitzen Fingern klaubte sie sich einen Keks heraus und steckte ihn in den Mund. Etwas trocken, aber durchaus schmackhaft. Allenfalls ein wenig zu viel Zucker, aber das war im Moment genau das, was sie brauchte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie noch etwa fünf Minuten Zeit hatte, und so setzte sie sich mit der Tüte auf das ausladende Sofa vor dem Eckfenster. Zwei weitere Kekse verschwanden in ihrem Mund, während sie zuschaute, wie draußen die Menschen den ersten wärmeren Abend in diesem Frühjahr im Freien genossen. Vielleicht konnte sie nach der Lesung auch noch einen Spaziergang durch den Kelvingrove Park machen, um das Adrenalin wieder etwas abzubauen. Die Lesung! Jetzt musste sie sich langsam doch beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollte. Rasch putzte sie sich die Zähne, warf einen letzten kritischen Blick auf ihre dunkelbraune wilde Mähne, die sie doch nie zu bändigen vermochte, bevor sie nach ihrer schwarzen Jacke griff, die sie über den ebenfalls schwarzen Rollkragenpulli zog. Sie hatte heute ein Outfit gewählt, das zu ihren düsteren Krimis und Thrillern passte. Rachel hatte sie beraten und gemeint, dass das Publikum eine bestimmte Erwartung an eine Krimiautorin hätte. Da könne sie nicht wie sonst in ihren weiten romantischen grünen oder altrosafarbenen Kleidern auftauchen. »Die wollen nicht die Blümchenfee treffen, sondern die knallharte Detektivin, die vor keiner Leiche zurückschreckt.«

Caitlin seufzte ein letztes Mal und stellte sich dann ihrem Schicksal. Da der Botanische Garten noch geöffnet war, nutzte sie ihn als Abkürzung. Sie hatte sich bewusst dazu entschieden, den Weg zu Fuß zurückzulegen, in der Hoffnung, ihre vor Angst angespannten Muskeln etwas zu lockern und sich weiter zu beruhigen. Im Garten tummelten sich noch immer Besucher, die Caitlin aber gar nicht richtig wahrnahm. Zielstrebig ging sie weiter den asphaltierten Weg entlang, vorbei an den viktorianischen Gewächshäusern und den zahlreichen Parkbänken, auf denen sie sonst auch immer gerne saß und die Menschen beobachtete. Schon oft hatte sie dadurch Ideen für ihre Figuren erhalten, aber heute blieb keine Zeit dazu. Als sie schließlich vor der Mitchell Library stand und den Aushang für die heutige Lesung mit ihrem Foto sah, zog sich ihr Magen gleich wieder nervös zusammen. Einen kurzen Augenblick dachte sie darüber nach, kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen. Aber als ob sie es geahnt hätte, tauchte Rachel hinter ihr auf.

»Hallo, meine Schöne!«, begrüßte ihre Freundin sie und schloss sie in eine parfümierte Umarmung. Wie üblich sah Rachel wie aus dem Ei gepellt aus. Ihre honigblonde Frisur saß beneidenswert perfekt. Nicht ein Haar wagte es, aus der Reihe zu tanzen. Sie trug einen schicken grauen Blazer zu einer weißen Bluse und engen Bluejeans. Nicht zu aufgetakelt, aber doch businesslike. Ihre stahlblauen Augen musterten Caitlin aufmerksam. »Du siehst super aus«, meinte sie, zufrieden mit dem Ergebnis. »Die werden dich lieben, du wirst schon sehen. Komm, lass uns reingehen.«

Caitlin folgte Rachel in das prunkvolle Gebäude. In der großen Halle kam gleich der Veranstaltungsleiter auf sie zu, der sich ihnen als Arthur Fairchild vorstellte. »Es ist uns eine Ehre, Miss Cunningham, dass Sie Ihre erste Lesung bei uns abhalten. Ich habe alle Ihre Werke gelesen, und bei Blutige Disteln konnte selbst ich nachts kaum mehr ein Auge zutun. Wirklich gruselig.«

