[1]Sozioökonomische Perspektiven
Sozioökonomische Perspektiven
Texte zum Verhältnis von Gesellschaft und Ökonomie
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[5]Inhalt
Zur Einführung
Sozioökonomie: Ein schwieriges interdisziplinäres, aber notwendiges wissenschaftliches Projekt
1 Sozioökonomie: Multidisizplinäre Perspektiven
Geld oder Leben. Reflexionen über Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Finanzmarktdominanz
Normalzustand Wirtschaftskrise. Zur Geschichte eines notwendigen Übels
Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie und ihre Wirkungsgeschichte
2 Sozioökonomische Entwicklung: Themen und Theorien
Das „ganze Haus“ und die alteuropäische Ökonomik
Die ersten Anfänge der Wirtschaftstheorie und -politik
Okzidentale Rationalität und die Anfänge des Kapitalismus
Fleiß, Arbeitsamkeit, Betriebsamkeit – Zur Herausbildung moderner Arbeitstugenden
Die „Dritte Welt“ in der „Einen Welt“. Geschichte der Nord-Süd-Beziehungen
[6]3 Strukturprobleme und Steuerungsfragen moderner kapitalistischer Gesellschaften
Kapitalistische Wirtschaft, Marktgesellschaft und der Wohlfahrtsstaat
Strukturwandel der Arbeit. Vom Fordismus zum Postfordismus
Pflege und Pflegepolitik in Europa zwischen Familie, Staat und Markt
Sozialstrukturelle Dimensionen zukunftsfähiger Entwicklung. Ein soziologischer Beitrag zur Nachhaltigkeitsforschung
„… die im Dunkeln sieht man nicht.“ Bedingungen und Funktionsweise von Wirtschaftskriminalität
Die AutorInnen
[7]Zur Einführung
Sozioökonomie: Ein schwieriges interdisziplinäres, aber notwendiges wissenschaftliches Projekt
Die Probleme, die die Welt bewegen, halten sich nicht an die Grenzen akademischer Disziplinen. Wer Themen wie Armut und Reichtum, Ökologie und Nachhaltigkeit, politische Ideologien oder kulturellen und wirtschaftlichen Wandel behandelt, kann kaum Rücksicht darauf nehmen, dass es unterschiedliche Fächer wie Soziologie und Ökonomie gibt, die meist in verschiedenen Departments angesiedelt sind und meist wenig Gemeinsamkeiten haben. Denn diese Themen haben – wie alle wichtigen gesellschaftlichen Themen – soziale und ökonomische Grundlagen. Sie können daher nicht angemessen erfasst werden, wenn nicht ihre soziale wie historische Genese, ihre Formatierung und Dynamik im Zusammenspiel mit ökonomischen Bedingungen und Prozessen gesehen werden.
Dieses Verständnis ist inzwischen in öffentlichen Diskussionen fast eine Selbstverständlichkeit. Jeder vernünftige Zeitungskommentar berücksichtigt soziale und ökonomische Aspekte relevanter Themen. Nur die Wissenschaften hinken noch etwas hinterher. Obwohl die klassische Ökonomie in ihren Anfängen als Gesellschaftslehre verstanden wurde und die frühe Soziologie ganz selbstverständlich auch ökonomische Fragestellungen behandelt hat, existieren Soziologie und Ökonomie seit ihrer institutionellen Trennung als eigenständige Wissenschaften in einer je eigenen Subkultur mit starker Binnenorientierung und geringen Kontakten untereinander. Angesichts der Diskrepanz zwischen der sachlich notwendigen Integration verschiedener Sichtweisen zum Verständnis heterogener Problemlagen und der strengen Arbeitsteilung der Fächer stellt sich daher die Frage, wieso eine so naheliegende und so notwendige Kooperation bei allen Annäherungsversuchen kaum bis gar nicht stattfindet. Sprachlich ist es ja kein großes Problem, Ökonomie und Sozialwissenschaften zusammen zu bringen – man verwendet einfach eine Begriffskombination und schon hat man mit „Sozioökonomie“ ein neues Paradigma kreiert. Ganz so einfach geht es in der Wissenschaftspraxis leider nicht. Dass die unterschiedlichen Disziplinen so strikt getrennt sind, ohne sich um andere zu kümmern, ist kein Zufall, sondern hat wissenschaftshistorische wie systematische Gründe, zumal es das Projekt einer „Sozioökonomik“ oder „Sozialökonomie“ vor etwa 100 Jahren (v.a. im Rahmen der „Österreichischen Schule“) schon einmal gegeben hat.
