Timm, Rebecca Volles Haus in Andalusien

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Theresa Schmidt-Dendorfer

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Für meine Geschwister

Dominique, Samantha, Sven und Sascha

Kapitel 1

»Lila!«, fahre ich verzweifelt auf. »Lila, Lila, Lila. Nicht Lisa, Lina, Lena, Lia … LILA!«

»Das ist immer noch ne Farbe und kein Name«, gibt der schlaksige Typ hinter der Theke unbeeindruckt zurück. Stur hält er den Edding in der Hand, ohne meinen Namen auf den Pappbecher zu schreiben, und stiert mich an. Was soll das werden? Ist ihm heute einfach nur nach einer hübschen kleinen Diskussion zumute oder studiert er Namenskunde im ersten Semester?

»Lila ist ein Spitzname, okay?«, gebe ich genervt klein bei. Himmel, ich bin ohne Kaffee kein Mensch und Kollege Kaffeebar ist heute Morgen wirklich keine Hilfe.

Er zuckt gleichgültig mit den Achseln und schreibt schließlich meinen Namen auf den Becher. Wunderbar, die Welt hat endlich ein Einsehen.

Ich wende mich also wieder Lukas zu, denn leider bin ich mit meinem Anliegen, die Wohnung zu vermieten oder zu verkaufen, noch kein Stück weitergekommen. Und langsam wird die Zeit knapp. Noch mal appelliere ich an seine Vernunft: »Glaub mir doch. Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn du allein in dieser riesigen Wohnung lebst, wenn ich nach Lüneburg ziehe. Wir sollten uns wirklich lieber in Lüneburg eine größere gemeinsame Wohnung suchen!«, fasse ich ganz rational und unglaublich verheißungsvoll zusammen.

Lukas blickt mich kurz durch seine meeresblauen Augen an, öffnet den Mund und – es ertönt ein Klingeln. Natürlich nicht aus seinem Mund.

Schwupps hat er sein Headset am rechten Ohr und redet ohne Unterlass drauf los. Na super, aber immerhin gibt er mir gleichzeitig gestenreich zu verstehen, dass er ganz Ohr ist.

Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. Und vor allem mit mehr Kaffee – mir ist immer noch kalt.

Mein Umzug in eine andere Stadt steht an und Lukas hat nicht einmal angedeutet, dass er mitkommen wird. Egal, wie oft ich davon angefangen habe. Und aus dem von mir erhofften klärenden Gespräch ist nur ein schneller Kaffee geworden, bevor ich meine Familie am Timmendorfer Strand besuche. Ich war noch mit dem letzten Orgakram in der Uni beschäftigt, er natürlich mit seinen diversen Geschäftskunden. Eigentlich wie immer in letzter Zeit. Kaum noch gemeinsame Momente, er fehlt mir. Und ich bekommen Magenschmerzen, wenn ich mir vorstelle, wie es werden soll, wenn wir nicht mehr zusammen wohnen.

Ein Blick in seine strahlend blauen Augen versetzt mir kurz einen Stich, doch da spricht er bereits wieder mit seinem Kunden. Wie oft habe ich mich in diesen Augen verloren, als wir noch mehr Zeit hatten, er noch mehr Zeit hatte, und die hätten wir auch wieder, wenn er einfach mitziehen würde!

»… Herr Bohnert, ja, das ist überhaupt kein Problem. Die Location ist bereits gebucht. Nein, Martin hat schon einen anderen Termin am Donnerstag.« Er nickt mir aufmunternd zu. »Schatz? Du wolltest etwas sagen? Was? Nein, ähm, Entschuldigung, Herr Bohnert, ich habe noch ein anderes Gespräch … in der Leitung«, sagt er, kneift ein Auge zu und grinst mich dann verschmitzt an.

Ich zucke mit den Schultern. Dann eben so, ich muss es ihm ja irgendwann sagen. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir die Wohnung vermieten oder verkaufen. Und weißt du, es ist ja nicht so, als hätte ich …«

»Überhaupt kein Thema!«

»… kein Verständnis für deine Situation, aber es ist meine Wohnung und ich möchte sie nicht leer stehen lassen. Und ich fände es einfach komisch, wenn du mir Miete zahlst und … daher fände ich es gut, wenn du dir eine eigene Bleibe suchst, falls du weiterhin in Kiel bleiben möchtest.« Puh, jetzt ist es raus.

»Super! … Äh – einen Moment, Herr Bohnert.« Anscheinend schaltet er das Telefonat auf stumm. »Lila, was soll denn der Unsinn? Nur, weil du demnächst in Lüneburg wohnst, müssen wir doch deine Wohnung nicht aufgeben. Okay, für mich allein ist sie ein wenig groß, aber ich schaffe das schon. Außerdem komme ich damit klar, wenn sich meine zukünftige Frau gerne auch mal in einer anderen Stadt ausprobieren will.« Seine Worte unterstreicht er mit einem auffordernden Augenbrauenhochziehen und breitet seine Arme aus wie ein Talkmaster, der seine Gäste begrüßt.

Kurz runzle ich die Stirn, dann wird mir klar, dass er eine Show abzieht wie für seine Kunden. »Lass dieses Gezappel!«

Lukas schaltet sich wieder online. »Herr Bohnert, Harmonie ist mein zweiter Vorname! Auf Wiederhören!«

Na endlich. »Ich will mich nicht in Lüneburg ausprobieren. Ich werde dort leben, weil ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag habe und die Möglichkeit dort zu forschen.« Fassungslos starre ich Lukas an.

Der wiederum schenkt mir ein strahlendes Zahnpastalächeln. Oh bitte, nicht schon wieder! »Nathalie, Engelchen, natürlich unterstütze ich dich dabei, wo ich kann. Es tut mir leid, wenn ich das falsch rübergebracht habe.« Er guckt ein bisschen zerknirscht aus großen Dackelaugen. »Ich muss los. Wir reden später in Ruhe, ja? Ich ruf dich an, ja? Und grüß Angelika von mir, ja?«

Er drückt mir einen Kuss auf die Wange, geht Richtung Ausgang und ist bereits wieder mitten im nächsten Gespräch. »Toni, hier ist Lukas. Du, ich hatte gerade Herrn Bohnert …« Schon ist er durch die Tür und sein Wortschwall erreicht mich nicht mehr.

