Das Zahnfleisch, dachte er, sieht wie Gummi aus. Und drunter ist ein Eisengerüst. Die Böhme wirkte wie ein ruckender Arbeitsroboter. Hatte sie einen Mann, Kinder, hatte sie überhaupt ein Alter? Vielleicht war sie von einem verrückten russischen Wissenschaftler Anfang der Dreißiger Jahre in Moskau erfunden worden – als Utopie einer Arbeiterin, wie Stalin sie gern überall gehabt hätte. Doch dann, Bernd lenkte geschickt die Karre in den Fahrstuhl, fand Stalin sie doch nicht so toll. Er schenkte sie Hitler, als es noch gegen Polen ging, zum Geburtstag. So kam sie nach Deutschland, wurde Himmlers Putzfrau, Trümmerfrau in Berlin, dann eine Weile Buna-Arbeiterin und nun war sie hier, ein grimmiges Auslaufmodell.

Christine Hoba, geb. 1961 in Magdeburg, lebt in Halle. Chemiestudium und Ausbildung zur Buchhändlerin und Bibliotheksassistentin, arbeitet in einer wissenschaftlichen Bibliothek. 2002 gewann sie den 3. Platz beim MDR-Literaturwettbewerb. 2010 wurde sie Stadtschreiberin der Stadt Halle. Veröffentlichungen von Gedichten, Kurzprosa und einem Kinderhörspiel. Im Mitteldeutschen Verlag erschienen die Romane »Die Abwesenheit – eine Nachforschung« (2006) und »Die Waldgängerinnen« (2010).

Die Nelkenfalle

Christine Hoba
Roman

mitteldeutscher verlag

D er Bote kam mit dem Wind. Der wehte schon seit ein paar Tagen einen schweren stinkenden Brodem in Richtung Stadt, den die Schornsteine des Chemiewerks ausstießen, das in der einst lieblichen Auenlandschaft wucherte. Buna, aus dessen verrotteten Anlagen zischend Chlorkohlenwasserstoffe und Stickoxide entwichen. In einer Halle glänzte unheilvoll in einem riesigen Becken Quecksilber und diffundierte in die Lungen der Arbeiter. Eine bittere Schicht Karbid lag über der gesamten Gegend. Schon im Frühjahr war kein Blättchen mehr grün.

Wenn der Wind das giftige Gebräu in die Neubauviertel presste, die Buna entgegenwuchsen, bekamen die zartesten unter den Menschen, Säuglinge und Kleinkinder, furchtbare Hustenanfälle, an denen sie fast erstickten. Verängstigte Eltern saßen in den nächtlichen Straßenbahnen, das hustende Kind im Arm, und fuhren zu den Krankenhäusern der Stadt. Dann war der Bote neben ihnen, einer von denen, die keine Zeit und keinen Raum benötigen, seine Hand ruhte auf dem kleinen kämpfenden Brustkorb.

In den Häusern der Altstadt, die beinahe alle den Krieg recht und schlecht überstanden hatten und für deren Erhaltung nicht das Geringste getan wurde, brannte schwefelhaltige Kohle in den Öfen, dicker Qualm zog aus den Schornsteinen und drückte in die Straßen. Hätten die Boten, die die Menschen in der Stadt fußlos begleiteten, Menschenaugen gehabt, sie hätten sie kaum erkannt im winterlichen Smog, geschweige denn unterscheiden können, vermummte Gestalten, alle in einer ähnlich freudlosen Gangart, einem Hasten, mit dem sie durch den Schneematsch nach Hause eilten, vorbei an den Häusern, deren Stuck abbröckelte, deren Fenster kaum vor Kälte und Wind schützten, weil der vertrocknete Kitt die Scheiben nur mühsam im rissigen Holz hielt.

Grau waren die Fassaden, an denen die Menschen vorüberhasteten, grau die beiden alten Burgen, die Moritzburg und die Burg Giebichenstein, schwarzgrau der nach Lösungsmitteln riechende Fluss, von feisten Schaumkronen besetzt, die sich in den mit Gestrüpp überwucherten Uferböschungen verfingen. Wie konnte es sein, das einstmals ein Romantiker diesen Fluss besungen hatte? An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn … Da war kein Strand und nichts Helles oder Stolzes spiegelte sich in den Augen der Passanten. Die feierlichen Gebäude der alten Universität, die Gründerzeitquartiere, die schmalen mittelalterlichen Fachwerkhäuser und die Renaissancehäuser verfielen. Die Nomenklatura der Stadt hatte ihren Abriss beschlossen. In den seit Jahrhunderten ihrem gewundenen Lauf folgenden Straßen gab es Baulücken, Bauzäune, drehten sich Betonmischer und Lkws brachten Betonplatten.

Von der Baustelle war es nicht mehr weit. Die schweren Tatrawagen einer Straßenbahn rumpelten durch die Straße nordwärts.