Caitlin zwang sich zu einem Lächeln, das vermutlich etwas gequält aussah. »Danke, es freut mich, dass Ihnen meine Bücher gefallen.«

»Folgen Sie mir, dann zeige ich Ihnen den Saal. Sollte etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit sein, können wir es selbstverständlich noch ändern.« Die beiden Frauen gingen hinter dem geschniegelten älteren Herrn her. Über verschiedene Treppen und Gänge landeten sie schließlich in einem riesigen Raum mit hoher stuckverzierter Decke. Allein die Anzahl der aufgestellten Stühle ließ Caitlins Herz so rasant klopfen, als wollte es davongaloppieren. Doch es war eingesperrt in einen plötzlich viel zu engen Brustkorb und konnte nicht entfliehen, genau wie Caitlin dieser Situation nicht entkommen konnte. »Ich habe gesagt, eine kleine Lesung, Rachel«, zischte sie ihrer Freundin zu.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Mr Fairchild mit einem freundlichen Lächeln.

»Nein, nein, alles wunderbar«, beschwichtigte Rachel in munterem Ton.

»Wir haben hier für Sie einen Tisch mit Mikrofon hingestellt. Wasser wird selbstverständlich noch folgen, oder hätten Sie einen anderen Wunsch?«

»Eine Trennwand zum Publikum«, scherzte Caitlin nervös, was Mr Fairchild auflachen ließ.

»Ich sehe schon, Sie können etwas Sekt für die Nerven vertragen. Kommen Sie, wir haben im angrenzenden Raum für Sie ein Refugium eingerichtet, wo Sie noch etwas für sich sein können, bevor es losgeht. Da wartet auch schon ein Gläschen auf Sie und Ihre Agentin.«

Als er Caitlin und Rachel je ein gut gefülltes Glas in die Hände gedrückt hatte, entschuldigte er sich, weil die Besucher der Lesung in Empfang genommen werden wollten.

»Ich bin ganz zittrig«, beklagte sich Caitlin. »Das kann niemals gut gehen.«

»Ach, komm, das sind nur deine Nerven. Trink einen Schluck, das hilft bestimmt.«

Rachels Handy klingelte. »Hey, Liebling«, meldete sie sich. Demnach musste es sich bei dem Anrufer um Jamie, Rachels Mann, handeln. »Was gibt‘s?« Während Rachel ihrem Mann zuhörte, kräuselte sich ihre Stirn immer besorgter zusammen. »Worauf wartest du noch! Fahr mit ihr ins Krankenhaus, Herrgott noch mal! Ich bin gleich bei euch.«

Entsetzt blickte Caitlin Rachel an. »Ist etwas passiert?«

»Anni ist von ihrem Hochbett runtergefallen, und nun schreit sie die ganze Zeit. Jamie ist sich nicht sicher, ob sie sich doch schlimmer verletzt hat, als er dachte. Entschuldige, Liebes, es ist mir wirklich nicht recht, aber ich muss los.«

»Ja, klar, das versteh ich. Gib ihr ein Küsschen von mir.« Kaum war Caitlin mit ihrer Panik allein im Raum, sah die Flasche Sekt noch verlockender aus als zuvor. Bestimmt hatte Rachel recht, und ein kleiner Schluck würde ihre Nerven etwas beruhigen. Doch auch nach einem Glas fühlte sich ihr Mund staubtrocken an, während ihre Hände zitterten. Bis Mr Fairchild schließlich zurückkehrte, waren zwei Gläschen in ihrer Kehle verschwunden.

