Die Autorin

Penny Reid – Foto © Korie Hayes

Penny Reid ist USA Today Bestseller-Autorin der Winston-Brothers-Serie und der Knitting-in-the-city-Serie. Früher hat sie als Biochemikerin hauptsächlich Anträge für Stipendien geschrieben, heute schreibt sie nur noch Bücher. Sie ist Vollzeitmutter von drei Fasterwachsenen, Ehefrau, Strickfan, Bastelqueen und Wortninja.

Das Buch

Elizabeth Finney hat fast immer recht: Damit, dass der musikalische Wert von Boybands unterschätzt wird, dass »gewisse Vorzüge« besser ohne die Freundschaft sind, und dass sie die Chance auf die eine große Liebe inzwischen gegen Null geht. Aber als ihr Plan von eben jenen gewissen Vorzügen ohne jegliche Freundschaft von dem schrecklich charmanten und zugleich chauvinistischen Nico Mangniello durchkreuzt werden, versucht sie mit aller Macht den Elektrozaun rund um ihr Herz aufrecht zu erhalten. Sonst verfällt sie am Ende noch Nicos Charisma und holt sich einen tödlichen Stromschlag. Oder noch schlimmer: Sie verliebt sich.


Von Penny Reid sind bei Forever erschienen:
In der Winston-Brothers-Reihe:
Wherever you go
Whatever it takes
Whatever you need
Whatever you want
Whenever you fall
When it counts
When it’s real

In der Knitting-in-the-City-Reihe:
Love factually
Friends without benefits

Penny Reid

Friends without benefits

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Sybille Uplegger

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Mai 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Copyright © 2013. Friends without benefits by Penny Reid
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Friends without benefits (Penny Reid 2013)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-518-0

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Widmung

Für meinen neuen Computer: Mir ist egal, ob das Fremdgehen ist. Ich liebe dich mehr als meinen alten.
Für alle Fans/Leserinnen von Love, Factually. Dass dieses Buch existiert, habe ich genauso sehr euch wie meiner Schlaflosigkeit zu verdanken.
Danke.

Kapitel 1


Ich erkannte ihn auf den ersten Blick. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er siebzehn gewesen, nackt und hatte geschlafen. Ich war sechzehn gewesen, notdürftig bekleidet und war gerade aus seinem Zimmerfenster geklettert.

Niccolò (alias Nico) Manganiello.

Nico.

Der verfluchte Nico Manganiello!

Wie angewurzelt blieb ich stehen, in einer Hand die Einwilligungserklärung sowie diverse Patientenbroschüren, die andere ans Herz gepresst. Ich konnte nichts weiter tun, als ihn anzustarren – in blankem Entsetzen, aber zugleich in ehrfürchtigem Staunen und zu meinem unendlichen Bedauern auch mit einer großen Portion weiblicher Wertschätzung.

Auf so etwas war ich absolut nicht vorbereitet.

Bis zu diesem Moment war es ein ganz normaler Dienstag gewesen. Ich war pünktlich zu meinem Schichtbeginn um vier Uhr dreißig in die Klinik gekommen. In der Umkleide hatte ich mir einen Streit mit meiner Erzfeindin Dr. Meg, der Megalomanin, geliefert. Zur Vorbereitung meines alljährlichen Aprilscherzes hatte ich eine ungeöffnete Schachtel mit Handcreme präparierter, explodierender Latexhandschuhe in Dr. Ken Miles̕ Behandlungsraum in der Unfallstelle deponiert. Danach hatte ich das Ausfüllen der Krankenblätter vom Vortag nachgeholt. Und dann war mein Pager losgegangen. Ich musste in den vierten Stock ins klinische Forschungszentrum, um mit einer Familie über die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Studie zu sprechen.

Und jetzt: der verfluchte Niccolò Manganiello, verflucht noch mal!

In natura sah er anders aus als im Fernsehen – ein bisschen älter. Und er war kleiner als erwartet, wenngleich größer, als ich ihn in Erinnerung hatte. In seiner Sendung überragte er fast jeden seiner Gäste, aber jetzt, da er leibhaftig vor mir stand, schätzte ich ihn auf eins dreiundachtzig oder eins fünfundachtzig.

Sein Haar war inzwischen nicht mehr braun, sondern rabenschwarz. Seine Gesichtszüge waren kantiger und ausdrucksstärker geworden, seine Schultern breiter. Selbst aus der Entfernung sah ich, dass er noch immer dieselben jadegrünen Augen hatte wie früher.

Nico stand seitlich zu mir, an die Armlehne einer Couch gelehnt, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, und unterhielt sich leise mit einer älteren Frau, die ich sofort als seine Mutter Rose wiedererkannte. Sie saß auf der beigefarbenen Couch und hatte ein kleines, mir unbekanntes Mädchen auf dem Schoß, das eine blaue Decke umklammert hielt.

Das Blut stieg mir in den Kopf. Es pochte zwischen meinen Ohren, und auf einmal konnte ich nichts mehr hören, außer einen stetig lauter werdenden Rhythmus: Ach du Scheiße, ach du Scheiße, ach du Scheiße, ach du Scheiße.

Mein unvermittelt in die Höhe geschnellter Adrenalinpegel sank gerade so weit ab, dass ich merkte, dass mir der Mund offen stand, ich die Augen sperrangelweit aufgerissen hatte und bisher niemand mein Eintreten bemerkt zu haben schien.

Ich schnappte einmal kräftig nach Luft, klappte den Mund wieder zu und machte geräuschlos kehrt, um mich unbemerkt aus dem Raum zu stehlen. Ich würde Meg, die Megalomanin, suchen gehen. Wenn ich ihr sagte, dass ein heißer Promi im Behandlungszimmer wartete, wäre sie bestimmt sofort bereit, die Einwilligungserklärung mit ihm durchzugehen.

