3Amir Eshel

Dichterisch denken

Ein Essay

Aus dem Englischen von Ursula Kömen

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7Vorwort

Dies ist ein Essay über beklemmende Gefühle und meine ganz persönliche Reise, die ich antrat, um ihnen auf den Grund zu gehen.

Vor ein paar Jahren erschien ein Buch, an dem ich ein halbes Jahrzehnt gearbeitet hatte, endlich in gedruckter Form. Ich war begeistert. Das Resultat von ungezählten Tagen akribischer wissenschaftlicher Arbeit hatte schließlich auf 350 Buchseiten Form angenommen. Das Cover zierte ein wunderschönes Gemälde. Auf der Rückseite durfte ich Lob von hochgeschätzten Kollegen lesen. In den folgenden Monaten wurde mein Buch (überwiegend) positiv rezensiert. Kollegen von nah und fern sprachen mir ihre Bewunderung für meine Arbeit aus.

Doch bald bemerkte ich, zunehmend misstrauisch: Die Komplimente waren häufig vage formuliert und ließen eine eher flüchtige Lektüre erahnen. Manchmal, wenn es mir inhaltlich relevant erschien, machte ich auch meine Studierenden auf meine neu erschienene Studie aufmerksam, und auch ihre Reaktionen zeigten häufig eine Mischung aus recht allgemein gehaltener Bewunderung und auffallend lückenhafter Detailkenntnis – ganz so wie zuvor bei meinen Kollegen. Nach und nach wurde mir klar: Ich hatte eine respektable wissenschaftliche Abhandlung geschrieben; ein Buch, das einer sorgsam entwickelten Methodologie folgte; ein Buch, randvoll mit verifizierten Details, einer stringenten Argumentation folgend. Und ich hatte ein Buch geschrieben, das kaum jemand tatsächlich las. Vielleicht sollte ich es genauer ausdrücken: Kaum jemand las es von Anfang bis Ende, so wie man ein fesselndes Buch liest. Und auch jene, die es lasen, schienen dies eher aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus denn aus echter Begeisterung zu tun.

Ich war damals überzeugt davon (und bin es noch), dass der Leitgedanke des Buches wertvoll ist: Beim Erinnern traumatischer 8historischer Ereignisse würdigt die zeitgenössische Literatur den Schmerz der Vergangenheit, doch ist dieses Erinnern auch Ausdruck einer Zukünftigkeit – es versetzt uns in die Lage, eine bessere Zukunft zu imaginieren. In den Monaten nach dem Erscheinen des Buches gestand ich (in erster Linie mir selbst) allmählich ein, dass diese zentrale These zwischen all den Details verloren gegangen war – in der Fülle der Belege, die ich für nötig gehalten hatte, um eine valide Aussage machen zu können. Dieser Grundgedanke, der mir so wichtig war, wurde vernebelt durch mein Streben nach »knowingness«, wie Richard Rorty es nennt, einer »besserwissende[n]« Geisteshaltung: »ein Seelenzustand, der vor Schauern der Ehrfurcht bewahrt. Er macht unempfänglich für romantische Begeisterung«.1 Natürlich empfiehlt uns Rorty nicht an, anstelle des Strebens nach Erkenntnis schiere Romantik und wehmütige Empfindsamkeit zu setzen. Doch warnt er davor, einen Roman oder ein anderes Kunstwerk so zu studieren wie etwa eine geologische Formation oder eine Milz – als Gegenstände von wissenschaftlichem Erkenntniswert. Mit einer solchen Herangehensweise würden wir das große Potenzial der Künste aus den Augen verlieren: die Art und Weise, in der Kunst uns für uns selbst und für unsere Umwelt sensibilisiere, weil sie sich eben gerade nicht der wissenschaftlichen Methodik verpflichtet fühle. Wir liefen Gefahr, ihre Fähigkeit, uns Einsicht und Weisheit zu vermitteln, zu übersehen. Die Kunst kann dies, weil sie sich nicht einschränken lässt von Denksystemen oder stringenter Methodik. Ob mein Buch – und das betrifft jedes wissenschaftliche Buch – als ein Kunstwerk betrachtet werden kann, mag dabei zur Diskussion stehen. Und dennoch: Je länger ich über Rortys Idee nachgrübelte, desto konsternierter wurde ich.

