Die Autorin

Jennifer Waschke – Foto © privat

Jennifer Waschke wurde 1988 geboren. Aufgewachsen im Kölner Norden lebt sie inzwischen in Dormagen, fühlt sich jedoch noch immer mit Köln verbunden. Sie ist staatlich anerkannte Erzieherin und Sozialarbeiterin und arbeitet in einer Abteilung vom Jugendamt. Seit ihrer frühsten Kindheit schreibt sie Geschichten und träumt davon, ihre eigenen Bücher in den Händen halten zu können. Dabei ist es ihr ein Anliegen, mit ihren Geschichten nicht nur zu unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anzuregen. 

Das Buch

Ihr Herz ruft seinen Namen, doch das Echo wird immer nur Verrat und Enttäuschung sein

Ellie musste schon viele Rückschläge verkraften. Doch nun erfüllt sich einer ihrer größten Träume – das Studium an der Wunsch Uni. Endlich kann sie wieder nach vorne blicken und ihr Leben, nach dem Tod ihrer Eltern wieder aufnehmen. Aber dann trifft sie auf einer Party plötzlich Jonah, ihre erste große Liebe wieder. Und Ellies Welt gerät ins Wanken. Denn Jonah hat sie in der schwersten Zeit ihres Lebens einfach allein gelassen. Immer häufiger laufen die beiden sich an der Uni über den Weg und sie merken schnell, nicht alle Gefühle zwischen Ihnen sind erloschen.

Aber schaffen sie es, die Kluft zwischen sich zu überwinden?

Von Jennifer Waschke sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Du und ich gegen den Rest der Welt
Weil mein Herz dich ruft

Jennifer Waschke

Vielleicht habe ich an dich gedacht

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Februar 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-552-4

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Widmung

Für Mike. Du fehlst mir.

1


Ellie

Ich bin nicht nur nervös, sondern mir geht der Arsch auf Grundeis. Eigentlich ist es bescheuert, weil ich doch monatelang auf diesen Tag hingefiebert habe. Aber nun, wo der Transporter von meinem Onkel vor dem Haus parkt und ich auf den beigen Altbau schaue, überkommen mich so viele Ängste und Zweifel, dass ein Teil von mir wieder umkehren will.

»Wieso mache ich das nochmal?«, frage ich meinen Onkel, der gerade den Motor ausstellt. Das Lied von Céline Dion verstummt und lässt damit Platz für zu laute Gedanken.

Onkel Helmut lächelt sanftmütig. »Weil es schon seit Jahren dein Traum ist, in Köln zu studieren. Schon vergessen?«

»Ach ja«, sage ich lahm. Dieser Traum liegt gerade begraben unter einem Berg aus Sorgen. Ich bin echt ein gottverdammter Angsthase.

»Na komm, es wird bestimmt gut.« Mein Onkel tätschelt mir die Hand. »Du hast doch gesagt, dass deine neuen Mitbewohner nett sind.«

»Ja. Das denke ich. Aber was, wenn sie in Wirklichkeit ganz furchtbar sind und wir uns dauernd streiten?« Panik flackert in mir auf. Wieso bin ich nur auf die Idee gekommen, mit drei fremden Leuten in eine Wohnung zu ziehen? Ich habe noch nie mit jemandem zusammengelebt, der nicht zur Familie gehört. Wer weiß denn schon, ob ich kompatibel mit anderen bin?

»Das wirst du nur herausfinden, wenn du aus diesem Wagen steigst, in die Wohnung gehst und ihnen eine Chance gibst.«

Ich nicke wie in Trance. Ohnehin kann ich mir keine eigene Wohnung leisten. Dieses WG-Zimmer ist das Einzige, was ich hier bekommen habe. Der Wohnungsmarkt in Köln ist total überlaufen und meine finanziellen Mittel sind begrenzt, also habe ich nur diese Option, wenn ich nicht stundenlang zur Uni pendeln will.

Ich sehe nochmal hoch in den dritten Stock. Ab sofort mein Zuhause. Zumindest für die nächsten drei Jahre. »Okay«, sage ich und schlucke schwer. »Dann lass uns aussteigen.«

»Das ist mein Mädchen.« Mein Onkel lächelt mir nochmal aufmunternd zu, dann beginnen wir, die ersten Kisten aus dem Lieferwagen zu hieven. Viel Kram habe ich nicht. In dem WG-Zimmer gibt es schon ein Bett, einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank vom Vormieter und so musste ich nicht mal Möbel kaufen – abgesehen von einem großen Spiegel, einer Stehlampe und einem Bücherregal.

Da ich meinen Schlüssel erst noch bekomme, klingeln wir an der Tür, die sofort aufgedrückt wird. Mein Herz beginnt zu rasen, was nichts mit den vielen Stufen zu tun hat, die zwischen mir und der Wohnung liegen. Immerhin werde ich nach drei Jahren tolle Waden haben, wenn ich immer die Treppe hoch und runtergehen muss. Ich klammere mich an diesen Gedanken wie an einen Rettungsring, um von meiner Nervosität nicht verschluckt zu werden. Es tut gut, meinen Onkel hinter mir zu wissen.

Von Tante Klaudia habe ich mich schon heute Morgen verabschiedet, da sie samstags immer in der Bibliothek aushilft und nicht frei bekommen hat. Ich vermisse sie schon jetzt. Der Gedanke, dass mir so ein Abschied gleich auch mit meinem Onkel bevorsteht, macht mich ganz trübselig.

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viele verschiedene Emotionen auf einmal gefühlt habe. Ich bin wie ein Stimmungsring, der sich nicht entscheiden kann, welche Farbe er hat. Bin ich jetzt aufgeregt, ängstlich, voller Vorfreude oder neugierig? Wie kann es überhaupt sein, dass ich so unterschiedliche Emotionen auf einmal spüre?

Die weiße Tür, die zur Wohnung führt, steht einen Spalt breit offen. Ich höre Stimmen. Die Stimmen meiner neuen Mitbewohner.

»Bist du bereit?«, flüstert mein Onkel mir zu und legt mir seine Hand auf meine Schulter.

Ich nicke und zucke gleichzeitig mit den Schultern. Prima, jetzt bin ich wie Gollum. Zwei Seiten kämpfen in mir und ich bin nicht sicher, welche nun gewinnen wird: Die Angst oder die Vorfreude?