Ich war genau zwei Schritte weit gekommen, als ich Rose rufen hörte: »Ach, Schwester, können Sie uns vielleicht weiterhelfen? Wir warten auf Dr. Finney.«

Ich blieb stehen und zog die Schultern hoch. Ehe ich nicken, einen wie auch immer gearteten Laut der Zustimmung von mir geben und dann schleunigst das Weite suchen konnte, sah ich, wie ein sehr erzürnt dreinblickender Dr. Botstein – mein Betreuer und ein ziemlicher Langweiler – um die Ecke gebogen kam.

Mein Blick zuckte zu dem Gegenstand in seiner Hand. Es war eine Schachtel mit Latexhandschuhen. Er selbst war über und über mit weißer Creme bekleckert.

Ich stöhnte auf.

Das war so ziemlich die verzwickteste Zwickmühle in der Geschichte der Menschheit.

Ich hatte genau zwei Möglichkeiten, von denen mir keine auch nur im Geringsten verlockend erschien.

Ich konnte entweder auf den Gang hinaustreten und mich von Dr. Botstein vor allen Leuten zur Schnecke machen lassen – wobei mit »alle Leute« in erster Linie Nico Manganiello gemeint war. Oder aber ich konnte die Tür des Besprechungszimmers hinter mir schließen und dem größten Fehler meines Lebens ins Auge blicken. Dr. Botstein würde mich garantiert nicht aus einem Patientengespräch holen. Wie ungehalten er auch sein mochte, irgendwann hätte er das Warten satt und würde wieder abziehen, sodass die Gefahr einer Standpauke wenigstens für den Moment gebannt wäre. Normalerweise war eine Auseinandersetzung mit Dr. Botstein keine große Sache, aber bei dem Gedanken, dass Nico alles mitbekommen könnte, fühlte ich mich, als wäre ich wieder sechzehn.

Es waren Augenblicke wie dieser, in denen ich mir wünschte, ich könnte mich unsichtbar machen – oder wenigstens auf eine ernsthafte psychische Erkrankung verweisen.

Am Ende war Dr. Botsteins bohrender Blick der entscheidende Faktor. Ich zog den Kopf ein, schaute auf den Linoleumfußboden und machte einen Schritt zurück in den Behandlungsraum.

»Schwester?«, rief Rose erneut.

»Äh …« Ich schob mir eine lange Haarsträhne hinters Ohr und griff nach der Türklinke, als wäre das schon die ganze Zeit meine Absicht gewesen. »Ich bin gleich für Sie da. Warten Sie, ich schließe nur kurz die Tür.«

Ich riskierte keinen weiteren Blick nach draußen. Ich war mir relativ sicher, dass Dr. Botsteins Laune sich nicht gebessert hatte. Wahrscheinlich war sie eher noch schlimmer geworden. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, mich zu fragen, wie groß seine Wut auf mich war. Das würde ich noch früh genug herausfinden.

Erst mit leichter Verspätung wurde mir die Tragweite meiner Entscheidung bewusst, mich mit Nico in einem kleinen Behandlungszimmer zu verbarrikadieren. Mir wurde ganz flau im Magen. Um meine Nerven zu beruhigen, atmete ich tief ein und hielt einen Moment lang die Luft an. Dann ballte ich die Hände zu Fäusten, damit sie nicht so zitterten.

Er ist nur ein Typ … ein Typ, mit dem du einmal geschlafen hast … der Typ, an den du deine Jungfräulichkeit verloren hast … der Typ, der ganz oben auf deiner Liste derjenigen Menschen steht, die du nie wiedersehen wolltest.

Meine Nervosität wich – zumindest vorübergehend – dem nackten Überlebensinstinkt, und ich zwang mir ein Lächeln ins Gesicht, ehe ich mich zu den dreien umdrehte. Rose saß immer noch auf der Couch und hatte das kleine Mädchen auf dem Schoß. Ich sah ihr geradewegs in die Augen.

»Hi, Rose.« Ich gab mir selbst einen Pluspunkt, weil meine Stimme fast normal klang. Ich hatte bewusst entschieden, mich ausschließlich auf Rose zu konzentrieren – und mich gar nicht erst daran zu versuchen, ihren Nachnamen auszusprechen. Bei »Manganiello« bekam ich immer noch einen Knoten in der Zunge, obwohl ich von der Vorschule bis zur Highschool mit Nico zusammen zur Schule gegangen war. Wörter wie Trastuzumab oder hämatopoetisch oder Tranylcypromin bereiteten mir keinerlei Probleme, aber an »Manganiello« scheiterte ich jedes Mal. Entweder ich betonte die falsche Silbe, oder ich vergaß, wo das G hingehörte.

Roses Verwirrung währte geschlagene zehn Sekunden lang. Das lag vermutlich daran, dass ich mittlerweile ganz anders aussah als das Mädchen von damals. Ich war zwar immer noch eins zweiundsechzig groß, aber meine blonden Haare waren viel länger und hingen mir in einem dicken geflochtenen Zopf den Rücken hinab. Außerdem hatte ich zugenommen und wog nicht mehr vierundvierzig Kilo – was sehr gut war, da ich jetzt Brüste und Hüften hatte und aussah wie eine richtige Frau. Meine Gesichtszüge waren ebenfalls voller geworden. Vor allem auf meinen Mund war ich stolz. Eine frühere Eroberung von mir hatte ihn einmal als »Kirschmund« bezeichnet.

