Die Autorin

Amanda Kissel – Foto © privat

Amanda Kissel ist das Pseudonym der Autorin Ursula Kissel. Sie wurde in Neustadt an der Weinstraße geboren. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie heute mitten im Pfälzer Wald und arbeitet als Lehrerin. Mehrere ihrer Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht. Ihr erster Roman "Apollonias Kiste" erschien 2018.

Das Buch

Eine Liebe im Schneegestöber, auf den Spuren der Vergangenheit

Musik liegt Claras Familie im Blut. Ihre Großmutter und Mutter waren Balletttänzerinnen und ihr Großvater ist ein gefeierter Opernstar. Da scheint es nicht weit hergeholt, dass Clara Besitzerin eines Musikladens ist. Gerade jetzt kurz vor der Weihnachtszeit herrscht dort besonders besinnliche Stimmung. Und auch in der Liebe scheint es für Clara endlich einmal gut zu laufen. Zwischen Clara und dem Reporter, der eine Biographie über ihren Großvater schreibt, knistert es schon bald gewaltig. Im tiefsten Schnee des Winters forschen die beiden in der Geschichte von Claras Familie. Dabei muss Clara feststellen, nicht alles ist so, wie sie immer geglaubt hat. Kann Marius ihr helfen, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen?

Amanda Kissel

Schneeflocken und Winterklänge

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-582-9

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Widmung

Für Rolf, Titus und die beiden Ballerinen

August


Die Hochzeit des preisgekrönten Rappers MC Flix fand auf einer alten Burgruine mitten im Pfälzerwald statt. Es war August, und durch die eingefallene Decke der Ruine sah man einen samtigen Abendhimmel.

Im ehemaligen Burgsaal drängten sich dreihundert Gäste auf dem mit Moos überwachsenen Steinboden. Die halb verfallenen Mauern standen in bizarrem Kontrast zu den grellbunten Luftballons, die in der heißen, stickigen Luft stillzustehen schienen.

MC Flix und seine Braut – sie trug ein pinkfarbenes Minikleid, das mit schimmernden Perlen bestickt war – tanzten allein auf einer kleinen Bühne zu den berühmtesten Songs des Rappers, umgeben von einer auf und ab wogenden Masse anderer Tänzer und von Leuten, die versuchten, zum Buffet durchzukommen.

Clara Liebrecht und ihr Großvater Johann standen etwas abseits an eine kühle Felsmauer gelehnt und betrachteten das ausgelassene Treiben. Neben ihnen stand ein Baum mitten im Saal, seine Wurzeln hatten längst die Steinfliesen durchbrochen und zerstört. Clara kam sich vor wie im Märchen, fragte sich allerdings auch, ob der Trubel ihrem Großvater, der immerhin schon neunundsiebzig war, nicht zu viel wurde.

»Unsinn«, sagte Johann schmunzelnd. Er war noch immer ein stattlicher Mann und in seinem schwarzen Anzug und mit dem weißen Bart recht gutaussehend. »Ich führe inzwischen so ein zurückgezogenes Leben, dass mich ein bisschen Lärm und Trubel zur Abwechslung nicht abschreckt. Und auch dir tut es gut, mal aus deinem Einerlei herauszukommen. Dein Leben ist viel zu eintönig und einsam für dein Alter.«

Clara zuckte die Achseln; ihr Großvater hatte recht. Sie war zweiunddreißig und wohnte mit ihm zusammen, nicht weit von hier, in einem alten Forsthaus, das zu einem reinen Wohnhaus umfunktioniert worden war.

In diesem Moment nahm Johann sie am Ellbogen und sie spürte, wie er seine Aufmerksamkeit auf einen Mann richtete, der auf sie zu kam.

»Hallo, wen haben wir denn da?«, fragte Johann wohlwollend. »Ein Gesicht, das mir bekannt vorkommt zwischen all dem jungen Gemüse. Ihren Namen habe ich leider vergessen.«

Der Mann war ungefähr zwei oder drei Jahre älter als Clara. Auch er trug einen eleganten Anzug; er hatte dunkles Haar und ungewöhnlich grüne Augen, deren Farbe an Moos erinnerte. Kurz nachdem er ihrem Großvater die Hand gereicht hatte, blieb sein Blick an Clara hängen, und sie merkte, wie er ihr kastanienbraunes kinnlanges Haar und ihr schwarzes Seidenkleid betrachtete. Er lächelte ihr zu.

»Ich bin Marius Richter. Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Herr Liebrecht. Wie lange ist es her?«

»Jahre, Jahrzehnte«, seufzte Johann. »Das ist meine Enkelin Clara.«

»Hallo«, sagte Clara. Marius gab auch ihr die Hand, lächelte und nahm sie einen Moment mit seinem moosgrünen Blick gefangen. Etwas verwirrt und trotzdem von ihm angezogen, schob sie sich ihre Clutch unter den Arm.