In den Häusern froren die Außentoiletten genauso ein wie die Wasserleitungen in den Kellern mit den kaputten Fenstern. Feuchtigkeit stieg aus der Tiefe das Mauerwerk hinauf. Der Schnee schmolz auf den Dächern und sickerte durch kaputte Dachziegel oder wie in dem Haus, zu dem der Bote wollte, durch die verrottete Dachpappe. Auf dem Dachboden standen Schüsseln und Zinkwannen, spannten sich zwei Gummiplanen, die die Männer des Hauses befestigt hatten, eine ausgeklügelte Konstruktion, die das Regenwasser zu einem Dachfenster leitete. Es tropfte überall. Ein Schmelzwasserbächlein rann die Planen hinunter und stürzte in einem Miniwasserfall aus der Bodenluke, sprühte an den Küchenfenstern des Hauses vorbei und versickerte zwischen den Backsteinen im Hof.

Durch die Hintertür zum Hof drang ein wärmerer Wind. Er kam von dem Boten, der ohne Raum zu gebrauchen, wie es seinem Wesen eigen war, zwischen dem Verfall und dem Abriss zu den Menschen ging, einzig dafür bestimmt, diejenigen wieder aufzuheben, die fielen. Es dauert nicht mehr lange, flüsterte der Bote, dem die Zeit keine Dimension war. Habt Geduld. Die Menschen hörten sein sanftes Murmeln nicht.

* * *

Bruni lehnte sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers gegen das halb verrottete Türblatt. Sie hatte schon wieder ein Kilo abgenommen, einfach so, durch das Warten, das nicht mehr aufhörte, als wäre das Warten ihre einzige Zukunft geworden. Quietschend schob sich die Tür auf. Ihre Hand tastete im Dunklen nach dem Lichtschalter und drehte den Knopf. Zwei Meter über ihr baumelte eine Glühbirne aus dem rissigen Putz. Schimmelflecken wuchsen die Wand hinauf. Sie hustete. Jedes Mal, wenn sie die Flecken sah, die ihr immer wie seltsame Länder auf einer Landkarte vorkamen, hustete sie. In diesem Winter waren sie gewachsen, zu dunklen Kontinenten geworden. Es roch nach nassem Kalk. Hoffentlich war Tobias da, dann hätte er den Ofen schon eingeheizt. Einzeln, über die feuchten Fladen des Putzes wie Vogelhäuser verteilt, hingen die rostigen Briefkästen. Sie schloss auf. Der kleine Riegel klappte zurück und ein vergilbtes Kuvert fiel ihr entgegen. Sie atmete flacher. Ein unleserlicher Stempel klebte in der Ecke, keine Briefmarke. Herr und Frau Wagenbach stand da mit der Perlschrift einer Schreibmaschine, deren kleines e jedes Mal einen Millimeter nach oben gerückt war.

Ihr wurde schwindelig und sie hockte sich hin, lehnte sich an die bröcklige Wand unter den Briefkästen und riss den Umschlag auf. Herr Tobias Wagenbach und Frau Brunhilde Wagenbach werden am 8. März in die Abteilung Pass- und Meldewesen vorgeladen, zwecks Klärung eines Sachverhalts. Mit sozialistischen Gruß Kunz.

Mehr nicht. Das Datum des Anschreibens war drei Tage alt und morgen war der achte März. Ist es jetzt so weit, dachte sie, mein Gott, ist es jetzt so weit, ist das der Tag, auf den ich so lange gewartet habe, bis nichts mehr in mir drin ist? Keinerlei Traum mehr, dachte sie, gar nichts, nur diese beschissene Leere, morgens los in den Arbeitsstumpfsinn und abends zurück. Und immer die Angst, dass sie dich abholen wie neulich, weil sie da noch ein paar Fragen an dich haben. Oder war das wieder nur eine Schikane, eine läppische Anfrage wegen der Farbe ihrer Schnürsenkel, weil die Farbe der Schnürsenkel vermerkt werden müsse für die Genossen an der Grenze, das wäre so Vorschrift, würden sie sagen und hinter ihrer wuchtigen Schreibmaschine versteckt, feixen.

Wut stieg in ihr hoch. Schweine, dachte sie. Klar, das ist eine gefinkelte Vorladung, die machen sich einen Spaß mit uns. Hoffentlich war Tobias schon da, sie wollte ihm den Brief auf den Tisch knallen. Die führen uns wieder vor, wollte sie rufen. Wir kommen hier nie raus! Sie sprang auf, sprang, wie eine Katze hochspringt, die zu lange auf einer heißen Herdkachel gesessen hat, fuhr senkrecht in die Höhe, die Briefkastentür war aufgependelt und sie prallte gegen ihre scharfe Eisenkante. Stechender Schmerz drang ihr durch die Fontanelle ins Hirn. Tränen schossen in die Augen, aber davon wusste sie nichts mehr, denn jetzt fiel sie ins Schwarze. Tiefer fiel sie, als wäre da Wasser, in das sie sank, bis zu den Hüften schon. Als ihre Wange die eiskalte Wasseroberfläche berührte, war es gut. Sie war angekommen und tauchte hinunter. Schöne Stille. Das Wasser war dunkelgrün, war schwarz, ein bestirntes Wasser, in dessen Tiefe die Sternbilder leuchteten. Großer Wagen, sie kannte nur den Großen Wagen und die Milchstraße. – Bruni? – Neben ihr hockte Tobias. – Was ist denn passiert? – Er sah besorgt aus, während sie bis zum Kinn wieder aus der schwarzen Flut herausragte. Das Rhombenmuster der Bodenfliesen war so deutlich, über ihr baumelte die Briefkastentür.