Warum ist dieses Projekt nicht weiterentwickelt worden? Auf der Suche nach Ursachen fällt sofort auf, dass es schon lange „die“ Soziologie ebenso wenig gibt wie „die“ Ökonomie. Das gilt im Übrigen auch für andere Human- und Sozialwissenschaften:[8] Überall stellt sich bei näherem Hinsehen heraus, dass es keinen Konsens darüber gibt, was die Grundlagen des Fachs sind. Und das, obwohl nun schon einige Generationen von ernsthaften und engagierten Wissenschaftlern an der Begründung der Fächer gearbeitet haben. Dabei hat sich das Verständnis der Begründungsprobleme vertieft, aber ein akzeptierter Konsens ist nicht zustande gekommen. In manchen sozialwissenschaftlichen Fächern findet man daher auch ein auf den ersten Blick ungeordnetes und zufälliges Nebeneinander von heterogenen Subparadigmen, die sich bekämpfen. Was es immer wieder gegeben hat und gibt sind das jeweilige Fach beherrschende Diskurse; Diskurse also, die für sich in Anspruch nahmen oder nehmen, die allein richtige und alles umfassende Definition des Faches zu bieten und diesen Anspruch fachintern (temporär) durchsetzen können. Aber diese Vorherrschaft wurde und wird immer wieder auch heftig kritisiert – von außen, aber auch von innen. Wo die Vorherrschaft bestimmter Diskurse nicht total (bzw. totalitär) ist, entstehen alternative Sichtweisen, die zum Teil grundsätzlich verschiedene Vorstellungen propagieren. Aber auch das herrschende Verständnis entpuppt sich bei näherem Hinsehen oft als in sich widersprüchlich, so dass es ständig zu interner Kritik, zu Weiterentwicklungen, zu unterschiedlichen Interpretationen kommt.
Selbst scheinbar geschlossene Human- und Sozialwissenschaften stehen daher fast immer unter externem und internem Druck, weil sie viel weniger geschlossen sind, als sie erscheinen, weil sie aus strukturellen Gründen defizitär bleiben und weil sie sich häufig nur über Dogmatisierungen stabilisieren können. Dass unter diesen Umständen eine Kooperation mit anderen Wissenschaften schwierig ist, liegt auf der Hand. Das nahezu kommunikationslose Nebeneinander von Fächern, die thematisch eine breite Schnittmenge haben, hängt daher zumindest zum Teil mit der internen Heterogenität der Fächer und/oder deren Unterdrückung durch die Dominanz eines Subparadigmas zusammen. Man kann davon ausgehen, dass sich keine Wissenschaft einen solchen Zustand aussucht. Es muss also systematische Gründe dafür geben. Zu diesen systematischen Gründen gehören wesentlich die Problemlagen, mit denen diese Fächer beim Versuch, ihren Gegenstand zu erfassen, konfrontiert sind, sowie die institutionellen Folgen, die daraus resultieren.
Wissenschaften versuchen objektiv begründbares Wissen (im Gegensatz zu Glaubenssätzen und Meinungen) über ihren Gegenstand zu gewinnen. Dies funktioniert – in Abhängigkeit von der Logik ihres Gegenstandes – nicht immer auf die gleiche Weise. Man kann in diesem Zusammenhang analytisch (nicht empirisch) unterscheiden zwischen nomologischen und autopoietischen Sachverhalten. Nomologische Sachverhalte sind innerhalb definierbarer Grenzen immer und überall gleich, verändern sich nicht und werden daher auch durch den Forschungsprozess nicht beeinflusst. Sie können daher beliebig behandelt und manipuliert werden,[9] ohne dass sich ihre Logik ändert. Sie können zudem analytisch zergliedert und rekombiniert werden, weil sich dadurch weder die dadurch gewonnenen Partikel noch deren Beziehungen verändern. Unter diesen Umständen kann Forschung Teilaspekte isolieren, auch mit brachialen Methoden und vor allem wiederholt behandeln – das Ergebnis ist immer gleich und kann im Lauf des Bearbeitungsprozesses immer eindeutiger herausgearbeitet und isoliert werden.