»Wir kennen uns von früher, als ich noch aktiv auf der Bühne stand«, klärte Johann Clara auf. »Marius ist Musikjournalist. Ich wusste gar nicht, dass Sie mit MC Flix bekannt sind, Marius.«

»MC Flix ist der Größte in seiner Branche. An ihm führt kein Weg vorbei. Ich habe schon öfter über ihn geschrieben. Ich erinnere mich noch gut an das außergewöhnliche Stück, das Sie zusammen mit ihm gesungen haben«, sagte Marius, und Clara sah wirkliche Begeisterung in seinen Augen leuchten. »MC Flix featuring Johann Liebrecht. Ein hartgesottener Rapper mit einem Vorstrafenregister so lang wie eine Rolle Tesafilm singt mit einem seit Jahrzehnten berühmten Sänger, der Opernstücke populär machte.«

»Die Macht der Liebe«, schwärmte Clara. »Keiner hätte MC einen solch gefühlvollen Titel zugetraut. Wie er mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs rappte und es schaffte, nicht allzu schlimme Schimpfwörter zu gebrauchen – und wie du mit deiner wundervollen Stimme den Refrain dazu gesungen hast, Opa, das werde ich nie vergessen. Ich höre mir das Lied auch heute noch immer wieder an.«

Ihr Großvater lächelte gerührt. »Ja, das war eine schöne Zeit. Aber lange vorbei. Wollt ihr nicht ein bisschen tanzen, ihr zwei? Mischt euch unters Volk.«

Marius sah sie an, als sei er der Vorstellung nicht abgeneigt, doch Clara wandte sich an Johann. »Ich möchte nicht, dass du allein hier herumstehst, Opa.«

Johann winkte ab. »Ach was. Ich schlage mich in der Zeit zum Buffet durch.«

»Okay.«

Sie musste nicht lange überredet werden, und schon nahm Marius sie an der Hand und führte sie in die Menge der Tanzenden hinein, die sich ekstatisch zur Musik bewegten, die Texte mitschrien, mit den Armen fuchtelten und auf und ab hüpften. Musikmanager im reifen Alter tanzten Haut an Haut mit aufgetakelten jungen Sternchen, die auf sich aufmerksam machen wollten.

Dann folgte ein Gruppentanz, und Marius und Clara fügten sich in die zwei Reihen ein, die sich gegenüberstanden und sich, abwechselnd klatschend und die Arme hochreißend, aufeinander zu und voneinander weg bewegten wie Meereswogen. So bizarr Clara die Situation vorkam, bereitete es ihr doch auch großen Spaß. Nach einer Viertelstunde dieser Art des Tanzens war sie jedoch nicht traurig, als wieder eine Ballade gespielt wurde, denn sie war ganz schön außer Atem.

Marius sagte etwas zu ihr, was sie unmöglich verstehen konnte. Neben ihnen wurde Champagner verschüttet und Leute mit glasigen Augen stolperten durch die Pfütze. In einer Felsnische drängten sich zwei Jugendliche zusammen und küssten sich gierig. Ein himbeerfarbener Luftballon, der über ihnen schwebte, platzte plötzlich, doch der Knall ging in dem alles übertönenden Lärm unter.

Marius hielt sie eng an sich gedrückt. Clara gab sich ganz der Musik und seiner Nähe hin. Er hatte ein markantes Gesicht und wenn seine moosgrünen Augen sie streiften, lächelte er sie an. Sein Blick war fast schon verschwörerisch. Sie hatte das Gefühl, dass dies hier weder seine noch ihre Welt war.

Die Musik wurde immer lauter, zuerst schleuderte die Braut ihren pinkfarbenen Schleier durch die Luft, dann flogen andere Kleidungsstücke umher. Die achtzigjährige Oma der Braut nahm ihr lila Hütchen ab und warf es wie einen Brautstrauß über die Köpfe hinweg. Die Menge feuerte sie an. Versteckt angebrachte Lichter blitzten plötzlich grellgrün und feuerrot durch die Burgruine. Die Menge johlte vor Begeisterung.

»Ich kann nicht mehr«, meinte Marius irgendwann. Clara las die Worte eher von seinen Lippen ab, als dass sie sie verstand. Er war verschwitzt und lockerte seine Krawatte. »Wollen wir rausgehen?«

Clara nickte dankbar und ließ sich von ihm an der Hand durch das Gedränge führen. Ihr Kopf glühte von der Hitze und der Bewegung. Gleichzeitig kribbelte ihre Haut vor Erwartung. Sie war aufgeregt, gleich mit diesem attraktiven Mann allein zu sein.

Im Vorbeigehen nahm er zwei Champagnerflöten vom Tablett einer Bedienung. Draußen vor den Burgmauern war die Luft milder, und einzelne Sterne erschienen am inzwischen tintenschwarzen Himmel.

»Puh«, sagte er, als sie sich im hohen Gras gegenüberstanden und sich zuprosteten, »ganz schön laut und voll und heiß da drinnen, nicht wahr?«

»Eine richtig rauschende Party«, stimmte sie lächelnd zu.

»Wollen wir uns setzen?« Er legte ihr die Hand auf den Rücken und führte sie zu einer verwitterten Holzbank am Rand der Wiese. Schweigend schauten sie in den dichten Wald, der sich hügelabwärts erstreckte, in abendlicher Dunkelheit versunken.