Au, sagte sie wie ein Kind und fasste sich an den Kopf, das Haar war feucht, und als sie ihre Hand betrachtete, war da Blut. – Mist! – Sie gab ihm den Brief. Tobias starrte auf das Blatt, las und las, als wären zwischen den Zeilen noch jede Menge Informationen, die sie nicht hatte lesen können, weil sie zu blind und zu panisch gewesen war. Er schniefte. – Kann alles und nichts bedeuten. Und heute erst eingesteckt! – Dann stopfte er den Brief in den Umschlag zurück und half ihr beim Aufstehen. Zog sie hinter sich her, die Stufen hinauf. Ihr Schädel brummte. Aber sie hatte wieder Boden unter den Füßen, während sie hinter ihm ging. Er würde sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Sie würden da morgen hingehen, bereit, jede Gemeinheit zu ertragen. Tobias war dabei, ohne ihn hätte sie das nie durchgestanden. Deshalb war sie mit ihm zusammen, wegen seiner Treue, seiner Treuherzigkeit, die sie rührte, seiner altmodischen Männlichkeit, die sie beschützen wollte, denn sie war nicht mehr beschützt worden, seit sie sechs war, seit sie die baumelnden Beine ihres Vaters in der Küche hatte hängen sehen, nichts als die baumelnden Beine, die Schlappen auf dem Boden, der umgeworfene Stuhl. Seitdem hatte sie keiner mehr beschützt, auch Heiner nicht, den sie wohl am meisten liebte. Aber man heiratet nicht den, den man am meisten liebt. Man heiratet denjenigen, den man etwas weniger liebt. Das ist die Reihenfolge.

In der Küche nahm sie die Flasche mit Kräuterlikör vom Küchenschrank, goss sich ein Glas ein und ging mit Glas und Flasche ins Wohnzimmer. Es war nicht besonders warm. Sie hatte den Parka angelassen, nur aufgeknöpft, und setzte sich auf den Sessel. Sah sich um. Unterm Licht der Deckenlampe und in der Kälte vor dem Heizen wirkte alles kahl und zusammengesucht. Billig, dachte sie, hässlich, obwohl sich Tobias viel Mühe gegeben hatte, alles wohnlich zu machen. Es war ein Leben auf Pump hier, und es schien, als wussten das auch die Möbel, die sich an die Wände lehnten, mühsam auf dem verschlissenen Teppich hielten. – Was machen wir damit? – Sie machte eine Bewegung mit der Hand, die das ganze Wohnzimmer meinte.

Tobias war hinter ihr hergekommen und lehnte an der Tür: Trink nicht so viel. – Ich werde schon nicht zur Alkoholikerin. – Sie trank das Glas aus und füllte sich das nächste ein. Sie fasste die Flasche ganz vorn am Hals an, so hatte das Vater auch immer gemacht, und wenn sie ihr Glas so füllte, mit der gleichen Geste, dann waren sie wieder zusammen, waren eins, war er Hand an Hand mit ihr am Hals der Flasche und sie führten gemeinsam das Glas an ihre Lippen.

Das meine ich, sagte er. Sein Gesicht sah müde aus, und sie wusste, dass sie ihn quälte, dass sie es weitergeben wollte, all die Schikanen, das Aufstehen in der Finsternis, die Arbeitshölle im Wareneingang, den Tag im Stasiquartier, weil sie immer sie griffen, denn sie war die Schwächere, das wussten sie. Sie hatten einen Instinkt dafür. Und sie würden sich freuen, wenn sie sich jetzt betrank, wenn sie fertig war und ihn fertigmachte, wenn sie da drüben als seelische Krüppel ankämen oder gleich hier in einer Anstalt voller verzweifelter Idioten verschwänden. Sie stellte die Flasche neben den Sessel. – Ich halte es noch aus Tobi, sagte sie, keine Angst.

Er kam zu ihr, hockte sich neben den Sessel, und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Seine Hände schoben vorsichtig ihre Haare auseinander. – Wird ’ne Beule, sagte er, aber da ist nur ein kleiner Riss. Soll ich Jod holen?

Lass nur, murmelte sie in den Stoff seines Pullovers hinein. Er stand auf. Sie hörte ihn die Asche aus dem Ofen kratzen, während sie mit geschlossenen Augen in ihrem feuchten Parka auf dem Sessel kauerte. Der Kopf schmerzte. Da war nichts mehr drin als dieses Hämmern, kein Gedanke, kein Traum. Alles ausgeräumt.

Die Türglocke klingelte. Albert Graf trat in den kühlen Geruch von feuchter Erde, obwohl die Regale wie leer gefegt waren. Nur auf der Theke stand noch ein einziges Töpfchen, mit den Blättern eines Usambaraveilchens, doch ohne Blüten. – Wir hab’n nichts mehr. – Die ältere Frau, die von hinten kam, lächelte plötzlich erfreut. – Herr Graf! Da kann ich ja endlich schließen. Sie sind mein letzter Kunde. – Ihr blasses Gesicht verschwand wieder im Dunkel des hinteren Raums. Papier raschelte. Dann kam sie nach vorn und legte eine lange schmale Tüte auf die Marmorplatte. – Rosen, sagte sie strahlend, drei gelbe Rosen.