Kurz überlege ich, wieder nach unten zu gehen und mich im Transporter einzuschließen, aber mir ist durchaus bewusst, dass das nicht das Verhalten wäre, das von einer Studentin erwartet wird. Ich muss jetzt erwachsen werden, auch wenn ich es eigentlich kein Stück bin.

Ich atme tief durch, dann stupse ich die Haustür ein wenig weiter auf und betrete die Wohnung. Die dunklen Dielen knarren unter meinen Füßen und agieren wie ein natürlicher Bewegungsmelder. Ich lande direkt im Flur, wo die anderen schon auf mich warten und sofort die Köpfe nach mir umdrehen.

»Ellie, da bist du ja.« Meine neue Mitbewohnerin Alina kommt auf mich zu und umarmt mich schwungvoll. Schon beim ersten Treffen habe ich gemerkt, dass sie keine Probleme damit hat, auf andere zuzugehen. Sie hat mir sofort von ihrem Auslandsjahr in Australien erzählt und war total aufgedreht. Aber ich mag das. So muss ich mir wenigstens keine Gedanken darüber machen, wie ich ein Gespräch anfangen kann, weil Alina das für mich übernimmt.

»Hey, Leute«, sage ich in die Runde. Die Nervosität flattert in meinem Bauch. »Das hier ist mein Onkel. Helmut.« Ich zeige auf meinen Onkel, der hinter mir steht. »Und das sind meine Mitbewohner. Alina, Merle und Hendrik.« Mein Blick bleibt an der vierten Person hängen, ein Typ mit dunkelblonden Haaren und einer Cap, die er verkehrt herum trägt. »Äh … und du bist?«

»Lars Großkreuz.«

»Unser Nachbar«, erklärt Hendrik. »Wir dachten, du könntest beim Umzug noch etwas Hilfe gebrauchen.«

»Oh, das ist super. Vielen Dank.« Ich lächle Lars an, während mein Onkel allen die Hand gibt und sich nochmal offiziell vorstellt.

»Also, dann legen wir doch mal los«, sagt Hendrik und klatscht in die Hände.


Zu sechst ist der Transporter schnell ausgeräumt. Die Kartons stapeln sich im Flur, da in meinem Zimmer noch die Möbel verschoben werden. Ich will probieren, das Bett unter das Fenster zu schieben, auch wenn es den Raum vielleicht etwas kleiner macht. Ich schlafe einfach lieber unter Fenstern. Ich mag es, wenn ich den Regen besser hören kann – wozu sonst soll ein schräges Fenster unterm Dach gut sein? Außerdem bin ich eine Frischluftfanatikerin, die selbst im tiefsten Winter gerne die Fenster aufreißt. Mein Onkel hat deswegen immer geschimpft und mir einzureden versucht, dass Frauen normalerweise eher Frostbeulen sind, aber auf mich trifft das einfach nicht zu.

Kurz wirft es mich aus der Bahn, dass ich solche Sprüche von meinem Onkel bald nur noch an Wochenenden hören werde, wenn ich ihn besuchen komme. Es fühlt sich komisch an, ihn zu verlassen. Es schmerzt mehr, als ich vermutet hätte.

»Ellie, komm, sieh’s dir mal an«, ruft mein Onkel. Ich verlasse den Flur und gehe in mein Zimmer. Das Bett steht nun direkt unter der Dachschrägen und dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen der Schreibtisch und das neue Regal, in das ich meine Bücher stellen will.

»Es gefällt mir«, sage ich ehrlich. So eingerichtet fühlt es sich schon viel mehr nach mir an, als könnte ich mich hier wirklich wohlfühlen.

»Sehr gut.« Mein Onkel schnaubt. »Dann haben wir uns jetzt alle eine kleine Stärkung verdient.«

Ich nicke und hole die belegten Brötchen, die meine Tante vorbereitet hat.

»Sollen wir dir gleich auch noch beim Auspacken helfen?«, fragt Merle. Sie sieht Alina so ähnlich, dass ich sie beim ersten Besuch für Schwestern gehalten habe. Sie haben beide diese schlaksige Figur und spitze Nasen, aber in ihrer Haarfarbe unterscheiden sie sich. Merles Haare sind aschblond, während Alinas Haare eher kastanienbraun, manchmal fast rötlich, schimmern. Außerdem ist Merle einen Kopf kleiner als Alina, auch wenn sie im Vergleich zu mir beide winzig sind. Mit meinen 1,75 Metern komme ich mir vor wie eine Riesin, wenn ich neben ihnen stehe.

»Ich denke, das mache ich alleine. Viel Kram habe ich sowieso nicht dabei. Das meiste sind Klamotten.«

»Na gut«, antwortet Merle. »Aber wenn du doch Hilfe brauchst, dann sagst du uns Bescheid.«

»Auf jeden Fall.«

Wir essen unsere belegten Brötchen viel zu schnell. Ich wünschte, wir würden länger essen, denn ich weiß, dass es danach Zeit für den Abschied wird. Auch wenn ich gleichzeitig weiß, dass ich meinen Onkel bald wiedersehe und er nur rund vierzig Kilometer entfernt lebt, zieht sich mein Herz zusammen. Ich mag Abschiede nicht. Ich mag den Gedanken, an die Uni zu gehen, aber wirklich alleine zu wohnen und meinen Onkel und meine Tante zu verlassen, fühlt sich falsch an.

»Guck nicht so traurig«, flüstert er mir zu, als ich ihn umarme. »Wir sind doch nicht aus der Welt.«

»Ich weiß. Aber es wird trotzdem anders werden.«

»Veränderungen sind nicht immer was Schlechtes. Du wirst das schon hinbekommen. Und wenn etwas ist, steige ich sofort ins Auto und bin in Warpgeschwindigkeit wieder da.«

Ich gebe eine Mischung aus Schluchzen und Lachen von mir. »Alter Trekkie«, sage ich.

»Ich bin mir sicher, dass die Zeit auf der Uni toll wird. Du hast super Mitbewohner, ein schönes Zimmer und du bist in der Stadt, in der du schon immer leben wolltest. Köln wird dir sicher gefallen.«

Ich nicke an Helmuts Schulter. Ich wünsche mir wirklich, dass er recht hat. Und irgendwie weiß ich sogar, dass er recht haben wird. Aber es ändert nichts daran, dass dieses Gefühl von Verlust im Raum schwebt. Ich kenne das Gefühl. Es ist wie ein alter Bekannter, der auf mich zukommt. Es nagt an mir. Obwohl es nicht dasselbe ist wie damals mit meinen Eltern, fühlt es sich dennoch vergleichbar an. Mein Onkel und meine Tante waren die letzten eineinhalb Jahre alles für mich: Meine Felsen in der Brandung.