»Sie scheinen meinen Großvater schon lange zu kennen«, sagte sie und hörte selbst, wie ihre Stimme in der klaren Luft, fernab des Lärms, befangen klang.

Marius nickte. »Ja. Ich habe vor zehn, fünfzehn Jahren, als seine Karriere noch auf ihrem Höhepunkt war, oft über ihn geschrieben. Artikel über seine Konzerte und Auftritte. Ich habe ihn auch zwei- oder dreimal interviewt. Ich war damals noch blutjung, aber Ihr Großvater gab mir eine Chance, mich zu beweisen. Das war sehr nett von ihm. Er ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Er war immer sehr freundlich und offen zu mir, aber … es umgab ihn auch etwas Geheimnisvolles.«

Sie wandte sich ihm zu und schaute ihm in die Augen. Das Knacken der Tiere im Unterholz schien plötzlich näher als die laute Musik in der Burg. »Etwas Geheimnisvolles?«

»Ja«, sagte er leise. »Wissen Sie, was ich meine?«

Sie konnte seinem intensiven Blick nicht mehr standhalten und sah in den dunklen Wald. »Hm … Vielleicht umgibt jede Berühmtheit etwas Geheimnisvolles. Kein Künstler möchte alles von sich preisgeben.«

Marius lachte leise. »Ich verstehe schon, als loyale Enkelin möchten Sie natürlich auch nichts über Ihren Großvater ausplaudern und die Familiengeheimnisse lieber für sich behalten.«

Clara riss einen Grashalm ab und verknotete ihn. Ihr war klar, dass Marius nur Smalltalk betrieb, aber mit dem Begriff Familiengeheimnisse hatte er einen wunden Punkt bei ihr getroffen. Tatsächlich gab es in ihrer Familie viel Unausgesprochenes.

»Sie sind bei Ihrem Opa aufgewachsen, stimmt´s?«, fragte er. »Ich erinnere mich an dieses eine Interview vor ein paar Jahren, das er mir gegeben hat.«

»Ja. Meine Eltern sind früh bei einem Autounfall verunglückt. Seit meinem zweiten Lebensjahr bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Großmutter ist leider vor zwei Jahren gestorben, nun sind nur noch mein Großvater und ich übrig.«

»Das ist traurig«, sagte er und legte ihr den Arm um die Schultern, wie um sie zu wärmen. »Aber Sie haben sicherlich ein enges Verhältnis zu ihm?«

»Ja. Wir stehen uns sehr nah. Nachdem er vor einigen Jahren seinen Rückzug aus dem Musikbusiness angekündigt hatte, hat er sich in ein altes Forsthaus zurückgezogen. Dort wohne ich mit ihm. Ich kümmere mich um ihn, er wird schließlich nicht jünger.«

»Das klingt, als würden Sie beide einsam in den Tiefen der Wälder wohnen«, schmunzelte er. »Ist das nicht ein bisschen trostlos?«

Clara lachte. »Nein. Großvater hat ja nach wie vor seine Musik, auch wenn er nicht mehr singt. Und ich bin auch nicht den ganzen Tag im Wald. Ich habe einen Beruf wie jeder andere Mensch auch.«

»Was tun Sie denn?« Sie sah echtes Interesse in Marius´ Augen.

»Zusammen mit einer Freundin habe ich einen Musikladen.«

»Also sind Sie insgesamt eine sehr musikalische Familie«, stellte er fest. »Und sonst ist da niemand außer Ihrem Großvater und Ihnen?«

»Nein«, sagte sie leichthin und verdrängte schnell ihr schlechtes Gewissen. Marius berührte eine Seite in ihr, die ihr Herz zum Klopfen brachte, und sie hatte keine guten Erfahrungen damit gemacht, Männern gleich beim Kennenlernen von ihrem pubertierenden Sohn zu erzählen. Nicht, dass sie in ihrem Alltag auf viele Männer traf, aber der eine, den sie im letzten Jahr kennengelernt hatte, hatte plötzlich das Weite gesucht, als es um Simon ging.

»Und Sie? Frau und Kind vorhanden?«

Ein kaum wahrnehmbarer schmerzlicher Zug legte sich um seinen Mund, verschwand aber sofort wieder. Sie hatte ihn trotzdem bemerkt. »Nein. Nicht vorhanden.«

Ein Vogel knisterte im Laubwerk vor ihnen.

»Frei wie ein Vogel sozusagen?«, scherzte Clara, und er nickte.

»Frei wie ein Vogel.«

Der Champagner stieg ihr langsam zu Kopf. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder, alles erschien ein bisschen unwirklich – die verfallene Burg, die tobende Meute darin, der stille, in die Finsternis getauchte Wald. Einen Moment versank sie in seinen moosgrünen Augen, die so offen und ruhig wirkten, dann beugte er sich zu ihr vor. Sie vergaß fast zu atmen vor lauter Erwartung. Schließlich spürte sie seine warmen Lippen auf ihren. Er schmeckte nach Sekt und der Erdbeertorte, die mit sechs prächtigen Etagen das Buffet in der Burg geziert hatte. Seine Hand umschlang ihren Nacken und er hielt sie so nah an sich gepresst, dass sie seinen rasenden Herzschlag spürte, so wie er auch ihren.

