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Kein Staub auf den Dächern

Wer in Amsterdam lebt, gerät ständig in Erklärungsnotstand: Warum gibt’s so oft orangefarbene Törtchen? Versinkt Amsterdam schneller als Venedig im Morast? Warum weiß niemand, wo Máxima ist? Warum ist hier alles so schmal? Oder was bedeutet es, wenn jemand sagt, die Menschen essen aus der Mauer? All dies ist ohnehin schon schwer zu beantworten, aber dann kommen auch noch die Freunde aus dem Ausland und wollen Aufklärung über die Geschichten, von denen sie irgendwo gehört und gelesen haben: die Fahrräder und die Drogen, die Baugruben und die Vaganten und die Taxifahrer. Wer das wirklich wissen will, setze sich auf eine Terrasse am Rembrandtsplein, halte seine Augen offen und ist schon mittendrin. Das ist die eine Seite. Und die andere?

Keine Stadt, auch keine holländische, hat schönere Stadtkanäle, Grachten genannt, als Amsterdam. Am Grimburgwal, dem Zusammenfluss dreier Grachten, gibt’s eine Postkartenidylle pur: Das Dreigrachtenhaus aus dem Jahre 1601 mit einem besonders schönen Treppengiebel, bleiverglasten Fenstern, hölzernen Fensterläden, einer Fassade aus Ziegel- und Quaderstein – eine Idylle, die an die beinahe entrückte Sinnlichkeit der »kleinen Straße« von Jan Vermeer erinnert. So etwa sah Amsterdam aus, als Nieuw-Amsterdam, das Neu-Amsterdam, 1625 am Hudson von Peter Minuit aus Wesel gegründet wurde und 1664 zu New York wurde. Amsterdam und New York, diese zwei Städte sind durch eine Nabelschnur miteinander verbunden. Allerdings blieb Amsterdam stets am Boden haften und träumt von der Schwesterstadt New York, die wie ein Schmetterling zu den Wolken strebt.

Der Name Amsterdam benötigt kein schmückendes Adjektiv. Amsterdam sagt alles. Es ist international, visuell, beschwört Inhalte und poetische Bilder. Nur wenige europäische Städte wecken derart starke Emotionen wie Amsterdam. Kann eine Stadt schön sein oder kann man sie lieben? Diese Frage bringt viele in Verlegenheit. Eine vom Wasser geprägte Stadt hat jedenfalls einen Vorsprung: Wo Wasser ist, da ist Leben, da sind die Menschen sanfter, toleranter und offener. Bewegtes Wasser schärft den Verstand, lockert das Gefühl.

An meinen ersten Besuch in Amsterdam erinnere ich mich noch gut. Als ich an der Gracht stand, glaubte ich in der schönsten aller Städte zu sein. Ohne Stadtplan habe ich mich treiben lassen und die Stadt wie ein Buch gelesen. Amsterdam ist eine offene Stadt, die vor Energie nur so vibriert, und wer hinsieht und hinhört, kehrt verändert zurück.

Für trainierte Städte-Flaneure ist Amsterdam ein unterhaltsames, amüsantes, lehrreiches und turbulentes Ziel. Die Stadt ist quietschfarbig und grobkörnig, chaotisch und egalitär, unpathetisch und unhierarchisch. Die Schönheit einer Stadt erwächst nicht aus extravaganten Einzelbauten, aus architektonischen landmarks, sondern aus dem sowohl geplanten als auch gewachsenen Miteinander von Modernem und Geschichtlichem. Amsterdam hat ein altes Zentrum, das nicht etwa durch einen Dom oder ein Fürstenschloss beherrscht wird, sondern durch Hunderte von Bürgerpalästen, aber Amsterdam ist keineswegs auf diesen glänzenden Mittelpunkt beschränkt.

Jeder, der an Amsterdam denkt, hat ein anderes Wunschbild im Kopf. Bei vielen ist es die Klischeevorstellung einer konfusen, verkifften, anarchischen, jungen und regellosen Stadt. Ein Bild, das von den Amsterdamern selbst übrigens gerne gepflegt wird.

Mega-Metropolen wie New York oder Hongkong elektrisieren, sind der Weltnabel für Trendsetter. Dublin stimmt so manchen melancholisch, Venedig und Petersburg verwirren durch ihre Anmut. München wird wegen seiner kulturellen Einrichtungen gerühmt. Und Städte wie Hamburg, Brügge und Amsterdam verdanken ihre Eleganz dem Wasser. Und so, wie wir heute ausschwärmen, um etwas bahnbrechend Neues zu erleben, war Amsterdam im so genannten »Goldenen Zeitalter«, zwischen etwa 1575 und 1670, ein beliebtes Ziel. Menschen fahren eben dorthin, wo es schön ist.

Diese Stadt, nach menschlichem Maß erbaut, ist ein Dorf und so verhalten wir uns dort auch. Dann kommt ein Bekannter, und wir trinken ein Glas Wein. Gemeinsam schauen wir den Booten nach und fangen an zu raten: Woher mögen sie wohl kommen. Welche weiten Wege haben sie zurückgelegt, welche Strapazen erduldet.