Der Grund, wieso ich wieder lachen kann.

Und jetzt werde ich sie nicht mehr jeden Tag sehen.

Erwachsenwerden fühlt sich in diesem Moment einfach nur scheiße an.


Ich versuche, mich mit dem Auspacken der Kisten abzulenken, aber es ist merkwürdig, meine Habseligkeiten nun in einem anderen Raum zu wissen. Alles riecht fremd und ich kann im Zimmer neben mir die Jungs hören, die scheinbar ein Computerspiel zocken. Es ist komisch, die anderen zu hören und zu wissen, dass es jetzt jeden Tag so sein wird.

Himmel. Ich wohne tatsächlich mit Fremden in einer Wohnung! Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.

Ich lasse mich auf den Boden nieder, direkt neben meine restlichen Kisten, und verharre in dieser Position. Der Kloß in meinem Hals wächst, ich habe das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen.

Atmen, Ellie. Atmen.

Das Mantra hilft. Es hilft mir immer, schon seit eineinhalb Jahren. Seit es mir Dr. Pitrol gezeigt hat. Seit ich dazu neige, Erstickungsgefühle zu haben, die gar nicht wirklich da sind. Es ist alles in meinem Kopf. Dieser Kloß in meinem Hals, der dann wie ein Stein darin liegt und mich am Atmen hindert, ist eingebildet. Ein einfaches Symptom von Stress und Überforderung.

Ich lege meine Hand auf meine Brust, um mich beim Atmen zu unterstützen. Es hilft mir, zu ertasten, dass dieser Kloß nicht wirklich da und mein Hals frei ist.

Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Übungen. Alina steckt ihren Kopf durch den Türspalt.

»Alles klar?«, fragt sie.

Ich nicke. Die Kloßreste hindern mich noch am Sprechen.

»Hast du Lust auf Pizza? Wir dachten, wir feiern ein bisschen deinen Einzug.«

Eigentlich ist mir eher danach, mich in meinem Bett zu verkriechen, an meinen Onkel, meine Tante und meine Eltern zu denken und traurig zu sein. Aber ich weiß gleichzeitig auch, dass das jetzt falsch wäre. Es ist eine gute Idee, den ersten Abend hier schön zu gestalten und die anderen besser kennenzulernen.

»Das hört sich toll an«, sage ich und stehe auf.

»Super.« Alina strahlt mich an. »Wir haben hier echt einen tollen Pizzalieferservice um die Ecke. Wir bestellen da so oft, dass ich sicher schon drei Kilo zugenommen habe.«

Ich winke ab. »Nicht bei den ganzen Treppen. Das ist doch wie ein tägliches Workout.«

»Das stimmt allerdings.« Alina zieht mich an meinem Ärmel in die Küche. Ihre Berührung ist so überschwänglich, dass ich mich nicht wehre, sondern ihr mit einem Grinsen folge. Sie macht es einem wirklich leicht. Alina ist eine von denen, die scheinbar immer gute Laune und überhaupt keine Berührungsängste haben. Sie erinnert mich ein bisschen an meine Tante Klaudia. Nur dass Tante Klaudia morgens gar nicht gut drauf ist. Sie ist dann wie ihre böse Zwillingsschwester, die erst nach drei Bechern Kaffee ihre Fröhlichkeit wiedererlangt.

Der Mittag war wegen des bevorstehenden Abschieds von Onkel Helmut so aufwühlend, dass ich den Anblick der Gemeinschaftsküche erst jetzt richtig auf mich wirken lassen kann. Seit der Wohnungsbesichtigung hat sie sich kaum verändert, aber jetzt, wo ich weiß, dass ich hier wohne, sehe ich alles nochmal in einem anderen Licht. Die Küche ist riesig. Wir haben eine große Sitzecke mit einem dunkelbraunen Holztisch, ein paar Stühlen und einer Bank mit bunten Kissen. An der Wand hängt ein Infoboard mit den Aufgaben von jedem. Hendrik ist morgen mit dem Putzen vom Bad dran, Merle muss dafür den Müll rausbringen. Ich entdecke auch meinen Namen auf der Liste für die kommende Woche. Dich einleben. Ich grinse, als ich die verschnörkelte Handschrift lese. Mich einzuleben ist meine Aufgabe für die erste Woche? Das werde ich doch hoffentlich hinbekommen.

Ich setze mich auf die Bank, direkt zu dem knallpinken Kissen, das mir am besten gefällt. Ich habe eine Schwäche für Pink. Allerdings nur bei Deko, nicht an mir selbst.

Während Alina mit dem Pizzaservice telefoniert und anscheinend Pizza für eine ganze Fußballmannschaft bestellt, habe ich Zeit, mir die Küche noch etwas genauer anzusehen. Im Prinzip ist es nur eine stinknormale Küche, bei der die braune Farbe teilweise schon etwas abgeblättert ist, aber genau das gefällt mir an dem Raum so sehr. Es sieht einfach bewohnt aus. Ich hasse diese Wohnungen, die aussehen wie aus einem Möbelkatalog, wo nichts rumliegt und man denkt, niemand würde dort wohnen. Da ich selbst eher zu der chaotischen Sorte gehöre, würde so eine Wohneinrichtung nicht zu mir passen.

An ein paar Regalen stehen Namen, genau wie an den Haken an der Wand, an denen verschiedene Tassen hängen. An dem leeren Haken steht mein Name, aber eine Tasse dafür habe ich noch nicht.

»Fertig«, sagt Alina und legt ihr Handy beiseite. Sie setzt sich zu mir auf die Bank.

Nur ein paar Sekunden später tauchen Merle, Hendrik und Lars auf.

»Wie lange?«, fragt Lars.

»Dreißig Minuten«, erklärt Alina.

»Also vierzig«, erwidert Hendrik seufzend und geht zum Schrank über der Spüle. Er holt fünf Gläser heraus und reicht dann verschiedene Getränke an uns weiter.