Da wurde auf einmal der nachtblaue Himmel von grellen Blitzen und Böllerschüssen zerrissen. Ein grandioses Feuerwerk tobte über der Burgruine, flammend rot und neongelb und platinsilber leuchtete der Himmel, bevor er für Sekunden wieder schwarz wurde. Heftiges Krachen durchzuckte die Stille des Waldes. Kaskaden von Licht wurden in alle Richtungen geschleudert; in den kurzen Pausen ertönte das beeindruckte »Ah« und »Oh« der dreihundert Hochzeitsgäste oben auf der Burg.

Marius und Clara schauten ein paar Minuten in den Himmel, dann nahm er sie an der Hand. »Komm, gehen wir zurück zur Burg«, sagte er leise.

Ihr Herz zog sich zusammen vor Wehmut. Der magische Moment war vorüber. Aber egal, sie musste ohnehin mal wieder nach ihrem Großvater schauen.

Im Forsthaus


Wieder einmal hatte Clara schlecht geschlafen; der Albtraum, der sie bereits ihr ganzes Leben quälte, hatte sie um drei Uhr morgens aufschrecken lassen. Mit zitternden Knien war sie ans Fenster gegangen und hatte es geöffnet, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Der kalte, nackte Raum mit den weißen Fliesen, der sie in ihren Träumen immer heimsuchte, stand ihr noch klar vor Augen.

Es war Ende November, fast Dezember, und die nachtschwarzen Wolken fegten am Mond vorbei, verdeckten ihn. Der Wetterbericht hatte Schnee vorausgesagt.

Die folgenden Stunden über lag ein eisiger Geruch in der Luft, der nach frühem Winter roch. In ihrem Unterrichtsraum im Musikladen Zauberflöte, in dem sie den Großteil des Tages verbrachte, merkte Clara allerdings wenig davon, denn die Zeit war nahtlos mit Einzel- und Gruppenstunden gefüllt.

Am Nachmittag verabschiedete sie die drei Vierjährigen, die sie wie jeden Dienstag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr im Blockflötenspiel unterrichtete.

»Packt eure Flöten ein. Mia, hör auf, Sophie zu schubsen«, sagte sie erschöpft. »Beeilt euch ein bisschen, Kinder, eure Mamas warten draußen.«

»Tschüss, Frau Liebrecht.«

»Tschüss, Kinder.«

Emil fiel ihr wie jeden Dienstag zum Abschied um den Hals. Clara erwiderte seine Umarmung. Die Kleinen waren anstrengend, weil sie während der Musikstunde unentwegt plapperten, sich stritten und zuhause nie übten, aber sie waren ihr dennoch ans Herz gewachsen.

Als die Kinder und ihre Mütter verschwunden waren, packte Clara ihre Noten zusammen und ging in die Teeküche, um sich noch schnell einen Kaffee zu kochen. Sie hoffte, ihre Freundin Stephanie Braun-Turmquai, mit ihr zusammen gleichberechtigte Inhaberin des Musikladens Zauberflöte, noch kurz zu treffen, bevor sie nach Hause zu ihrem Großvater und Simon fuhr.

Die Teeküche war klein, aber gemütlich. In allen Ecken und auf Regalbrettern stapelten sich Bücher, Noten, kleinere Instrumente und vorweihnachtliche Bastelarbeiten, die die jüngeren Musikschüler ihnen geschenkt hatten.

Der Musikladen erstreckte sich über das Erdgeschoss des Hauses; obendrüber wohnte Stephanie mit ihrer Familie, ihrem Mann und ihren vier Kindern.

Im Hauptverkaufsraum der Zauberflöte gab es von kleineren Instrumenten wie diversen Flöten über Violinen und Bratschen aus glänzend poliertem Holz bis hin zu funkelnden Blechblasinstrumenten alles, was das Herz begehrte. Musikzubehör wie Noten, Liedhefte und allerlei Krimskrams wie Instrumententaschen, die es in diskretem Schwarz oder knallbunten Farben gab, ergänzten das Angebot.

Im Hintergrund ließen Clara und Stephanie stets leise, kaum wahrnehmbare Musik laufen, mal vergnügten Jazz, mal mitreißende Klassik. Deshalb hatten die Kunden, die aus der lauten Einkaufszone in den Laden traten, das Gefühl, einen ganz besonderen, weltentrückten Ort zu betreten. Hier konnten sie in Ruhe stöbern und der Musik lauschen, ohne gestört oder bedrängt zu werden.

Die Wände zwischen den Regalen waren mit großen Schwarz-Weiß-Postern von berühmten Violinisten und Pianisten geschmückt, was den Eindruck, eher an einem Ort der Kunst als des Konsums zu sein, verstärkte.

