Oster, Uwe A. Wilhelmine von Bayreuth

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Mit 23 Abbildungen und zwei Stammbäumen

 

© Piper Verlag GmbH, München 2005

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Antoine Pesne (»Markgräfin Wilhemine von Bayreuth«, um 1730/ 40; Bayerische Seen- und Schlösserverwaltung BSV)

 

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I
Geiz, Glanz und Gloria

Eine Prinzessin, die sehr ungnädig empfangen wurde

Ein Sohn, ein Königreich für einen Sohn! Sophie Dorothea Kronprinzessin in Preußen war zuversichtlich, daß sie den größten Wunsch ihres Gemahls, Kronprinz Friedrich Wilhelm, erfüllen würde. Sie war, im wahrsten Sinne des Wortes, guter Hoffnung, als sie ihm im Juni 1709 schrieb: »Ich hoffe, daß Ihnen Dildei bald die Neuigkeit überbringen wird, daß es einen kleinen Grenadier gibt und daß es mir gutgeht.« Dildei war der Kammerdiener des Kronprinzen, der zu dieser Zeit nicht in Berlin war, sondern im Feldlager von Villemeau. Im Spanischen Erbfolgekrieg kämpften preußische Truppen an der Seite Österreichs, Englands und der Generalstaaten (der heutigen Niederlande) gegen Frankreich. Die Freude Friedrich Wilhelms über den Brief seiner Frau war groß, doch Dildei sollte nie dazu kommen, die angekündigte frohe Botschaft zu überbringen.

»Die Kronprinzessin gebar am 3. Juli 1709 eine Prinzessin, die sehr ungnädig empfangen wurde, da alles leidenschaftlich einen Prinzen wünschte. Diese Tochter ist meine Wenigkeit.« Mit einer gehörigen Portion Selbstironie hat die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth in ihren Memoiren (siehe S. 355) die nicht gerade begeisterten Reaktionen auf ihre Geburt beschrieben. Was aus heutiger Sicht herzlos klingen mag, war es keineswegs: Dem Haus Hohenzollern fehlte ein direkter Thronfolger. Das war um so prekärer, als die preußische Königswürde noch neu und nicht unangreifbar war. Am 18. Januar 1701 hatte sich Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg selbst zum König in Preußen gekrönt – nicht zum König von Preußen, denn Westpreußen stand nach wie vor unter polnischer Oberhoheit. Das habsburgische Kaiserhaus hatte die Standeserhöhung zwar nach langen Verhandlungen akzeptiert, das änderte aber nichts daran, daß man die Hohenzollern nicht für seinesgleichen erachtete. Um so wichtiger war eine reibungslose Thronfolge – und das hieß: Der Kronprinz benötigte nichts mehr als einen Sohn. Zwar hatte am 23. November 1707 ein Prinz das Licht der Welt erblickt, der auf die Namen Friedrich Ludwig getauft wurde. Doch das Kind wurde kaum ein halbes Jahr alt.

Das Ereignis, auf das der ganze Hof weiter sehnsüchtig wartete, war die Geburt eines Thronfolgers. Am 16. August 1710 war es soweit: Die Kronprinzessin gebar einen Sohn, der wie sein Vater Friedrich Wilhelm getauft wurde. Doch das Schicksal schlug ein weiteres Mal zu: Am 31. Juli 1711 starb das Kind, noch nicht ein Jahr alt. Die Ärzte zankten sich, warfen sich gegenseitig Behandlungsfehler vor. Gerüchte machten, wie schon beim Tod des ersten Prinzen, die Runde: Die lauten Kanonenschüsse zu seiner Geburt hätten die todbringende Krankheit ausgelöst, der König habe dem Baby die Taufkrone zu fest aufs Haupt gedrückt … Tatsächlich freute sich Friedrich I. ungemein über die Geburt des Kindes und ließ, wie es Brauch war, nach der Taufe »alle Stücke [Kanonen] von den Wällen« abfeuern, doch das war wohl kaum der Grund für den Tod des kleinen Prinzen ein Jahr später.

Am 24. Januar 1712 schenkte Sophie Dorothea erneut einem Sohn das Leben. An die Kurfürstin Sophie von Hannover schrieb der stolze Großvater, »daß wir … Ursache dafür haben, dafür Gott zu danken. Die Kronprinzessin befindet sich noch zur Zeit recht wohl und mein Enkel ebenfalls. Er schreiet brav und ist recht fett und frisch.« Nach dem Wunsch des Königs wurde das Kind nur auf den Namen Friedrich getauft: »Sie wissen«, schrieb dieser damals an einen Freund, »daß dieser Name meinem Hause glückbringend gewesen ist. Hoffen wir, daß dieses Kind ebenso glücklich sein wird, wie seine Vorfahren.« Glücklich, das wurde er nicht unbedingt, aber er wurde zum bedeutendsten König, den das Haus Hohenzollern in seiner Geschichte hervorgebracht hat. Und er wurde zum engsten Vertrauten seiner Schwester: Friedrich der Große. Die Zuneigung Wilhelmines ging bis in die ersten Lebenstage des Bruders zurück: »Allhier«, so König Friedrich in einem Brief am 8. Februar 1712, »befinden sich unsere Kinder auch noch alle gesund, insonderheit aber der Prinz von Preußen [Friedrich] … und ist zu verwundern, daß die Prinzessin [Wilhelmine] ihn so sehr lieb hat, da sie ihre zwei ersten Brüder nicht leiden konnte.« Am 20. Dezember schließlich erzählte er der Kurfürstin von Hannover, daß er der »kleinen Prinzessin« eine Kutsche, wohl eine Spielzeugkutsche oder eine kleine Kinderkutsche, geschenkt habe. Das verdiene zwar nicht unbedingt erwähnt zu werden, »aber sie hat sich sehr darüber erfreuet«.

Die Fixierung auf einen Thronfolger sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch Prinzessinnen wichtige Figuren im großen Spiel der Dynastien waren: Gelang es, sie gut zu verheiraten, konnten daraus Allianzen zwischen Staaten entstehen. Daran erinnerte die Kurfürstin Sophie in ihrem Antwortbrief an König Friedrich I. auf die Nachricht von der Geburt Wilhelmines. Zwar, so Sophie, »hätte es mir noch mehr erfreut, wenn Eurer Königlichen Majestät durch einen Prinzen gesegnet worden, doch haben Euer Majestät auch eine königliche Prinzessin nötig, [um] Allianzen zu machen«.