Die Ergebnisse der Forschung lassen sich in diesem Fall kontextfrei ausdrücken. Das Fallgesetz beispielsweise gilt (bzw. variiert schwerkraftabhängig) innerhalb der Newton-Physik immer und überall auf die gleiche Weise und muss deshalb keine Angaben über Ort, Zeit und beteiligte Akteure enthalten. Zur Darstellung kann daher auch eine nomothetische Form benutzt werden – eine geschlossene Kunstsprache, die eindeutig definierte Zeichen im Rahmen einer festgelegten Grammatik und Semantik verwendet. Theorien als Formulierung von Erkenntnis sind dann (beispielsweise mathematische) Algorithmen, die zu eindeutigen Ergebnissen führen und die keine Interpretationsspielräume enthalten. Mit ihrer Hilfe lassen sich auch verlässliche Vorhersagen über die Zukunft treffen. Dieser Typ von Theorie ist von vielen Wissenschaftstheoretikern zum Ideal von jeder Wissenschaft ernannt worden. Tatsächlich ist er jedoch an die Voraussetzung gebunden, dass das Thema auch wirklich nomologisch geordnet ist. Dies ist jedoch bei weitem nicht überall gegeben. Bereits in der praktischen Physik – etwa der Erforschung von Wetter und Klima – kommen unberechenbare und unvorhersehbare Faktoren ins Spiel. Dadurch entwickelt das natürliche Geschehen eine Eigendynamik, die die Möglichkeiten rein nomothetischer Darstellung sprengt. Weil und wo die Logik des Geschehens von Wechselwirkungen, Veränderungen und Entwicklungen mitbestimmt wird, müssen Theorien selektive Vorab-Annahmen treffen und mit „Näherungslösungen“ und Interpretationen von Quasi-Algorithmen arbeiten. Die Bedeutung aktiver Entscheidungen im Umgang mit Realität und Forschungsinstrumenten nimmt zu, die Prognosemöglichkeiten nehmen ab.
Dies ist noch ausgeprägter der Fall, wenn der Gegenstand, der behandelt wird, sich autopoietisch entwickelt. Mit diesem Begriff wird in der neueren Literatur ein Realitätstyp beschrieben, der aus dem Zusammenspiel von heterogenen Teilprozessen besteht, die im Fluss der Ereignisse erst hergestellt werden. Dies ist ein zentrales Merkmal aller sozialen und ökonomischen Prozesse. Es gibt so etwas wie Normen, Rollen, Literatur, aber auch Waren und Märkte nur, wenn sie erzeugt und am Leben erhalten werden. Sie existieren nur als Resultate des Zusammenspiels von heterogenen Faktoren und Teilprozessen; als Moment in einem ständig weiterlaufenden Prozess von Erhaltung und Veränderung. Dieser Erzeugungsprozess ist weder im Verlauf noch im Ergebnis eindeutig. Er ermöglicht potenziell Alternativen, sein Resultat ist unter Umständen eine Einheit von Gegensätzen. Auf jeden Fall ergeben sich ständig neue Formen und Abweichungen. Autopoietische[10] Realität ist daher immer verschieden. Jeder Einzelfall ist anders, jede Entwicklung bringt neue und ein Stück weit unvorhersehbare Weiterentwicklungen hervor.