Kurzum: Trotz meiner weiten OP-Kleidung und des schlackernden Arztkittels, den ich darübertrug, sah ich nicht mehr aus wie ein zwölfjähriger Junge.

Doch schließlich fanden ihre grünen Augen meine blauen, und die Verwirrung wich verdutztem Wiedererkennen, das bereits einen Sekundenbruchteil später in überbordende Freude umschlug. »Oh, mein Gott! Ach, du lieber Herrgott, es ist Lizzybella! Du liebe Zeit, komm her, und lass dich drücken!«

Mein Lächeln war jetzt nicht mehr ganz so gekünstelt. Rose hatte Mühe, mit dem Kind auf dem Arm vom Sofa aufzustehen. Sie maß zierliche eins fünfundfünfzig, und es gab nur zwei Dinge an ihr, die groß waren: ihr Herz und die Träume, die sie für ihre Kinder hegte – für alle acht.

»Verflixt noch mal, Nico, jetzt steh doch nicht einfach so herum. Nimm mir Angelica ab. Hilf deiner armen Mutter!«

Aus dem Augenwinkel hatte ich wahrgenommen, wie Nico sich bei meinen Worten umgedreht hatte, aber jetzt stand er vollkommen regungslos da. Weil ich mich ganz auf Rose konzentrierte, sah ich Nicos Gesicht nur verschwommen, deshalb konnte ich seine Miene nicht deuten.

Ich wollte seine Miene auch gar nicht deuten.

Selbst auf engstem Raum gelang es mir noch, ihn zu meiden.

Ich neige sonst nicht zur Vermeidung, und darauf bin ich sehr stolz. Man mag mir vieles nachsagen, aber nicht, dass ich ein Feigling bin.

 … außer wenn es um Nico geht.

Dieser Gedanke trug nicht unbedingt zur Besserung meiner Laune bei.

Wortlos trat er vor und nahm seiner Mutter das Kind ab. Als Angelica von einem Arm auf den anderen wechselte, fiel mir auf, dass sie große grüne Augen, dunkles Haar und einen leicht dunklen Teint hatte. Sie sah aus wie eine waschechte Manganiello.

Rose kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und drückte mich energisch an ihre Brust. »Ach, Lizzybella, ich wusste gar nicht … Als man uns gesagt hat, Dr. Finney würde gleich kommen und mit uns sprechen, da hätte ich im Leben nicht daran gedacht, dass du es bist. Eigentlich hätte es mir klar sein müssen, aber ich dachte, du hast nach der Hochzeit bestimmt den Namen deines Mannes angenommen.«

Rose löste sich von mir, Ihre smaragdgrünen Augen funkelten spitzbübisch. Sie wusste ganz genau, dass ich nicht verheiratet war. Mir fiel auf, dass sie sich im Gegensatz zu mir kaum verändert hatte – weder äußerlich, noch was ihr Temperament anging. Ihre langen Haare waren immer noch schwarz, sie war mit großer Sorgfalt gekleidet und geschminkt, und obwohl ihre Familie in unserer Heimatstadt eins der besten italienischen Restaurants betrieb, war sie nach wie vor rank und schlank.

Sie war eine echte Schönheit.

Ich lächelte mit geschlossenem Mund. »Ich bin nicht verheiratet, Rose«, antwortete ich auf ihre unausgesprochene Frage. Noch etwas an ihr, das sich nicht geändert hatte: Sie war immer noch so listig wie ein Fuchs.

Ihre Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Ach! Na, wenn das so ist …« Sie machte eine Pause, in der sie über die Schulter – vermutlich zu ihrem Sohn – und dann wieder zu mir blickte. Sie taxierte mich von oben bis unten. Zweifellos nahm sie meine unförmige OP-Kleidung, den zu großen Kittel und meine langen, zu einem unordentlichen Zopf geflochtenen Haare zur Kenntnis. Kein Make-up, kein Nagellack, keinerlei Accessoires. Ich war schon früher des Öfteren von Rose Manganiello auf diese Art taxiert worden. Es schien nie angenehmer zu werden.

Sie legte einen violett lackierten Finger ans Kinn und schaute mich mit zur Seite geneigtem Kopf durch zusammengekniffene Augen an. »Tja, ich bin natürlich davon ausgegangen, dass jemand in deinem Alter verheiratet ist. Dein Vater hätte mir sagen sollen, dass du hier bist. Es ist Ewigkeiten her, dass ich zuletzt mit ihm gesprochen habe. Er hat mir gesagt, dass du als Ärztin in Chicago arbeitest, aber seit er mit diesem jungen Ding zusammen ist, kommt er nie mehr zu uns ins Restaurant …«

»Ma …« Nicos leise, tiefe Stimme hatte einen deutlich warnenden Unterton. Ich schmunzelte über den Umgang der beiden. Mein Herz war schwer wie Blei, aber jetzt war das Blei wenigstens leicht angewärmt.

»Sie ist ein junges Ding. Wie alt ist sie? Dreißig?« Rose nahm meine Hand, hielt sie zwischen ihren beiden Händen fest und tätschelte sie. »Was sagst du denn dazu?«

Ich versuchte wieder ein ernstes Gesicht zu machen. »Also, zunächst mal ist sie dreiundvierzig, also nur zehn Jahre jünger als mein Vater. Und außerdem geht mich das nichts an.«

»Ach, Lizzy, du bist doch seine Tochter.«

»Und selbst wenn es mich etwas anginge – ich finde das vollkommen in Ordnung. Wenn er mit ihr glücklich ist, und das scheint er zu sein, dann freue ich mich für ihn.« Das war die reine Wahrheit. Ich hatte überhaupt kein Problem mit der Beziehung meines Vaters zu Jeanette Wiggins, die in meiner Heimatstadt eine Konditorei besaß und ein rundum netter Mensch war.