Das war mehr als er erwartet hatte. Und es war mehr als er seiner Mutter schenken wollte … drei gelbe Rosen, die sollte man doch eigentlich seiner Geliebten mitbringen. Wenn es wenigsten fünf gewesen wären, dann hätte er eine weggeworfen und eine Irene geschenkt, eine einzelne langstielige gelbe Rose, die er morgen für sie aus dem Mantel ziehen würde. – Danke, sagte er überschwänglich. Frau Hahn, wenn sie einmal wieder … – Schon gut, Frau Hahn lächelte würdevoll. Für ihre Frau Mutter tue ich das doch gerne.

Er schätzte das an ihr. Im Geben und Nehmen war sie nicht schmierig, sondern diskret. Er legte das Geld auf den Tisch. Ihre altmodische Kasse klingelte. Sie gab ihm das Wechselgeld zurück und er wagte nicht stimmt so zu sagen. – Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend. – Ja, heute war es etwas hektisch. – Sie lächelte müde. Er hatte sie schon vergessen, als die Ladenglocke über ihm bimmelte. Draußen fegte ein nasser Wind durch die Straße. Er schlug den Mantelkragen hoch und stakste um eine riesige Pfütze.

Im Treppenhaus legte er die Blumen hinter die Kohleneimer. Dann schloss er die Tür auf. Mutter war in der Küche. Es roch nach Bratkartoffeln. Ihre kräftige, hochgewachsene Gestalt drehte sich zu ihm um, sie winkte mit dem Holzlöffel in der Hand. Er zog die Küchentür zu und hängte den Mantel auf den Bügel. Dann öffnete er leise die Haustür, holte den Strauß herein und schloss seine Zimmertür auf. Seit zehn Jahren bestand er auf einem abgeschlossenen Zimmer. Jetzt legte er nur rasch die Blumen ab und ging in den Keller. Später wusch er sich angewidert die Hände im Bad. Sie hatten nur noch den Ofen im Wohnzimmer, das wohl zu groß war für eine Außenwandgasheizung. Außerdem wollte Mutter nicht. Ich heize gerne, sagte sie ungeduldig. Ich habe Zeit dafür. Sie war immer Hausfrau gewesen, sauber, penibel, akkurat. Er kannte das nicht anders. Seit Vater tot war, schien sie noch ordentlicher geworden zu sein. Alles stand und lag auf Kante. Er setzte sich in das warme Wohnzimmer an den Esstisch. Die weinroten Vorhänge waren zugezogen. Die Teekanne aus Jenaer Glas stand auf ihrem Stövchen. Braunrot leuchtete der Tee unter dem Licht der Hängelampe. Messer, Gabel, Teller waren auf dem Platzdeckchen ausgerichtet. Sie kam mit der Pfanne herein. – Wie war’s? – So hatte sie früher Vater examiniert. – Anstrengend, murmelte er, während sie ihm auftat. Natürlich zu viel, natürlich würde er die Hälfte liegen lassen. Das war ein Streitpunkt zwischen ihnen. (Guck dich an, du bist ein richtiger Hänfling.) Missbilligend sah sie zu ihm hinüber. – Wieso, gab es Ärger?, fragte sie. – Nein, nur der Alte hat sich zurückgezogen, er wollte eine Rede für morgen basteln.

Sprich nicht so respektlos, sagte sie. Er hätte am liebsten gelacht. Sie wusste nichts, überhaupt nichts von ihm. Sie rüffelte ihn an wie einen Vierzehnjährigen. Er beugte den Kopf über den Teller, damit sie seinen Gesichtsausdruck nicht sah. – Ich musste halt alles allein regeln, sagte er. Sie wusste nicht, dass er schon jahrelang alles alleine regelte in der Buchhandlung, sie wusste nicht, dass der Alte senil war, dass er nur noch pro forma kam, dass er sich in letzter Zeit nicht einmal mehr aus seinem Zimmer traute, weil sie auf dem Flur über ihn lachten.

Er schob den Teller weg. Diesmal sagte sie nichts. Sie sah ihn nur misstrauisch an, als hätte sie seine Gedanken gehört. Er fühlte sich unbehaglich unter ihrem Blick. Er hasste das, und er wollte ihr seinen Hass nicht zeigen. – Wollen wir abräumen?, fragte er. Gleich kommen Nachrichten. – Sie nickte und er half ihr, trug die leere Pfanne in die Küche und stellte sie auf den Herd zurück. Dann sahen sie Aktuelle Kamera. Berichte von der Arbeitsfront im VEB Sowieso, später ein Gewächshaus, in dem man Nelken abschnitt, ein neckischer Kommentar des Berichterstatters. Empfänge, Bruderküsse. Er hörte nicht hin, ärgerte sich über die Rosen. Wenn er doch eine für Irene hätte … wie sie die Augenbrauen hochziehen würde, ihre kühle, tiefe Stimme, die ein wenig vibrieren würde, wenn sie ihm dankte. Aber drei waren drei. Mutter würde ihm nicht glauben, wenn er mit zwei Rosen ankäme. Frau Hahn, würde sie sagen, denn sie kannte Frau Hahn gut, würde dir niemals nur zwei Rosen verkaufen. Mutters forschender Blick, als könne sie Gedanken lesen. Roswitha hat es richtig gemacht, dachte er, die kreuzt nicht einmal mehr auf. Aber der Gedanke an die ältere Schwester verbitterte ihn. Wie sie ihm lautlos beim Abendbrot unter dem Tisch die Fingernägel in die Oberschenkel gebohrt hatte, und er ihr, während ihre Oberkörper tadellos gerade saßen. Vaters angewiderte Stimme: Grins nicht so verkrampft, Albert.