Da größere Instrumente eher selten verkauft wurden, gaben die beiden Freundinnen im Hinterzimmer der Zauberflöte Musikunterricht für alle Altersklassen. Dieses Angebot wurde von den Einwohnern der kleinen Stadt gerne angenommen.

Weil der Verkaufsraum leer war, nutzte Stephanie die kleine Pause. Sie hing in der Küche in einem der alten Lehnstühle wie ein gestrandeter Vogel. Mit ihren tiefschwarzen, zu einem raspelkurzen Pixie geschnittenen Haaren und dem grauen Kaschmirponcho, über dem sie mehrere Silberketten trug, war sie eine markante Schönheit.

»Fertig für heute mit dem Unterricht?«, fragte Stephanie und schlürfte ihren schäumenden Milchkaffee.

»In jeder Hinsicht«, seufzte Clara. »Die Kleinen sind anstrengend. Mia und Sophie haben sich mitten in der Stunde in die Wolle gekriegt und eine Rauferei angefangen. Frag mich nicht, wieso. Es schien um Haarspangen zu gehen.«

Stephanie stieß ihr raues Lachen aus. »Wenn die Eltern wüssten. Die denken, ihre lieben Kleinen würden brav im Stuhlkreis sitzen und eine Stunde lang Flöte spielen.«

In diesem Moment ertönte aus dem oberen Stockwerk ein ohrenbetäubendes Kreischen, dazu ein wildes Getrampel, als würde dort eine Verfolgungsjagd stattfinden.

Stephanie verdrehte nur die Augen und sank tiefer in ihren Stuhl. Clara grinste in sich hinein und nahm ihren Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten.

»Ich brauche mich nicht über unsere Schüler beschweren«, murmelte Stephanie. »Meine eigenen vier sind unmöglich genug.«

Emelie, Florian, Ella und Felix, alle zwischen vierzehn und acht Jahren alt, schienen sich wüst zu beschimpfen. Dann rumpelte es erneut, als sei ein Stuhl umgefallen.

»Ich schalte mal lieber in den Ignore-Mode«, sagte Stephanie. »Sei froh, dass du nur ein Kind hast. Was treibt dein Filius eigentlich?«

»Er …«, begann Clara, doch in diesem Moment gab ihr Handy einen Dreiklang von sich. Stirnrunzelnd las sie die eingegangene Nachricht. »Von Simons Vater.«

»Das Übliche?«, fragte Stephanie mitfühlend.

Clara nickte bedrückt. »Ja. Er kann Simon am Wochenende nicht besuchen. Er hat geschäftlich in Hamburg zu tun.«

»Wann hat Simon seinen Vater das letzte Mal gesehen?«

»Keine Ahnung. Es ist bestimmt schon sechs oder sieben Monate her. Christian hat jedes Mal eine andere Ausrede. Er schafft es nie in die Pfalz, um seinen Sohn zu sehen. Für Simon ist das eine Katastrophe. Mit fast zwölf braucht er seinen Vater.«

»Nun ja, wenigstens hat er seinen Uropa«, sagte Stephanie und betrachtete sie über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.

»Ja. Und Johann kümmert sich rührend um ihn. Aber er wird auch nicht jünger. Simon bräuchte einen Vater mehr denn je.«

»Wo wir gerade von Männern sprechen … Hast du mal wieder etwas von dem Journalisten gehört, dem du auf dieser schrägen Rapper-Hochzeit begegnet bist?«

»Ach, der.« Clara gelang es, gleichzeitig zu lächeln und unwirsch abzuwinken. »Das ist Monate her. Nach der Hochzeit hat er mir ein oder zwei Nachrichten geschrieben, dass er irgendeine Indie-Band auf ihrer Tour durch Russland und China begleiten muss, um eine Artikelserie zu schreiben. Die Tour sollte drei Monate dauern. Es war ihm wohl nicht wirklich recht, so lange außer Landes zu sein, aber das ist nun mal sein Job.«

»Wahrscheinlich wäre er lieber in deiner Nähe geblieben«, mutmaßte Stephanie. Sie hatte sich interessiert vorgebeugt und balancierte die Kaffeetasse gefährlich auf ihrem übergeschlagenen Knie. Claras – nicht vorhandenes – Beziehungsleben war eines ihrer Lieblingsthemen und sie sparte normalerweise nicht mit ungefragten Ratschlägen. »Warum schreibst du ihm nicht mal ab und zu eine Nachricht, damit er dich in Erinnerung behält? Ihr habt euch doch gut verstanden auf der Hochzeit, und mal ehrlich, Clara …«

»Ja?«, seufzte diese und biss sich auf die Lippen, um ihr Schmunzeln zu verbergen. Gleich würde ihre Freundin sie mit Tipps und Ratschlägen überschütten und ihr wie jede Woche vor Augen führen, dass sie für eine zweiunddreißigjährige Frau ein viel zu zurückgezogenes Leben führte.