Diese Eigenschaften ihres Gegenstands stellen Human- und Sozialwissenschaften vor besondere Probleme. Methodisch kann autopoietische Realität nicht als solche „erfasst“ werden, weil durch jeden Eingriff etwas Neues entsteht, das sonst nicht entstanden wäre. Jede Methode hat daher konstitutive und selektive Eingriffe in den autopoietischen Prozess zur Folge. Experimente sind daher nur begrenzt möglich und ihre Aussagekraft ist beschränkt. Prinzipiell sind Methoden und ihre Ergebnisse hier unsicher; genauer: Je sicherer sie sind, desto weniger relevant sind sie. Auch Theorien haben keinen festen Halt. Ihr Gegenstand ist in Bewegung, vielgestaltig, widersprüchlich, ändert sich. Theorien müssen deshalb imstande sein, die unterschiedlichen Einzelfälle, ihre gemeinsame Logik und ihre Differenzen erfassen zu können. Dazu sind fixe Algorithmen nur begrenzt nützlich.
Daher müssen Theorien hier mit offenen Konzepten arbeiten, mit Begriffen (oder mit Max Weber: „Idealtypen“), die ihren Gegenstand fokussieren, aber nicht definitiv festlegen. „Armut“, „Nachhaltigkeit“, „Ideologie“ oder „Wandel“ sind daher Begriffe, die die Möglichkeit bieten, einen Sachverhalt zu erfassen, aber der Sachverhalt bestimmt, was der Begriff dazu leisten muss. Das heißt aber auch, dass sie angewendet werden müssen, um produktiv zu werden – die Theorie enthält Erklärungsmöglichkeiten und -strategien, aber noch nicht die Erklärungen selbst. Diese Anwendung kann – kontextabhängig – unterschiedlich ausfallen, ein und dieselbe Theorie führt nicht zwangsläufig zu gleichen Ergebnissen.
Zudem gibt es Theorien meist im Plural, weil die Komplexität des Gegenstandes nicht in einem Paradigma allein abgebildet werden kann – nicht eine Theorie der Familie, nicht eine Theorie der Firma, sondern verschiedene. Diese Theorien erscheinen daher meist im Plural, als multiparadigmatisches Feld. Für ein traditionelles Theorieverständnis ist dies ein unerträglicher Zustand. Daher gibt es eine ausgeprägte Tendenz, so zu tun, als handle es sich um einen nomologischen Sachverhalt oder ihn so zu manipulieren, dass er wie einer behandelt werden kann. Das bringt einen doppelten Vorteil mit sich: Man entledigt sich der belastenden Vielfalt von Optionen und gewinnt (Schein-)Sicherheit. Aber: Ganz abgesehen davon, dass der Ertrag problematisch ist, gehen solche Einengungen stets einher mit einem Verlust an Flexibilität und Kontaktfähigkeit.
Anders gesagt: Die Reflexion autopoietischer Prozesse steht vor der Wahl chronischer Instabilität ihrer Praxis und ihrer Ergebnisse, oder sie zieht sich auf die Themenaspekte und Verfahren zurück, die Sicherheit bieten, aber dafür an Beweglichkeit und damit ein Stück weit den Kontakt zu ihrem Thema verlieren. In beiden Fällen ist Forschung belastet von Balanceproblemen, was dazu führen kann, dass sie mehr mit sich selbst als mit den tatsächlichen Erfordernissen ihres Gegenstandes beschäftigt ist. Unter diesen Vorzeichen fungieren die Fachgrenzen[11] als Mittel der Stabilisierung; das autistische Nebeneinander unterschiedlicher Fächer ist eine Form der Bewältigung von Belastungen durch Kontaktvermeidung. Daher ist es auch nicht einfach ein Zeichen von Versäumnis oder Unfähigkeit, wenn die unterschiedlichen Fächer nicht kooperieren – es handelt sich um die institutionellen Auswirkungen einer (noch) nicht bewältigten Komplexität der eigenen Praxis und der Versuche, sie durch problematische Vereinfachungen in den Griff zu bekommen.