»Wir wären dann so weit.« Er schaute sie skeptisch an. »Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen etwas blass aus.«

»Ich bin nur ein wenig nervös, aber es geht schon.« Auf dem Weg zum Saal erklärte Mr Fairchild ihr, dass er sie zuerst dem Publikum kurz mit Lebenslauf vorstellen werde, anschließend solle sie ein paar Seiten aus ihrem Roman vorlesen und etwas über sich und das Schreiben erzählen, bevor die Zuhörer die eine oder andere Frage stellen konnten. Den Rest bekam Caitlin irgendwie nicht mit, da sie sich konzentrieren musste, geradeaus zu gehen. Himmel, so viel hatte sie doch gar nicht getrunken. Und warum war ihr auf einmal so heiß? Vielleicht hätte sie doch besser die Hände vom Alkohol gelassen. Sie betraten den Saal, in dem es sofort still wurde. Der Veranstalter geleitete sie zum Tisch und zog ihr den Stuhl zurecht. Dann begann er sie salbungsvoll vorzustellen. Das Ganze war ihr so peinlich, dass Caitlin gar nicht wusste, wo sie hinschauen sollte. Sie ließ die Augen über die ersten Zuschauerreihen gleiten und musste plötzlich ein Kichern unterdrücken. Die sahen ja alle so erwartungsvoll aus. Und die Krawatte, die der Herr in der ersten Reihe links außen trug, waren da wirklich Mäuse drauf?

Mittlerweile war Mr Fairchild dazu übergegangen, den Ablauf des Abends zu erläutern. »Nun wünsche ich Ihnen allen viel Spaß und einen spannenden Abend mit unserer Caitlin Cunningham«, schloss er und lächelte ihr aufmunternd zu. Aha, jetzt war also sie dran. Wieder musste sie die Lippen zusammenpressen, um zu verhindern, dass sie losprustete. Sie wusste nicht, warum, aber das alles war so absurd. Puh, und heiß war es hier drin! Sie fächelte sich etwas Luft zu und schlug mit der anderen Hand das Buch auf. Ihr verlegenes Räuspern klang über das Mikrofon wie das Bellen eines asthmatischen Mopses. »Guten Abend«, beeilte sie sich zu sagen und zuckte gleich zusammen, als ihre Worte in dem Saal widerhallten. War das wirklich ihre Stimme? Vielleicht hatte ja ein Alien von ihrem Körper Besitz ergriffen und sprach nun aus ihr. Du meine Güte, Caitlin, versuch dich zu konzentrieren und lach bloß nicht! »Hui, ist das warm heute«, sagte sie stattdessen und fächelte sich wiederholt Luft zu. »Also, Sie sind hier … und ich auch … dann legen wir mal los mit den Blutigen Disteln.« Sie betonte den Buchtitel mit düsterer Stimme und konnte das Glucksen nun doch nicht länger zurückhalten. Leicht irritiert blickte das Publikum ihr entgegen. Caitlin blätterte hektisch in den Seiten, um die markierte Stelle aufzuschlagen, wo sie mit dem Lesen beginnen sollte. Doch als sie die Markierung gefunden hatte, wirbelten die Buchstaben vor ihren Augen wild durcheinander. Sie konnte nicht einen vernünftigen Satz auf der Seite erkennen. Streng raunte sie den Buchstaben zu: »Benehmt euch gefälligst! Wir müssen hier einen guten Eindruck hinterlassen.« Doch die Buchstaben hatten ein Eigenleben entwickelt. Das O kugelte über das N, das B zog seinen dicken Bauch ein und rannte dem M hinterher, während der Strich vom I seinen Punkt einzufangen versuchte. Verwirrt schüttelte Caitlin den Kopf, das alles machte keinen Sinn. Na schön, nun galt es eben zu improvisieren. »Es tut mir leid, aber die Buchstaben wollen gerade nicht vorgelesen werden«, grinsend blickte sie in die Runde der belesenen Zuhörer, die sie mit großen Augen musterten. »Keine Sorge, da ich sie ja zu Worten und Sätze zusammengefügt habe, kann ich Ihnen auch so erzählen, worum es in Blutige Disteln geht.« Erneut ließ sie ihre Stimme wie aus einem Grab klingen, als sie den Titel aussprach. Mr Fairchild lächelte sichtlich verlegen und trat an ihre Seite. »Geht es Ihnen wirklich gut, Miss?«, raunte er.