»Wie lange soll das so weitergehen? Du bist eine attraktive Frau. Wenn du dich nur nicht immer ganz in Schwarz kleiden würdest …« Stephanie deutete anklagend auf ihre schwarze Hose und den schwarzen Rollkragenpullover, von dem sich ihr kastanienbraunes Haar fast rötlich abhob. »So, als würdest du permanent auf Beerdigungen gehen. Natürlich siehst du superelegant aus, aber Lebensfreude strahlt das nicht aus.«

»Das ist eben mein Stil«, sagte Clara, trank ihren Cappuccino aus und spülte die Tasse.

»Ja, von mir aus«, fuhr Stephanie fort. »Wenn es nur das wäre. Aber noch dazu führst du dieses einsame Leben mitten im Wald … Deshalb finde ich, du solltest dir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, deine Bekanntschaft mit diesem Journalisten zu vertiefen.«

Clara trocknete ihre Tasse ab und stellte sie wieder in den Küchenschrank. »Ich werde nichts vertiefen«, sagte sie leise, und ein bitterer Zug lag um ihren Mund. »Welcher Mann interessiert sich schon für eine Frau mit einem pubertierenden Sohn, der einem den letzten Nerv raubt? Eine weitere Zurückweisung brauche ich wirklich nicht.«

»Das ist es, ja?«, fragte Stephanie vehement. »Du vermutest, dass es sowieso nicht klappt und versuchst es erst gar nicht.«

»Ich muss los«, sagte Clara und warf einen Blick auf die Uhr. »Simon ist bestimmt schon zuhause. Außerdem – was war schon zwischen Marius und mir? Wir befanden uns auf einer durchgeknallten Hochzeitsparty, haben Champagner zusammen getrunken und waren etwas angeheitert. Im wirklichen Leben bin ich mit meinem Sohn und meiner Arbeit in der Zauberflöte voll ausgelastet.«

»Unsinn«, widersprach Stephanie. »Ich schaffe es doch auch, diesen Laden zu führen und nebenher noch Mann und vier Kinder unter einen Hut zu bekommen.«

Vom oberen Stockwerk ertönte ein Krach, als sei eine Bombe ins Haus eingeschlagen.

»Du fetter Mistkäfer«, hörten sie die vierzehnjährige Emelie kreischen, dann erfolgte anscheinend eine wilde Verfolgungsjagd durch die Wohnung, bei der der zehnjährige Felix vor Lachen schrie. Möbel wurden verschoben, Gegenstände fielen krachend zu Boden.

»Du kriegst mich nicht, du hohle zugepinselte Kuh!«

»Gib mir mein Smartphone zurück! Ich bring dich um, du hässliche Missgeburt!«

Stephanie ließ den Kopf auf den Tisch sinken. »Ich nehme alles zurück. Ich bekomme gar nichts unter einen Hut und ich sollte mich davor hüten, anderen Leuten Ratschläge zu erteilen.«

Clara lachte, umarmte ihre Freundin zum Abschied und schlüpfte in ihren schwarzen Mantel. »Bis morgen, altes Haus.«

»Ja«, murmelte Stephanie. »Fahr vorsichtig. Es sieht nach Schnee oder Sturm oder was weiß ich was aus.«


Es war zwar erst kurz vor fünf, aber der Himmel hatte sich zugezogen, war fast schwarz, und noch immer jagten die Wolken darüber hinweg. Die Schweinwerfer der Autos schienen wie Leuchtsignale in der frühwinterlichen Düsternis. Als sie Bad Dürkheim, wo sich die Zauberflöte befand, hinter sich ließ und über die Landstraße zwischen den Weinbergen hindurch heimwärts fuhr, begannen tatsächlich, wie vorausgesagt, winzige Schneeflocken durch die Luft zu treiben; sie wirbelten in den hellen Lichtkegeln der Straßenlaternen.

Clara war froh, als sie die Straße zum Wald erreichte, in dem sie mit ihrem Großvater und ihrem Sohn im ehemaligen Forsthaus wohnte. Stephanie hatte recht damit, dass ihr Zuhause völlig einsam und abgeschieden lag.

Sie hatte die letzten Häuser, die sich an den Waldrand schmiegten, bereits lange hinter sich gelassen und war dem holprigen, von der Feuchtigkeit aufgeweichten Waldweg eine ganze Weile gefolgt, bis das Forsthaus endlich in Sicht kam. Mitten im Nichts, umgeben von dicht stehenden Bäumen mit kahlen Ästen oder dünnen Nadeln.

Doch alle Fenster des Hauses waren hell erleuchtet und hießen sie warm willkommen. Dies hier war ihr Zuhause. Ihr Großvater Johann hatte das Haus vor Jahrzehnten, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, gekauft, um einen Rückzugsort zu haben, denn seine steile Karriere als Sänger hatte ihm viel abverlangt. Zeitweise hatte Clara bereits als Kind mit ihrem Opa und Oma Hilda hier im Pfälzerwald gelebt, bis Johann mit der kleinen Familie wieder nach Kaiserslautern umsiedelte, wo sie eine Villa in der Stadt bewohnten.

Johann hatte sich vor Jahren schon vom Musikbusiness verabschiedet und verbrachte seinen Lebensabend nun im Forsthaus. Er bewohnte das untere Stockwerk, seine Enkelin und sein Urenkel logierten oben.