Ich hatte deshalb kein Problem damit, weil seine Beziehung zu Jeanette im Endeffekt gar nicht von Belang war. Ich wusste, dass er niemals eine andere Frau als meine Mutter lieben würde. Mom war seine erste und einzige große Liebe gewesen. Warum hätte ich ihn dafür verurteilen sollen, dass er ein bisschen Spaß haben wollte? Ich machte es ja ganz genauso.

Nichtsdestotrotz konnte ich Roses Missfallen nachvollziehen. Rose und meine Mom waren beste Freundinnen gewesen. Meine Mutter war an Brustkrebs gestorben, als ich neun war, und ich glaube, Rose hatte ihr Tod fast so hart getroffen wie mich und meinen Vater.

Der wahre Grund allerdings, weshalb Rose Jeanette nicht leiden konnte, war der, dass sie die Dreistigkeit besaß, in ihrer Konditorei in der Innenstadt selbst gebackene Cannoli zu verkaufen, die besser schmeckten als die im Restaurant der Manganiellos.

»Du bist eine Heilige«, sagte Rose und lächelte warmherzig. »Und du bist erwachsen geworden. Und eine wunderschöne Ärztin noch dazu.« Sie legte mir die Hände an die Wangen. »Ein Beruf, auf den jede Mutter stolz wäre.«

Nicos Seufzer war nicht zu überhören.

»Ma …«

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Rose.«

Überraschenderweise meinte ich es ernst. Ihre bloße Gegenwart weckte Erinnerungen an daheim: Familienfeiern im Manganiello’s; meine Eltern, die sich unter dem Mistelzweig küssten, der das ganze Jahr über im Durchgang zwischen den Gasträumen hing.

Sie ließ mein Gesicht los und nahm abermals meine Hand. Ihr Lächeln wurde breiter, und ich musste wieder an einen Fuchs denken.

»Und was ist mit Nico? Freust du dich auch, Nico wiederzusehen?«

Ohne dass ich es wollte, drifteten meine Augen – die miesen Verräter! – in seine Richtung. Zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten hatte, trafen sich unsere Blicke. Ein scharfer Schmerz fuhr mir in die Brust, sodass ich die Zähne zusammenbeißen musste. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand einen Pfahl ins Herz gerammt oder ein Brandeisen in meine Aortenklappe eingeführt. Ich hielt die Luft an.

In den Tiefen von Nicos weit aufgerissenen Augen verbarg sich Emotion, die ich nicht entschlüsseln konnte – vielleicht war es Nostalgie oder widerwillige Bewunderung. Aber zugleich war da auch ein Anflug von Erstaunen.

Er gab sich Mühe, ein neutrales Gesicht zu machen, doch es gelang ihm nicht besonders gut. Er sah irgendwie streng aus. Seine unordentlichen schwarzen Haare und die Tatsache, dass er sich in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht mehr rasiert zu haben schien, verliehen seinen Zügen eine gewisse Härte. Beides, so stellte ich mit einiger Irritation fest, tat seinem guten Aussehen keinerlei Abbruch.

Dies hier war definitiv nicht der gut gelaunte, leicht diabolische Spitzbube, den man aus seiner Fernsehshow kannte, und auch nicht der charmant lächelnde Verführer, der den Fans von offiziellen PR-Fotos entgegenlächelte.

Im wahren Leben war er Nico. Im Fernsehen war er The Face.

Zuletzt hatte ich seine Show vor zwei Wochen gesehen. Mehrere Chirurginnen hatten sich um den großen Apparat im Aufenthaltsraum der Ärzte geschart und zugesehen, wie er in seiner Show Talking with the Face auf Comedy Central halb nackt in einem Becken voller Götterspeise gegen eine vollbusige blonde Nymphe kämpfte.

Man hatte ihm den Spitznamen The Face verpasst, weil er früher in New York als Model gearbeitet hatte – ehe man darauf gekommen war, dass er auch so etwas wie ein Gehirn und eine Persönlichkeit besaß. Dabei schien es niemanden zu stören, dass er sowohl sein Gehirn als auch seine Persönlichkeit ausschließlich zum Bösen nutzte. Davon konnte ich ein Lied singen – ein Lied mit sehr vielen Strophen.

Seine Show sah ich mir grundsätzlich nicht an, allerdings hatte ich mir sein Stand-up-Special gekauft, und natürlich sah ich oft genug Bilder von ihm auf Werbeplakaten für seine Sendung in der Stadt oder im Internet. Aber für eine Begegnung im echten Leben war ich nicht gewappnet gewesen. Er war ungleich realer, ungleich präsenter als auf Fotos oder Videoclips.

Die Tatsache, dass seine Mutter mit uns im Raum war und unverhohlen beobachtete, wie wir aufeinander reagierten, machte die Situation noch unangenehmer. Aber selbst wenn wir allein gewesen wären, hätte ich nicht gewusst, was ich ihm sagen sollte.

Wie wäre es hiermit: Hi – also … dass ich dich damals im Stich gelassen habe, nachdem dein bester Freund gestorben war … Das war echt mies von mir. Und dass ich am Morgen nach meinem ersten Mal mit dir einfach abgehauen bin und nie zurückgerufen oder deine Briefe beantwortet habe, das war auch ziemlich mies. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings vorbringen, dass unser Sex mir mehr bedeutet hat als dir. Ich habe getrauert und hatte Angst vor meinen Gefühlen für dich, während bei dir die Mädchen ja immer Schlange standen. Ich bin mir relativ sicher, dass es für dich in erster Linie Mitleidssex war. Außerdem konntest du meine Abwesenheit bestimmt verschmerzen, als Unterwäsche-Model in New York hattest du ja keinen Mangel an Frischfleisch. Und da du mir fast meine gesamte Jugend zur Hölle gemacht hast, würde ich sagen, wir sind quitt.