Wann ist das mit uns nur so komisch geworden? So als würden wir permanent aneinander vorbeireden.

Ich hätte wissen müssen, dass es genauso ablaufen würde. War ich während meines Maschinenbaustudiums wirklich so beschäftigt, dass ich nicht wahrgenommen habe, wie er sich aufführt? Wir müssen dringend wieder eine Grundlage für uns schaffen, aber wie soll das funktionieren, wenn Lukas rund um die Uhr arbeitet und ich weit weg wohne?

»Leila? Ein Latte macchiato für Leila?«

Ich atme tief durch, greife nach dem warmen Pappbecher und versuche zehn Sekunden tief und bewusst zu atmen, angeblich hilft so etwas ja. Der Blick auf meine Uhr verrät mir aber, dass ich mich beeilen muss, meine Mutter wartet nicht gern.

Ich nehme einen großen Schluck meiner braunen Droge und augenblicklich wird mein stets fröstelnder Körper von der unnachahmlichen Kaffeewärme durchflutet.

Ich verlasse den Coffee Shop und schlendere zu meinem Wagen.

In Gedanken hatte ich mir ausgemalt, wie mir Lukas erklärt, dass er bereits plant, ebenfalls nach Lüneburg zu ziehen. Natürlich kann ich nicht von ihm erwarten, dass er sein Geschäft in Kiel aufgibt. Er leitet hier schließlich eine Zweigstelle des Familienunternehmens. Ich hatte einfach nur gehofft, dass das auch problemlos von Lüneburg aus möglich wäre. Oder dass er zumindest überhaupt darüber nachdenken würde. Eventlocations für ganz Europa kann man doch auch von Lüneburg aus organisieren.

Ohne Lukas nach Lüneburg zu gehen, fühlt sich wie ein riesiger Rückschritt für unsere Beziehung an. Ich hänge an ihm, schließlich sind wir seit acht Jahren zusammen und die Zeit war nicht immer so stressig wie jetzt. Lukas war mein absoluter Schwarm zu Teeniezeiten. Meine große Jugendliebe, wir sind zusammen erwachsen geworden (zumindest ein bisschen) und ich weiß, dass wir mal besser als Team funktioniert haben.

Ich drücke auf den Türöffner am Autoschlüssel und mein Wagen quittiert es mit einem Aufblinken. Wenigstens auf mein Auto ist immer Verlass.

Als ich auf die Autobahn fahre, merke ich, wie ich mich nach und nach freier fühle. Etwas Abstand wird mir guttun. Endlich mal wieder einige unbeschwerte Wochen ohne den Druck des Studiums. In Kiel zu studieren, war genau das Richtige für mich, genau das, was ich machen wollte. Trotzdem freue ich mich jetzt auf die Zeit am Timmendorfer Strand, Erinnerungen aus Kindertagen. Die erste Verliebtheit mit Lukas, vielleicht tut es ganz gut, sich mal wieder daran zu erinnern.

Auch wenn ich dafür bei meiner Mutter einziehen muss. Aber sie ist eh so mit ihrem Charity-Kram beschäftigt, dass sie mich hoffentlich kaum bemerken wird. Außerdem plane ich die meiste Zeit in der ausgebauten, beheizten Garage zu verbringen. Denn bevor es nach Lüneburg geht, will ich unbedingt ein paar kleine Umbauten vornehmen, hier ein bisschen werkeln, da ein bisschen schrauben, Kabel verlegen, ganz ohne Deadline oder Professor im Rücken.

Wie oft habe ich in der Garage gebastelt und Lukas ist mit seinen Kumpels bei uns vorbeigegangen, um am Strand etwas zu chillen. Wie oft habe ich ihm sehnsüchtig hinterhergeblickt. Sein Elternhaus ist nur zwei Straßen entfernt von unserem. Und wie oft hat meine Mutter den Jungs dann etwas zu trinken angeboten oder sogar Sandwiches gemacht. Ich hätte ihn vermutlich nie richtig kennengelernt, wenn sie nicht so fürsorglich gewesen wäre.

 

Meine Mutter erwartet mich im Café Wichtig. Der Name ist Programm, pflegen meine Brüder zu sagen und meiden dieses Café, so gut es geht. Meine Mutter nennt es seitdem nur noch beim eigentlichen Namen Engels Eck, nach den ursprünglichen Besitzern. Mir ist das alles ziemlich egal. Das Essen ist wirklich gut und meine Mutter ein gern gesehener Gast. Aber ich weiß, was Enno und Ben meinen und warum sie es nicht mögen. Timmendorfer Strand ist nicht groß und durch unsere engagierte Mutter kennt uns jeder. Sie liebt das Bad in der Menge und jeder noch so kleine Plausch kommt ihr recht. Für mich ist Small Talk allerdings pure Zeitverschwendung, aber na ja, ich liebe meinen Heimatort trotzdem. Wobei ich zugeben muss, dass ich vor allem den Strand und das Meer liebe und natürlich meine Brüder.

Der Kies knirscht unter den Reifen, als ich meinen Mini in eine der letzten Parklücken auf dem Parkplatz zwänge. Es ist noch Saison, das heißt, unser kleiner Ort ist hoffnungslos überfüllt, aber somit sind die Chancen, dass mir jemand über den Weg laufen könnte, verschwindend gering.

 

Meine Mutter sitzt an einem Tisch, natürlich Fensterplatz. Draußen mit einer Decke zu sitzen, wäre ihr eindeutig zu profan. Wie immer ist sie wunderschön, schlank und trotzdem kurvig. Ihre inzwischen blond gefärbten Haare sind kinnlang und ihre Augen strahlen eine Begeisterung aus, die ansteckend ist. Eine richtige Traumfrau.

Ich habe schon lange aufgegeben, ihr nachzueifern. Von diesen Kurven kann ich nur träumen, ich bin groß, schmal und mit einem guten BH erreiche ich ein A-Körbchen. Eine Feststellung, die ich machen durfte, als ich versucht habe, mein Kleid für den Abiball auszufüllen.