»Danke«, sage ich und schenke mir Sprudelwasser ein. Dann richte ich mich an Alina. »Wieso denkt er, dass es vierzig Minuten werden?«

»Weil es immer zehn Minuten mehr sind als angegeben. Ein kleiner Makel, aber die Pizza ist so gut, dass wir das verzeihen.«

»Verstehe«, sage ich und nippe an meinem Wasser. Auch wenn ich noch immer etwas aufgeregt bin, legt sich die panische Nervosität langsam. »Und ihr studiert alle an der Uni?«, frage ich. Komisch, dass ich eigentlich nichts über die Menschen weiß, mit denen ich mir eine Wohnung teile. Die Wohnungsbesichtigung war recht schnell und unpersönlich. Ich war mit sieben anderen Leuten hier, wir wurden rumgeführt und dann gab es kurze Einzelgespräche, in denen aber eher Fragen an mich gestellt wurden. Ich selbst habe kaum etwas gefragt, was nicht mit Miete, Einzugsdatum oder Nebenkosten zu tun hatte. Bei dem hart umkämpften Wohnungsmarkt war es ohnehin ein Wunder, dass sie sich für mich entschieden haben.

»Ich studiere im zweiten Jahr«, erklärt Lars. »Interkulturelle Kommunikation und Bildung.«

»Oh super, dann sind wir in einer Fakultät. Der humanwissenschaftlichen, oder? Ich studiere ab nächster Woche Erziehungswissenschaften.«

»Genau wie ich«, erklärt Merle. »Deswegen habe ich auch für dich gestimmt. Ich fand den Gedanken cool, gemeinsam mit dir zur Vorlesung zu gehen.«

Ich muss ihr innerlich zustimmen. Alleine zu wissen, dass ich jetzt nicht nur Leute an meiner Fakultät, sondern sogar in meinem Studiengang kenne, ist wirklich beruhigend.

»Was ist mit euch?«, frage ich an Hendrik und Alina gerichtet.

»Hendrik studiert Rechtslinguistik. Und ich bin in Medienkulturwissenschaften.«

»Was willst du damit machen?«, frage ich interessiert.

»Am liebsten würde ich danach in Richtung Journalismus gehen. Aber ich mache mir nicht gerne Pläne, sondern gucke, wo mich der Wind hintreibt.«

»Genau wie ich«, sagt Lars und zuckt mit den Schultern. »Die Uni ist doch auch dazu da, um sich auszuprobieren. Nach dem Bachelor oder Master hat man viele Möglichkeiten. Die muss man weise ausloten.«

»Auf die Möglichkeiten!«, ruft Hendrik und streckt sein Glas in die Luft.

»Auf die Möglichkeiten!«, wiederholen die anderen und lassen ihre Gläser gegeneinander klirren. Irritiert steige ich einfach ein, ehe ich einen Schluck trinke.

Schnell habe ich heraus, dass diese Trinkrufe hier wohl dazugehören, denn Lars und Hendrik lassen sich keine Gelegenheit entgehen, um irgendwelche Sprüche zu rufen und uns daraufhin anstoßen zu lassen. Ich bin regelrecht froh, als die Pizza irgendwann kommt.

»Wer soll das alles essen?«, frage ich mit großen Augen. Als ich gesagt habe, dass Alina Pizza für eine Fußballmannschaft bestellt hat, habe ich nicht übertrieben. Ehrfürchtig starre ich auf vier Jumbopizzen, zwei Packungen Pizzabrötchen und ein Pizzabaguette.

»Wir haben gerne Auswahl«, erklärt Hendrik und öffnet die Deckel. Die Beläge lassen auf jeden Fall keine Wünsche offen.

»Außerdem können wir die Reste morgen früh essen«, sagt Merle und nimmt sich ein Stück von der Pizza mit Thunfisch und Zwiebeln. Ich selbst nehme mir ein Stück der klassischen Salamipizza.

»Magst du kalte Pizza?«, fragt Merle.

»Klar«, erwidere ich nur. Bei Onkel Helmut und Tante Klaudia gab es nur selten Pizza vom Lieferservice, aber wenn, dann haben wir die Reste auch immer kalt gegessen.

»Ich finde, kalt schmeckt es noch besser«, sagt Alina. »Vor allem, wenn man die kalten Reste dann in Frischkäse dippt.«

»Das klingt jetzt allerdings komisch«, kommentiere ich.

Lars, der mich schon die ganze Zeit nachdenklich ansieht, zeigt plötzlich mit einem Pizzabrötchen auf mich. »Ha, jetzt weiß ich es.«

»Was weißt du?«

»Ich habe die ganze Zeit überlegt, wem du ähnlich siehst, und jetzt ist es mir eingefallen. Du siehst aus wie Elsa.«

»Wer ist Elsa?«, fragt Hendrik.

»Die Eiskönigin aus Frozen«, erkläre ich seufzend. »Und ja, das höre ich öfter.« Mit meinen wasserstoffblonden Haaren, meiner hellen Haut und meinen eisblauen Augen höre ich diesen Vergleich so oft, dass er langsam nervt.

Alina nickt. »Lars hat recht. Vor allem wenn du die Haare wie heute zu einem französischen Zopf trägst.«

»Dann erinnert mich daran, ab jetzt wieder öfter offene Haare zu tragen«, sage ich theatralisch und schnappe mir ein neues Stück Pizza. Diesmal ein Stück mit Pilzen und Mais.

»Ich finde, du hast Glück«, sagt Merle. »Dein Aussehen ist wenigstens außergewöhnlich. So hellblaue Augen wie deine habe ich, glaube ich, noch nie gesehen. Das ist cool. Viel besser als meine stinknormalen braunen Rehaugen.«

»Ich finde, es passt zu dir«, erwidere ich ehrlich.

»Frauen sind doch sowieso immer unzufrieden mit dem, was sie haben«, seufzt Lars, als wäre er der Frauenversteher schlechthin. »Die Frauen mit Locken wollen glatte Haare und die Frauen mit glatten Haaren wollen Locken.«

»Das solltest du wirklich nicht so verallgemeinern«, sage ich und nehme einen großen Schluck von meinem Wasser.

»Aber es stimmt doch, oder?«

»Vielleicht«, sage ich. »Aber wenn du immer mit einer Zeichentrickfigur verglichen werden würdest, hättest du vermutlich auch keine Lust mehr auf dein Aussehen.«

»Weißt du was?«, fragt Lars und grinst mir so spitzbübisch zu, dass ich sofort eine Augenbraue hebe.

»Du solltest einfach loslassen«, sagt er und macht das Lied von Frozen an. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll, weil er immer noch dieses bescheuerte Grinsen auf dem Gesicht hat.