Soweit in aller Kürze der Versuch, zu erklären, warum Sozialwissenschaften, Ökonomie, Geschichtswissenschaft usw. sich schwer tun mit Kooperation und warum Sozioökonomie als Projekt es so schwer hat, sich in und zwischen den Fächern zu etablieren. Das ist jedoch kein Schicksal. Auch Erkenntnis und deren Institutionalisierung in Form von Wissenschaften sind ein autopoietischer Prozess, also keineswegs schicksalshaft festgelegt und abgeschlossen. Und auch der Ist-Zustand des isolierten Nebeneinanders ist das Produkt einer Entwicklung, die in gewisser Weise unvermeidlich war, aber die weiter geht und neue Chancen bietet. Diese Entwicklung hängt zusammen mit dem Modus der Emanzipation institutionalisierter Reflexion von den Restriktionen gesellschaftlich vorherrschender Glaubenssysteme und des Alltagsbewusstseins. Die ersten Schritte dieser Entwicklung sind dabei weitgehend undifferenziert – Natur und Kosmos, Kultur und Gesellschaft werden mit den gleichen Mitteln bearbeitet und in einem einheitlichen System interpretiert, wobei Normativität und Interpretation nur schwach unterschieden werden. Auf dieser Basis entstand in der frühen Neuzeit eine Proto-Sozialwissenschaft in Form der bürgerlichen Sozialphilosophie, die (zum Beispiel bei Hobbes und seinen Nachfolgern) zunächst noch nicht unterschied zwischen Anthropologie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie. Erst mit der Entstehung des Industriekapitalismus und der „Modernisierung“ der Gesellschaft begannen die einzelnen Wissenschaften sich auseinander zu entwickeln. Ein Stück weit gingen dabei Sozialwissenschaften und Ökonomie noch gemeinsam: die Schottische Moralphilosophie, die Politische Ökonomie, aber auch viele der Begründer der Soziologie (von Marx bis zu Weber und Sombart) hielten an der engen Verbindung von beiden fest.
Liest man diese Texte heute, so werden Vor- und Nachteile dieser Kopplung deutlich: Auf der einen Seite bestechen sie durch ihre Reichweite und die Fähigkeit, Unterschiedliches zusammen zu denken, auf der anderen Seite tun sie dies mit noch unterentwickelten Methoden und theoretischen Modellen. Ein Grund für das Auseinanderbrechen dieser Symbiose war daher die Notwendigkeit von methodischer und theoretischer Weiterentwicklung. Die gleichzeitige Thematisierung von zusammenhängenden, aber verschiedenen Sachverhalten behinderte die Ausarbeitung von Methoden und Konzepten, die auf spezifische Sachverhalte hin spezialisiert sind. Durch die Auflösung des an sich sinnvollen Verbunds[12] entstanden die Freiheitsgrade, die Soziologie, Ökonomie, Historik, Psychologie usw. brauchten, um ihre Perspektiven zu professionalisieren. Dies ist inzwischen geschehen, aber mit dem Effekt, dass – bedingt durch die skizzierten Balanceprobleme – die Kontakte und vor allem auch die Kontaktfähigkeit zu anderen Perspektiven verloren gegangen sind. Stattdessen leben die verschiedenen Fächer nebeneinander und behandeln externe Themen lieber mit ihren (oft limitierten oder gar unpassenden) Eigenmitteln, statt sich dort Kompetenzen zu holen, wo sie vorhanden sind.
Höchste Zeit also für einen nächsten Schritt: das Aneinander-Heranführen der unterschiedlichen Perspektiven und Paradigmen auf dem inzwischen erreichten Niveau der Professionalisierung. Dem steht allerdings entgegen, dass die Organisation von Wissenschaft in Form von themenspezifischen Zünften nicht nur eine Strategie zur Bewältigung der thematischen Komplexität mit den skizzierten Folgeproblemen, sondern zugleich auch der herrschende Modus der Verteilung von Status und Ressourcen ist. Voraussetzung für einen Schritt über den Status Quo hinaus ist daher nicht nur eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Ist-Zustand von paradigmatischer Monokratie und/oder Multiparadigmatik mit dem Ziel, sie weiter zu entwickeln in Richtung auf eine stabile Strategie, die sowohl die Identität des eigenen Fachs (des eigenen Paradigmas, der eigenen Perspektive) erhält als auch die anderer respektiert und nutzen kann. Dazu gehört auch die Kunst, Aufmerksamkeit und Mittel für Projekte zu gewinnen, die nicht einfach zuzurechnen sind – und der Mut, in der Mitte der Straße zu gehen, wo man, wie ein altes Sprichwort sagt, von beiden Seiten mit Steinen beworfen werden kann, weil man in keiner der Zünfte mehr ohne weiteres als „dazugehörig“ verstanden wird.