Ich schluckte die Erinnerungen ganz, ganz tief hinunter, zusammen mit all den Vorwürfen, die an die Oberfläche drängten. Ich war beileibe nicht stolz darauf, wie ich mich damals verhalten hatte, aber das war alles lange her. Ich war gerade erst sechzehn geworden, er siebzehn. Wir waren praktisch noch Kinder gewesen. Ja, es war mein erstes Mal gewesen – aber seins garantiert nicht. Wenn er mir immer noch böse war, lag das höchstwahrscheinlich nicht daran, dass ich direkt nach dem Sex abgehauen war, sondern daran, dass ich ihn nach Garretts Tod alleingelassen hatte.

Dafür schämte ich mich nach wie vor.

Ich versuchte mich an einem Lächeln und nickte in seine Richtung. »Na klar. Hi. Schön … dich … zu sehen.«

Er presste seine vollen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Er schluckte. Statt etwas zu erwidern, sah er mich einfach nur an. Sein Blick fühlte sich an wie ein Brandeisen.

»Oh – und das hier ist Angelica, meine Enkeltochter.« Rose zog mich an der Hand zu Nico, der noch immer das kleine Mädchen auf dem Arm hielt. Ich hörte den Stolz in ihrer Stimme, aber auch eine unterschwellige Traurigkeit.

Ich nutzte die Gelegenheit, um den Blick von Nico loszureißen und stattdessen Angelica anzulächeln. Das kleine Mädchen trug ein Krankenhausnachthemd in Kindergröße, und ich wusste, dass ich ihm besser nicht die Hand gab. Sie litt an Mukoviszidose, was sie extrem anfällig für Infektionen der Lunge machte, obwohl sie vermutlich prophylaktisch Antibiotika einnahm.

Angelica lächelte flüchtig zurück, dann vergrub sie das Gesicht an Nicos Hals.

»Schön, dich kennenzulernen, Angelica.« Ich sprach bewusst leise. »Ich bin hier, um mit dir und deinem – deinem – deinem Dad über eine wissenschaftliche Studie zu sprechen, die dir vielleicht helfen kann.«

Verflucht!

Keine Ahnung, weshalb ich bei »dein Dad« ins Stocken geraten war. Ich musste mich zusammenreißen, bevor die Situation vollends aus dem Ruder lief.

»O nein, Lizzybella, Angelica ist nicht Nicos Kind. Nico ist ihr Onkel.« Rose beugte sich zu mir. Ihre Stimme zitterte ein wenig und klang nach mühsam zurückgehaltenen Tränen, als sie mir zuraunte: »Angelica ist die Tochter von meiner Tina.«

Ich nickte betroffen. Auf der Tragödienskala lag Angelicas Geschichte bei ungefähr elfzigtausend. Ja, ganz richtig: elfzigtausend. Die Kleine litt nicht nur an einer chronischen, potenziell lebensbedrohlichen Krankheit, sie hatte auch noch ihre Mutter verloren. Tina war Roses drittälteste Tochter gewesen. Mein Vater hatte mir von dem Autounfall erzählt, bei dem Tina und ihr Mann vergangenes Jahr ums Leben gekommen waren.

Es war schrecklich und sinnlos, und auf einmal hatte ich das dringende Bedürfnis, einen Scotch zu trinken und in einem Meer aus Melancholie zu versinken, Edgar Allen Poe oder das Ende von Hamlet zu lesen. Vielleicht würde ich mir auch auf YouTube ein paar Videos über ertrinkende Kätzchen reinziehen und dabei Radiohead hören.

»Ach so« war alles, was ich als Antwort zustande brachte.

Abermals suchte ich Nicos Blick, fast ohne es zu wollen. Ich stellte fest, dass er mich musterte, und gab mir Mühe, nicht an meinem Stethoskop herumzufummeln. Hoffentlich brachte mein Blick meine Anteilnahme zum Ausdruck. Trotzdem fühlte ich mich dumm und ungeschickt. Das war ich nicht mehr gewohnt – nicht seit der Highschool.

Er war schuld daran, dass ich mich dumm und ungeschickt fühlte.

Endlich sagte Nico etwas. Beim Klang seiner Stimme – rau und tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte – richtete ich mich automatisch kerzengerade auf.

»Wir sind in Chicago, um einen Spezialisten zu konsultieren, aber wir mussten in die Notaufnahme, weil Angelica heute Morgen gefiebert hat. Sie nimmt seit zwei Wochen inhalative Antibiotika. Ich mache mir Sorgen, dass …« Er hielt inne. Der Blick seiner seelenvollen Augen wanderte von mir zu seiner Mutter, dann wieder zu mir. Die Intensität seines Blicks schien mich förmlich zu durchbohren. »Wir machen uns Sorgen, dass sie nicht richtig wirken. Unten haben sie ihre Brust geröntgt, aber wir haben noch keine Ergebnisse.«

Ich deutete auf das passenderweise in deprimierendem Beige gehaltene Sofa und versuchte mich auf meine Rolle als Dr. Elizabeth Finney zu besinnen. »Setzen wir uns doch, dann werfe ich mal einen Blick in Angelicas Akte.«

Rose ließ sich neben Nico nieder, und Angelica wechselte wieder auf ihren Schoß. Ich legte die Einwilligungserklärung auf den Tisch, dann ging ich zum Computer an der Wand. In Angelicas elektronischer Krankenakte gab es am ersten April zwei Vermerke für erfolgte Untersuchungen: ein großes Blutbild sowie ein Röntgenbild des Thorax. Das eigentliche Bild lag noch nicht vor, aber der Bericht des Radiologen deutete darauf hin, dass sie keinen Infekt in der Lunge hatte.