Es war üblich, schon über eheliche Verbindungen zu verhandeln, wenn die Brautleute noch Kinder waren. Für Wilhelmines Mutter stand ohnehin fest, mit wem ihre Tochter den Bund der Ehe schließen würde. Die gebürtige Welfin träumte von einer weiteren Verbindung zwischen Hannover und Berlin. Wilhelmine sollte den 1707 geborenen Sohn ihres Bruders Georg heiraten. Schon im September 1709, als ihre Tochter gerade zwei Monate alt war, schrieb sie an ihren Mann: »Der kleine Fritz fragt mich ständig nach Neuigkeiten von seiner Braut.« Der kleine Fritz, damit ist Friedrich Ludwig von Hannover gemeint, mit der Braut Wilhelmine. Nichts sollte die Kronprinzessin und spätere Königin in den folgenden Jahrzehnten mehr umtreiben als diese Heirat, und nichts sollte das Eheleben Sophie Dorotheas und Friedrich Wilhelms mehr belasten als dieser Traum, der sich zur fixen Idee auswuchs.

Dabei wären die unterschiedlichen Charaktere der beiden schon Belastung genug für diese Ehe gewesen: Schon als Kind waren die wesentlichen Charaktermerkmale Friedrich Wilhelms ausgeprägt. Im Alter von zehn Jahren schenkte ihm sein Vater das Gut Wusterhausen, aus dem er noch vor seiner Thronbesteigung einen mustergültigen Betrieb machte: Preußen im kleinen. Und wie er sich später als König um alles selbst kümmern wollte, so tat er dies auch in Wusterhausen. Jede noch so kleine Ausgabe hielt er akribisch in seiner »Rechnung über meine Ducaten« fest. Ob Bindfaden, Blumen oder Tintenfaß, mathematische Instrumente oder Geld, »für einen Hund zu füttern«, nichts vergaß der penible Junge, nicht einmal die wahrlich geringen Kosten für die Reparatur seiner »Trommeln und Stöcke«.

Am glücklichsten war Friedrich Wilhelm, wenn er mit seinen Soldaten exerzieren konnte, und auch das tat er bereits als Jugendlicher in Wusterhausen, »weil ich doch in der ganzen Welt in nichts Plaisir finde als in einer guten Armee«.

Aber es war nicht nur Plaisir. Als während des Nordischen Krieges 1711 russische, sächsische und polnische Truppen durch Hinterpommern zogen, ohne sich einen Deut um die preußische Neutralitätserklärung zu scheren, wurde Friedrich Wilhelm – damals noch Kronprinz – die Machtlosigkeit seines Landes bewußt. Nur eine starke Armee konnte Abhilfe schaffen und für Respekt sorgen. In der Umgebung Friedrich Wilhelms I. dominierten dementsprechend die Uniformen: »Wenn man von dem Berliner Hof redet«, bemerkte Johann Michael von Loen 1718, »so verstehet man darunter schier nur die Kriegsleute; diese allein machen eigentlich den königlichen Hof aus. Die Räte, Kammerherren, Hofjunker und dergleichen, wann sie nicht zugleich Kriegsämter haben, werden nicht viel geachtet … Was … die Lustbarkeiten bei Hof betrifft, so kommen dieselbe mit denjenigen des wienerischen und dresdnerischen Hofs in keinen Vergleich. Ja, ich muß schier sagen … Schauspiele findet man in Berlin gar nicht, es sei dann, man verstehe darunter die schöne Mannschaft, die täglich auf die Parade ziehet und welche für einen Liebhaber der Soldaten alles übertrifft, was man Schönes in der Welt sehen kann.«

Tatsächlich gab es keine Hofkapelle, die diesen Namen verdient hätte, und die Musiker, die in des Königs Diensten standen, hatten Choräle zu spielen – das mußte reichen. Ab und an kamen Werke Georg Friedrich Händels zur Aufführung, bei denen der König regelmäßig einschlief. In der Instruktion Friedrich Wilhelms für seinen Nachfolger hielt er diesen an, »Opern, Komödien, Redouten, Balletts und Maskeraden« zu »unterdrücken«, seien sie doch »Satanas Tempel« und »skandalöse Plesirs«.

Mit seiner von bürgerlichem Arbeitsethos geprägten Lebenseinstellung blieb Friedrich Wilhelm auch seinen Eltern zeitlebens fremd. Friedrich I. und Sophie Charlotte, wie ihre spätere Schwiegertochter eine gebürtige Welfin, waren verschwenderisch und prunkliebend, der Wissenschaft, der Architektur und den Künsten zugetan, die unter ihrer Regierung in Preußen eine solche Blüte erlebten, daß Berlin zum Spree-Athen wurde. Auch das war nicht die Welt Friedrich Wilhelms, der Kunst und Wissenschaft nur dann gelten ließ, wenn sie einen praktischen Nutzen hatten, wie etwa die Medizin. Ansonsten waren Professoren für ihn nichts weiter als »Blackscheißer« (Tintenkleckser) und Studenten »Universitätsschurken«. Nur wer zum Offizier nicht taugte, sollte Gelehrter werden. Auf keinen Fall sollten sie sich in seine Angelegenheiten mischen: »Die Blackscheißer sollen schreiben, was ich befehle, und sollen mir keinen Rat geben.« Daß die Akademie der Wissenschaften unter Friedrich Wilhelm I. für die Bezahlung der Hofnarren zuständig war, sagt eigentlich alles.

Und dieser aus der barocken Art geschlagene Prinz heiratete ausgerechnet Sophie Dorothea von Hannover. In ihren Memoiren hat die Markgräfin Wilhelmine ihre Mutter so beschrieben: »Ihre edle und majestätische Haltung flößt allen, die sie sehen, Ehrerbietung ein; ihre große Weltgewandtheit und ihr glänzender Geist deuten auf mehr Gründlichkeit, als ihr eigen ist. Sie hat ein gutes, großmütiges und mildreiches Herz; sie liebt die schönen Künste und die Wissenschaften, ohne sich allzusehr mit ihnen befaßt zu haben … Sie verkörpert allen Stolz und Hochmut ihres hannoveranischen Hauses. Ihr Ehrgeiz ist maßlos, sie ist grenzenlos eifersüchtig, argwöhnischen und rachsüchtigen Gemütes und verzeiht nie, wo sie sich für beleidigt hält.«

Sophie Dorothea vermißte in Berlin das Hofleben, das sie aus Hannover kannte, und gewöhnte sich zeitlebens nicht an die derbe Lebensweise ihres Mannes. In jungen Jahren war sie eine schöne Frau, doch nahm ihr Körperumfang analog dem ihres Mannes zu. Halb spöttisch, halb ehrfürchtig erhielt sie am Berliner Hof den Spitznamen »Olympia«. Die Ehe Friedrich Wilhelms und Sophie Dorotheas litt aber nicht nur unter den unterschiedlichen Charakteren. In seinen Briefen nannte der Kronprinz seine Frau zwar »Fieke« oder

»Fiekchen«, und er liebte sie aufrichtig, aber er tat dies auf eine besitzergreifende, alles andere ausschließende Weise. Er erwartete von ihr die gleiche Hingabe, wie er sie in seinen eigenen Briefen zum Ausdruck brachte: »Ich kann diese Post nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen zu bezeugen, wie sehr ich Sie leidenschaftlich liebe. Ich habe eine große Ungeduld, Sie wiederzusehen und Sie in meiner Gesellschaft zu haben, daß ich es Dir gar nicht ausdrücken kann, meine liebe Fieke, alle meine Zufriedenheit besteht in Ihnen und all mein Glück in dieser Welt, wenn Sie wollen, aber ich hoffe, daß meine sehr liebe Fieke es immer wollen wird. Seien Sie überzeugt, meine liebste Fieke, daß ich Sie von ganzem Herzen liebe und nicht ohne Sie leben kann, meine liebste Fieke …«