Ich lächle ihr entgegen, als ich mich dem Tisch nähere, und sehe, wie sie kurz das Gesicht verzieht, sich dann fängt und mir schließlich aufmunternd entgegensieht.

»Hi Mum, was gibt es an mir auszusetzen? Falsche Schuhe? Falsches Outfit? Falsche Schuhe zum falschen Outfit?« Ich ziehe ein bisschen aufmüpfig eine Augenbraue hoch.

»Ach, es ist nichts, schön, dass du da bist«, versucht sie, ihre unmissverständliche Irritation kleinzureden.

Aber dieses Spiel kann sich den ganzen Tag hinziehen, kleine Andeutungen, Beobachtungen aus dem Augenwinkel, mitleidiges Seufzen.

»Nu mal Butter bei die Fische, was stört dich? Lass es uns gleich hinter uns bringen«, necke ich sie.

Meine Mutter stöhnt mitleidig und eine Spur theatralisch. »Du hast dich wirklich kein bisschen geändert, meine Tochter. Dass dein wundervolles hellblondes Haar mit diesem Kasernenschnitt, den du Frisur nennst, nicht zur Geltung kam, weißt du. Zum Glück sind sie jetzt wieder länger, aber was mich wirklich schockt, ist, dass du ein Loch im Pullover hast! Schau!« Sie nimmt den Saum meines hellblauen Lieblingsshirts und zieht daran. Daraufhin wird ein Loch in der Größe eines Zwei-Euro-Stücks sichtbar.

Ups … »Oh, das habe ich gar nicht gesehen«, sage ich verdutzt.

Sie verdreht die Augen, erspart mir aber weitere Kommentare.

»Sorry, Mum«, gebe ich nun etwas kleinlauter zurück. Da kann ich durchaus verstehen, dass ihr das peinlich ist. Wir sind eine relativ wohlhabende Familie und abgesehen davon, dass meine Mutter gerne einen gewissen gesellschaftlichen Status zelebriert, möchte natürlich keine Mutter, dass ihr Kind abgerissen daher kommt. Und ich habe nun wahrlich genügend finanzielle Unterstützung durch meine Eltern. Nur, dass mir meine Kleidung einfach nicht besonders wichtig ist … Verlegen nestele ich an dem Loch herum, als ich mich endlich neben sie setze. Zeit, das Thema zu wechseln. »Ich hatte heute Morgen ein Gespräch mit Lukas. Es ist leider völlig anders ausgegangen, als ich erwartet habe, und du hast meine miese Laune abbekommen. Entschuldigung.«

Sie winkt ab. Und es ist wie immer ehrlich gemeint, das weiß ich, denn in Bezug auf uns Kinder scheint das Wort »nachtragend« nicht in ihrem Wortschatz zu existieren.

»Lukas? Wie geht es ihm denn?« Ihre gesamte Ausstrahlung verändert sich, als sie seinen Namen ausspricht, und ich spüre einen kurzen Stich. Lukas ist ihr absoluter Liebling. Unsere Familien sind seit einer gefühlten Ewigkeit miteinander bekannt und als wir beim Abiball zusammenkamen, ging nicht nur für mich ein Traum in Erfüllung. Vermutlich hört meine Mutter im Geiste schon die Hochzeitsglocken läuten.

»Mum, das mit Lukas und mir … ich weiß einfach nicht, wie das weitergehen soll, wenn wir so weit voneinander getrennt leben.«

Kurz entweicht ihr die Gesichtsfarbe, dann erwidert sie ungerührt: »Ach, Nathalie, das kommt schon wieder in Ordnung. Ich weiß, wie sehr du es hasst, unter Druck gesetzt zu werden, aber ich bin mir sicher, ihr findet einen Weg.«

Verblüfft schaue ich sie an. Wovon spricht sie? Aktuell setze ich doch eher Lukas mit dem Umzug nach Lüneburg unter Druck … Ich lege die Hände auf dem Tisch ab und will gerade nachforschen, als wie aufs Stichwort ein Kellner kommt und einen dampfenden Pott Milchkaffee vor mir abstellt. Genussvoll sauge ich den Kaffeeduft ein, versenke drei Zuckerstücke darin und lehne mich entspannt zurück. Ich muss aufhören, mich so zu stressen. Lukas ist in Kiel, das kann ich im Moment nicht ändern. Vielleicht ändert er seine Meinung ja noch. Die nächsten Wochen bin ich am Timmendorfer Strand und alles andere lässt sich auch später klären. »Okay, lassen wir das. Also, du hast gesagt, es gibt Post von Thomas?«

Sie hebt eine Augenbraue. »Er ist euer Vater, ich halte es für unangebracht, ihn Thomas zu nennen, auch wenn du inzwischen sechsundzwanzig bist.«

»Wann habe ich Vater denn das letzte Mal gesehen? Lass mich überlegen, vorletztes Jahr Weihnachten? Sag jetzt bloß nicht, er hat es sich nach zwölf Jahren anders überlegt und will nun doch wieder eine Familie?« Ich erschrecke selbst vor mir, noch bevor meine Mutter nach Luft schnappen kann. Ich bin eindeutig zu weit gegangen, aber ich ärgere mich wahnsinnig darüber, wie sie ihn immer noch verteidigt. Außer Geld und lahmen Sprüchen hat dieser Mann nichts mehr für uns übrig.

Meine Mutter braucht ein paar Sekunden, dann versucht sie sich wieder an einem Lächeln. Ja, bloß keine Szene in der Öffentlichkeit. Das werden anstrengende Wochen, wenn ich in der Öffentlichkeit immer die Tochter aus gutem Hause spielen muss. »Entschuldige, das war unangebracht«, gebe ich mich versöhnlich. »Also, was möchte er?«

Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtet die Sonnenstrahlen, die sich in ihrem Glas Prosecco brechen. Kurz schließt sie die Augen, als würde sie in längst vergangenen Erinnerungen schwelgen, dann antwortet sie: »Er lässt sich entschuldigen, dass er nicht zu deiner Graduation und auch nicht zur Abifeier von Enno und Ben erschienen ist, aber er möchte es sich nicht nehmen lassen, euch etwas zu schenken.«

Sie nimmt einen Schluck aus dem Glas und gibt sich tapfer. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er zu irgendeiner der Feiern kommen würde. War sie tatsächlich so naiv gewesen, das anzunehmen?