»So, die gute Nachricht ist, dass der Bericht aus der Radiologie inzwischen da ist. Es sieht alles danach aus, als hätte Angelica momentan keine Infektion der Lunge. Die Laborergebnisse stehen noch aus, aber der zuständige Arzt kann sie später noch mit euch durchsprechen, ehe ihr geht.«

Da ich keinen Grund mehr hatte, mich noch länger mit der Krankenakte aufzuhalten, kehrte ich zu den dreien zurück und nahm Rose gegenüber in einem beigefarbenen Sessel Platz. »Der Grund, weshalb ich hier bin, ist, dass ich gerne mit euch über eine klinische Studie sprechen würde, für die Angelica eventuell infrage kommt.«

Nico nickte. Er beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und stellte die Finger auf. »Ja, die Schwestern unten haben uns gesagt, dass ihr eine Studie mit einem Medikament durchführt, das vielleicht ihre Symptome lindern und das Infektionsrisiko senken könnte … wenn ich alles richtig verstanden habe.«

Die Hoffnung, die in seiner Stimme mitschwang, zerriss mir fast das Herz. Ich versuchte mich innerlich von unserer gemeinsamen Vergangenheit zu distanzieren und ihnen die Studie sowie die dazugehörige Einwilligungserklärung professionell und sachlich zu erläutern, so wie ich es bei jeder anderen Familie getan hätte. Doch ganz konnte ich die Erinnerungen und Schuldgefühle, die nach all der Zeit immer noch an mir nagten, nicht unterdrücken, deshalb achtete ich strikt darauf, die ganze Zeit nur Rose anzuschauen, während ich den Ablauf der Behandlung mit den dazugehörigen Visiten, die Risiken und potenziellen Vorteile der Studienteilnahme darlegte.

»Die Resultate bisher sind recht vielversprechend: Verbesserung der mukoziliären Clearance, verbesserte Funktion des Pancreas und des Verdauungsapparats. Allerdings ist die Patientenrekrutierung für die Studie noch nicht abgeschlossen. Über langfristige Verbesserungen können wir daher noch keine Aussagen treffen.«

Rose sah mich an, als hätte ich drei Köpfe.

Ich ermahnte mich, langsamer zu sprechen und die Sache in allgemein verständlicher Sprache zu erklären. Sie waren eine Familie wie jede andere. Ich befand mich auf vertrautem Terrain: aktuelle Forschungstrends, Studienaufbau, Risikoanalysen.

Alles andere als vertraut – und dementsprechend beunruhigend – war Nicos Anwesenheit. Seit Verlassen der Highschool war ich es gewohnt, die Grenzen akzeptablen Verhaltens zu überschreiten, und tat dies mit Hingabe. Ich war es nicht gewohnt, jedes meiner Worte auf die Goldwaage zu legen, permanent darüber nachzudenken, wo ich gefahrlos hinschauen konnte, und peinlich genau auf meinen Tonfall zu achten.

Das wurmte mich. Jedes Mal, wenn ich mich ermahnen musste, ihn nicht anzusehen, wurde ich ein bisschen reizbarer. Das gefiel mir alles gar nicht. Zwischen uns gab es so viele ungeklärte Fragen. All das Ungesagte erstickte mich fast, und, ehrlich gesagt, machte mich das stinksauer.

Ich setzte noch einmal neu an. »Die Studie ist vom Ablauf her nicht besonders kompliziert, allerdings sehr intensiv: Die Patienten bekommen achtundzwanzig Tage lang alle acht Stunden eine Infusion. Das bedeutet, dass Angelica während dieser Zeit dreimal am Tag hier auf die Station kommen müsste, damit ihr das Medikament intravenös verabreicht werden kann. Das dauert circa eine halbe Stunde. Es gibt einige belegte Nebenwirkungen, andererseits ist die Studie nicht placebokontrolliert, das heißt, alle Teilnehmer erhalten das Medikament.«

Rose nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und drückte Angelica ein wenig fester an sich.

»Ihr solltet euch Zeit nehmen, die Unterlagen gemeinsam durchzugehen und in aller Ruhe darüber zu sprechen.« Ich betrachtete Rose einen Moment lang, während sie ihre Enkelin an die Brust drückte. Ihrer Akte zufolge war Angelica vier Jahre alt. Sie war klein und schmächtig für ihr Alter. Und sie war sehr scheu. Jedes Mal, wenn ich versuchte, sie mit einem Lächeln aus der Reserve zu locken, schaute sie weg.

Rose seufzte. Es war ein tiefer Seufzer der Hilflosigkeit. »Ich weiß nicht recht …« Sie wandte sich an Nico. »Was meinst du?«

Nico hielt den Blick seiner Mutter eine Zeit lang fest, dann schaute er auf seine Hände, als läge darin die Antwort auf ihre Frage. Er hob den Kopf und maß mich mit einem scharfen Blick, was mir einen weiteren schmerzhaften Stich ins Herz versetzte. Falls er sah, wie ich zusammenzuckte, ließ er sich nichts anmerken.