»Aber ja, Sir Arthur, alles bestens. Lassen Sie mich fortfahren«, gewichtig hob sie ihren Kopf. »Da ist also die kluge und wuuuuuunderwunderschöne Detektivin Jazz, die klären muss, wer dieser böse, böse Mann ist, der Frauen zerstückelt und sie dann im Loch Lomond entsorgt. Aber sie ist nicht allein.« Caitlin schüttelte heftig den Kopf, worauf es ihr prompt schwindelig wurde. »Neiiiiiin, sie ist definitiv nicht allein, sondern hat Hilfe von diesem schnuckligen Reporter Glenn.« Sie kam aus der Schwärmerei für diesen Reporter mit dem knackigen Hintern gar nicht mehr heraus. Mr Fairchild versuchte die Situation zu retten, indem er sie fragte, ob sie denn für ihre Figuren jeweils Vorbilder habe. »Was haben Sie zum Beispiel mit dieser Detektivin Jazz gemeinsam?«

Caitlin lachte schallend und viel zu laut. »Auch wenn mich meine Agentin dazu verdonnert hat, heute wie Jazz auszusehen, so bin ich nicht wie sie.« Sie schüttelte heftig den Kopf, was zur Folge hatte, dass sich plötzlich alles zu drehen begann. Mit zusammengekniffenen Augen hielt sie sich an der Tischkante fest. »Jazz kennt keine Angst«, stieß sie hervor. »Sie tut das, was sie will. Was wir gemein haben, ist die Neugier. Zum Beispiel würde ich gerne wissen, warum der Herr hier vorne ein Toupet trägt und warum die ältere Dame ständig zu dem jungen Mann neben der Tür blickt. Haben die beiden etwa eine Affäre?«

Ein Raunen und Kichern ging durch das Publikum. Verflixt noch eins, warum hörte der Raum nicht auf, sich zu drehen? Davon wurde einem ja ganz übel. Caitlins Magen grummelte unheilvoll, und kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. »Es tut mir leid …«, keuchte sie vom Stuhl aufspringend. Eigentlich wollte sie zu den Toiletten hinausrennen, doch so weit kam sie nicht. Eine hohe kitschige Bodenvase schien ihre einzige Rettung zu sein. Caitlin stürzte zu ihr hin und erbrach ihren Mageninhalt hinein.

»Um Gottes willen!«, keuchte Mr Fairchild neben ihr. Er klang einerseits besorgt und andererseits ziemlich ungehalten. »Es ist wohl besser, Sie gehen nach Hause. Ich versuche hier noch zu retten, was zu retten ist.« Er drehte sich mit einem gekünstelten Lächeln zu seinen Gästen um. »Es tut mir sehr leid, wie Sie mitbekommen haben, geht es Miss Cunningham leider nicht gut. Ich werde an ihrer Stelle die Lesung zu Ende führen, damit Sie nicht ganz vergebens …«