»Er schenkt euch die Ferienvilla in Andalusien«, beendet sie ihre Ausführung.

Moment mal, etwa DIE Ferienvilla? Die, in der wir früher beinahe all unsere Familienurlaube verbracht haben? Sofort schießen mir Bilder durch den Kopf. Wie ich als junges Mädchen am Strand liege und meine Mutter mich zwingt aus der Sonne zu kommen, damit ich nicht krebsrot werde. Wie mein Vater darüber lächelt und wie wir uns beide gegen sie verbünden.

Dann fällt mir ein, wie wir aus dem letzten Urlaub nach Hause kommen und er uns erklärt, dass er seine Koffer nicht auspacken wird. Wie er meine Mutter auf die Wange küsst, mir über den Kopf streichelt, ohne sein obligatorisches »Was immer es ist: Ja, und ich komme sofort, wenn du es möchtest«. Wie er Enno und Ben in die Arme schließt und dann aus der Tür geht … für immer.

»Das kann nicht sein Ernst sein!«, entfährt es mir. Auch meine Mutter scheint über sein Geschenk nicht glücklich zu sein. »Ich meine, kann er das überhaupt? Uns das Haus schenken? Immerhin ist es doch euer gemeinsames Haus, oder nicht?«

»Nein, es war schon immer sein Haus. Jetzt läuft es zwar noch auf seinen Namen, aber alle Papiere sind vorbereitet und er hat eine notariell beglaubigte Vollmacht mitgeschickt. Vermutlich denkt er, dass ihr mehr damit anfangen könnt.«

Kann er sich denn nicht denken, wie sehr meine Mutter das verletzt? Denkt er wirklich, wir könnten jetzt schöne Stunden dort verbringen, mit den ganzen miesen Erinnerungen? Aber das ist typisch für ihn. Wenn ihm gerade kein gutes Geschenk für uns einfällt, überschreibt er uns kurzerhand einfach seine abgelegten oder überflüssigen Dinge. Und da ich darauf keine Lust habe, verkaufe ich sie umgehend sofort wieder. Nur die Ducati zu meinem letzten Geburtstag hätte ich fast behalten, aber ich hätte eine Garage dafür anmieten müssen, und das war mir dann doch zu umständlich.

Was soll ich nur mit einer Villa? Sollen wir sie unserer Mutter schenken? Oder reißt das auch bei ihr alte Wunden auf? Egal, ich habe mit diesem Teil meiner Kindheit, mit Andalusien abgeschlossen. Es dürfte also nicht schwierig sein, die Villa abzustoßen.

»Hey Schwesterherz!«, reißt mich Ennos Stimme aus meinen Gedanken und mir ist, als würde die Sonne aufgehen. Die Zwillinge zu sehen, war etwas, worauf ich mich am meisten gefreut habe.

Ben lugt hinter Enno hervor und strahlt mich mit einem breiten Grinsen an. »Du hast da ein Loch im Pulli«, feixt er. Eindeutig um unsere Mutter zu ärgern, denn ihm muss klar sein, dass mir das völlig egal ist.

Ich stehe auf und schließe die beiden in eine herzliche Umarmung, was gar nicht so einfach ist. Denn sie sind einen Kopf größer als ich und zumindest Ben hat ein Kreuz wie ein Bär. Seine Statur und die halblangen blonden Haare lassen ihn fast wie einen Wikinger aussehen. Obwohl die beiden eineiige Zwillinge sind, unterscheiden sie sich inzwischen sehr. Enno wirkt viel schmaler als Ben, was sicherlich daran liegt, dass Ben seine Freizeit fast ausschließlich im Trainingsraum verbringt. Enno zieht unsere Mutter ebenfalls in eine herzliche Umarmung, etwas, das sonst eher nicht seine Art ist. Vermutlich ist er gerade überglücklich von seiner Freundin Nele nach Hause gekommen.

»Verrückte Neuigkeiten, was?« Enno grinst, wirkt allerdings etwas angespannt.

Ich lege meine Stirn in Falten, wovon spricht er? Sein bevorstehendes Studium?

»Eine Partyvilla in Andalusien, ich würde uns ja gerne als Glückspilze feiern, aber ich glaube, das scheitert an dir, Schwesterherz. Immerhin sind wir uns einig«, sagt er, hebt seine Hand und Ben schlägt ohne Zögern ein.

Party … was? Unsere Mutter räuspert sich ungehalten.

»Ihr meint Paps alte Ferienvilla? Das Ding stoßen wir natürlich so schnell wie möglich ab«, entscheide ich resolut.

Woraufhin Ben mich kurz mit zusammengezogenen Augenbrauen ansieht und dann langsam nickt. Die beiden ziehen sich quietschend Stühle heran und zumindest Ben quetscht sich in den für ihn viel zu schmalen Lehnstuhl. »Ups«, gibt er belustigt von sich, als das Ding knarrt, als würde man es auseinanderbiegen. Was ihm einen pikierten Blick unserer Mutter einbringt.

Enno verschränkt die Arme vor der Brust. »Willst du wirklich verkaufen, Lila?«, fragt er und deutet mit einem Kopfnicken auf Ben, der daraufhin ruhig wird und wieder nickt.

»Wir haben hier schon Strand im Überfluss, wozu da noch ein Haus im Süden?«

»Na ja – wegen Süden?«, überlegt Enno.

»Wegen der schönen Aussicht?« Ben grinst von einem Ohr zum anderen und mir wird klar, was er mit »schöner Aussicht« meint. Wann wird der eigentlich mal erwachsen?

»Vielleicht war es doch keine so gute Idee, das hier zu besprechen«, gibt unsere Mutter zu bedenken und winkt den Kellner zu uns heran. Kaum steht er neben ihr, drückt sie ihm einen Schein in die Hand und mit den Worten »Stimmt so« ist sie auch schon im Begriff aufzustehen.