Er deutete mit einer Bewegung des Kinns auf mich. »Was findest du, was wir tun sollten?«

»Lest die Unterlagen durch, und nehmt euch die Zeit, gründlich über alles nachzudenken.«

»Nein, das meine ich nicht.« Nico schaute mir in die Augen. Ich staunte über das Vertrauen und die Verletzlichkeit in seinem Blick. »Wärst du dann ihre betreuende Ärztin?«

»Ich … also …« Unbewusst schüttelte ich den Kopf. »Nein. Normalerweise legen die Schwestern die Infusionen und führen die Visiten durch. Außerdem ist das hier meine letzte Woche auf der Station. Die Assistenzärzte in der Facharztausbildung wechseln sich alle sechs Wochen ab, und meine Zeit ist fast um. Aber Dr. Botstein, der die Studie durchführt, ist ein weltweit anerkannter Kinderpulmonologe und ein ausgezeichneter Arzt. Bei ihm ist Angelica auf jeden Fall in guten Händen.«

Nico sah mich durch seine dichten schwarzen Wimpern an. Sein linkes Knie fing an zu wippen. »Können wir nicht darum bitten, dass du sie betreust?«

Mein Kopfschütteln wurde energischer. »Nein. Aber das wollt ihr auch gar nicht. Ihr wollt Dr. Botstein.«

»Nein, Elizabeth«, sagte er langsam und mit Nachdruck. Er kniff ganz kurz die Augen zusammen, dann ließ er sich in die Polster des tristen beigefarbenen Sofas zurücksinken. »Ich will dich.«

Ich setzte eine strenge Miene auf und hielt Nicos herausforderndem Blick stand, wild entschlossen, diesen Wettstreit zu gewinnen.

Trotzdem war ich die Erste, die das Schweigen brach. »Du denkst nicht rational.«

»Wohingegen du ja für dein rationales Denken schon Preise gewonnen hast.«

»Nein.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Niemand ist perfekt.«

»Nicht mal du?« Sein Ton war bitter, und ein höhnisches Grinsen verunstaltete sein attraktives Gesicht.

»Ich am allerwenigsten.«

»Das habe ich aber anders in Erinnerung.«

Ich errötete bei der Anspielung, und seine Augen funkelten vor Genugtuung. Ein Teil seines Hohns machte männlicher Selbstherrlichkeit Platz. Typisch. Ich verdrehte im Geiste die Augen und hoffte, dass Rose seine Kompleidigung (Kompliment plus Beleidigung) nicht verstanden hatte. Er hatte jedes Recht, auf mich wütend zu sein. Ich war auch wütend auf mich – selbst nach all der Zeit noch. Aber das Timing dieser Unterhaltung – sein Timing – war wirklich das Allerletzte. Hier ging es nicht um ihn oder um uns oder darum, was vor elf Jahren zwischen zwei trauernden Teenagern passiert war. Er benahm sich wie ein sturer Macho, und das würde ich nicht dulden. Ich zwang mich, fest und bestimmt zu sprechen, und erneuerte im Stillen meinen Vorsatz, mich nicht auf seine Spitzen einzulassen. »Es ist lange her, dass du mich kanntest.«

»Ich kenne dich schon dein ganzes Leben. Wir haben meinen Brüdern zusammen Streiche gespielt. Wir hatten eine Monopoly-Partie am Laufen, die drei Jahre gedauert hat. Wir haben ein Baumhaus in eurem Garten gebaut, und unsere Väter sind mit uns beiden zu unserem ersten Spiel der Chicago Cubs gefahren.«

»Das ist alles lange her.«

»Du hast bei mir übernachtet. Und ich bei dir.«

Ich zuckte zusammen.

»Ich kenne dich besser als jeder andere Mensch«, raunte er vielsagend. Das war schlicht und ergreifend eine Lüge.

»Auf die letzten elf Jahre trifft das aber nicht zu.«

»Na ja …« Er legte die Arme auf die Rückenlehne des Sofas. Sein Tonfall war trügerisch ruhig. »Es gibt keine Zeit wie die Gegenwart. Wir sollten uns neu kennenlernen. Wir können damit anfangen, dass du die Behandlung von Angelica übernimmst.«

»Ich bin nicht die Ärztin, die ihr wollt.«

»Du bist die Ärztin, die ich will.« Er wurde immer lauter, wie jemand, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen, indem er die Stimme erhob.

»Ich bin nicht die Ärztin, die Angelica braucht.« Ich presste die Hand an meine Brust und ließ sie dort liegen, weil mein Herz schon wieder wehtat.

»Diese Entscheidung triffst nicht du.« Er war nicht bloß stur, er war richtiggehend halsstarrig.

»Du musst ausnahmsweise mal auf mich hören, Nico. Ich weiß, was ich …«

»Ich muss gar nichts. Wir haben ja bereits festgestellt, dass du nicht perfekt bist.« Nein, er war nicht halsstarrig. Er war ein störrischer alter Esel. Normalerweise scheute ich nicht vor einem lautstarken Streit zurück, aber ich wollte das kleine Mädchen nicht verschrecken.

»N-nico.« Sein Name fühlte sich komisch auf meiner Zunge an. Ich bemühte mich, leise zu reden, obwohl ich ihn am liebsten angeschrien hätte. Mein Frust war so groß, dass ich stotterte. »J-jeder macht mal Fehler.«

Jetzt war er derjenige, der zusammenzuckte. Ein Schatten huschte über seine Züge, ein Anflug von Schmerz. Seine Stimme wurde noch lauter, bis er schließlich fast brüllte.

»Tja, der Fehler des einen ist der …«

»Niccolò!«, zischte Rose halblaut, doch es genügte, um ihn mitten im Satz verstummen zu lassen. Er kniff die Lippen aufeinander, fuhr in die Höhe, raufte sich mit beiden Händen die Haare und trommelte dann mit ruhelosen Fingern auf seinen Oberschenkel. Sein Blick zuckte zu mir, dann zur Tür.

»Ich brauche eine Zigarette«, murmelte er.