Das Wetter blieb mies. Weiterhin Nachtfröste, morgen um die null Grad, wahrscheinlich Niederschläge. Er hatte es satt. – Ich les noch, sagte er und stand auf. Mutter blieb vor dem Fernseher sitzen. Er ging in sein Zimmer, schloss die Tür zu. Es war gut, dass er wenigstens das durchgesetzt hatte.

Die Gasheizung unterm Fenster strahlte Wärme ab. Während er die Vorhänge zuzog, sah er noch einmal auf die Straße hinunter. Feiner Nieselregen trieb im Licht der Straßenlaterne. Ihm war, als stände eine Frau darunter. Nein, da war nur ein Schatten. Er wäre sonst noch einmal hinuntergegangen. Frische Luft schnappen, hätte er Mutter angelogen, die Frau hätte ihn angesehen und mit ihrem roten verschmierten Mund den Preis genannt. Er legte seine kalten Hände auf die Heizung, so wie er sie auf ihren breiten Hintern gelegt hätte. Keine schöne Frau, älter schon, schwammig, aber der Ausschnitt ihrer Bluse wäre tief und spitz. Und er würde sein Gesicht an die kleinen weichen Fältchen zwischen ihren Brüsten drücken. Es gab diese Frau nicht, doch es gab Irene. Gott sei Dank gab es Irene und er müsste sich jetzt auf das Bett legen und sie sich vorstellen. Aber er konnte sich nichts mit ihr vorstellen, dazu waren andere Frauen nötig, eine alte Hure unter einer Straßenlaterne, die gutmütig war und dumm und mit gurrender Stimme versaute Sachen sagte.

Er stand auf und holte die Rosen, die hinterm Bett standen, hervor und stellte sie auf den Tisch. Was für eine infantile Heimlichkeit, aber so hatten sie es immer gehalten. Selbst den Weihnachtsbaum hatte Vater regelmäßig so auf den Küchenbalkon geschmuggelt, als hätte ihn der Weihnachtsmann persönlich gebracht. Wahrscheinlich war es einer der Fahrer vom VEB Strickwaren, dessen Direktor Vater gewesen war, der den Baum besorgen musste. Es war ein Affenzirkus, er hatte keine Lust mehr darauf und doch machte er immer weiter mit, konnte nicht anders als mitmachen bei den Riten, die man einfach nur befolgen musste, damit alles weiterhin reibungslos funktionierte. Die Mutter als Hausfrau. Er trug ihr die Kohlen für den letzten Ofen hoch. Dabei hatte er seine Beziehungen, er konnte ohne Probleme noch eine Gasheizung besorgen. Wenn sie nicht mehr so kann, dachte er. Aber das wollte er sich gar nicht vorstellen. Wie sie hinfällig würde oder vergesslich, zusammenfiele und nichts mehr auf die Reihe kriegte. Eine von diesen verschrumpften Weiblein, die mit einem Einkaufsbeutel am Arm über die Straße schlurften. So war seine Mutter nicht, so würde sie nicht werden.

Er setzte sich in den Sessel unter die Lampe und wusste, dass er nicht mehr lesen konnte, darum drehte er das Radio auf, leise, damit Mutter nichts hörte. Ein dummer Schlager ertönte, danach eine Ansage. Er hörte nicht hin. Mein kleiner Scheißer, sagte die alte Hure zärtlich zu ihm und knöpfte ihre Bluse auf. Ein schwarzer Büstenhalter kam zum Vorschein, ein weicher Bauch mit drei dicken Falten. Komm her, kleiner Scheißer, sagte sie und stellt ihre Beine weit auseinander.

Während Bernd Busch in den Hausflur trat, schlug er den Kragen seines Mantels hoch, ganz automatisch, denn die Rohre, die sich an der Decke des Flurs bis zum Städtischen Bad hinzogen, leckten. Wasserdampf wölkte. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, ging er ein bisschen wie im Nebel. Auf den Steinfliesen stand eine Pfütze, über die er einen großen Schritt machte, hinter seinem Rücken hörte er einen Tropfen auf die Wasseroberfläche klatschen. Er hatte es geschafft. Ende Januar, als es nach dem Frost zu tauen begann, war ihm ernstlich mulmig gewesen, denn Wasserdampf und Frost hatten Stalagmiten an der Decke wachsen lassen, zwei Wochen lang war er wie durch eine Tropfsteinhöhle gegangen, dann fiel die gläserne Pracht zusammen, er fühlte sich bedroht von den Eiszapfen über ihm, die, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, senkrecht auf seinen Schädel stürzen würden.