Niemals wäre es Friedrich Wilhelm in den Sinn gekommen, sich den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend eine Mätresse zu nehmen. Doch wie er hinter allem und jedem Verrat witterte, verdächtigte er auch seine Frau und machte ihr damit das Leben schwer. Verhielt sich Sophie Dorothea nicht, wie es ihr Mann erwartete, war die Auseinandersetzung vorprogrammiert. Dann überhäufte er sie mit nebulösen Vorwürfen, die einerseits Folge seiner krankhaften Eifersucht, andererseits auf sein insgesamt sehr problematisches Verhältnis zum anderen Geschlecht zurückzuführen waren. In ihrem Memoiren schreibt Wilhelmine darüber: »Obwohl … der König seine Gemahlin leidenschaftlich liebte, konnte er nicht umhin, sie unbillig zu behandeln … Und er verfuhr so, weil, wie er sagte, die Frauen in Zucht gehalten werden müßten, sonst tanzten sie ihren Männern auf der Nase.«

Sophie Dorothea war nicht bereit, die geringschätzige Behandlung und die Launenhaftigkeit ihres Mannes hinzunehmen: »Ich kann Eurer Königlichen Hoheit versichern, daß ich mich in keiner Weise Ihnen gegenüber schuldig fühle, daß ich mich nicht des geringsten Vergehens gegen Sie schuldig gemacht habe und daß ich … all den Respekt und all die Zärtlichkeit für Sie empfinde, die eine anständige Frau (für ihren Mann) haben muß und kann. Ich hoffe inständig, daß Eure Königliche Hoheit all die falschen Verdächtigungen aufgeben, für die es nicht den geringsten Grund gibt. Es genügt nicht, daß Sie sagen, Sie hätten Grund zur Klage über mich; Sie müssen – bitte – sagen, welches diese Gründe zur Klage sind, die Sie zu haben vorgeben. Was den Ring betrifft, den Sie mir öffentlich und vor Gott in der voll besetzten Kirche gegeben haben, den müssen Sie auch öffentlich wieder abziehen und zurückgeben. Ich kenne nichts außer dem Tod, das uns scheiden könnte, und wir haben genügend Zeit, vor diesem zu leben.«

Auch nach dem Tod des ersten Sohnes war der König mit dem Gedanken an eine Scheidung umgegangen, sei es aufgrund seiner Eifersucht, sei es, weil er mittlerweile selbst glaubte, seine Frau könne keine Kinder mehr bekommen. In einem Brief nahm Sophie Dorothea am 28. November 1708 Stellung: »Sie sprechen mir von Scheidung; ich würde wünschen, daß Sie darüber mit dem König sprechen, der ihr Vater ist [und mit dem Sophie Dorothea ein herzliches Verhältnis hatte], und wir würden nach der Überprüfung sehen, wer von uns beiden unrecht oder recht hat. Es ist ungemein bedrückend, mich behandelt zu sehen, wie Sie mich behandeln; ich habe mir nichts vorzuwerfen, weder, was die Zärtlichkeit betrifft, die ich für Sie habe, noch was meine Ehre anbelangt. Sagen Sie, was Sie an meinem Verhalten auszusetzen haben. Ich fordere Sie heraus, etwas an meinem Verhalten auszusetzen. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie dies überprüfen wollten und dann Grund hätten, die Behandlung zu bereuen, die Sie mir haben zukommen lassen und die zutiefst unwürdig war.« Bei seinen Eifersuchtsanfällen verkündete Friedrich Wilhelm bisweilen sogar lautstark, er werde seine Frau noch nach Spandau – also in Festungshaft – bringen lassen.

So kann man verstehen, daß Sophie Dorothea nicht unglücklich darüber war, wenn ihr Mann sich nach Potsdam oder Wusterhausen zurückzog, wo er seiner Jagdleidenschaft frönen konnte und so leben durfte, wie er es gerne hatte, fernab aller höfischen Zwänge. Und man kann ebensogut nachvollziehen, daß Sophie Dorothea alles andere denn begeistert davon war, ja es als Strafe empfand, wenn Friedrich Wilhelm sie nach Wusterhausen kommen ließ, wo er in der Regel die Monate September bis November verbrachte. Das dortige Schloß entsprach keineswegs dem, was von einem barocken Herrscher als Mindestmaß an höfischer Repräsentation erwartet wurde. In ihren Memoiren hat Wilhelmine den bevorzugten Wohnort ihres Vaters mit bitterer Verachtung und Sarkasmus beschrieben: »Dieses Märchenschloß, dieser sogenannte Palast … bestand gleichsam nur aus einem Nebengebäude, dessen Herrlichkeit noch durch einen alten Turm erhöht wurde, in dem eine hölzerne Wendeltreppe hochging. Rings um das Gebäude lief ein Erdwall und dahinter ein Graben, dessen schwarzes stehendes Wasser dem Styx glich und einen wahren Pesthauch ausströmte …« Wer sich ein Bild von der Lebenswelt des »Soldatenkönigs« machen möchte, kann dies an keinem anderen Ort besser tun als hier, die Einfachheit des fast schmucklosen Baues beeindruckt bis heute. Dies gilt noch mehr für das Jagdschloß Stern, das Friedrich Wilhelm 1730 bis 1732 in der Potsdamer Parforceheide errichten ließ, wobei die Bezeichnung »Schloß« zu falschen Vorstellungen führt. Es ist ein einfaches holländisches Bürgerhaus, eingeschossig, mit geschweiftem Giebel. Holland, das war seit seinen beiden Reisen durch das Land 1700 und 1704/05 Friedrich Wilhelms Vorbild für Preußen, nicht im politischen Sinne, aber in der Lebensart: fleißig, sauber, ordentlich, bürgerlich.

Wie weit die Lebenswelten Friedrich Wilhelms und Sophie Dorotheas auseinander lagen, zeigt ein Blick auf das Schloß Monbijou, das Sophie Dorothea als Refugium diente. Bereits König Friedrich I. hat dieses durch Eosander Göthe erbaute – im Zweiten Weltkrieg zerstörte – Schloß seiner Schwiegertochter geschenkt. Hier konnte sie ihr barocken Vorstellungen entsprechendes eigenes Hofleben entfalten – mit Musik und Tanz, geselligen Runden und galanten Gesprächen. Daß vor allem die beiden ältesten Kinder zwischen diesen Lebenswelten aufgerieben zu werden drohten, liegt auf der Hand.