Kurz: Sozioökonomie ist ein sinnvolles und notwendiges Projekt, das mit methodischen und theoretischen sowie mit institutionellen Risiken verbunden ist. Aber es lohnt sich und kann dazu beitragen, den gegenwärtigen Zustand zu überwinden. Das wäre für die beteiligten Wissenschaften, aber auch für die Adressaten ihrer Erkenntnisse – für alle, die besser verstehen wollen, wie Ökonomie und Gesellschaft interferieren – ein wichtiger Schritt. Dieser Schritt wird hier in unterschiedlicher Form unternommen. Im ersten Teil geht es um einige prinzipielle Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation.
Gertraude Mikl-Horke betrachtet vor dem Hintergrund der mittlerweile langen Reflexionsgeschichte über Wirtschaft (seit der Antike bzw. seit der Neuzeit) und vor jenem einer historisch über weiteste Strecken vorfindlichen Diversität der Wirtschaftsformen die Genese der marktförmigen Geldwirtschaft und der mit dieser generierten Rationalitätspostulate. Vor diesem Hintergrund wird dann die jüngste Krise (seit 2008) in ihrer Entstehung und in ihrem Verlauf rekonstruiert und analysiert. Die Autorin geht ebenso auf deren gesellschaftliche Folgen ein, den Anstieg sozialer Ungleichheit insbesondere, und sie weist[13] zugleich der Wirtschaftssoziologie eine zentrale Rolle für Kritik dieser „einheitlichen“ und vereinheitlichenden Wirtschaft, der wir ausgeliefert sind, sowie die Rolle der Aufklärung über die historische Vielfalt und alternative Möglichkeiten, Handlungs- und Strukturformen im Sinne eines breiten Wirtschaftsverständnisses zu.
Peter Berger rekonstruiert in seinem Text historische Erfahrungen mit den Krisen der kapitalistischen Ökonomie. In historischer Perspektive sind deren Merkmale die ständige Wiederkehr von Krisen und deren endemische Ausmaße. An ausgewählten Beispielen diskutiert der Text den konkreten Verlauf von Krisen, er diskutiert einige wichtige Theorien der Krisen des Kapitalismus und untersucht das Verhältnis von realer wirtschaftlicher Entwicklung und theoretischer Reflexion. Deutlich wird, dass Skepsis in Bezug auf die Vorstellung, es gäbe ein perfektes Rezept zur Krisenverhinderung, angebracht ist – und dass es riskant ist, sich unter dem aktuellen Problemdruck zu undurchdachten Strategien hinreißen zu lassen.
Reinhard Pirker verfolgt einen ideengeschichtlichen Zugang zur Marx’schen Theorie. Er stellt, ausgehend von dessen Hauptwerk Das Kapital zentrale Grundgedanken der politischen Ökonomie in ihrem historischen und theoretischen Zusammenhang vor: jene zur Warenform, zu Werttheorie, zur Arbeitskraft und zum Arbeitsmarkt sowie zu dessen zyklischer Krisentheorie. Es schließt deren politische wie wissenschaftliche Wirkungsgeschichte an, die bis zu rezenten Weiterentwicklungen des Marx’schen Denkens, insbesondere auch zur Regulationstheorie als dessen moderne Fortführung reicht.
Der zweite Teil enthält einige Texte, die sich mit der historischen Genese des gegenwärtigen Zustands von Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigen.
Otto Brunners klassischer Text über das „ganze Haus“ beschreibt und analysiert die Bedingungen und die Funktionsweise des Typs von Sozioökonomie, der typisch ist für vorindustrielle Gesellschaften mit niedrigem Produktionsniveau, gering entwickelter Tauschwirtschaft und einer traditionellen Sozialstruktur. Das „Ganze Haus“ ist die zentrale Wirtschafts- und Sozialorganisation, eine Überlebensgemeinschaft und der zentrale Orientierungspunkt aller Akteure. Seine hierarchische Struktur mit primitiven Formen der Arbeitsteilung bietet dazu ein basales Strukturierungsprinzip, welches erst durch weitreichende gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung abgelöst wird.