Er war verschwunden, noch ehe ich überhaupt registriert hatte, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Ohne ihn wurde die Atmosphäre im Raum sogleich ruhiger. Die beigefarbenen Sitzmöbel kamen mir nicht mehr ganz so traurig vor, die Leuchtröhren nicht mehr ganz so fahl.

Er hatte immer schon eine sehr starke Ausstrahlung besessen. Früher in unserer Kleinstadt hatte er alle damit eingewickelt – alle außer mich. Wenn wir als Kinder zusammen gespielt hatten, war ich immer irgendwie nervös und angespannt gewesen. Er war so … magnetisch. Schon damals fühlte ich mich unbehaglich in seiner Nähe, weil ich ihm nie etwas abschlagen konnte. Ich wusste seiner rastlosen Energie nichts entgegenzusetzen, und ich mochte das Gefühl nicht, von ihr überwältigt zu werden. Wir hatten kaum zwanzig Minuten miteinander verbracht, und ich war jetzt schon völlig gerädert. Ich rieb die Stelle zwischen meinen Augen mit Zeige- und Mittelfinger. Meine geschundenen Nerven kamen allmählich zur Ruhe, und ich atmete tief aus.

Mir war nicht klar, dass ich die Tür anstarrte, bis Rose meine Grübeleien unterbrach.

»Es ist so schön, dich wiederzusehen.«

Ich blinzelte sie an. »Äh. Danke, Rose.«

»Bist du Rapunzel?«, hörte ich Angelicas kleines Stimmchen fragen. Sie versteckte ihr Gesicht in der blauen Decke, nur ihre Augen und ihre dunklen Haare waren zu sehen.

Unwillkürlich nahm ich meinen langen, dicken Zopf in die Hand und lächelte. »Nein, Angelica. Aber das war ein sehr nettes Kompliment.«

»Kommst du bald mal wieder nach Hause?« Rose räusperte sich und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Dein Vater vermisst dich doch sicher.«

Ich nickte. »Ja und nein. Ich fahre nächstes Wochenende für das Klassentreffen heim, aber mein Dad ist zu dem Zeitpunkt nicht da. Er und Jeanette machen eine Kreuzfahrt.«

»Klassentreffen?«

»Also …« Ich erschauerte innerlich wie äußerlich und versuchte Zeit zu gewinnen, indem ich mir lose Haarsträhnen hinter die Ohren steckte. »Du weißt schon – das Klassentreffen von der Highschool. Unser zehnjähriges Jubiläum.«

Rose öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. Sie schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut und schloss ihn abermals. Als sie ihn zum dritten Mal öffnete, sagte sie: »Nico hat nichts davon erwähnt.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich will er nicht hingehen.«

»Warum sollte er nicht hingegen wollen? Er sollte auf jeden Fall hingehen.«

Wieder zuckte ich zusammen. Es gab einige sehr gute Gründe, weshalb Nico sich vermutlich nicht für das Klassentreffen interessierte. Der beste war, dass er gar keinen Abschluss gemacht hatte. Und abgesehen davon: Was sollte er dort? Er war ein berühmter und erfolgreicher – wenngleich ziemlich plumper – Comedian mit einer eigenen Fernsehshow. Was hatte er in Iowa auf dem Klassentreffen seiner alten Highschool verloren?

Erneut warf ich einen Blick in Richtung Tür. Nico wiederzusehen war hart gewesen – viel härter, als ich erwartet hätte. Ja, er war anders als früher – älter, größer, berühmter –, aber im Kern war er immer noch derselbe wie früher. Er war derselbe Junge, der mir mit zehn den grauenhaften Spitznamen »Skinny Finney« verpasst hatte. Er war derselbe Junge, der auf der Highschool sämtliche Mädchenherzen gebrochen hatte. Er war derselbe Junge, der auf Garretts Beerdigung meine Hand gehalten hatte. Er war derselbe Junge, der im Sommer nach Garretts Tod Nacht für Nacht durch mein Fenster in mein Zimmer geklettert war.

Und ich verstand ihn nach wie vor nicht.

»Normalerweise ist er nicht so – bei anderen Leuten. So … brüsk, meine ich.«

Sie hatte mich dabei erwischt, wie ich zur Tür starrte. »Wie ist er denn normalerweise?«, fragte ich. Ich wollte es wirklich wissen.

»Ach, du weißt schon.« Sie schluckte. Dann strich sie Angelica übers Haar. »Er versucht andauernd, die Leute zum Lachen zu bringen. Aber bei … manchen Menschen kann er ziemlich ernst werden.«

Meine Mundwinkel zuckten. »Vielleicht ist das einfach die Wirkung, die ich auf die Leute habe«, meinte ich versöhnlich.

Sie sah mich an und zog eine Augenbraue hoch. »Conosco i miei polli.1«

Ich schenkte ihr ein kleines Lächeln. Rose hatte hin und wieder die Angewohnheit, auf Italienisch zu antworten. Ich wartete auf eine Übersetzung, doch als sie kam, beschlich mich der Verdacht, dass sie nicht ganz dem italienischen Original entsprach.

»Ich kenne meine Pappenheimer, Lizzy. Du hast keine solche Wirkung auf die Leute – nur auf Nico.«

»Keine Bange, ich nehme es nicht persönlich.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf Angelica. »Das zehrt bestimmt ganz schön an ihm.«

»Tut es …«, begann Rose, hielt dann jedoch inne. Sie sah mich an. »Es ist sehr hart für ihn. Aber vielleicht solltest du es doch persönlich nehmen. Du weißt schon …« Plötzlich war das Fuchslächeln wieder da. »Nur für alle Fälle.«