Die Vorstellungswelt Friedrich Wilhelms zeigt sich auch in den Anweisungen, nach denen er seine Kinder erziehen ließ. Eine reiche Quelle dafür ist der 1714 geschlossene »Arbeitsvertrag« der Madame de Roucoulle. Die Hugenottin war schon die Gouvernante Friedrich Wilhelms gewesen, nun sollte sie sich auch um dessen Kinder kümmern. Das waren damals Wilhelmine, Friedrich und Charlotte Albertine, die aber nur ein Jahr alt wurde. Im selben Jahr brachte die Kronprinzessin neuerlich ein Mädchen zur Welt, Friederike Luise, die später Markgräfin von Brandenburg-Ansbach werden sollte. Während sich Madame de Roucoulle später hauptsächlich um den Kronprinzen gekümmert hat, war für Wilhelmine deren italienische »Untergouvernante« (Sous Gouvernante) Leti verantwortlich, auf die noch näher einzugehen sein wird. Es ist davon auszugehen, daß sie ähnliche, wenn nicht gar identische Anweisungen über ihre Aufgaben erhalten hat. Diese Instruktionen sind um so wichtiger, als die Gouvernanten über Jahre hinweg die engsten Bezugspersonen der Kinder waren.

Vor allen anderen Dingen sollte die Gouvernante die Kinder zu Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit anregen. »Um das zu erreichen, muß sie unseren Prinzen und Prinzessinnen den Wert der Tugenden, deren erste die Frömmigkeit und die Furcht vor Gott sind, verständlich machen.« Und wenn »die Kinder im Alter etwas fortgeschrittener sind, sollen sie regelmäßig alle Tage die Heilige Schrift lesen und morgens und abends auf Knien ihre Gebete verrichten«. Eine zentrale Stellung in den Anweisungen für die Gouvernante nimmt das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern ein. Dabei verstand Friedrich Wilhelm den Gehorsam und die Verehrung gegenüber den Eltern »als einen der ersten Artikel der Frömmigkeit«. Die Erzieherin solle es nicht daran mangeln lassen, den Kinder begreiflich zu machen, daß sie den Eltern Respekt und Ergebenheit schuldeten.

In einer Zeit, in der die Kindersterblichkeit hoch und die Medizin noch wenig entwickelt war, kam der Gesundheit ebenfalls oberste Priorität zu. Daher sollte die Gouvernante sich mit »besonderer Sorgfalt der Gesundheit unserer Prinzen und Prinzessinnen annehmen und tunlichst alles vermeiden, was diese auf irgendeine Art beeinträchtigen kann«. Und würden die Kinder doch einmal krank, »muß sie alle nur vorstellbare Sorgfalt für ihre Genesung verwenden. Ebenso soll sie genau auf die Medikamente achten, die man ihnen gibt.« Keinesfalls sollten die Kinder, wenn sie krank sind, nur das Bett hüten und sich in stickigen Zimmern aufhalten: »Weil die Promenade [der Spaziergang] genau so gut ist wie andere Arten der Erholung und darüber hinaus sehr viel zur Bewahrung der Gesundheit beiträgt, soll die Gouvernante mit unseren Prinzen und Prinzessinnen von Zeit zu Zeit jenes Vergnügen unternehmen, so häufig, wie sie es wünschen, und je nachdem, ob es die Luft, die Jahreszeit und andere Umstände erlauben.«

Gleich mehrere Artikel in den Instruktionen zeigen, wie eng das Verhältnis zwischen Erzieherin und Kindern zwangsläufig war. »Die Gouvernante soll immer bei den genannten Prinzen und Prinzessinnen sein, ohne sie je zu verlassen. Sie soll sie bei allen ihren Tätigkeiten sorgfältig beobachten, damit sie sie korrigieren kann in dem Falle, daß sie sich unwürdig verhalten. Daher muß die Gouvernante sie auch überallhin begleiten.« Und an anderer Stelle noch deutlicher: »Und wie wir schon gesagt haben, darf die Gouvernante die Kinder niemals allein lassen, sie muß dauernd bei ihnen sein.« Die Kinder waren ständig beaufsichtigt, konnten nie für sich sein, waren unter steter Kontrolle – ein goldener Käfig. Doch in diesem Käfig saß auch die Gouvernante. Sie hatte eine fast absolute und nahezu unkontrollierte Machtposition. Die Dienerschaft war angewiesen, alle Befehle und Anweisungen der Gouvernante auszuführen, »mit der Genauigkeit und Promptheit, die erforderlich ist«. Sie besaß das »vollste Vertrauen« des Königspaares, wurde gut bezahlt, aber auch sie war förmlich angekettet an ihre Schützlinge. Daß daraus eine explosive Gemengelage entstehen konnte, sollte das Schicksal Wilhelmines nur allzubald zeigen.

Zur Allgegenwart der Gouvernante, die dem Mädchen kaum Freiräume ließ, kam ein unerbittlicher Unterrichtsplan hinzu: »Ein Lehrer folgte dem anderen; sie nahmen mich den ganzen Tag in Anspruch und ließen mir nur wenig Zeit zur Erholung übrig.« Jeden Samstag wurde das Wochenpensum abgefragt. Der erste Hinweis auf einen eigenen Lehrer der kleinen Prinzessin stammt vom April 1715. Damals bedankte sie sich bei ihrem Vater in einem auf französisch geschriebenen Brief, »daß er die Güte gehabt hat, mir einen Lehrer zu geben. Vor acht Tagen habe ich damit begonnen, deutsch zu schreiben und zu lesen. Er lehrt mich auch meinen Katechismus und zu Gott zu beten.«

Der wichtigste Lehrer Wilhelmines war Mathurin Veyssière de La Croze, »der sich durch seine Kenntnisse in der Geschichte, den orientalischen Sprachen und allen Gebieten des Altertums einen so großen Ruf erworben hatte«.

Veyssière de La Croze, ein aus seinem Kloster geflohener Benediktinermönch, war als Privatlehrer in Berlin eine Berühmtheit und galt als wandelnde Bibliothek mit einem geradezu enzyklopädischen Gedächtnis. Friedrich der Große nannte ihn später in einem Brief an Voltaire ein »Repertorium aller deutschen Gelehrten« und »Magazin der Wissenschaften«. »Man mochte ihn fragen, was man wollte, immer konnte man darauf rechnen, daß er Bescheid wußte und die Ausgaben, ja die Seiten zitierte, auf denen man alles fand, was man zu wünschen wußte.« Unter den modernen Sprachen beherrschte er Französisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Deutsch und Italienisch, unter den klassischen Lateinisch und Altgriechisch. Doch er begeisterte sich ebenso für das Neugriechische, das Hebräische, die slawischen Sprachen, das Baskische, selbst Grundkenntnisse des Chinesischen eignete er sich an.