Gemächlich stieg er zu seiner Wohnung hinauf, an seiner Hand schlenkerte ein bunter Dederonbeutel mit Brot und Wurst und einem Glas saurer Gurken.

In seinem kleinen Flur hängte er den Mantel an den riesigen Maurernagel, den er eigens dafür in die Wand geschlagen hatte, zugegeben, ziemlich krumm, doch das Krumme war für seinen Zweck ganz besonders geeignet. In der Küche hing sein Wollpullover über dem Stuhl, er zog ihn an, nahm den Kessel und ließ Wasser einlaufen. Es prasselte gegen den Blechboden wie ein heftiger Regen auf das Fensterbrett.

Während die Gasflamme unter dem Kessel flackerte, setzte er sich an den kleinen Tisch, schnitt das Brot auf und belegte es mit dicken Scheiben Schlackwurst. Er hatte Glück gehabt mit der Wohnung. Ein Sohn aus der Nachbarschaft hatte in Halle studiert und sogar noch zwei, drei Jahre hier gearbeitet. Doch dann siegte sein Heimweh, alle Eichsfelder bekommen irgendwann Heimweh. Gerade als Bernd zu studieren begann, zog er zurück und war so hilfsbereit gewesen, die Wohnung nicht zu kündigen, sondern an ihn unterzuvermieten. Als Studentenbude, wie er sagte. Als Studentenbude hatte sie Bernd nur ein halbes Jahr genutzt, dann hatte es ihm gereicht. Er wollte kein Lehrer für Mathematik und Physik, sondern Maler werden, deshalb hatte er doch eigentlich in Halle zu studieren begonnen, um sich an der Kunsthochschule zu bewerben. Er wusste nur noch nicht, wie man das machte. Es gab Eignungsprüfungen, so viel hatte er schon mitbekommen. Irgendein Typ, mit dem er in der Goose bei einem Bier gesessen hatte, hatte ihm gesagt, dass es besser wäre, schon mal eher, schon mal bevor die Prüfungen stattfänden, sich an einen Professor heranzumachen. Bernd wusste nicht, wie er das anstellen sollte, vielleicht vor der Burg warten, wie einer von der Stasi, und dann hinstürzen, wenn ein Professor herauskam. Sehen Sie sich meine Arbeiten an! Bitte, nur fünf Minuten! Das war doch blöd. Der Wasserkessel pfiff. Bernd hängte zwei Pfefferminzteebeutel in die riesige verbeulte Thermoskanne und goss das kochende Wasser auf. Er seufzte. Nein, er hatte überhaupt keine Idee, wie er das anstellen sollte.

Aber er musste erst einmal genügend Arbeiten für die Mappe zusammenbekommen. Vaserely, dachte er und blickte auf den Kunstdruck, der an der Wand über dem Tisch hing. Nachdenklich kaute er sein Brot. Steffen und er hatten halbe Nächte lang diskutiert, Vaserely gegen van Gogh. Vaserely und van Gogh. Das Abstrakte und das Konkrete, Mathematik und Metaphysik. Er stand auf, nahm die Thermoskanne unter den Arm, in die Hand das Glas mit Pinseln, das an der Spüle gestanden hatte, und ging ins Zimmer. Im weißen Licht einer Neonröhre lag auf zwei Arbeitsböcken die Zeichenplatte mit dem angefangenen Bild, lag das, was er die ganze Zeit versuchte: minimalistische Malerei. Er hob den Deckel des Schallplattenspielers und schaltete das Gerät ein. Nahm den Hebel, legte ihn vorsichtig in die erste Rille. Die Schallplatte drehte sich. Die Töne sprangen auf, wie Wasser in einem Brunnen, auf und ab, kleine Lichtspiele über den sich wiederholenden Kadenzen, auf und ab, das Wiederkehrende, die minimale Variation. Philip Glass. Bernd ging zum Zeichentisch, goss sich Tee in die Tasse und begann die Farbe aus den Tuben zu drücken. Ultramarin, Chromgelb, Echtgelb, Preußisch Blau, Colinblau, Kremser Weiß. Langsam kleckerte er die Farben auf die Palette. Schon weit hineingerückt in die Musik, in die Farben, die er setzen wollte, wie Glass seine Töne.

Diana wachte auf. Das Reclambändchen war ihr vom Schoß gerutscht und lag neben dem kleinen Dauerbrandofen, der nur noch lauwarm war. Es war nach zwölf. Das passierte ihr zu oft. Kaum war der Ofen richtig warm und strahlte Wärme ab, wurde sie schläfrig. Den ganzen Tag hatte sie in der Buchhandlung gefroren. Durchgefroren und müde nahm sie ihren Kohleneimer und lief in den Keller, klaubte die zerbröselnden Kohlen aus dem Haufen und schleppte sie hoch. Und wenn es warm wurde, schlief sie ein.