Wieso hat sie sich überhaupt mit uns hier getroffen? Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. All ihre Kinder sind vermutlich ein letztes Mal zusammen bei ihr, denn spätestens Ende dieses Jahres sind wir alle fort und kommen, wenn überhaupt, nur noch an den Festtagen zusammen. Vermutlich wollte sie das Bad in der Menge mit uns zusammen genießen, die stolze Mutter mit ihren flügge gewordenen Kindern.

Wir stehen ebenfalls auf und folgen ihr. Und tatsächlich keine fünf Meter entfernt vom Café begegnet uns Herr Peters, einer der Organisatoren der Beach-Polo-Meisterschaften und Lukas’ Vater. Ich stöhne innerlich auf, und wenn ich in Bens und Ennos Gesichter schaue, vermute ich, dass es ihnen ähnlich geht.

Wir tauschen einige höfliche Floskeln aus: Ja, es ist schön, wieder zu Hause zu sein. Nein, wir planen noch keine Kinder. Ha ha, ja sehr lustig. Ja, es ist wirklich gut, sich wieder frische Seeluft um die Nase wehen zu lassen, und so weiter. Irgendwie bin ich auch nach all den Jahren mit ihm nie warm geworden, da ist immer eine unüberbrückbare Distanz zwischen uns. Und die geht von ihm aus. Ja, ich bin sicherlich nicht der herzlichste und wärmste Mensch, aber zuverlässig und ehrlich. Offen. Insgeheim glaube ich, dass er sich einfach eine andere Freundin für seinen erfolgreichen Sohn wünscht. Ein bisschen weiblicher, ein bisschen mehr … äh … Typ Tussi oder zumindest Mädchen-von-nebenan. Eben keinen Techniknerd wie mich.

Irgendwann entschuldigt sich Ben für uns, wir hätten da noch etwas zu besprechen, und zieht mich am Arm in Richtung Park. Herr Peters nickt wohlwollend und schenkt seine Aufmerksamkeit nun vollends meiner Mutter, die er nicht müde wird anzustrahlen. Wenn ich nicht wüsste, dass er immer noch seiner Frau nachtrauert, die ihn vor Jahren verlassen hat, könnte man meinen, er steht auf sie.

»Danke, Ben, das wäre sonst noch Stunden so weitergegangen.«

»Oh das, ja, du und Enno, ihr seid einfach viel zu höflich. Zumal er sich sowieso nur mit Mutti unterhalten und sie anstarren will.«

Ich schaue zu ihm auf. »Das ist dir auch aufgefallen, oder? Ob sie das weiß?«

»Wovon sprecht ihr?«, mischt sich nun auch Enno ein.

Ben schüttelt nur den Kopf. »Nix Enno, vergiss es. Sis, also, du willst das Haus also unbedingt verkaufen.«

Ich möchte keine Dinge besitzen, die mich an meinen Vater erinnern. Sie würden wie Platzhalter in meinem Leben stehen, nein, danke. Er hat sich entschieden zu gehen, ich brauche keinen Ersatz in Form von irgendwelchen Dingen. Aber ich weiß, dass die Jungs das anders sehen.

»Wir brauchen es einfach nicht«, versuche ich sie zu beschwichtigen. »Und vermutlich ist es inzwischen auch ziemlich runtergekommen, also sollten wir es loswerden, bevor es zu arbeitsintensiv wird«, behaupte ich einfach, denn unser Vater lässt im Allgemeinen gut für seine Besitztümer sorgen.

Enno wirkt gedankenversunken, aber Ben hakt sofort nach. »Er mag ja kein Mustervater sein, aber Müll hat er uns noch nie geschenkt. Die Hütte wird vermutlich in traumhafter Lage stehen, und ich denke, wir alle könnten eine kleine Auszeit gut brauchen. Dein Studium war anstrengend und das Abitur …« Er macht eine verlegene Pause. »Also das Abi war für einen von uns auch sehr anstrengend.«

Jetzt muss ich wirklich lachen. Enno hat sein Abi mit 1,3 bestanden, aber Ben hat sich mit einem Schnitt von 3,5 gerade so über Wasser gehalten.

»Ja, Enno hat sicherlich Stress gehabt. Ein Wunder, dass du es überhaupt geschafft hast, Ben.«

Nun mischt sich auch Enno ein: »Mutti hatte ihm angedroht, dass sie seine Enduro an die Kette legt, wenn er sich nicht endlich ›auf den Hosenboden‹ setzt«. Die letzten Wörter betonte er so gekonnt, dass ich mir geradezu vorstellen kann, wie unsere Mutter vor ihm gestanden haben muss.

Wir grinsen Ben an, der sich verlegen am Hinterkopf kratzt. »Ja, ja, schon klar. Egal, anstrengend war es trotzdem.«

Wir laufen durch den kleinen Park Richtung Maritim, und im Moment ist es tatsächlich einigermaßen leer hier. Am Strand oder in der Fußgängerzone wird es vermutlich völlig anders aussehen.

Früher bin ich hier oft mit Lukas zusammen entlanggelaufen und er hat Pläne für das Familienunternehmen entworfen, geplant, dass wir eines Tages hier ein Haus haben werden. Das alles habe ich dann immer gedankenverloren abgenickt, denn während er über diese Dinge sprach, ging mir wie so oft mein Studium im Kopf herum, die Firmen, bei denen ich mich schließlich auch beworben habe. Neben ihm kann ich wunderbar in meine eigenen Gedanken abtauchen. Er war so was wie eine sichere Basis, von der aus ich mir alles erträumen konnte. Aber aus irgendeinem Grund stimmt mich seine Art in letzter Zeit nachdenklich. Irgendetwas hat sich verändert. Er? Ich? Wir beide? Ich wäre gerne wieder so unbeschwert mit ihm hier, wie noch vor ein paar Jahren. Als wir noch zusammen Fahrräder geflickt und Mofas auseinandergeschraubt haben, um danach im warmen Sommersand zu knutschen.

Das Sand-Kies-Gemisch unter unseren Füßen knirscht bei jedem Schritt und auch das ist etwas, das mich daran erinnert, zu Hause zu sein.

»Das ist eine einmalige Gelegenheit, deswegen haben wir gleich Nägel mit Köpfen gemacht.«

»Nägel mit Köpfen?« Ich war wohl zu lange durch meine Gedanken an Lukas abgelenkt.