Für Wilhelmine muß der Unterricht Veyssières prägend und nachhaltig beeindruckend gewesen sein. Vier Jahre lang unterrichtete er sie in Geschichte und Geographie, von 1717 bis 1721. In diesen vier Jahren unternahm der Gelehrte mit seiner Schülerin eine Tour d’horizon durch die gesamte Weltgeschichte. Er packte diese in drei Hefte, die Wilhelmine später mit einem Ledereinband versah und in ihre Bibliothek aufnahm. Das Schema war relativ einfach: Rot schrieb Veyssière die Fragen, schwarz die Antworten, die Wilhelmine auswendig zu lernen hatte. Dabei versuchte der Franzose auch hier, Anekdoten und spannende Szenen einzubauen, damit seine Schülerin nicht die Lust verlor. Ebenso ging es Veyssière de La Croze nicht darum, die Prinzessin nur Jahreszahlen auswendig lernen zu lassen. Er beschrieb die Charaktere der einzelnen Personen, ihre Stärken und Schwächen. Dabei dominiert die Herrschaftsgeschichte, aber vor allem in der Antike werden auch Philosophen und ihre Lehren vorgestellt.

Weniger Glück als Veyssière de La Croze, der von der ganzen Königsfamilie hochgeachtet wurde, hatte Wilhelmines Religionslehrer. Wilhelmine selbst erzählt in ihren Memoiren, daß sie während einer Prüfung durch ihren Vater die Zehn Gebote durcheinandergebracht habe, worauf dieser

»in solchen Zorn« geraten sei, »daß er mich fast geschlagen hätte. Mein armer Lehrer mußte für den Schaden geradestehen. Er wurde tags darauf davongejagt.« Entweder hat Wilhelmine hier die Jahreszahlen durcheinandergebracht und auch den eigentlichen Grund für die Trennung von ihrem Religionslehrer als Kind verständlicherweise nicht erkannt, oder es gab zwei Religionslehrer, mit denen Friedrich Wilhelm I. nicht zufrieden war. Bekannt ist, daß der Hofprediger Johann Ernst Andreä für den religiösen Unterricht der Prinzessin zuständig war und diese 1724 konfirmierte, nicht ohne sie zuvor drei Stunden lang über ihr Glaubensbekenntnis examiniert zu haben. Weil er die Prinzessin in dieses Glaubensbekenntnis dogmatische Bekenntnisse einflechten ließ, die der König ablehnte, fiel Andreä in Ungnade.

Für Rechtschreibung und Französisch war Hilmar Curas zuständig, der normalerweise am Joachimsthaler Gymnasium in Berlin unterrichtete. Curas unterrichtete Wilhelmine bis 1718 gemeinsam mit ihrem Bruder Friedrich, was die Geschwister noch mehr zusammenschweißte. Da man es bei der Prinzessin auch als angebracht empfand, daß sie ein Musikinstrument lernte, brachte ihr der kursächsische Kammermusiker Silvius Leopold Weiß, der dazu eigens immer wieder aus Dresden anreiste, das Lautenspiel bei. Auch am Klavier entwickelte sich Wilhelmine zu einer virtuosen Kennerin, die bei Hofe immer wieder aufspielte und »accompagnirte«, vorzugsweise, wenn der König nicht anwesend war. Für beide Königskinder wurde die Musik eine Quelle des Trostes, fast zärtlich bezeichneten sie ihre Instrumente als »principe« und »principessa«, die sich ebenso ergänzten wie ihre Besitzer.

Für die Auswahl der Lehrer und den Unterrichtsstoff war die Königin verantwortlich. So hat sie auch dafür gesorgt, daß Wilhelmine von frühester Kindheit an Englischunterricht bekam, für den der Kaplan der englischen Gesandtschaft verantwortlich zeichnete. Dieser unterwies die junge Prinzessin zudem in der Liturgie der anglikanischen Staatskirche: Wilhelmine sollte den englischen Thron bestens vorbereitet besteigen. Insgesamt muß man Sophie Dorothea bei der Wahl der Lehrer für Wilhelmine eine glückliche Hand bescheinigen. Sie hat dafür die besten zur Verfügung stehenden Kräfte engagiert, ein Zeichen, wie wichtig sie die Erziehung der Tochter im Vorgriff auf deren spätere Rolle als Königin genommen hat.

Während Wilhelmine als Erwachsene mit zahlreichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, war sie als Kind ein rechter »barocker« Wonneproppen. So hat sie Antoine Pesne 1711 im Alter von zwei Jahren gemalt. Dieses Gemälde ist nicht nur interessant, weil es das erste ist, das von Wilhelmine gemalt wurde, sondern auch aufgrund der für ein Kinderporträt außergewöhnlichen Komposition. Die zweijährige Prinzessin sitzt leicht schräg auf einem großen roten Samtkissen mit goldenen Borten. Zwar trägt sie nur ein leichtes Hemdchen, doch hinter ihrem Rücken und zu ihren Füßen ist ein Hermelinmantel ausgebreitet. Im Hintergrund ist ein Thronsessel zu sehen, die Finger ihrer rechten Hand hat Wilhelmine in herrscherlicher Geste gespreizt, den Kopfschmuck kann man als Andeutung eines Diadems oder einer Krone sehen – Pesne hat das kleine Mädchen schon als Königin gemalt.

Ein zweites Kinderbildnis Pesnes zeigt Wilhelmine im Alter von fünf Jahren gemeinsam mit ihrem Bruder Friedrich. Es illustriert zum einen die enge Beziehung, die zwischen den beiden ältesten Kindern des Kronprinzenpaars von frühester Kindheit an geherrscht hat. »Meine einzige Erholung«, schrieb Wilhelmine in ihrem Memoiren, »bestand darin, meinen Bruder zu besuchen. Niemals haben sich Geschwister so zärtlich geliebt.« Zum anderen ist dieses Bild wie ein offenes Lesebuch mit all seinen Andeutungen: Wilhelmine trägt ein eng tailliertes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Den Hermelinmantel trägt sie über den Schultern, überall hat sie Blumen – im Faltenwurf ihres Mantels, über der rechten Schulter und in ihrem Haar. Ein wenig fragend blickt sie den Betrachter an. Anders Friedrich. Auch er hat Mädchenkleider an (was bei kleinen Jungen in der Zeit nichts Außergewöhnliches war), doch einiges verrät den zukünftigen Herrscher: Er trägt Band und Stern des von seinem Großvater gestifteten Schwarzen Adlerordens, an seiner Seite hängt eine Marschtrommel, auf der der preußische Adler mit der Krone abgebildet ist. Während Wilhelmine steht, drängt der kleine Friedrich aus dem Schloß hinaus in den angedeuteten Garten. So sind selbst auf diesem scheinbar nur idyllischen Doppelporträt die zukünftigen Rollen der beiden Kinder angelegt. Friedrich als künftiger König und Oberbefehlshaber der Armee, Wilhelmine als Grande Dame und ihres Status bewußte Königin. Daß gerade Wilhelmine ihre Rolle zu spielen wußte, zeigt ein Brief des englischen Gesandten Charles Lord Whitworth vom September 1716: »Die älteste Prinzessin ist eines der lieblichsten Kinder, die ich je gesehen habe. Sie tanzt reizend, ihre Haltung übertrifft ihre Jahre in ihrem ganzen Benehmen und in Hinsicht ihres Verstandes.«