Caitlin rannte aus dem Raum und hörte die letzten Worte nicht mehr. Oh Gott, war ihr übel. Sie musste unbedingt raus hier. Das war aber gar nicht so einfach, so schwindelig, wie ihr war. Es schien, als würden sich die Treppenstufen, die sie hinunterhetzte, bewegen. Die Wände waren plötzlich wie aus Gummi, und die Verzierungen an der Decke wirkten wie ein rotierendes Mandala. Als Caitlin es endlich ins Freie geschafft hatte, musste sie sich erst einmal auf die steinerne Balustrade setzen und tief Luft holen. Hier draußen war es angenehm kühler, und ihr Magen beruhigte sich langsam. Herrlich, wie bunt Glasgow war, schoss es ihr durch den Kopf. So viele Farben! Der Rasen war so grün, und all diese lustigen Autos, die an ihr vorbeisausten. Sie stand auf und drehte sich im Kreis, wodurch die Farben durcheinandergerieten, als würde Caitlin mit einem Pinsel wild durch eine Malerpalette sausen. Das war so lustig, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte zu lachen. Menschen liefen an ihr vorbei und sahen sie verständnislos an, was ihren Lachanfall nur noch intensivierte. In der Ferne hörte sie Donnergrollen. Du meine Güte, hatte sie etwa gar den Himmel erzürnt? Sie hüpfte den Gehsteig entlang, ohne genau zu wissen, wo sie hinwollte. Aber was spielte das für eine Rolle? Niemand wartete auf sie, sie musste nirgendwohin, ganz im Gegensatz zu all diesen Autos. Wow, was für ein Chaos da auf der Straße herrschte. Irgendjemand sollte den Verkehr regeln, sonst käme die Mutter mit dem Kinderwagen ja nie auf die andere Seite. »Warten Sie, ich helfe Ihnen!«, bot Caitlin großzügig an und schritt energisch über den Zebrastreifen mitten auf die Straße. Die Fahrer traten abrupt auf die Bremse und hupten genervt. Mit einer ausladenden Verbeugung deutete Caitlin der Mutter an, dass sie nun sicher ihres Weges gehen könne. Kopfschüttelnd folgte diese der Aufforderung. Doch Caitlin sah darin ihren Auftrag noch nicht erfüllt und befand, sie machte sich ganz gut in dem Job. Sie winkte die Fahrzeuge durch und hörte das Geschimpfe der Fahrer gar nicht. Mit der Zeit ermüdete sie aber das Gewinke. Gähnend beschloss sie, sich ein wenig auszuruhen. Sie saß schon auf dem Boden, als jemand sie ansprach. »Hey, meine Liebe, Sie können sich hier nicht hinlegen.«

»Warum denn nicht?« Sie legte den Kopf schief und schaute neben sich auf den breiten weißen Zebrastreifen. »Ist doch genug Platz da.«

»Na ja, ein ziemlich hartes Bett, finden Sie nicht? Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.« Er streckte ihr seine Hand hin und zog sie hoch.

»Sind Sie Engländer? Sie klingen so steif?«

Der Mann schmunzelte und führte sie mit sich zur anderen Straßenseite. »Erwischt. Und Sie? Haben Sie etwas zu tief ins Glas geschaut?«

Caitlin schüttelte ernst den Kopf. »Ich habe nur zwei klitzekleine Gläschen Sekt getrunken.«

Der Mann lachte gutmütig, was eine kleine attraktive Lachfalte neben seinem Mundwinkel zutage brachte. »Das scheint mir eher ein wenig mehr gewesen zu sein. Wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen, bringe ich Sie nach Hause.«

Sie schürzte die Lippen und dachte nach. »Sie sind ein Fremder. Ich werde Ihnen gewiss nicht meine Adresse verraten.«

»Und ich kann Sie unmöglich in diesem Zustand allein herumlaufen lassen.«

»In welchem Zustand?«, fragte Caitlin ahnungslos. »Mir geht es blendend. Na schön, vorhin war mir noch schlecht, aber jetzt geht’s mir gut. Oh, hören Sie, da ist Musik. Ich liiiiiebe Musik!« Ihre Müdigkeit schien auf einmal wie weggeblasen, und schon hüpfte Caitlin erneut über die Straße in die Richtung des Pubs, bei dem die Tür weit offen stand und fröhliche Musik aus dem Innern schallte. Das Gehupe der Autos ignorierte sie großzügig. Auch die dicken Regentropfen, die mittlerweile vom Himmel prasselten, störten sie nicht. Mit ausgebreiteten Armen und einem entrückten Lächeln im Gesicht tanzte Caitlin auf dem Gehsteig zu den keltischen Rhythmen. Der Engländer sah von der anderen Straßenseite kopfschüttelnd zu ihr hinüber und schien abzuwägen, ob er sie wohl ihrem Schicksal überlassen konnte.