Daniel R. Fusfeld beschreibt diese Entwicklung. Er zeichnet nach, wie mit der Entstehung des frühen, zentralisierten Territorialstaates ein neuer Typ von haushaltsunabhängiger Ökonomie entsteht, in dem Waren für den Markt produziert und unter starker politischer Kontrolle getauscht wurden. Die Leittheorie dieser auf den Nutzen der absoluten Herrscher hin orientierten Ökonomie[14] ist der Merkantilismus, der sich intensiv mit der Kontrolle und Steuerung des internen Austauschs und des Austauschs mit dem Umfeld beschäftigt. Gegenspieler sind die „Physiokraten“, die vor allem den Kreislaufcharakter von Ökonomie und ihre sozialpolitische Funktion hervorheben.
Johanna Hofbauers Beitrag geht den Veränderungen der Verhaltensnormen im Zuge der Industrialisierung nach. Manufakturen und Fabriken erscheinen als Disziplinareinrichtungen, die sich an Erziehungsmethoden der vorindustriellen Arbeitshäuser orientierten. In der modernen Arbeitswelt sind Verhaltensnormen wie Leistungsorientierung, Engagement und Verlässlichkeit zur Selbstverständlichkeit geworden. Dadurch wird die Rücknahme externer Kontrolle in Teilen der modernen Arbeitswelt möglich. Der historische Rückblick offenbart die sozioökonomischen und kulturellen Voraussetzungen dieser ambivalenten Entwicklung, mit der sowohl wachsende Verhaltens- bzw. Entscheidungsspielräume einhergehen als auch zunehmende Belastungen bzw. die Überforderung des zur Selbstrationalisierung gezwungenen Individuums.
Im Rahmen ihrer wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Nord-Süd-Beziehungen hinterfragt Andrea Komlosy die Begriffe von „Dritter Welt“ bzw. „Vierter Welt“ sowie die in neueren Bezeichnungen enthaltenen Entwicklungsvorstellungen (bspw. Next States oder Global Swing States). Derartige räumliche und zeitliche Klassifikationen von Ländern enthalten neben der Behauptung einer Rangordnung zwischen den „Welten“ die Vorstellung, dass die Modernisierungsanstrengungen bestimmter regionaler Einheiten für sich beurteilt werden könnten. Die ungleiche Entwicklung von Handelsdreiecken verdeutlicht, dass allein die Berücksichtigung der sozioökonomischen und -kulturellen Voraussetzungen für überregionale Beziehungen ein Verständnis auch jenes Teils des Weltsystems ermöglicht, den man „Nord-Süd-Beziehungen“ nennt.
Der dritte Teil diskutiert unterschiedliche Strukturprobleme und Steuerungsfragen moderner kapitalistischer Gesellschaften.
Gerda Bohmann behandelt das historische wie gegenwärtige Spannungsfeld von kapitalistischer Wirtschaft, Marktgesellschaft und Wohlfahrtsstaat und geht der Genese eines neuen, im Übergang zum 20. Jahrhundert entstandenen Politiktypus, der staatlichen Sozialpolitik, nach. Es wird die Staats-, Rechtsund Wirtschaftsentwicklung, nicht zuletzt auch als Prozess funktionaler Differenzierung hin zum Wohlfahrtsstaat, als Vergesellschaftungsmodus des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet, bevor die Entwicklung der Sozialpolitik in Österreich von ihrer Konstituierung im späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dargestellt wird. Es wird einerseits deutlich, dass der (österreichische) Wohlfahrtsstaat sich bislang als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen hat, aber in[15] seinen Gestaltungsprinzipien keineswegs von tiefgreifenden sozioökonomischen Umstrukturierungen unberührt geblieben ist.