Die Realität sah freilich oft anders aus als der schöne Schein der Gemälde und öffentlichen Auftritte. Am 25. Februar 1713 war Wilhelmines Großvater, König Friedrich I., im Alter von 55 Jahren gestorben. Er war schon länger krank gewesen, hatte Gicht, Herz- und Atembeschwerden. Wilhelmine traf der Tod des geliebten Großvaters schwer: »Als man ihm seinen Tod ankündigte, fügte er sich mit männlicher Resignation in den Ratschluß der Vorsehung. Er fühlte sein Ende nahen, nahm Abschied vom Kronprinzen und von der Kronprinzessin und legte ihnen das Wohl des Landes und seiner Untertanen ans Herz. Er ließ sodann meinen Bruder und mich zu sich rufen und erteilte uns den Segen um acht Uhr abends. Sein Tod erfolgte sehr bald nach dieser traurigen Zeremonie. Er verschied am 25., vom ganzen Königreich betrauert und beklagt.«

Mit dem Begräbnis Friedrichs I. ging das Zeitalter des Barocks in Preußen zu Ende. Der neue König strich den Hofstaat radikal zusammen, verkaufte die Diamanten seines Vaters, ließ Gold und Silber einschmelzen. Die genialen Baumeister Eosander Göthe und Andreas Schlüter zogen es vor, nach Schweden beziehungsweise Rußland zu gehen. Soldaten und Uniformen gaben nun den Ton an. Friedrich Wilhelm selbst trug ebenfalls Uniform oder bürgerliche Kleidung. Einfachheit war Trumpf, in allen Lebensbereichen. Und es durfte nur noch so viel Geld ausgegeben werden, wie man auch einnahm. Was in Preußen in diesen Tagen geschah, war nicht nur ein Thronwechsel, es war ein radikaler Umbruch. Dies bekam auch der Adel zu spüren. Er werde die Souveränität der Junker ruinieren, tönte Friedrich Wilhelm nach seiner Thronbesteigung, und es war ihm ernst damit. Die ständige Opposition der Adligen, ihre Privilegien waren dem Selbstherrscher Friedrich Wilhelm ein Dorn im Auge.

Königin Sophie Dorothea wünschte sich auch nach der Thronbesteigung ihres Mannes nichts sehnlicher als eine Verbindung ihrer Tochter mit Prinz Friedrich Ludwig von Hannover, um so mehr, nachdem ihr Vater 1714 als Georg I. den englischen Königsthron bestiegen hatte und fortan das Kurfürstentum Hannover und England in Personalunion regierte. Prinz Friedrich Ludwig war nun Herzog von Gloucester und damit Nummer zwei in der Thronfolge. Die preußische Königin war auf diese Rangerhöhung ihrer Familie ungeheuer stolz. Allein mit der Heirat Wilhelmines nach England wollte sie sich nun nicht mehr zufriedengeben. Eine Doppelhochzeit sollte ihr Glück perfekt machen: Für Kronprinz Friedrich hatte sie Friedrich Ludwigs Schwester Amalie vorgesehen. In London machte man sich zwar ebenfalls Gedanken über die Hochzeit der Königskinder, doch blieb man etwas zurückhaltender als in Berlin. So berichtete der preußische Geschäftsträger Charles Bonnet im Dezember 1716, daß man am englischen Königshof über eine Verbindung Friedrich Ludwigs noch nicht weiter nachdenken wolle, im Falle der Prinzessin Amalie aber schon über Kandidaten diskutiert habe. Und darunter sei auch der Kronprinz von Preußen. Natürlich hätte eine solche Heirat politische Konsequenzen gehabt: Preußen hätte sich dadurch dem katholischen Wiener Kaiserhof entfremdet und wäre im Fahrwasser des protestantischen England gesegelt. Wien arbeitete daher mit allen Mitteln daran, eine solche Verbindung zu verhindern.

Die Königin war sich ihrer Sache so sicher, daß sie das Unheil, das sich über ihrem Plan zusammenbraute, überhaupt nicht wahrnahm. Friedrich Wilhelm I. hatte keine Günstlinge wie sein Vater. »Ein großer Herr muß niemand als sich selbst trauen«, war eine seiner Maximen. Doch diese Vorsicht ließ der König außer acht, wenn es um seine »Freunde« ging – Männer, mit denen er in seinem Tabakskollegium in Wusterhausen zusammensaß und über derbe Späße lachte. Daß diese Männer auch ihre eigenen Interessen verfolgten und seine Freundschaft auszunutzen wußten, erkannte der König selten. Er schloß dabei von seiner eigenen Haltung fälschlicherweise auf andere: »Meines Erachtens gibt es nichts Abscheulicheres als Männer, die gegen ihre wahre Meinung sprechen oder ihr Wort verpfänden mit dem Hintergedanken, es nicht zu halten, sofern sie nicht auf ihre Kosten kommen. Ich betrachte diese Leute als Ungeheuer, vor denen man sich mehr hüten muß als vor allen Übeln der Welt, denn sie zerstören Treu und Glauben, die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft, ohne die es weder Ruhe noch Sicherheit auf Erden gibt.«

Unter diesen »Männerfreunden« stand Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, der »Alte Dessauer«, an erster Stelle. Als Organisator der preußischen Armee erwarb der Haudegen sich große Verdienste, doch er vergaß auch sein eigenes Weiterkommen nicht. Der zweite Mann, der an dieser Stelle genannt werden muß, ist Friedrich Wilhelm von Grumbkow, den Friedrich Wilhelm im Spanischen Erbfolgekrieg kennen- und schätzengelernt hatte. Gemeinsam hatten sie bei Malplaquet gekämpft. 1712 ernannte der König ihn zu seinem Generalkriegskommissar, später wurde er Vizepräsident des Generaldirektoriums, in dem die Fäden der gesamten Landesverwaltung zusammenliefen. Wie der Dessauer war der weltläufige Grumbkow Dauergast im Tabakskollegium des Königs. Wilhelmine hat an diesen beiden Vertrauten ihres Vaters kaum ein gutes Haar gelassen. Dem Fürsten von Anhalt-Dessau gestand sie in ihren Memoiren zwar zu, daß er

»einer der größten Feldherren dieses Jahrhunderts« gewesen sei, doch dieser Einleitung ließ sie sogleich ihren ganzen Abscheu folgen: »Sein brutales Aussehen ist furchterweckend, und seine Physiognomie entspricht seinem Charakter. In seinem maßlosen Ehrgeiz ist er aller Gewalttaten fähig, um zum Ziele zu gelangen.« Dabei machte sie den Dessauer direkt für die dauernden Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern verantwortlich. Leopold habe gefürchtet, daß ihre Mutter allen Einfluß »auf das Herz ihres Gemahls« gewinne;