Als Alina und Merle plötzlich aus voller Kehle mitsingen, entscheide ich mich für die erste Variante. Lachend lege ich mein Stück beiseite, springe über meinen Schatten und steige in den Chorus mit ein.

Wir singen so laut und schief, dass ich froh bin, dass unser direkter Nachbar sich gerade im selben Raum befindet und uns nicht wegen Ruhestörung belehren kann.

Während wir immer weiter singen und die Jungs irgendwann auch einsteigen und dabei versuchen, die Handbewegungen von Elsa nachzumachen, spüre ich, wie sich meine Gedanken um meinen Onkel, meine Tante, meine Eltern und um die ganzen Veränderungen Stück für Stück legen und mein Kopf leiser wird.

Ich habe immer noch Angst. Ich denke, das gehört zu neuen Lebensabschnitten dazu. Aber ich spüre auch, dass diese WG eine gute Entscheidung war. Schon nach der kurzen Zeit habe ich das Gefühl, dass ich keine bessere Wahl hätte treffen können.

2


Ellie

Es dauert drei Tage, ehe ich wirklich alle Kisten ausgepackt und mich eingerichtet habe. Drei Tage, in denen ich immer noch leicht verwirrt zwischen Heimweh und Freude schwanke – teilweise in minütlichem Wechsel, sodass ich ein paarmal kurz davor bin, mich selbst irgendwo einzuweisen. Mein Onkel und meine Tante versichern mir am Telefon immer wieder, dass das alles ganz normal sei, und auch wenn ich ihnen nicht ganz glaube, nehme ich diese Aussage so hin. Immerhin ist der Kloß in meinem Hals nicht wiedergekommen, was ich als Fortschritt werte.

Ich schlüpfe in meine Hausschuhe, die aus dem Gesicht von zwei Teenage-Mutant-Ninja-Turtles bestehen, dann schlurfe ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Erst an der Wand mit den Tassen stutze ich und bleibe stehen.

»Das ist nicht euer Ernst!«, rufe ich durch die Wohnung.

Alina kommt kichernd in die Küche. »Das war Lars Idee.«

Ich nehme die Frozen-Tasse, die an meinem Haken hängt, in die Hand. Ich hatte bislang keine Zeit, mir eine eigene Tasse zu besorgen und es rührt mich, dass meine Mitbewohner an mich gedacht haben – beziehungsweise unser Nachbar. »Das ist lieb«, sage ich. »Aber ausgerechnet Frozen? Das werde ich jetzt wohl nicht mehr los, oder?«

Alina schmunzelt. »Lars ist bei sowas etwas speziell. Mach dich schon mal auf weitere Frozen-Geschenke gefasst. Mit etwas Glück zieht er dich bei unserem Weihnachtswichteln und dann schenkt er dir noch mehr Zeug von Elsa.«

»Kann’s kaum erwarten«, antworte ich und rolle mit den Augen. Trotzdem muss ich grinsen.

Ich stelle die Tasse unter den Kaffeevollautomaten und drücke auf den Knopf. Das Geräusch der Maschine klingt wie Musik in meinen Ohren, so sehr brauche ich Koffein. Auch wenn ich nach der dritten Nacht schon etwas besser schlafe, habe ich mich trotzdem noch nicht an die Umgebung gewöhnt und verbringe meine Nächte unruhig.

Mit der vollen Tasse setze ich mich an den Küchentisch und schäle mir eine Banane. Auf dem Tisch steht immer eine Schale mit Obst, an der wir uns alle bedienen können und die wir jede Woche auffüllen.

Merle kommt ebenfalls in die Küche, wünscht uns einen guten Morgen und beginnt sich Toast zu schmieren.

»Was habt ihr denn heute noch vor?«, fragt Merle. Sie ist eine Frühaufsteherin und morgens schon immer putzmunter.

»Ich dachte, ich sehe mir vielleicht mal den Campus an«, sage ich. »Und vielleicht hole ich mir noch ein oder zwei Zimmerpflanzen. Irgendwie brauche ich etwas Grünes, damit es nicht so kahl wirkt.«

»Gute Idee«, erwidert Merle und setzt sich mit ihrem Toastbrot an den Tisch. »Was dagegen, wenn ich mitkomme? Ich habe das Unigelände seit der Einführungswoche auch nicht mehr gesehen. Und mit Pflanzen kenne ich mich zwar nicht aus, aber ich kann dir beim Aussuchen und beim Tragen helfen.«

»Da sage ich nicht nein«, sage ich lächelnd. »Was ist mit dir, Alina?«

»Geht nicht. Ich habe heute Schicht im Café.«

»Schade.«

Ich schlürfe meinen Kaffee und erinnere mich selbst daran, meine Augen und Ohren nach Jobangeboten offen zu halten. Die letzten Monate habe ich in einer Kita in der Küche geholfen und dort das Essen zubereitet, aber das angesparte Geld reicht zusammen mit der Vollwaisenrente nur noch für dieses Jahr. Maximal noch drei Monate. Spätestens bis Januar brauche ich also eine Einkommensquelle, sonst wird es mit der Miete eng.


Das Unigelände ist riesig. Ich kenne es zwar schon aus der Einführungswoche, aber jetzt, wo ich weiß, dass ich hier jeden Tag sein werde, kommt es mir noch viel größer und unübersichtlicher vor. Die humanwissenschaftliche Fakultät liegt etwas abseits. Ich werde morgens ein paar Minuten länger einplanen müssen, um pünktlich zu kommen, auch wenn unsere WG fußläufig erreichbar ist.

»Spürst du diese Uni-Atmosphäre?«, schwärmt Merle. »Guck dir doch nur mal die Leute an.« Sie zeigt auf eine Gruppe Studenten mit wiederverwendbaren Kaffeebechern und Umhängetaschen. Das Ganze hat richtigen Uniflair, da muss ich ihr Recht geben. Obwohl es herbstlich ist, scheint die Sonne. Einige meiner Kommilitonen haben ihre Jacken auf den Wiesen ausgebreitet, um dort ihre Pause zu verbringen und ich sehe sogar eine Slackline, die zwischen zwei Bäumen gespannt ist.

»Es ist SO cool«, gerate ich ebenfalls ins Schwärmen.

Wir betreten das Hauptgebäude, gehen an Hörsälen und Toiletten vorbei und finden das schwarze Brett.

»Nach was für einem Job suchst du?«, fragt Merle und sieht auf die ganzen Zettel und Aushänge, die wild übereinandergepinnt sind und bei denen man schnell den Überblick verliert.