»Hey, Süße!« Ein Hüne von einem Kerl legte seinen tätowierten Arm um ihre Taille und versuchte sie näher an sich zu ziehen.

Caitlin kicherte ausgelassen. »Deine Nase bewegt sich in deinem Gesicht. Wie machst du das?«

»Das kann ich dir gerne zeigen«, er wollte sie gerade küssen, als jemand dazwischenging.

»Hey, Kumpel, lass mein Mädchen in Ruhe!« Es war der Engländer. Caitlin geriet etwas ins Torkeln und stützte sich bei ihm ab.

»Ja, ich bin sein Lassie, und er ist mein Engländer.« Wieder gluckste sie amüsiert, während sie sich an seinem Arm festhielt.

Der tätowierte Kerl sah aus, als wollte er ihrem Engländer gleich eine reinhauen. Caitlin trat einen Schritt auf ihn zu und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Nicht böse sein, Großer.« Dann winkte sie ihm neckisch zu und wollte bereits wieder über die Straße Richtung Park rennen, aber der Engländer hielt sie an der Hand zurück. »Sie sollten Ihr Glück nicht noch einmal herausfordern. Kommen Sie, wir gehen über den Zebrastreifen.« Während sie im Regen warteten, dass sie die Straße queren konnten, hielt Caitlin ihr Gesicht zum Himmel empor, um die Regentropfen aufzufangen. Sie hatte ja solchen Durst. Es blitzte, und nach ein paar Sekunden folgte ein Donnerschlag, den Caitlin laut mit »Krawumm« kommentierte. Kaum waren sie auf der anderen Seite, entdeckte sie den großen Brunnen im Park. Sie riss sich von dem Engländer los und rannte zur Mauerumrandung. Ohne ihre Schuhe auszuziehen, kletterte sie in das große Becken. Das Wasser war eiskalt, aber es fühlte sich herrlich an. Durstig wollte sie gerade mit ihren Händen etwas Wasser schöpfen, als der Engländer ihr warnend zurief: »Das sollten Sie besser bleiben lassen. Sonst kotzen Sie sich anschließend die Seele aus dem Leib.«

»Das habe ich doch schon. Vor dem ganzen Publikum in der Bibliothek.« Erneut überkam sie ein Lachanfall. »Die haben mich angeschaut, als wäre ich verrückt. Aber ich bin nicht verrückt.«

»Nur etwas high?«, fragte der gut aussehende Mann schmunzelnd vom Brunnenrand. »Kommen Sie raus aus dem Wasser. Das ist gefährlich bei einem Gewitter.« Tatsächlich klang der Donner nicht mehr weit entfernt.

»Sind Sie mein Beschützer?«, fragte Caitlin keck und blinzelte ihm zu, während sie durch das Becken in seine Richtung watete.

»Vielleicht. Wollen Sie mir noch immer nicht Ihre Adresse nennen, damit ich Sie sicher nach Hause bringen kann?«

Caitlin griff nach seiner Hand, die er ihr hilfsbereit entgegenstreckte, damit sie zurück über den Mauerrand klettern konnte. Danach ließ sie seine Hand nicht gleich los und schaute ihm tief in seine Augen. Schade, es war bereits dunkel, da konnte sie die Farbe nicht erkennen. Sie strich ihm mit dem Finger der anderen Hand über seine regenfeuchte Wange. »Doch, Ihnen würde ich sie verraten, wenn ich sie wüsste. Aber«, sie zuckte mit den Schultern, »ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

»Wissen Sie noch, wie Sie heißen?«

»Caitlin. Ich bin so müde. Darf ich mich ein wenig an Ihnen ausruhen?«, fragte sie und legte bereits ihren Kopf an seine Schulter.

»Welche Drogen haben Sie genommen«, raunte er in ihr Ohr.