Clara war froh über dieses Arrangement, denn sie verdiente nicht viel und so sparte sie die Miete. Weitaus wichtiger war jedoch, dass Johann ihr gerne zur Verfügung stand, um Simon nachmittags zu betreuen, wenn sie arbeitete. Sie bildeten ein harmonisches Dreiergespann, genossen die Idylle des Waldes; und dennoch – Clara musste Stephanie insgeheim recht geben – überkam sie manchmal die Einsamkeit, wenn sie abends an ihrem Schlafzimmerfenster stand und in den stillen Wald hinausschaute.

Sie öffnete die schwere Haustür und trat in das dämmrige Treppenhaus ein.

»Hallo, Opa«, rief sie, während sie ihren Mantel an die Garderobe hängte. »Ich bin wieder da.«

Die Tür zu Johanns Wohnzimmer war angelehnt, aber wie üblich hörte er sie nicht, da er sich ganz den Klängen von Beethovens Neunter hingab.

Clara ging die knarrende Holztreppe hoch zu ihrer Wohnung. Das Haus sah noch immer wie ein altes Forsthaus aus – alles war aus dunklem Holz, das Treppengeländer und die Türen kunstvoll geschnitzt. An den Wänden hingen sogar noch Geweihe, die Clara gerne entsorgt hätte, doch sie war von ihren beiden Mitbewohnern überstimmt worden. Weiche Teppiche und moderne Malereien dämpften die urige Atmosphäre im oberen Stockwerk. Im Wohnzimmer stand ein Flügel, auf dem sie spielte, wenn ihr danach war.

Als sie ihre Tür hinter sich schloss, verstummte Beethoven, stattdessen schrie Bushido aus dem Kinderzimmer.

»Ich bin zu Hause«, sagte sie und warf einen Blick durch den Türspalt. Ihr Sohn lag auf dem Teppich und machte Hausaufgaben zu dem ohrenbetäubenden Sprechgesang.

Clara verkniff sich die Bemerkung, dass kein Mensch bei diesem Lärm vernünftig Schularbeiten machen konnte. Das hätte nur gleich wieder für Streit gesorgt.

Wie üblich blickte Simon noch nicht mal auf.

Clara seufzte und schaltete die Musikanlage aus.

»Hey!«, rief Simon empört. »Was soll das? Chill mal.«

Sie setzte sich aufs Bett. »Ich habe leider schlechte Nachrichten, Schatz. Dein Vater kann am Wochenende doch nicht kommen. Es tut mir leid.«

Simon richtete sich auf; ganz kurz flackerte ein schwer zu deutender Ausdruck in seinen blaugrauen Augen auf, dann versteckte er sich wie üblich hinter einer mürrischen Miene.

»Warum?«

»Er ist beruflich in Hamburg.«

»Soso.« Simon schmiss seinen Füller in die Ecke, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Wieder mal. Ich kaufe ihm seine blöden Ausreden nicht mehr ab. Er kann mich mal.«

Clara versuchte, ihm über das verstrubbelte braune Haar zu streichen, doch Simon drehte sich rasch weg. »Lass mich. Ich bin total angefressen. Alle haben einen Vater, nur ich nicht. Alle anderen in meiner Klasse leben in einer richtigen Familie.«

Ich hatte auch keinen Vater, dachte Clara traurig. Geschweige denn eine Mutter.

Simon warf ihr ein Schulheft vor die Füße. »Die Schmidt-Elbers hat uns in Englisch ein Projekt aufgebrummt. Family Tree. Ich könnte ihr den Hals umdrehen.«

»Nun mal langsam«, sagte Clara und hob das Heft auf. »Was musst du tun?«

»Wir sollen einen Familienstammbaum auf ein großes Plakat zeichnen. Alle Familienmitglieder sollen drauf mit Namen und englischer Verwandtschaftsbezeichnung. Eltern, Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins. Das Ganze sollen wir mit Fotos und Erinnerungsstücken verzieren. Es gibt eine Note dafür. Meine Fünf ist vorprogrammiert – wie scheiße sieht ein Stammbaum aus, auf dem ganze drei Personen abgebildet sind?«

»Du kannst deinen Vater trotzdem abbilden, auch wenn er nicht hier ist. Und Uroma Hilda und meine Eltern auch, auch wenn sie bereits tot sind«, warf Clara leise ein, doch Simon hörte ihr wie üblich gar nicht zu.

»Lukas hat zwei Schwestern, ein vollständiges Elternpaar und eine Menge Onkel und Tanten. Das sieht doch auf so einem Plakat schon mal ganz anders aus«, schimpfte er vor sich hin und trat mit seinem bestrumpften Fuß nach seinem Schulrucksack.

»Ich helfe dir bei deinem Projekt«, versprach Clara. »Uropa hat mit Sicherheit jede Menge Fotos und Zeitungsartikel aus der Zeit, als er ein berühmter Sänger war. Das macht doch schon mal was her, oder? Und deine Urgroßmutter Hilda war eine angehende Primaballerina, bevor sie ihn geheiratet hat. Auch von ihr gibt es sicherlich ein paar interessante Aufnahmen. Wir fragen Uropa, was er noch alles an Erinnerungsstücken hat. Der Keller ist bestimmt voll davon.«

Clara klang zuversichtlicher, als sie war. Sie hatte in Johanns Schränken und Kisten nie irgendwelche Andenken gesehen, aber irgendetwas musste doch da sein.