Ben bleibt stehen, zieht einen gefalteten DIN-A4-Zettel aus einer Hosentasche und hält ihn mir vor die Nase.

Eine Buchungsbestätigung. Enno, Ben und ich sind einzeln aufgeführt. Für einen Flug von Hamburg aus nach Malaga, und zwar in …

»Drei Tagen!«, rufe ich schockiert aus. »Ihr habt einen Flug nach Malaga gebucht? Ohne mich zu fragen? Spinnt ihr?«

Das war offensichtlich nicht die Reaktion, die meine Brüder erwartet haben, denn Enno wirkt wie vor den Kopf geschlagen und Ben zieht eine Grimasse.

»Ernsthaft mal. Was denkt ihr euch dabei? Weiß Mutti davon?«

»Nope«, sagt Ben unterkühlt. »Wir wollten dich damit überraschen und du solltest dann …«

Ich unterbreche ihn unwirsch. »Und ich sollte sie dann überzeugen. Grandiose Idee. Habt ihr euch mal kurz darüber Gedanken gemacht, dass ich womöglich was Besseres zu tun habe, als nach Spanien zu fliegen?«

»Hast du denn etwas Besseres vor?«, fragt Enno und wirkt dabei so geknickt, dass ich vergesse, dass die beiden schon neunzehn Jahre alt sind. Ich sehe in sein Gesicht und denke an die kleinen Jungs, denen ich vor einer gefühlten Ewigkeit das Fahrradfahren beigebracht habe. Mist, jetzt hat er mich. »Vielleicht keine schlechte Idee«, grummele ich. »Die Formalitäten müssen ja vor Ort erledigt werden und dann sehen wir auch, in welchem Zustand die Bude ist und können gleich einen Makler beauftragen.«

Langsam setzen wir uns wieder in Bewegung und steuern nun auch den Strand an.

»Ich kann mich nicht mal mehr an Andalusien erinnern, so lange ist dieser Urlaub her«, überlegt Enno.

»Ja, geht mir genauso!«, springt ihm Ben hilfreich zur Seite.

Ich wünschte, mir würde es auch so gehen. Mir ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, wieder einen Fuß in diese bösen Erinnerungen zu setzen. »Jungs, ich weiß nicht. Das muss ich mir echt gut überlegen.« Am liebsten würde ich die Sache allein durchziehen, ohne die beiden Kindsköpfe … Umso schneller wäre die Sache erledigt.

»Wir nicht. Wir fahren in drei Tagen nach Hamburg und dann geht es in den Flieger. Du kannst dir ja überlegen, ob du mitkommen willst«, beendet Enno schließlich unsere Diskussion. Die beiden nicken sich kurz zu und in ihrer typischen Zwillingseinigkeit lassen sie mich einfach stehen und machen sich auf den Rückweg.

Unsere Mutter wird ihnen die Hölle heiß machen, wenn sie erfährt, dass sie einen Trip nach Andalusien planen. Vermutlich bekommen sie nicht mal einen Mietwagen, weil sie noch so jung sind.

Meine Füße tragen mich wie von allein an den Strand und schließlich bis kurz vor die Wasserkante. Was für ein verkorkster Tag. Und während sich die kleinen Wellen am Strand brechen, denke ich über mein Talent nach, heute jeden Dialog als Verliererin zu verlassen. Angefangen bei Lukas.

Ich könnte mich ruhig in Lüneburg ausprobieren.

Nein! Mir wird heiß und kalt. Er sagte: »Meine zukünftige Frau kann sich ruhig in Lüneburg ausprobieren.« Wie konnte mir das denn entgehen? Ich merke, wie mir der kalte Schweiß ausbricht. War das ein verkappter Heiratsantrag gewesen oder eine seiner Zukunftsvisionen? Ich Idiotin, wie konnte ich es denn dazu kommen lassen? Er hat mich gegen die Wand manövriert und ich habe nicht mal widersprochen. Heiraten steht jedenfalls nicht ganz oben auf meiner Agenda. Ich lasse mich nach unten gleiten und setze mich auf den herbstkalten Strand. Die klamme Kälte kriecht mir unter die Kleidung und mein Kopf sinkt wie von selbst in meine Hände. Hauptsache, ich kann Lukas und seinen grandiosen Plänen noch etwas länger aus dem Weg gehen, um mir zu überlegen, wie ich ihm beibringe, dass ich eigentlich nie vorhatte zu heiraten, aber trotzdem an seiner Seite sein will. Vermutlich hatte er meine Mutter schon ins Bild gesetzt. Kein Wunder, dass sie so merkwürdig reagiert hat. Und sie wird jetzt in den nächsten Tagen alles Mögliche dafür tun, dass ihr (!) Traum Realität wird. Ich sehe sie vor mir, wie sie ganz zufällig Hochzeitszeitungen neben meinem Frühstücksteller platziert und laut überlegt, ob mir Reinweiß oder Eierschale besser steht … Andalusien klingt immer verlockender.

Kapitel 2

»Ryanair?!«

»Ja, das war der kürzeste Flug, den wir kriegen konnten. Alle anderen Fluggesellschaften hatten einen Zwischenstopp«, teilt mir Enno leicht genervt mit.

»Außerdem hört sich das ganz schön versnobt an, wie du dich gerade aufführst«, lässt Ben mich wissen.

»So ein Unsinn. Mir geht es nicht darum, dass ich nicht günstig fliegen will …«, will ich gerade ausführen, als das Taxi auch schon auf dem Parkplatz vor dem Flughafen zum Stehen kommt.

»Könnte man aber meinen«, pflichtet ihm nun auch noch Enno bei.

Ich ächze innerlich. Wie konnte ich auch nur ansatzweise annehmen, dass das das mit meinen Brüdern eine entspannte Sache wird?