»Gute Frage.« Ich nehme ein paar der Zettel unter die Lupe. »Aushilfe in Casino, 19 Stunden pro Woche – neee, sowas können wir schon mal ausschließen. Über 15 Stunden bekomme ich neben dem Studium nicht hin. Zumindest nicht im ersten Semester. Und ein Casino bedeutet meistens Nachtschichten. Das ist mir zu unsicher.«

»Verstehe ich.« Merle hält ihren Kopf schräg, um einen der Zettel genauer zu betrachten. »Hier wird ein Babysitter gesucht, ein fester Termin Mittwochabend. Aber die Bezahlung ist mies.«

»Es wäre nicht meine erste Wahl, aber eine miese Bezahlung ist besser als gar keine.«

»Da hast du recht. Ich fotografier den Flyer mal ab.«

Wir fotografieren noch vier weitere Aushänge, auch wenn mich keiner davon richtig überzeugt. Ich bin mir nur nicht sicher, wie wählerisch ich sein darf, wo zu Semesterbeginn doch so viele Studenten einen Job suchen.

»Gehen wir jetzt Pflanzen kaufen?«, fragt Merle.

Ich nicke und drehe mich um … und mein Blick bleibt auf einem Flyer hängen, den ich vorher gar nicht wahrgenommen habe, weil ich zu sehr auf die Jobsuche konzentriert war.

»Hast du das gesehen?«, frage ich. »Am Wochenende ist eine Erstsemesterparty.«

Merle folgt meinem Blick. Ihre Lippen formen sich zu einem breiten Lächeln. »Da müssen wir unbedingt hin«, sagt sie und macht ein Foto von dem Aushang. »Unsere erste Uniparty. Wie aufregend! Ich schicke es gleich mal den anderen.«

Es dauert nur ein paar Sekunden, bis Alina ihre Zusage sendet. Obwohl sie längst kein Ersti mehr ist, will sie sich diese Party nicht entgehen lassen.

»Lars und Hendrik wollen nicht mit«, sagt Merle und klingt ein wenig enttäuscht.

»Na ja, die beiden studieren ja auch schon viel länger und haben sicher keine Lust auf lauter Erstsemester. Dann machen wir eben einen Mädelsabend.«

»Eine sehr gute Idee.« Merle lächelt und hakt sich bei mir unter. »Vielleicht finden wir ja ein paar süße Typen. Ich habe richtig Lust, mich ein bisschen auszutoben und ein paar neue Bekanntschaften zu machen.«

»Du klingst schon fast wie Alina.«

»Aber nur fast. Bei Alina ist es Realität, bei mir nur Theorie.«

»Das heißt?«, frage ich grinsend.

»Das heißt, dass ich jetzt schon zwei Monate in der WG wohne und Alina echt keine Probleme damit hat, Typen kennenzulernen. Ich hingegen bin ziemlich schüchtern. Ich brabble immer dummes Zeug, wenn ich jemanden gut finde und blamiere mich dann total.«

»Ich bin auch nicht gerade ein Flirtprofi.«

»Aber jetzt sind wir an der Uni. Zeit für neue Erfahrungen. Also legen wir unsere Schüchternheit ab. Und zwar auf der Party.«

»Einverstanden.« Auch wenn mir der Gedanke, irgendwelche Typen kennenzulernen Bauchschmerzen macht. Meine letzten Erfahrungen mit Jungs endeten mit einem gebrochenen Herzen von der schlimmsten Sorte und ich habe Angst, diese Erfahrung zu wiederholen. Aber was soll beim simplen Flirten schon schiefgehen?

Wir schlendern noch etwas über das Unigelände und nehmen die Atmosphäre in uns auf, bevor wir uns auf den Weg zum Pflanzenhof machen, um Grünzeug für mein Zimmer zu finden. Wir toben uns richtig aus und kaufen am Ende nicht nur Pflanzen für unsere Zimmer, sondern auch für die Küche. Sie stecken in unhandlichen Pappkartons, durch die der Rückweg zur Straßenbahn erschwert wird, aber so kann ich wenigstens Köln auf mich wirken lassen. Von Weitem sehe ich die Spitzen des Doms, die über die anderen Häuserdächer ragen und mich immer daran erinnern, wo ich gerade bin. Oft war ich mit meinen Eltern und später mit meinem Onkel und meiner Tante hier. Wir haben Musicals und Konzerte gesehen, waren shoppen oder einfach nur in einem Restaurant. Köln bietet viel und immer habe ich beinahe sehnsuchtsvoll auf den Dom und das Kwartier Latäng mit all den Studentendiskotheken gesehen und mir gewünscht, einmal hier zu leben. Dass mich die Uni Köln wirklich genommen hat, ist wie ein kleines Wunder für mich, das das Grau der letzten Jahre beinahe aufhellt. Nur beinahe. Es bleibt trotzdem dieses Gefühl der Verbitterung, weil Mama und Papa diesen Moment nicht miterleben können. Ich wünschte, sie könnten mich jetzt sehen. Ich wüsste gerne, ob sie stolz auf mich wären …

Während wir auf die Straßenbahn warten, blicke ich in den wolkenbedeckten Himmel und denke unweigerlich an die beiden. Meine Mutter würde mich damit aufziehen, dass ich neue Pflanzen kaufe, obwohl ich gar keinen grünen Daumen habe und bei mir die meisten Pflanzen schnell sterben. Mein Vater hingegen hätte mich ermutigt, es immer wieder aufs Neue zu versuchen und mir solange neue Pflanzen zu kaufen, bis endlich eine überlebt.

Ich weiß nicht, ob ich an den Himmel glaube – daran, dass meine Eltern dort oben sind und wirklich auf mich hinabsehen. Aber in diesem Moment hoffe ich sehr, dass sie mich hier in Köln stehen sehen, mit dem Arm voller Zimmerpflanzen und mit einer Mitbewohnerin, die auf dem besten Weg ist, eine Freundin zu werden.

3


Ellie

Wir können zu Fuß zur Erstsemesterparty laufen. Der Nieselregen peitscht uns ins Gesicht und immer wieder müssen wir großen Pfützen ausweichen, aber letztendlich kommen wir alle halbwegs trocken an. Schon von draußen hören wir die Musik, ein paar Leute haben sich vor der Tür versammelt um zu rauchen. Wir bezahlen den Eintritt, bekommen einen Stempel und betreten die Räumlichkeiten. Alles ist recht rustikal, mit dunkler Holzverkleidung und mit vielen alten und neuen Stickern von Bands. Die riesige Tanzfläche ist schon gut gefüllt. Daneben gibt es einen großen Tresen mit Essen und einer Theke, an der Getränke ausgeschenkt werden.