Die Voraussetzungen, die Rorty vor die »wissende Haltung« stellt, sind genau jene, die mich dazu veranlasst hatten, meine intellektuelle Intuition unter einer dicken Schicht stichhaltiger »Belege« zu vergraben: Ich hatte mich von dem Wunsch leiten lassen, 9als »sorgfältiger« Wissenschaftler respektiert zu werden, als jemand, der die Stichhaltigkeit seiner »Entdeckungen« belegen kann, sowohl innerhalb der eigenen Disziplin als auch darüber hinaus. Statt eine humanistische Perspektive auf einige der Romane zu zeigen, die ich dafür bewundere, dass sie die Themen Gedächtnis, Geschichte und Trauma berühren, wollte ich wie ein Wissenschaftler geachtet werden, der gerade mit spektakulären neuen Befunden aus seinem Labor tritt. Ich habe mein Schreiben der berechtigten, aber häufig despotischen Tendenz in den Wissenschaften unterworfen, einer strikten Methodik zu folgen, eine systematisch argumentierende und evidenzbasierte These darzulegen, meine Analyse mit Stringenz und Logik zu untermauern.

Mein Unbehagen über das Buch wurde in den folgenden Monaten noch stärker, verschärft durch die anschwellende Debatte über die Zukunft der Geisteswissenschaften, und hier insbesondere über das mangelnde Interesse an geisteswissenschaftlicher Forschung und die rückläufigen Anmeldungen für geisteswissenschaftliche Seminare an amerikanischen Universitäten.2 Es drängte sich mir der Gedanke auf, dass das Schicksal meines Buches in einem Zusammenhang stand mit den Beobachtungen, die viele meiner Kolleginnen und Kollegen und auch ich in den letzten Jahren gemacht hatten: Ungezählte talentierte Studierende in Nordamerika und Europa (dies sind die beiden Kontinente, mit denen ich am vertrautesten bin) mieden die Geisteswissenschaften in zunehmendem Maße. Freilich, so dachte ich, ist diese Tendenz bei der Studienfächerwahl in einem größeren Zusammenhang mit den verschärften Anforderungen der sogenannten Wissensökonomie zu sehen. Sicherlich agieren die Studierenden unter dem Druck, ihre kostbare Studienzeit dafür aufzuwenden, Traumkarrieren zu verwirklichen oder die Wege zu gehen, die ihre Eltern ihnen vorgezeichnet haben. Und doch musste ich mir eingestehen, dass die Studierenden, denen ich auf dem Campus begegnete, ganz offensichtlich nicht allesamt blind die Träume ihrer Eltern verfolg10ten oder – noch schlimmer – komatöse Sklaven des Neoliberalismus waren. Mich ließ der Gedanke nicht mehr los, dass manche von ihnen sich durchaus in geisteswissenschaftliche Kurse einschreiben und vielleicht sogar meine Bücher lesen würden, wenn nur … ja, wenn nur, was?

Während ich über diesem verstörenden Gedanken grübelte, fiel mir eine Tagungsreihe ein, die ich besucht hatte. Die einzelnen Vorträge waren unter dem Titel »Poetisches Denken« versammelt, ein Konzept, das hauptsächlich von Martin Heidegger und Hannah Arendt verwendet worden war. Sie beschäftigten sich damit, wie einige der faszinierendsten Schriftsteller – Montaigne, Kafka und Ingeborg Bachmann wurden als Beispiele angeführt – Intuitionen, Einsichten und Weisheiten im Schaffensprozess kultivieren, gleichgültig ob es sich um einen Essay, eine Geschichte oder ein Gedicht handelte. Mit anderen Worten: Der Denkprozess, den einige unserer hochverehrten literarischen Werke auszulösen vermögen, kommt nicht durch systematisches Durchexerzieren einer These zustande, sondern durch eine berührende Metapher oder eine bewegende Szene. Es lag etwas Bezauberndes, etwas von Rortys »romantischem Enthusiasmus« in den Werken, die in den Vorträgen diskutiert wurden und – wenig überraschend – auch in den Vorträgen selbst. Bei beiden standen das Fantasievolle, das Spielerische im Vordergrund sowie die prinzipiell uneingeschränkten Möglichkeiten von Literatur und den Künsten beim Ausloten von Ideen. Sie präsentierten wie in einem Schaukasten die Worte und Bilder, die unser Leben erleuchten, weil sie nicht den Etikettierungen des wissenschaftlichen Denkens unterworfen sind, weil sie frei von Stringenz, Methodik oder der Suche nach der »letzten Wahrheit« sind.