»und um es zu verhindern, säte er Zwietracht zwischen ihnen und machte sich den Hang des Kronprinzen [Friedrich Wilhelm] wohl zunutze, indem er sie auf seine Gemahlin zu lenken wußte«. Grumbkow wiederum hielt Wilhelmine zugute,

»daß er einer der befähigtsten Minister« sei, höflich, geistreich und redegewandt. Doch auch dieser freundlichen Einleitung ließ sie eine vernichtende Charakterbeschreibung folgen: »All diese schönen Außenseiten verbergen ein tükkisches, eigennütziges und verräterisches Herz. Sein Privatleben ist ein denkbar ungeregeltes, sein ganzer Charakter nur ein Gewebe von Lastern, so daß ihn alle anständigen Leute verabscheuen.«

In der endlosen Debatte um die Heirat Wilhelmines und Friedrichs waren Leopold von Anhalt-Dessau und Grumbkow die Gegenspieler der Königin. Statt der von Sophie Dorothea favorisierten englischen Doppelhochzeit schlugen sie vor, Wilhelmine mit dem Markgrafen Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt zu verheiraten. Dieser Plan mochte Sophie Dorothea und ihrer Tochter nicht gefallen, doch betrachtet man die Sache nüchtern, kommt man zu einem anderen Ergebnis: König und Kronprinz waren gesundheitlich anfällig. Sollte der Kronprinz sterben, wäre Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt die Nummer eins in der Thronfolge gewesen. Was lag also näher, dessen Chancen, König zu werden, durch eine Verbindung mit Wilhelmine zu vergrößern. So wäre diese Hochzeit durchaus im Interesse des preußischen Staates gewesen, wenigstens konnte man diese Einschätzung mit einigem Grund vertreten. Allerdings hatte der Dessauer auch persönliche Gründe, für diese Verbindung einzutreten, war doch die Mutter des Schwedter Bräutigams niemand anderes als seine Schwester Johanna Charlotte. Leopold wäre durch diese Heirat also in engste verwandtschaftliche Beziehungen zum Königshaus getreten. Während Grumbkow und der Dessauer in der Folge den König im Tabakskollegium »bearbeiteten«, setzte die über diese Entwicklung entsetzte Königin alle Hebel in Bewegung, um der Sache ein schnelles Ende zu bereiten. Zwar konnte sie es nicht verhindern, daß der 15jährige Markgraf seine zehn Jahre jüngere »Braut« schon einmal besuchendurfte, doch sie hatte der kleinen Wilhelmine zuvor mit Erfolg klar gemacht, daß der Schwedter ein ganz fürchterlicher Kerl sei. Natürlich konnte die Fünfjährige tatsächlich nichts mit diesem Vetter anfangen, spielte ihm Streiche und versuchte ihn mit Erfolg, zu erschrecken, »denn er war ein Hasenfuß«. Auch wenn Wilhelmine die Situation als kleines Mädchen kaum einzuschätzen wußte, so ist es doch erschrekkend zu sehen, welches Netz an Intrigen und Eigennutz um sie gesponnen wurde. Sie war nicht Subjekt, sondern Objekt: für Grumbkow und den Dessauer, für ihre Mutter, die in ihr nur den eigenen Ehrgeiz stillen wollte und ihre Kinder instrumentalisierte, und auch für den Vater, der vor allem daran interessiert war, daß seine Familie wie ein von ihm in Gang gesetztes und kontrolliertes Uhrwerk präzise funktionierte: »Ordre parieren, nicht räsonieren.« Über ihre Mutter schrieb Wilhelmine später selbst verbittert: »Sie hat nie eines ihrer Kinder geliebt. Sie nahm nur insofern teil an ihnen, als sie zum Werkzeug ihres Eigennutzes dienen konnten.«

In ihren Memoiren hat Wilhelmine ein weitgehend düsteres Bild ihrer Kindheit entworfen, und auch der Vater erscheint meist als am Horizont drohende, den Stock schwingende und brüllende Gefahr. Das bezieht sich aber nicht auf die frühen Kindheitsjahre, über die Wilhelmine selbst schreibt: »Der König liebte mich mit Leidenschaft. Keinem seiner andern Kinder zeigte er sich so aufmerksam wie mir.« Daß auch Wilhelmine ihren Vater aufrichtig geliebt hat, bestätigen die zahlreichen Briefe, die sie an den oft abwesenden König geschrieben hat. Sicher enthalten diese Briefe von der Mutter und der Gouvernante vorgegebene Standardformulierungen, um dem gestrengen Vater das Bild der braven Tochter zu vermitteln, und die darin enthaltenen Demutsformeln entsprechen den Konventionen der Zeit. Aber diese Briefe enthalten ein solch erfrischendes Maß an kindlicher Naivität, Unbefangenheit und Freude, daß man dahinter auch Wilhelmines eigene Gedanken und Wünsche vermuten kann.

Wilhelmine begann im Alter von noch nicht einmal fünf Jahren (!) damit, regelmäßig Briefe an ihren Vater zu schreiben, oft im Abstand von wenigen Tagen. Sind unter den Kinderbriefen auch deutsch geschriebene, überwiegt später das Französische, ehe sie sich als Erwachsene nahezu ausschließlich dieser Sprache bedient hat. Zwar schimpfte Friedrich Wilhelm gern über welsche Lebensart, was ihm gleichbedeutend mit Verweichlichung war, gleichwohl sprach er selbst ein perfektes, wenn auch etwas altertümliches Französisch, und seine meist deutsch geschriebenen Briefe und Bemerkungen (»Ich bin Deutscher. Ergo will ich meine Sprache schreiben …«) sind durchsetzt von französischen Vokabeln. Selbstverständlich war er sich bei aller Deutschtümelei bewußt, daß seine Kinder die Umgangssprache der europäischen Höfe ebenso beherrschen mußten wie er selbst. Auch politisch war Friedrich Wilhelm keineswegs ein Gegner Frankreichs. In seinem politischen Testament von 1722 hielt er seinen Nachfolger sogar dazu an, mit den Franzosen

»Amitié und Commerce« zu machen, denn »die Franzosen können Euch gute Dienste tun«. Das schränkte er kurz vor seinem Tod zwar wieder etwas ein und riet, daß man Frankreich nicht zuviel trauen dürfe, doch eine grundsätzliche Ablehnung war auch das nicht.