»Es ist toll hier«, ruft Merle über die Musik hinweg und reckt einen Daumen in die Luft.

»Allerdings«, trällert Alina. »Viele süße Typen hier.« Sie richtet ihr Top, sodass sich ihr Ausschnitt vergrößert und geht dann auf die Theke zu, um uns Getränke zu besorgen. Wir folgen ihr und nehmen schon nach wenigen Sekunden unsere Becher entgegen.

»Was ist das?«, fragt Merle, als ich bereits einen Schluck genommen habe und zu husten beginne.

»Wodka-E, mit einer Spur zu viel Wodka.« Bringe ich unter Husten hervor. Der Alkohol brennt in meiner Kehle wie Feuer.

»Dann auf einen tollen Abend und eine geile Zeit an der Uni!«, ruft Alina und prostet uns zu. Ich nehme auf ihre Worte hin noch einen Schluck und diesmal bin ich auf das Brennen besser vorbereitet.

»Zwei Becher davon und ich tanze auf dem Tisch«, lacht Merle. »Ich vertrage nicht so viel, also haltet mich bitte von Striptease oder ähnlichen Peinlichkeiten ab, okay? Nicht, dass ich prinzipiell keine Lust hätte, solche Uni-Erfahrungen zu machen, aber am ersten Abend würde ich mir doch sehr wünschen, nicht gleich aufzufallen.«

»Ich werde dich abhalten«, verspreche ich und nehme grinsend noch einen Schluck. Dieses Vodka-E-Zeug wird mit jedem Schluck besser. Nicht, dass ich noch auf dem Tisch lande.

»Seht ihr den süßen Typ dahinten?«, fragt Alina und zeigt auf einen Typen mit Vollbart und Beanie. »Ich glaube, da stelle ich mich doch gleich mal vor.« Sie fährt sich einmal durch die Haare und stolziert auf den Jungen zu, um ihm zuzuprosten. Merle und ich starren sie nur mit offenem Mund an.

»Hat sie das gerade wirklich gemacht? Ist sie einfach zu diesem fremden Typen gegangen und hat ihm zugeprostet?«, frage ich ungläubig. »Ich würde mich das nie trauen.«

»Ich auch nicht«, sagt Merle ehrfürchtig. »Aber es scheint zu funktionieren, oder? Guck mal, wie er sie ansieht. Der flirtet ja richtig mit ihr. Vielleicht sollten wir uns von Alina eine Scheibe abschneiden.«

»Hast du denn schon jemanden im Blick, der dir gefallen könnte?«, frage ich.

»Noch nicht. Aber wir können ja mal eine kleine Runde drehen und die Lage abchecken.«

»Sehr gute Idee.« Ich leere meinen Becher und schnappe mir dann Merles Hand, um sie in der Menge nicht zu verlieren. Hand in Hand quetschen wir uns durch die Leute, sehen uns immer wieder um und bleiben nur stehen, wenn wir jemanden sehen, den wir attraktiv finden.

Doch obwohl es drei der Jungs auf eine potentielle Flirt-Liste schaffen, unternehmen wir nichts, um sie kennenzulernen. Alleine bei dem Gedanken daran, so auf Typen zuzugehen wie Alina, gerate ich ins Straucheln. Ich würde nur über meine eigenen Füße stolpern und jemanden umreißen. Das wäre vielleicht filmreif, aber sicher nicht von Erfolg gekrönt.

»Dann lass uns erst mal etwas essen«, sage ich und zeige auf die Snacks.

»Wir sind armselig«, erwidert Merle, als wir vor dem Tresen stehen und uns an den Schüsseln bedienen.

»Sind wir nicht. Wir brauchen nur Übung.«

»Übung bekommt man nur, wenn man sich traut, aber wir sind zwei feige Hühner, die es nicht mal schaffen, den Jungs Hallo zu sagen.«

»Hey, es ist der erste Abend als Studentinnen. Wir haben noch drei Jahre Zeit, flirty zu werden.«

»Trotzdem«, sagt Merle und schiebt sich gefrustet Chips rein. »Ein Raum voller Studenten und wir stehen hier immer noch alleine.«

»Gut. Dann gucken wir uns nochmal um. Den Ersten, den wir irgendwie nett oder attraktiv finden, schnappen wir uns. Ohne Wenn und Aber.«

»Abgemacht«, sagt Merle und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen.

Ich tue es ihr nach. Mein Blick scannt jeden, der irgendwie in meiner Nähe steht.

»Der dahinten ist ganz süß. Der Typ mit der grauen Cappy«, sagt Merle und deutet mit ihrem Kopf unauffällig in seine Richtung.

»Ja, der sieht cool aus«, antworte ich und mustere ihn. Dann fällt mein Blick auf den Hinterkopf seines Gesprächspartners. »Und der Typ davor sieht auch gut aus. Die dunkelblonden Haare sind toll … und dann dieser Hintern. Der kommt in der Jeans echt gut zur Geltung. Bleibt zu hoffen, dass seine Vorderseite auch gut aussieht.«

»Wir können ja hingehen. Ich spreche den mit der Cappy an und dann hast du Zeit, den anderen genauer unter die Lupe zu nehmen.«

Ich nicke. »Klingt nach einem Plan für mich.«

Wir sehen uns beide an und sammeln damit Mut, um unser Vorhaben in die Tat umzusetzen. Doch so weit kommt es gar nicht. Gerade als wir losgehen wollen, dreht der Typ mit dem netten Hintern sich zu mir um.

Ich erstarre.

Mein Herz versteht schneller als mein Verstand, denn es zieht sich schmerzhaft zusammen, noch ehe ich in meinem Kopf sortiert bekomme, zu wem dieser nette Hintern gehört.

»Fuck.« Ich tauche ab und verkrieche mich hinter dem Tresen. »Fuck, fuck, fuck.«

»Was ist denn los?« Merle duckt sich zu mir.

»Mein Ex«, hauche ich.

»Welcher? Der Typ mit der Cappy?«

»Nein. Der andere.«

»Mister Toller-Hintern?« Merles Stimme wird ein wenig schriller, aber ich bin mir sicher, dass meine Stimme ähnlich klingt. Was zum Teufel macht Jonah hier? Warum ist er in Köln?