Empört schnellte ihr Kopf empor. »Ich nehme doch keine Drogen! Aber vielleicht sind es die Beruhigungsmittel, die mich so müde machen.«

»Was genau haben Sie geschluckt?«, fragte er misstrauisch.

»Nur zwei Temesta.« Sie gähnte und musste schon wieder lachen, ohne zu wissen weshalb.

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht die ganze Packung intus haben?«, fragte er grinsend.

»Ja, nur zwei Stück.«, seufzte sie und wollte sich der bleiernen Müdigkeit hingeben.

»Nicht einschlafen, Caitlin. Ich bringe Sie an einen Ort, wo Sie sich ausruhen können. Aber Sie müssen mir etwas helfen. Kommen Sie.« Zurück an der Straße, winkte er sich ein Taxi heran. Er nannte dem Fahrer ein Hotel, bevor er sich neben sie setzte.

»Sie riechen gut«, brummelte Caitlin an seiner Schulter angelehnt. »Schlafen Sie nun mit mir?«

Er lachte leise. »Bei Gott, nein, natürlich nicht!«

»Stimmt, Sie sind ja mein edler englischer … Beschützer.« Sie legte ihre Hand auf seine Brust und schloss selig die Augen.

»Was hat Ihnen solche Angst gemacht, dass Sie Beruhigungstabletten brauchten?«, fragte er und legte seine Hand über die ihre.

»Lesung«, murmelte sie. »Ich musste eine Lesung halten.« Nicht länger imstande, ihrer Müdigkeit zu entkommen, schlummerte sie ein, angelehnt an den Engländer, der sich gar nicht so steif anfühlte.

Als das Taxi hielt, blinzelte sie verschlafen. »Bin ich zu Hause?«

»Nicht ganz. Aber bald.« Ihr Beschützer bezahlte das Taxi, bevor er ausstieg und gerade noch rechtzeitig die andere Seite erreichte, um sie aufzufangen, als sie hinausstolperte. Er hielt sie sicher um ihre Taille fest, während er mit dem anderen Arm die Tür des Taxis schloss und dem Fahrer ein Zeichen gab, dass er losfahren konnte. Caitlin legte ihre Hand an seine Wange und schaute ihm einen Moment tief in die Augen. Das Bedürfnis, ihn zu küssen, kam wie aus dem Nichts über sie, doch als sie sich zu ihm vorbeugte, hielt er sie abwehrend von sich. »Wow, meine Liebe, ich erinnere Sie nur ungern daran, aber Sie riechen etwas streng.«

Caitlin zog einen Schmollmund und stieß sich von ihm ab. Leider gehorchten ihr aber die Beine nicht so recht, und so wehrte sie sich nicht, als sein Arm sich erneut um sie legte. Torkelnd ging sie an seiner Seite ins Hotelgebäude, wo er sie auf das Sofa in der Lobby dirigierte. »Sie warten hier«, wies er sie an. Caitlin beobachtete, wie er mit der Frau an der Theke sprach, aber sie hatte auf einmal solche Kopfschmerzen und war so erledigt, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Erst als der Engländer sie leicht anstieß, merkte sie, dass sie beinahe wieder eingeschlafen wäre. Sie ließ sich von ihm in den Lift schieben und kicherte unaufhörlich vor sich hin.

»Was amüsiert Sie so?«, fragte der Engländer.

»Sie. Sie tun so steif und edel, und nun schleppen Sie mich, nass wie ein Pudel, in Ihr Zimmer.« Sie versuchte sich eine feuchte Haarlocke aus dem Gesicht zu pusten, was ihr aber kläglich misslang und sie erneut zum Glucksen brachte. »Wenn meine Mutter das wüsste. Sie wäre entsetzt!«

»Zu Recht, wie ich finde.« Der Lift gab einen leisen Klingelton von sich, als sie das Stockwerk erreichten. Kaum hatte er die Zimmertür geöffnet, stürmte sie hinein und suchte die Schränke ab.

»Kann ich helfen?«, bot er an.