Immerhin haben mir die beiden Stein auf Bein zugesagt, dass wir den Verkauf zügig über die Bühne bekommen, das war schließlich der Deal für diese ganze Aktion hier. Besonders Ben hat mir versprochen, dass er mich unterstützen wird. Im Gegenzug habe ich ihm eingeräumt, dass wir noch einen letzten Urlaub dort verbringen können. Die geplanten zweieinhalb Wochen sind also tatsächlich so etwas wie Urlaub, auch wenn mir der Ort immer noch nicht wirklich behagt. Aber gut, Deal ist Deal. Und ich habe die Villa schließlich nicht allein geschenkt bekommen, ich bin auf die beiden angewiesen.

Enno war gestern noch beim Friseur und hat sich die Seiten kahl rasieren lassen. Ich komme mir vor, als wäre ich im Musikvideo von »I Don’t Care« mit Justin Bieber und Ed Sheeran gelandet, wobei meine Brüder diese Jungs vermutlich um einen Kopf überragen. Tatsächlich scheint ihr Look bei ihren Altersgenossinnen – für mich überraschend – gut anzukommen. Zumindest starrt eine ungefähr Sechzehnjährige Ben verzückt an. Toll. Jetzt muss ich auch noch darauf achten, dass die Jungs keinen Mist mit Minderjährigen bauen.

Als ich nach Kiel umzog, rannten sie mir noch die halbe Straße hinterher, winkten und brüllten, ich solle mindestens jedes zweite Wochenende nach Hause kommen. Sie waren so niedlich und jetzt sind sie einen Kopf größer als ich, stinken nach Mann und blonde Mädchen in Hotpants schauen ihnen hinterher; das ist irgendwie noch nicht ganz bei mir angekommen.

Ben zwinkert dem Mädchen zu, als Enno hinter uns laut über den Gehweg rülpst. Ich starre ihn entgeistert an.

»Sorry, hab` die Cola vom Frühstück wohl nicht so gut vertragen.«

»Bitte was? Wer bist du, und was hast du mit meinem wohlerzogenen Bruder gemacht?« Na toll, meine Mutter bleibt – Gott sei Dank hier –, aber dafür klinge ich schon wie sie.

Er grinst schief und erwidert: »Der hat gerade Urlaub.«

Murrend führe ich uns zum Gate. Ausgerechnet für diese zwei Hohlköpfe habe ich mich bei unserer Mutter stark gemacht. Wie zu erwarten war Angelika nicht begeistert von der Idee und hat sich prompt geweigert, uns heute Morgen zum Flughafen zu fahren und uns beim Frühstück mit zusammengekniffenen Lippen angefunkelt. Erst als wir uns bereit machten, ins Taxi zu steigen, gab sie ihre Blockade auf und umarmte uns. Aber glücklich schien sie trotzdem nicht.

Sobald wir angekommen sind, werde ich bei ihr anrufen und versuchen die Wogen zu glätten.

»Ryanair hält immer noch an der Boeing 737 Max fest«, sage ich leise zu Ben, als wir durch die Passagierbrücke zum Flugzeug laufen. Enno ist bereits vorgestürmt. Was denkt er denn? Wer zuerst da ist, bekommt den besten Platz?

Ben sieht mich fragend an. »Was?«

»Die Boeing 737 Max. Deswegen wollte ich nicht mit Ryanair fliegen«, zische ich etwas lauter.

»Ah ja, und was soll mir das sagen?«

»Sie hat ein Problem mit dem Stabilisierungssystem und alles, was Boeing dazu einfällt, ist, den Flugzeugtyp umzubenennen!«

»Ach, Lila, jetzt fang doch nicht wieder mit diesem technischen Schnickschnack …« Er unterbricht sich und bleibt abrupt stehen. »Meinst du etwa die Maschine, die vor einiger Zeit abgestürzt ist? Fliegen wir mit der Max?«

»Nein, wir fliegen mit der 737–800.«

Ben entspannt sich sichtlich. »Na, dann ist doch alles super, Sis!«

Na toll, er kapiert offensichtlich nicht, was es für mich bedeutet, mit einer Fluggesellschaft zu fliegen, der solch technischer Schnickschnack auch nichts bedeutet …

 

»Ich sitze am Gang, ich war schließlich zuerst hier«, erklärt Enno, als ich bei unserer Sitzreihe ankomme. Ben lässt sich gerade auf dem Fensterplatz nieder. »Lila, zwischen uns ist noch ein Plätzchen frei, wir hören uns auch brav an, wie viele Propeller die Maschine hat.«

»Strahltriebwerke, Turbinen-Strahltriebwerke«, belehre ich sie. »Keine Propeller.«

Die beiden werfen sich einen verschwörerischen Blick zu.

»Hör dir das an, Enno. Strahlturbinen, keine Propeller. Bestimmt weiß sie auch, welche Flughöhe das Ding erreichen kann und wie viel Aluminium sie hier drin verbaut haben.«

Enno setzt eine leidende Miene auf. »Andere Jungs haben Schwestern mit Extensions, High Heels und heißen Freundinnen und was haben wir? Eine Amy Farrah Fowler.«

»Na ja, sollten wir mal irgendwo stranden, kann Lila uns wenigstens einen Hyperloop nach Hause bauen.«

Ich ignoriere ihr postpubertäres Gelaber, quetsche mich zwischen die beiden und zücke mein Smartphone. »Wie heißt das Motorradforum bei Reddit, wo ihr eure Schrauber-Heldentaten postet? Zeit, klarzustellen, wer die Enduro wieder zum Laufen gebracht hat!«

Stille.

Enno schneidet mir eine Grimasse, während Ben nur mit den Schultern zuckt.

Ich grinse vor mich hin. Zwillingsattacke abgewehrt. Okay, vielleicht bin ich auch manchmal noch postpubertär.

 

Kaum sind wir in der Luft, fragt uns eine zierliche brünette Stewardess nach unseren Getränkewünschen.

»Einen Tomatensaft mit Wodka«, sagt Ben, ganz Mann von Welt, und Enno kann da natürlich nicht zurückstehen: »Für mich das Gleiche.«

Kindsköpfe. »Für mich nur einen Kaffee bitte, mit Milch und drei Tütchen Zucker.« Zufrieden nehme ich mein Grundnahrungsmittel entgegen. Die blöde Klimaanlage im Flugzeug ist so kalt, dass ich unbedingt etwas brauche, um mich aufzuwärmen.