Vielleicht, so dachte ich, sollten sich die Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre stärker darauf konzentrieren, genau diese Art des Denkens, die mir in diesen Vorträgen begegnete, zu kultivieren. Selbstredend ist nichts falsch daran, nach profunder und 11gesicherter Erkenntnis in den Geisteswissenschaften zu streben. Es liegt ein großer Wert darin, beispielsweise so viele Fakten wie möglich über Leben und Werk Franz Kafkas vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu ermitteln. Doch sollte eine Darstellung von Kafkas Werk nicht auch bemüht sein, die Art des Denkens ohne Geländer zu fördern, wie es seine Aphorismen so exemplarisch tun? »Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.«3 Liegt nicht der Wert literaturwissenschaftlichen Schreibens und humanistischer Bildung auch, oder vielleicht sogar vorrangig, in der Art des freien Denkens, wie es Kafkas Aphorismen veranschaulichen? In der ergebnisoffenen Reflexion über Fragen wie: »Was ist wahr?«, »Welcher ist der wahre Weg?«, »Ist das Verfolgen des einen wahren Wegs möglicherweise ein Balanceakt auf einem Hochseil?« oder »Ist es mehr ein Stolpern über ein Seil?«.

Es waren diese Fragen, die mich auf die Reise geschickt haben – im metaphorischen wie im konkreten Sinne. Zunächst machte ich mich daran, jene Lyrik neu zu lesen, die mich selbst am stärksten berührt und mit der ich mich in den vergangenen drei Jahrzehnten beschäftigt hatte. Ich wollte prüfen, wie diese Gattung – zweifellos die den wenigsten Zwängen unterworfene des geschriebenen Wortes – Denken ohne Geländer und Gelehrtheit befördern kann. Schnell wurde mir klar, dass dieses Denken sich nicht auf die Poesie beschränkte. Und so zog ich die Kreise größer: vom geschriebenen Wort zur bildenden Kunst. Ich besuchte mehrere Ausstellungen, um aus erster Hand Kunstwerke zu erleben und über sie zu reflektieren, von denen ich bis dahin nur gelesen hatte, und um mit den Künstlern, die sie erschaffen hatten, zu sprechen. Das Resultat dieser persönlichen intellektuellen Expedition ist dieser Essay, in dem ich mich mit den verschiedenen Erscheinungsformen und der Notwendigkeit des poetischen Denkens beschäftige. Im besten Falle, daran erinnern uns Georg Lukács und 12Theodor Adorno, ist ein Essay verschwistert mit der Poesie. Unbelastet von den Zwängen der »akademischen Zunft«, hat er die größeren Potenziale: Er ziele nicht auf einen »geschlossenen, deduktiven oder induktiven Aufbau. Er revoltiert zumal gegen die seit Platon eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere sei der Philosophie unwürdig.«4 Ich versuche im Folgenden nicht, eine Theorie des poetischen Denkens zu entwickeln. Ein solches Vorhaben stünde meines Erachtens völlig im Gegensatz zu den freien Formen der Reflexion und des künstlerischen Schaffens, die im Mittelpunkt des Essays stehen sollen. Vielmehr möchte ich anhand einiger Beispiele (die mich besonders angesprochen und bewegt haben) zeigen, was poetisches Denken auszeichnet.

Vielleicht sollte ich auch klarstellen, dass es nicht meine Absicht ist, nahezulegen, sämtliche Literatur und Bildende Kunst – über alle Epochen-, Länder- und Gattungsgrenzen hinweg – thematisiere oder beinhalte poetisches Denken; genauso wenig wie ich mit diesem Essay eine umfassende Darstellung sämtlicher Beispiele in der Kunst, die poetisches Denken beinhalten, abliefern möchte oder kann. Wir beginnen auf dem Weg, den ich eingeschlagen habe, und mit den Künstlern, die ich auf diesem Weg getroffen habe, und ich hoffe, dass meine Leserinnen und Leser das enorme Potenzial des poetischen Denkens für sich selbst weiter entwickeln und in sich wachsen lassen werden. »Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt«, bemerkte der Philosoph Max Bense, und das beschreibt mein Vorhaben sehr gut.5 Ich beginne damit, mir das Potenzial des poetischen Denkens genauer anzuschauen, seine Fähigkeit, uns einen philosophischen Kompass an die Hand zu geben. Dabei konzentriere ich mich auf die beiden Bereiche, in denen ich die größte Wirkmächtigkeit des poetischen Denkens sehe: Politik und Ethik. Ich glaube, dass poetisches Denken uns eine sehr grundlegende Art der Reflexion darüber ermöglicht, wie wir Menschen, die wir lieben, und jene, die wir nicht lieben, behandeln sollten und wie wir mit unserer Umgebung interagie13ren, mit der Welt als Ganzes.6 An diese Überlegungen anschließend, werde ich mich speziellen Werken der Literatur und der Bildenden Künste zuwenden, die in der Lage sind, »Schauer der Ehrfurcht«, wie Richard Rorty es bezeichnet, hervorzurufen: Mit anderen Worten, wir werden sehen, wie Gedichte, Gemälde und Skulpturen zu Erscheinungsformen poetischen Denkens werden und wie diese Erscheinungsformen unsere Wahrnehmung der Welt verändern können.