»Ich habe solchen Durst. Die haben hier bestimmt eine Minibar. Warum ist es nur überall so heiß?« Caitlin zog ihren Pullover über den Kopf und stand nur noch in ihrem Unterhemdchen da. Mittlerweile hatte der Engländer aus dem Bad ein Glas Wasser besorgt, das er ihr nun ungeachtet ihrer Aufmachung hinhielt. Sie leerte es mit einem Zug und streckte es ihm wieder hin. »Mehr, bitte.«

Als er erneut ins Bad verschwand, setzte sie sich aufs Bett und zog ihre nassen Schuhe und die Hose aus. Der Engländer hob nur eine Augenbraue, als er zurückkam, und reichte ihr das aufgefüllte Glas. »Caitlin, sind Sie sicher, dass Sie außer den Beruhigungsmitteln keine Drogen genommen haben? Ihre Pupillen sind unnatürlich groß.«

»Gefallen sie Ihnen?«, hauchte sie verrucht, bevor sie das Wasser hinunterstürzte und ihm das leere Glas wieder hinhielt.

Er schmunzelte. »Sie haben schöne Augen, aber die Größe Ihrer Pupille bereitet mir etwas Sorgen. Und Sie trinken wie ein Pferd, das deutet alles darauf hin, dass Drogen im Spiel sein könnten.«

»Ich habe nichts genommen«, sie hob die Finger zum Schwur in die Höhe. »Ich bin die Seriöse in unserer Familie, für das Wilde ist meine Schwester zuständig.«

Sie schwang ihre Hand mit dem Glas hin und her und warf ihm einen nicht wirklich verführerischen Augenaufschlag zu. »Dürfte ich noch ein Glas Wasser haben … bitte?«


Als er mit dem Wasser zurückkehrte, war sie bereits auf dem Bett eingeschlafen. Schmunzelnd stellte er das Glas auf den kleinen Nachttisch, deckte sie zu und maß kurz ihren Puls am Handgelenk. Er raste ein bisschen, was nicht wirklich zu ihrer Müdigkeit passte. Auch wenn sie es abstritt, musste sie neben den zwei Beruhigungstabletten und den beiden Gläsern Alkohol noch irgendwas anderes geschluckt haben. Besser, er behielt sie noch eine Weile im Auge. Er griff nach ihrer Hose, die auf dem Boden lag, und breitete sie auf der Heizstange im Bad aus, damit sie bis zum Morgen trocknen konnte. Anschließend verschwand er kurz in sein eigenes Zimmer, um die Kleidung zu wechseln und sich die Haare zu trocknen, bevor er zu ihr zurückkehrte. Immer wieder prüfte er ihre Atmung und den Puls.

Glücklicherweise schien ihr Körper langsam zur Ruhe zu kommen, sodass er sich ein paar Stunden später von dem Sessel neben ihrem Bett erhob. Mit einem letzten Blick auf die schlafende Schöne verließ er das Zimmer. Was für eine Nacht! Erst später im Flieger erlaubte er sich, sich einen Moment vorzustellen, was passiert wäre, wenn er nicht zurück nach England gemusst hätte. Wenn sie aufgewacht wäre und ihn an ihrer Seite entdeckt hätte. Wäre sie entsetzt gewesen? Erleichtert? Oder vielleicht hätte sie sich auch an gar nichts mehr erinnert. Ihr Lachen war irgendwie niedlich gewesen, und wie sie so im Regen getanzt hatte … einfach unglaublich. Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. Auch wenn sie völlig neben der Spur gewesen war, hatte sie irgendwas an sich gehabt, das mehr als nur den Beschützerinstinkt in ihm geweckt hatte. Aber es war müßig, darüber nachzudenken, denn er hatte lediglich einen Kongress in Glasgow besucht. Sein Leben spielte sich woanders ab. Mit einem leisen Laut des Bedauerns biss er in das trockene Sandwich, das die Fluggesellschaft ihren Passagieren gereicht hatte.