Otto Penz rekonstruiert den Strukturwandel der Arbeit vom „Fordismus“ zum „Postfordismus“. Der Beitrag skizziert die Entwicklung von der Hochblüte der Industriearbeit bis zu deren Krise etwa Mitte der 1970er Jahre. Er schildert den Bedeutungsverlust des für die fordistische Organisation von Lohnarbeit kennzeichnenden Normalarbeitsverhältnisses, der mit einer zunehmenden Prekarisierung von Beschäftigung einherging, sowie den Aufstieg der Dienstleistungs- und Wissensarbeit und die Veränderung in der Relation von bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Reproduktions- oder Sorgearbeit. Der Beitrag wirft eine Reihe von Steuerungsfragen auf. Besondere Beachtung erhält die Verallgemeinerung der Konkurrenz und des Wettbewerbs in der postfordistischen Arbeitswelt bzw. die Ökonomisierung des sozialen Lebens in kapitalistischen Gesellschaften.
August Österle nimmt sich in seinem Beitrag zur Pflege und Pflegebedürftigkeit eines der großen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Probleme der Gegenwart an. Das Konzept von „Care“ wird im Kontext der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung und in seinen paradigmatischen Veränderungen vorgestellt; der konkrete Pflege- und Betreuungsbedarf wird rekapituliert, und es werden die Maßnahmen und Finanzierungsmodelle im europäischen Vergleich diskutiert. Der Autor geht dann auf neue Forschungsergebnisse zum pflegerischen Einsatz von MigrantInnen in privaten Haushalten ein. Es wird deutlich, dass insbesondere die Langzeitpflege zwischen privater und sozialer Verantwortung angesiedelt ist, Pflege und Betreuung insgesamt in einem breiten und heterogenen Feld und unter höchst unterschiedlichen Arbeitsbedingungen erbracht wird.
Karl-Michael Brunner liefert in seinem Artikel einen Beitrag zur Nachhaltigkeitsforschung, indem sozialstrukturelle Dimensionen von Nachhaltigkeit in den Blick genommen werden. In Anknüpfung an die Soziologie sozialer Ungleichheit werden sozialstrukturelle Aspekte mit dem Nachhaltigkeitsthema verknüpft. Dabei werden soziale Unterschiede in der Naturinanspruchnahme ebenso diskutiert wie nachhaltige Lebensstile und die Frage einer Transformation sozialer Praktiken in Richtung Nachhaltigkeit. Auf diese Weise wird der Nachhaltigkeitsdiskurs mit sozialen Aspekten verknüpft, wobei insbesondere Gerechtigkeitsfragen in den Industriestaaten systematisch berücksichtigt werden.
Johann August Schülein untersucht die Bedingungen und Funktionsweise von Wirtschaftskriminalität. Kriminalität ist an sich kein Wirtschaftsspezifikum; sie tritt als Problem überall da auf, wo sich Chancen bieten und wo Disziplinierung und Kontrolle nicht hinreichend funktionieren. Insofern tritt auch[16] im ökonomischen System opportunistisch Kriminalität auf. Darüber hinaus gibt es jedoch spezifische Formen von Kriminalität, die quantitativ und qualitativ darüber hinaus gehen und das Wirtschaftssystem als Ganzes betreffen. Sie hängen unmittelbar mit sozialen Restriktionen und Verboten zusammen (die entsprechende wirtschaftliche Aktivitäten in den Untergrund abdrängen). Wirtschaftskriminalität ist jedoch vor allem auch ein Ausdruck von strukturellen Funktionsdefiziten der Gesellschaft.
Die Texte behandeln durchgängig Schnittmengen von Ökonomie und Gesellschaft und versuchen, ökonomische Sichtweisen mit sozialwissenschaftlichen zu verbinden. Sie sind als Einführung in Problembereiche gedacht und bieten eine Übersicht zur jeweiligen Thematik. Wir hoffen, dass sie dazu anregen, weiter darüber nachzudenken und das wichtige Projekt einer transdisziplinären Sozioökonomie voran zu bringen.
Gerda Bohmann |
Johanna Hofbauer |
Johann August Schülein |