In ihren Kinderbriefen ließ Wilhelmine den Vater an ihrem Alltag teilhaben, vor allem an den außergewöhnlichen Ereignissen. So berichtete sie ihm am 8. Mai 1717 stolz, daß man ihr zwei (Milch-)Zähne gezogen habe, die sie dem Vater als Beweis ihrer Tapferkeit gleich mitschickte (und die sich nach bald 300 Jahren noch immer, in Papier eingewickelt, bei diesem Brief befinden). Natürlich wußte Wilhelmine, was ihr Vater besonders gerne hörte, und so berichtete sie ihm eine Woche später über die militärischen Übungen des damals fünfjährigen Kronprinzen: »Mein Bruder vollbringt Wunder, er spricht von nichts anderem als vom Krieg und von der Jagd, und Monsieur Duhan [sein Lehrer] läßt ihn den ganzen Tag exerzieren.« Ein solcher Stellenwert des Militärischen erschreckt den heutigen Leser, doch blieb den Preußensprößlingen auch Zeit für harmlosere Vergnügungen. Dies mag ein Brief Wilhelmines vom 11. Juni 1720 belegen: »Sonntag kommt ein Mann, der einen Hund hat, der sich mit seinem Meister auf deutsch, französisch und englisch unterhält.« Von dem »brutalen französischen Hof« sei der Mann, wie Wilhelmine in einer »Gazette« gelesen haben will (!), eingesperrt worden. Auch in diesem Brief äußerte die kleine Prinzessin den Wunsch, den Vater endlich einmal wiederzusehen, komme es ihr doch so vor, als sei dieser schon ein Jahr weg. Nur einen Monat darauf schrieb sie ihm gar, daß sie nachts nicht schlafen könne, »weil mein sehr lieber Papa nicht da ist«. Dieses Verlangen nach dem Vater taucht in zahlreichen weiteren Kinderbriefen Wilhelmines auf. Während sie als Jugendliche und junge Erwachsene meist im Bannkreis der Mutter zu finden ist, brachte sie in früher Kindheit dem Vater eine offenere Zuneigung entgegen. Zumal die Mutter nicht immer so reagierte, wie das kleine Mädchen sich dies gewünscht hätte: »Zum Geburtstag der Mutter wollte ich ihr vorschlagen, eine kleine Musik zu haben, aber meine liebe Mutter wollte es nicht erlauben. Ich glaube, daß, wenn mein lieber Papa hier gewesen wäre, es ein Fest gegeben hätte.«

Eine weitere authentische Quelle über die ersten Lebensjahre Wilhelmines und Friedrichs sind die Briefe der Königin Sophie Dorothea an ihren Ehemann. Sie sind vor allem von dem Bemühen geprägt, dem Vater das Bild strebsamer und wohlerzogener Kinder zu vermitteln. So schrieb sie etwa am 11. Juli 1714: »Wilhelmine ist sehr brav und sagt, daß sie gut lernen möchte, damit Sie bei Ihrer Rückkehr zufrieden mit ihr sind.« Und ganz ähnlich am 4. Januar 1715: »Wilhelmine strengt sich sehr an, um Ihnen bei Ihrer Rückkehr zeigen zu können, was sie über die Geschichte weiß.« Um den König zu erfreuen, flocht auch Sophie Dorothea immer wieder Bemerkungen über militärische Übungen ihres Nachwuchses ein: »Ich habe Fritz und Wilhelmine in die Zimmer des verstorbenen Königs [im Stadtschloß] mitgenommen …, um ihnen [von dort aus] die Artillerie im Lustgarten zu zeigen, was sie sehr vergnügt hat.« Zu Weihnachten bekam der Prinz Spielzeugsoldaten, und den gerade einmal Vierjährigen ließ Sophie Dorothea mit einer kleinen Pistole schießen. Der Vater werde ihn hoffentlich nicht mehr für einen Hasenfuß halten … Daß Friedrich Wilhelm musische Erziehung aber nicht per se abgelehnt hat, wenigstens bei den Töchtern, zeigt ein Brief Sophie Dorotheas vom Januar 1716, den sie nicht geschrieben hätte, wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, ihren Mann damit erfreuen zu können: »Ich habe Wilhelmine gestern tanzen und Cembalo spielen sehen. Ich war entzückt, wieviel sie in kurzer Zeit gelernt hat.«

Deutlich wird in den Briefen Sophie Dorotheas, daß Wilhelmine und Friedrich von frühester Kindheit an häufig zusammen waren. Dabei war der 1712 geborene Kronprinz ganz anders veranlagt als die ältere Schwester: »Er war geistreich, seine Gemütsart war finster. Er dachte lange nach, bevor er antwortete, aber dafür antwortete er richtig. Er lernte sehr schwer, und man erwartete, daß er einmal mehr Verstand wie Geist an den Tag legen würde. Ich war hingegen außerordentlich lebhaft und schlagfertig und besaß ein außerordentliches Gedächtnis.« Für den Kronprinzen war Wilhelmine Vorbild und engste Vertraute. Und von ihr ließ er sich auch ins Gewissen reden, wenn er Tagträumen nachhing oder wenig Lust zum Lernen zeigte. Seinem Vorleser Henri Alexandre de Catt erzählte er viele Jahre später darüber: »Es ist ein großes Glück für jeden Menschen und besonders für einen Fürsten, sich frühzeitig an Arbeit gewöhnt zu haben. Wissen Sie, wem ich zu Dank verpflichtet bin für diese Gewohnheit und diese Vorliebe für das Studium, das mehr als alles andere mit das Leben süß macht? Meiner Bayreuther Schwester! Als sie sah, daß ich gar kein Verlangen trug, mich zu beschäftigen und zu lesen, und daß ich nur umherzuschlendern liebte, sagte sie eines Tages zu mir: ›Aber, mein lieber Bruder, schämst du dich nicht, unaufhörlich umherzulaufen? Ich sehe dich niemals mit einem Buch in der Hand. Du vernachlässigst deine Fähigkeiten, und wenn du dereinst berufen wirst, eine Rolle zu spielen, was für eine wird es dann sein?‹ Diese Worte und einige Tränen rührten mich tief; ich begann zu lesen, fing jedoch mit Romanen an.« Doch ausgerechnet diese Lust am Lesen sollte schließlich einer der Gründe sein, weshalb sich Friedrich mit seinem Vater heillos zerstritt …

Natürlich spürte Wilhelmine, daß sie seit der Geburt ihres Bruders, obwohl die Älteste, nicht mehr den ersten Rang einnahm, sondern dieser dem Kronprinzen zukam. Wütend über diese Vernachlässigung, schrieb sie ihrem Vater im Mai 1719, daß »ich sehr gekränkt darüber gewesen bin, daß Sie meinem Bruder die Ehre erwiesen haben, ihm zu schreiben; und ich, die [Ihnen] schon 100 000 Briefe geschrieben hat, habe nie die Gnade gehabt, auch nur ein Wort aus Ihrer Hand zu empfangen. Ich weiß gut, daß mein Bruder mehr Anerkennung verdient als ich, weil er ein Junge ist, aber das ist nicht mein Fehler, wenn ich keiner bin, und ich bin doch auch die Tochter meines lieben Papa, und ich liebe ihn, wie ich keinen anderen Menschen auf der Welt liebe. Man hat mir auch gesagt, daß mein lieber Papa niemand anderem schreibt als Offizieren, und wenn das wahr ist, würde ich auch gerne einen militärischen Rang haben; Mademoiselle Leti sagt, daß ich gut ein Dragonerhauptmann sein könnte, wenn mein lieber Papa einen mit langem Kleid haben wollte, aber ich glaube, daß sie sich über mich lustig macht, indem sie das sagt …«