Merle lugt über den Tresen. Ich kann nur hoffen, dass Jonah jetzt nicht rübersieht. Nichts wäre peinlicher, als dabei erwischt zu werden, wie ich mich vor ihm verstecke. Merle greift sich alibimäßig ein paar der Nachos.

»Du meinst echt den, dessen Hintern du gerade noch bewundert hast?« Sie lässt sich wieder neben mich sinken und stopft sich die Nachos in den Mund, als würde vor ihr ein superspannender Kinofilm laufen. Dabei ist es kein Film, sondern nur mein Leben und mein ganz persönliches Drama. Ausgerechnet Jonah! Von allen Leuten aus meiner Vergangenheit habe ich ihn am wenigsten hier erwartet. Und von allen Leuten verkrafte ich seine Anwesenheit am schlechtesten.

»Der Typ mit den dunkelblonden Haaren und dem Dreitagebart?«

»Der … der Bart ist neu«, stammle ich. Ich bin komplett überfordert mit der Situation.

»Der Bart ist heiß«, schmunzelt Merle.

Ich schlucke schwer. »Ich muss hier weg«, flüstere ich mehr zu mir selbst.

»Es ist kein Ex-Freund von der guten Sorte, oder? Keiner, bei dem man sich freut, ihn wiederzusehen?«

Ich schüttle nur den Kopf. »So ein Ex-Freund ist es nicht«, sage ich leise und immer noch komplett unter Schock.

»Okay.« Merle lässt den letzten Nacho einfach auf den Boden fallen. »Ich lotse dich hier raus. Es ist schade um die Party, aber es geht wohl nicht anders. Wir bekommen dich schon irgendwie hier weg, ohne dass er dich bemerkt. Bislang hat er dich schließlich auch nicht gesehen, obwohl wir die ganze Zeit herumgelaufen sind.«

Ich bin nicht fähig, irgendetwas zu sagen. In meinem Kopf wiederholen sich nur immer wieder dieselben drei Worte: Jonah ist hier.

Merle nimmt meine Hand. »Bereit?«, fragt sie.

Ich bin es nicht und dennoch nicke ich.

In gebückter Haltung laufen wir hinter dem Tresen entlang. Die Leute sehen uns belustigt an und ich denke, für unseren ersten Eindruck ist es zwar besser als ein Striptease, aber dennoch nicht grade so, wie ich mir das für die Party gewünscht hätte. Immerhin können wir uns im Schutz des Tresens bewegen, ohne von Jonah gesehen zu werden.

Wir verharren erst, als sich unser Sichtschutz dem Ende neigt.

»Ich schirm dich mit meinem Körper ab und wir eilen zusammen zur Tür.«

»Ich habe echt keine Ahnung, wie du mich abschirmen willst. Du bist doch circa fünfzehn Zentimeter kleiner als ich.«

»Dann geh weiter geduckt. Vielleicht haben wir Glück und er guckt gar nicht.«

Merle schielt über den Tresen. »Mist, momentan schaut er genau in unsere Richtung.«

Panik überrollt mich, mein Herz rast so schnell, dass mir ganz schwindelig wird. Vielleicht vermischt sich aber auch nur meine Aufregung mit dem Alkohol.

»Dahinten, etwa auf halber Strecke zur Tür ist ein etwas breiterer Kerl. Der könnte uns als Schutzschild dienen. Aber bis zu ihm sind es noch ein paar Meter.«

Die Ernsthaftigkeit, mit der Merle mein Problem angeht, lässt meine Sympathie für sie weiter wachsen. Mir ist durchaus bewusst, dass diese ganze Aktion hier irgendwie bescheuert und vermutlich auch kindisch ist, aber ich kann einfach nicht anders. Ich kann nur noch daran denken, dass ich nicht mit Jonah in einem Raum sein kann. Ich muss hier raus, einen klaren Kopf bekommen und in Ruhe überlegen, wie ich damit umgehe, dass er offenbar in derselben Stadt ist wie ich.

Jonah.

In Köln.

Mein Gehirn bekommt diese Informationen noch immer nicht richtig verdaut.

»Okay, dann laufen wir jetzt so schnell und unauffällig wie möglich zu diesem Kerl«, sage ich.

»Und dann geht’s schnurstracks zum Ausgang.«

Ich nicke und mache mich innerlich dazu bereit, gleich den Schutz des Tresens zu verlassen.

»Auf drei«, sagt Merle. »Eins … zwei … drei.«

Sie zieht an meiner Hand und wir eilen beide in Richtung des Jungen mit den breiten Schultern. Ich zwinge mich dazu, geradeaus zu gucken und mich nicht nach Jonah umzudrehen. Damit würde ich seine Aufmerksamkeit nur auf mich lenken.

»Gleich geschafft«, flüstert Merle.

Erleichterung will sich schon in mir ausbreiten. Dieser breite Typ ist ganz nah, gleich wird sein massiger Körper uns verdecken und dann sind es nur noch ein paar Meter bis zur Tür.

»Ellie! Merle! Geht ihr etwa schon?«

Alinas Stimme hallt durch den ganzen Raum, genau in dem Moment, in dem die Musik ruhiger wird. Mein Herz setzt aus. Merle und ich sehen uns an. Wir sind wie erstarrt. Und genau das ist unser Fehler. Wir hätten bei Alinas Ruf weiterlaufen sollen, aber wir bleiben einfach stehen … und dann höre ich ihn.

»E? E, bist du das?«

Allein der Klang seiner Stimme und dieser Spitzname, den ich so lange nicht gehört habe, reißen die Narben, die er in meinem Herz hinterlassen hat, wieder auf. Wunden, von denen ich dachte, sie wären längst verheilt. Doch jetzt erkenne ich, dass sie nur notdürftig geflickt worden sind.

Ich will mich nicht umdrehen, sondern einfach weiter Richtung Ausgang gehen, aber seine Stimme löst Gefühle aus, gegen die ich mich nicht wehren kann. Also drehe ich mich zu ihm um.

Ich blicke in olivfarbene Augen.

»Du bist es«, sagt er.

Der Schmerz kommt gleichzeitig mit den Erinnerungen. Alles bricht über mich hinein, während ich ihm ins Gesicht sehe.

Jonah, meine erste große Liebe. Der Junge, der mir vor eineinhalb Jahren das Herz gebrochen hat.