Sie bückte sich und hob das Buch auf. Kritik der reinen Vernunft. Es war eigentlich unsinnig, sich so müde durch die verschlungenen Satzketten zu kämpfen. Sie befand sich nun schon seit Tagen auf der Seite achtundvierzig. Mehr als die Seite achtundvierzig war anscheinend nicht drin. Hier scheiterte sie, wie ein Segler, der den Leuchtturm am Ende des Hafens erreicht hatte. Die Ausfahrt gelang nicht. Nur so viel: Die Maximen der Glückseligkeit schienen etwas Sekundäres für Kant. Sie schaltete das Radio ein. Da war Jazz, eine Trompete warf ihre rhythmischen Töne in das Zimmer und sie wurde wach. Sie konnte jetzt immer so weiter sitzen, kein Kant mehr, aber die Trompete, die das Zimmer ausdehnte, die Konturen verwischte. Das Licht wurde gelber. Sie ging zum Fenster und sah in die Straße. Laternen im Nebel. Kein Mensch. Gegenüber das Haus war bereits dunkel. Überhaupt war nur noch ein Fenster hell, zwei Häuser weiter.

Das war ihre liebste Stunde, wenn alle eingeschlafen waren, all die Tüchtigen des Tags, wenn sie in den Schlaf der Gerechten gesunken waren, denn das waren sie doch: gerechtfertigt durch ihre Arbeit. Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Dem Tüchtigen gehört die Welt, wie die Mutter sagte, die eine Tüchtige war, Oberschwester auf der Inneren Eins im Wittenberger Kreiskrankenhaus. Lutherisch, fleißig, gerechtfertigt. Ein Arbeitstier, eine Organisationslöwin, denn alle Dienste, die drei Kinder, ein Mann, sogar der Kirchenchor mussten organisiert werden, ein reibungslos ablaufendes Organisationskunstwerk, für das sie auch ein wenig Bewunderung haben wollte, für das sie Bewunderung verdiente, während eben der Vater weniger Bewunderung verdiente, ein Uhrmacher, der es nur zum Angestellten gebracht hatte, jetzt unter der Tochter des Chefs arbeitete, den er eigentlich hätte ablösen müssen, wie Mutter fand, und wenn sie ihm das vorwarf, sagte er nur gequält: Dann hätte er eben die Ingeborg heiraten müssen, dann wäre er jetzt der Meister, anders ginge es nicht. Er sei eben bloß ein schlesischer Zugereister, das habe sie doch gewusst, als sie ihn geheiratet habe. Dafür verdiene er eben in seiner Freizeit etwas dazu. – Ja, um sich zu verkriechen, um sich aus der Verantwortung zu stehlen, tüftele er in seinem Zimmer herum.

Vaters Zimmer war ganz schmal, ging auf den Hof. Hinten, am Fenster war sein Arbeitstisch, an dem er mit einer Lupe am Auge saß und alle Bekannten- und Verwandtenuhren reparierte, die man ihm brachte. Es tickte und tackte in diesem Uhrenschlauch, in dem der Vater, ganz am Ende, im trüben Licht des Hofs und umwölkt vom Rauch seiner F 6 saß und arbeitete. Winzige Schräubchen und Zahnräderchen lagen auf der Tischplatte.

Die Mutter führte im Rest der Wohnung das Regiment, in der Küche, im Flur, im Bad, in den Zimmern, sie räumte auf, kochte, wusch Wäsche, putzte Fenster, schickte die Kinder zum Bäcker, zum Milchladen, ließ sie die Treppe, die Schuhe putzen, Diana einmal die Woche Wäsche waschen und bügeln, damit sie es lerne, damit sie aufhörte zu träumen, denn sie träumte schon wieder herum, las schon wieder, die Finger in die Ohren gesteckt, in einem Buch. Nicht, dass sie nicht lesen sollte, auch Mutter hatte ihren Fontane vollständig durchgelesen, aber da, wo es hingehörte, nach der Arbeit, nach dem, was getan werden musste, dem Tagwerk, der Schule, den Hausaufgaben, den Einkäufen, den Säuberungen der Wohnung, denn tipptop musste es bei ihnen sein, obwohl Mutter diese vielen Schichten hatte. Am schönsten waren die Spätdienste. Dann arbeiteten die Kinder die Aufgaben auf dem Zettel ab und hatten frei. Dann steckte sich Diana die Finger in die Ohren und las. Sie schlug das Buch auf, dort, wo das Lesezeichen steckte. Die bedruckten Seiten waren keine Seiten mehr, sie waren das Andere, die Welt, in die sie trat, heraus aus der elterlichen Wohnung, ein winziger Schritt nur, ein Verschließen der Ohren, ein Lidschlag, bis die ersten Buchstaben sich zu Wörtern, zum Fortgang der Welt, der eigentlichen, verbanden.

Vater saß nicht mehr rauchend in seinem schmalen Zimmer. Vor einem Jahr hatten sie ihm ein Stück Magen weggeschnitten. Das war die Stunde der Mutter gewesen, die die gesamte Ärzteschaft in Gang setzte. Der Mann unserer Oberschwester Hilde, hieß es. Vater hatte sogar in Magdeburg eine Computertomografie bekommen, in Wittenberg eine Chemotherapie. Er war vorerst gerettet, wenn auch dünn und müde. Im Wohnzimmer saß er auf dem Sofa, eine auseinandergebaute Uhr vor sich, die er vergaß zu reparieren. Es hatte in diesem Jahr Zeiten gegeben, da hatte die Mutter sogar geweint, auch an dem Tag, an dem Diana eher abgereist war, obwohl sie versprochen hatte, den Vater mit zu pflegen. Du kannst mich doch nicht allein lassen, hatte die Mutter gesagt.