Meine Auswahl von Gattung und Kunstform ist natürlich nicht zufällig. Dichtung ist die literarische Gattung, die ich selber schreibe, die ich studiere und lehre. Von allen Gemälden und Skulpturen, mit denen ich mich hier beschäftige, habe ich die Originale gesehen. Ich habe enorm davon profitiert, dass ich Gespräche über das Denken in der Kunst mit einigen der Künstler führen durfte: mit dem Maler Gerhard Richter und dem Bildhauer Dani Karavan. Doch glaube ich, dass die hier entwickelten Ideen nicht auf die spezifischen Künstler und Werke, die ich hier diskutiere, beschränkt bleiben. Und ich bin zuversichtlich, dass dieser Essay auch Relevanz für einen größeren Blickwinkel auf andere Kunstwerke und andere künstlerische Medien hat. Deshalb erörtere ich in der Koda, wie es gelingen kann, die Aussagekraft dieses Essays über die Grenzen der eigentlich intendierten Sphäre hinaus auszuweiten.

Meine intensive Beschäftigung mit dem poetischen Denken fand – wie es bei Reisen üblich ist – nicht in einem Vakuum statt. Als ich mit dem Schreiben begann, nahmen weltweit politische Tendenzen an Fahrt auf, die repressiv, manchmal sogar offen tyrannisch waren. Mancherorts – Ägypten und Russland sind hier nur die offensichtlichsten Beispiele – machten sich diese Tyranneien am Gesicht eines bestimmten Herrschers fest, eines selbsterklärten »starken Mannes«, der an allen Hebeln der Macht sitzt. Anderswo – von der Türkei über Ungarn bis nach Polen und Venezuela – wurden Regierungen zwar demokratisch gewählt, be14gannen jedoch bald, einmal an der Macht, tyrannische Elemente herauszubilden: etwa exzessive Autorität, gnadenlose Überwachung, Unterdrückung des freien Denkens und der freien Meinungsäußerung sowie das brutale Ersticken jeglicher abweichender Haltungen. Auch etablierte Demokratien, das konnten wir nicht zuletzt während und nach den Präsidentschaftswahlen von 2016 in den USA beobachten, sind offensichtlich nicht immun gegen tyrannische Tendenzen. Beim Schreiben dieses Essays wuchs die Überzeugung in mir, dass es lohnen würde, den Blick auf poetisches Denken und ein geistiges Leben, das frei von Beschränkungen ist, zu richten – nicht nur, um dienlichere Bücher zu schreiben oder die humanistische Bildung zu bereichern. Poetisches Denken, das möchte ich mit diesem Essay anregen, hat darüber hinaus das Potenzial, dem Aufstieg von Tyranneien etwas entgegenzusetzen: Es ist nicht weniger als ein Instrument, politische Freiheit zu verteidigen und bedeutsame kulturelle Ausdrucksformen zu fördern.

Nicht zufällig berühren alle hier besprochenen Kunstwerke auf die eine oder andere Weise eine zeitgenössische Erfahrung mit Tyrannei. Einhergehend mit meinen wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkten, beschäftigen sich die behandelten Werke überwiegend mit den faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts und ihren Folgen, besonders – aber nicht ausschließlich – mit dem nationalsozialistischen Regime. In der Koda möchte ich zeigen, dass Künstler aus allen Disziplinen, und auch jeder Einzelne von uns, poetisches Denken einsetzen können – auch wenn wir es vielleicht anders nennen würden –, um jenen Moment zu erkennen, in dem die Freiheit des Denkens, Schreibens und Handelns in Bedrängnis gerät. Dieser Essay will dazu anregen, dass die durch das poetische Denken entstehende Freiheit dazu genutzt werden kann, heutigen tyrannischen Tendenzen die Stirn zu bieten. Es sind vor allem zwei Leitgedanken, die mich dabei antreiben: zum einen mein Wunsch, poetisches Denken als Chance der Erneue15rung für das Schreiben und Lehren von Literatur und Kunst zu verstehen; und zum anderen meine Überzeugung, dass das Kultivieren von poetischem Denken dabei behilflich sein wird, jene Kräfte, die uns in unseren kulturellen und politischen Freiheiten beschränken wollen, in die Schranken zu weisen.