Die Stewardess schüttelt den hörbar leeren Karton mit Tomatensaft, entschuldigt sich und läuft den Gang in Richtung Bordküche zurück. Beliebtes Zeug.

»Die Stewardess hat dir zugelächelt«, lässt Ben seinen Bruder wissen.

»Ts, ts, ts, wenn ich das Nele erzähle. Ich sollte ihr einen ausführlichen Bericht schreiben«, ziehe ich ihn auf.

Enno zuckt zusammen. Kurz herrscht Ruhe.

Schließlich meldet sich Ben zu Wort. »Ach Frauen, wer braucht die schon, was Enno? Wir genießen jetzt erst mal unsere Freiheit, Nele war eh viel zu dürr und zickig.«

Nele war? »Nele ist Geschichte?«, frage ich verdutzt.

»Jupp«, lässt mich Enno wissen und schiebt sich aus seinem Sitz.

Wow, ich bin schockiert. Nele und Enno waren doch ein Herz und eine Seele. Wie Lukas und ich noch vor wenigen Jahren. Und die beiden haben sich getrennt?! Wie, warum? Und wieso weiß ich davon nichts?

»Ich schaue mal, ob ich der Stewardess mit den Getränken helfen kann«, sagt Enno herausfordernd.

Ben hält ihm die Hand zu einem High Five hin und ich ducke mich unter ihrer Machogebärde weg. Als Enno sich umdreht, kollidiert er just mit der Frau seines Interesses. Die Bloody Mary in ihrer Hand ergießt sich schwungvoll über sein weißes Poloshirt und macht ihrem Namen alle Ehre. Volltreffer.

Ben schnaubt unkontrolliert und auch ich kann mir das Lachen kaum verkneifen. Die Stewardess hat eine Hand vor den Mund geschlagen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie Schreck oder Erheiterung verbergen will.

»So ein Dreck, das darf doch nicht wahr sein«, stöhnt Enno.

Die Stewardess entschuldigt sich, obwohl es ja nicht ihr Fehler war. Mein Bruder lächelt sie unbeholfen an und schiebt sich an ihr vorbei. Auf dem Weg zur Toilette bemüht er sich, ganz Enno, den Fußboden nicht schmutzig zu machen. »Entschuldigung«, ruft er so laut, dass ihn vermutlich sämtliche einhundertsiebenundachtzig Fluggäste hören. Die Wangen der Stewardess färben sich ebenso tomatenrot wie das Shirt ihres Opfers. Ob ihr Name zufällig Mary ist?

»Ein echter Enno«, kommentiert Ben.

»Allerdings. Aber jetzt sag mal, was ist zwischen ihm und Nele?« Ich kann es immer noch nicht glauben.

Er schaut mich unbehaglich an.

»Komm schon«, insistiere ich, »Enno ist der Vernünftige, total Durchgeplante. Er ist nicht der Typ für spontanen Frisurenwechsel, spontanen Urlaub oder spontane Frauenbekanntschaften. Wenn er sich von Nele getrennt hat, muss er dafür einen triftigen Grund haben.«

»Hat er nicht.«

»Was?« Irritiert sehe ich ihn an.

Ben holt Luft und wirft einen raschen Blick in Richtung Toilette. »Enno hat sich nicht getrennt«, erklärt er. »Es ging von Nele aus. Sie hat kurz vor ihrer Abreise mit ihm Schluss gemacht. Geht für ein Jahr nach Kanada ins Ausland und hat gesagt, sie will ihre Beziehung nicht belasten. Ha ha. Natürlich ist das eine blöde Ausrede. Für Enno ist die Welt zusammengebrochen. Ich meine, sie hatten alles geplant. Sie wollten den Hof ihrer Eltern weiterführen. Jetzt ist alles hin. Neles Eltern reden nicht mehr mit Enno, weil sie glauben, er hätte sich getrennt, und Nele ist unerreichbar auf einem anderen Kontinent. Wundert’s dich da noch, dass er völlig fertig ist?«

Ich bin sprachlos. Was für eine schreckliche Situation! Eine Beziehung beendet man nicht leichtfertig. Es gibt Höhen und Tiefen, aber man muss doch zusammen stark bleiben! Außer man heißt Thomas, hat eine wundervolle Frau und drei recht annehmbare Kinder … Dann kann man ein gemeinsames Leben einfach so wegschmeißen, als hätte es nichts bedeutet.

Enno kommt zurück. Die roten Flecken erscheinen nun etwas dunkler, da sein Poloshirt nass ist. Offensichtlich ist Tomatensaft sehr hartnäckig. Mein armer kleiner Bruder.

Ich rufe die E-Mail auf, die mich heute Morgen von Lukas erreicht hat:

Hey mein Schatz,

sorry, dass ich die letzten Tage so schlecht erreichbar war. Ich habe mich aber sehr über deine Gute-Nacht-Nachrichten und deine Kaffeegrüße zum Morgen gefreut. War auch mal wieder schön, einfach ein paar Nachrichten auszutauschen.

Es tat mir übrigens total leid, dass ich dich an deinem letzten Tag in Kiel in den Coffeeshop geschleppt habe, das war im Nachgang betrachtet echt keine Heldentat.

Eigentlich wollte ich dir aber einen Gefallen tun, das war immerhin für lange Zeit dein letzter Kaffee aus diesem Laden. 😉

Auf jeden Fall konnte ich einiges anstoßen, daher kann ich bereits in ein paar Tagen am Timmendorfer Strand sein und wir können doch noch etwas gemeinsame Zeit vor deinem Umzug verbringen. Freue mich schon darauf, dich wiederzusehen.

Kuss

Lukas

 

Meine erste Amtshandlung nach dieser E-Mail war, ihn anzurufen, aber wie fast immer, war sein Handy nicht erreichbar. Also habe ich eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Dass wir spontan für fast drei Wochen nach Andalusien fliegen, weil wir das Haus hier verkaufen müssen, und ich ihn bitte, mich zurückzurufen, wenn er Zeit hat. Wir müssen dringend reden.

Ja, zurzeit ist nicht alles ideal, aber das ist kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Wir müssen nur wissen, wohin unser gemeinsamer Weg uns führen kann, sodass es für beide in Ordnung ist.