Diana stand, ganz eingesponnen von der Musik, spürte die Beschämung über ihre Flucht damals. Mitten im Brustkorb bohrte es, nicht tüchtig, nicht tapfer gewesen zu sein, die Eltern im Stich gelassen zu haben, sie, weil sie hier war, in Halle, in ihrer kleinen Wohnung, immer weiter im Stich zu lassen. Nicht anders zu können. Weil sie den apathischen, in sein Schweigen verkrochenen Vater nicht aushielt, nicht ihre heulende Mutter, die nie geweint hatte, immer stark gewesen war, ein General, der mit knappen Befehlen, seine Truppen einsetzte.

Die leise, wache Stimme des Sprechers sagte den nächsten Titel an. Ein Bass, ein Saxofon, das Wischen auf dem Schlagzeug. Das geschah so träumerisch, so sanft, als würde sich der Rauch vieler Zigaretten aus einem New Yorker Jazzklub in ihr Zimmer wölken. Schwarze Musiker spielten, ihre Stirnen glänzten, ein weißes Taschentuch fuhr über ein Gesicht, über die Ventile der Trompete, die golden blinkte. The Kind of Blue. Blau und Rauch und Gold. Doch sie musste ins Bett. Morgen sollten sie schon um acht da sein. Achter März. Heute Abend, als sie mit der Straßenbahn nach Hause gefahren war, hatte sie bei etlichen Männern in Papier gewickelte dünne Büschel gesehen, Stängel hatten herausgeguckt und oben manchmal ein blassrosa oder roter Fleck. Ein Geruch von kühlen, toten Pflanzen war in der Straßenbahn gewesen, ein Friedhofsgeruch, der von den Blumen ausgegangen war, Nelken, hatte sie gedacht. Etwas anderes gab es zu dieser Jahreszeit nicht, kalte Gewächshausblumen, die in den Tagen vor dem achten März in einer lautlosen Aktion in allen Gewächshäusern des Landes abgeschnitten worden waren.

Sie würden ihr eine Stunde am Morgen und zwei am Abend stehlen, weil es eine Feier geben sollte. Alle Frauen oben in dem Raum unterm Dach. Ein paar Häppchen, irgendein scheußlicher Wein. Zur guten Laune verurteilt. Um sieben, dachte sie, konnte sie da noch nicht verschwinden. Vielleicht halb oder um acht.

Ihre Wohnung besaß keinen Flur. Die Küche auf der anderen Seite des Hausflurs war alles gleichzeitig: Bad und Garderobe und Küche am wenigsten. Sie putze ihre Zähne, wusch sich das Gesicht. In dem schmalen Schlafzimmer war es eiskalt. Lange lag sie unter der Decke und versuchte sie anzuwärmen. Doch es kam nichts zurück. Nur eine feuchte Kälte, die langsam nachließ, zu einer feuchten Wärme wurde, eine Art Dunstkokon, in dem sie steckte, den Kopf halb unterm Kissen, die Beine angezogen. Die Nacht war nicht dunkel. Sie sah ihrem Atem zu, feuchte Luft, wie der Nebel draußen, von dem sie nur eine dünne Schicht Backsteine trennte. Durchlässig alles, wie in Bienenwaben die Bewohner des Hauses schlafend, der Nebel, der durch die Ritzen kroch, füllte das Zimmer, weichte die Steine auf unter den lappig hängenden Tapeten.

Elli Hempel hatte Günthers Brille auf und trennte die Seitennaht ihrer blauen Bluse mit den Sonnenblumen auf. Die hatte ihr immer so gut gestanden. Darin hatte sie auch Günther gefallen, doch der war abgehauen. Sollte er doch, ihr war das egal, so einen Typen, der immer nur bedient werden wollte, brauchte sie nicht. Nicht mal Kohlen konnte der Kerl hochholen, weil er was mit dem Rücken hatte. Nur die Brille hier, die er vergessen hatte, konnte sie ganz gut gebrauchen. Mit der konnte sie wieder jedes kleine Fädchen sehen. Elli schnippelte mit der Nagelschere Stich für Stich auf. Eine Seite hatte sie schon geschafft, mit ihren kleinen zierlichen Stichen einen blauen Keil eingesetzt, den sah man gar nicht, außer wenn sie den Arm hochnahm.

Sie hockte in ihrem verschlissenen Bademantel unter der Sofalampe. Im Radio spielten sie Schlager. Der Ofen war noch nicht kalt und die Uhr auf dem Buffet tickte. War eigentlich ganz gemütlich so. Sie hatte sich einen kleinen Pfefferminzlikör eingegossen. Der machte sie noch ein wenig munterer. Die Idee mit der Bluse war ihr vorhin im Bett gekommen, als sie sich wie so oft schlaflos herumwälzte und sich vorstellte, was sie morgen anziehen würde. Da hatte ihr nichts gefallen.

Während ihr die erste Blusenseite flott von der Hand gegangen war, war die zweite eine Last. Am liebsten würde sie in ihr Bett zurückkrauchen. Um wach zu bleiben, goss sieter,