»Von mir aus«, murrte Simon und schaltete die Musik wieder an. Bushido erklang lautstark durch das ganze Stockwerk – das Zeichen, dass das Gespräch von seiner Seite aus beendet war.


Nach dem Abendessen verschwand Simon gleich wieder in sein Zimmer, um mit Kopfhörern Spiele am Computer zu spielen. Clara sah aus dem Fenster in den undurchdringlich dunklen Wald. Der Wind riss an den Fensterläden und noch immer wirbelten Schneeflocken umher. Es war jedoch kein Schnee liegengeblieben, dazu war er zu spärlich. Der Waldboden war immer noch trocken und brüchig. Dunkle Schatten flogen vorm Fenster vorüber; manchmal war es Clara doch unheimlich, so fernab der Zivilisation zu wohnen.

Sie ging nach unten und klopfte bei Johann. Ihr Großvater saß in seinem geräumigen Wohnzimmer am Kamin und starrte in die Flammen. Eine behagliche Wärme hatte sich im Raum ausgebreitet, das Feuer knisterte und zischte.

»Setz dich zu mir«, sagte Johann und klopfte auf das Ledersofa neben sich.

Clara nahm Platz und genoss die Wärme des Feuers.

»Auch ein Glas Wein?« Wie jeden Abend hatte Johann bereits ein zweites Glas auf den Tisch gestellt. Clara lächelte und ließ sich ein Glas einschenken.

»Danke, Opa.«

»Wie war dein Tag?«

»Wie immer.« Einen Moment herrschte eine nicht unangenehme Stille, während sie beide einen Schluck tranken.

»Simon muss in Englisch eine größere Arbeit anfertigen. Hat er dir davon erzählt?«

Johann schmunzelte. »Nein. Die Schule ist keines seiner Lieblingsthemen.«

»Wem sagst du das. Er muss einen Familienstammbaum zeichnen und mit Erinnerungsstücken aus der Familiengeschichte ergänzen. Er könnte deine Hilfe gebrauchen, Opa. Hast du irgendwelche Sachen? Fotos? Zeitungsartikel über dich?«

»Hm.« Johann stellte sachte sein Glas auf dem Tisch ab. Clara war, als meide er ihren Blick. »Ja, Zeitungsartikel, Ausschnitte aus Illustrierten und so weiter habe ich. Programme von Konzerten.«

»Und von Oma?«

Johann sah auf das in Öl gemalte Portrait seiner verstorbenen Frau Hilda, das über dem Kamin hing. Der Hintergrund war dunkel, verschwommen, doch die einst junge Ballerina im weißen Tutu und mit den kastanienbraunen, zu einem strengen Dutt aufgesteckten Haaren trat dafür umso zarter und heller hervor. In anmutiger Pose schaute sie den Betrachter mit sanften braunen Augen an.

»Vielleicht das eine oder andere Foto von ihrer Zeit an der Hochschule für Kunst und Tanz«, räumte Johann ein. Clara kannte ihn gut; ihr entging der leicht widerwillige Ton nicht.

»Und … von meinen Eltern?«, fragte sie leise.

»Nein, nichts«, antwortete Johann sofort. Als er merkte, wie die Augen seiner Enkelin auf ihm hingen, fügte er besänftigend hinzu: »Es ist nichts da. Deine Mutter war so jung … Und deinen Vater haben Hilda und ich kaum kennengelernt, das weißt du.«

Clara starrte in die flackernden Flammen. Ihre Großeltern hatten es Zeit ihres Lebens vermieden, viel über ihre Eltern, an die sie sich nicht erinnern konnte, zu sprechen. Das Thema hatte von jeher wie ein Schatten über ihnen gehangen. Clara hatte nie insistiert, da sie immer angenommen hatte, es sei zu schmerzlich gewesen, die Tochter so früh und unter tragischen Umständen zu verlieren. Doch so langsam machte sich Verdruss in ihr breit. Es konnte nicht sein, dass es keinerlei Erinnerungsstücke von ihrer Mutter gab, alte Poesiealben, Spielsachen, Schulkram. Sie würde bei nächster Gelegenheit mal in den Keller gehen und die vielen eingestaubten Kisten und Regale durchsehen. Irgendetwas musste es geben. Sie verspürte plötzlich eine brennende Neugier, Dinge ihrer unbekannten Eltern zu finden, nicht nur für Simons Projekt, sondern auch um ihretwillen. Wie Simon hatte sie das Gefühl, dass einige Mosaiksteinchen ihres Lebens fehlten.

»Lass die Vergangenheit ruhen«, sagte ihr Großvater müde. Er erhob sich mühsam und schob zwei weitere Holzscheite ins Feuer, das knisternd aufloderte. »Wühl nicht darin herum, das bringt nichts.«