Die Touristen sehen sich neugierig um, viele haben Kameras vor ihren Augen, einige winken freundlich den Booten zu, andere gucken den Mädchen nach, die Amazonen gleich an den Grachten entlangradeln, oder schauen einfach nur fasziniert auf die Fassaden der Puppenhäuser. Wir nehmen noch einen Schluck und genießen unser Glück.

Amsterdam kennt jeder. Nur wenige Städte wirken auf Schüler und Studenten, auf Künstler und Pensionäre gleichermaßen so attraktiv. Die Stadt von Coffeeshops und Fahrrädern fegt den Staub von den Dächern, verbindet die Sehenswürdigkeiten mit modernem Marketing. Die Stadt kann lieb und hart sein, zugänglich und verschlossen, inspirierend und entmutigend. Dorf und Weltstadt zugleich. Die zeitlos geniale Pfahlsiedlung hat schöne Ecken und unschöne Kanten.

Und das Wetter? Es wird vom milden Seeklima geprägt mit herrlichen Sommern, wunderbaren Herbsttagen und wenig Schnee.

Wenn ich die Stadt genießen will, laufe ich durch den Jordaan, radele durch den Vondelpark oder gehe zu den Eilanden, den drei Inseln im Westen. Dort habe ich das Gefühl, Amsterdam und Nieuw-Amsterdam für mich allein zu haben.

Wenn ich dann über das Wasser und die uralten Bauwerke blicke, fällt mir oft gar kein Grund mehr ein, warum ich zurückgehen sollte. Die Atmosphäre ist wie an einem fernen Ort im Nebel. An den Kais, an denen Hunderte von Booten schaukeln, Künstler in Lagerhäusern, Teer- und Salzsiedereien arbeiten sowie Katzen herumstreunen, riecht es nach allem. Amsterdam – eine Stadt wie ein Sanatorium unserer Sehnsüchte.

Der beste Platz

Dorthin, wo es schön ist

Wie nähert man sich Amsterdam am besten? Es gibt viele attraktive Möglichkeiten. Etwa mit dem Flugzeug. Wenn der Flieger einen schönen Bogen fliegt, leuchten die gelben, blauen und roten Blumenteppiche hinter den Dünen. Und wenn Sie Glück haben, macht er auch noch einen Bogen über die historische Innenstadt. Was wir hier unten natürlich nicht so toll finden. Ich bevorzuge die Bahn. Da sitze ich komfortabel und sehe aus dem Fenster, vor allem dann, wenn der Zug die Stadtränder erreicht.

Das sind natürlich die Schmutzränder. Amsterdam wächst an seiner Peripherie, irgendwo müssen die 800 000 Einwohner ja leben. Auch hier wird alles größer, aber kaum etwas zu mächtig. Die neue Hafenfront ist keine futuristische Hochhauslandschaft. Die Stadt öffnet sich damit vielmehr wieder zum Wasser, von dem einst der Reichtum kam. Zur Linken erhebt sich wie der Bug eines Containerschiffes das grün glitzernde multimediale Metropolis Museum, ein spektakulärer Entwurf von Renzo Piano. Dahinter gibt’s ein wenig Seefahrerromantik: Aus dem Museumshafen ragen die hölzernen Masten der »Amsterdam« als geradezu pastorale Idylle. Es ist der Nachbau eines Vereenigde-Oost-Indische-Compagnie (VOC)-Schiffes, mit denen die Amsterdamer ihr Weltreich eroberten.

Endlich kommt auch die Centraal Station (CS), der Hauptbahnhof, in Sicht. Die Centraal Station wurde vom Architekten des Rijksmuseums auf einer künstlichen Insel im holländischen Renaissancestil erbaut. Die Schönheit des Gebäudes präsentiert sich nach langjähriger Renovierung im Glanz alter Bahnhöfe. An dieser Stelle der Stadt liegt Amsterdam vor Ihnen. Rechts Taxen und Tausende von Fahrrädern, links Baustellen. Auch diese Stadt wird nie fertig. Diesmal entsteht eine neue Metrolinie, quer durch das Zentrum und mehr als dreißig Meter tief. Wegen unvorhergesehener technischer Schwierigkeiten, etwa Einsturzgefahr historischer Bauten, wird die Noord/Zuidlijn frühestens ab 2017 fahren. Ein Zeichen dafür, dass die Stadt sich auf ihre sozialen, urbanen und kulturellen Ressourcen besinnt und europäische Modellstadt werden will.

Wenn Sie auf Schiphol gelandet sind, ist es schneller und vor allem preiswerter, wenn Sie den Zug zum Bahnhof nehmen. Sie sind ja mit leichtem Gepäck angereist, also verzichten Sie lieber auf Taxis. Diese modernen Mietdroschkenfahrer können den ersten Eindruck, den ein neuer Ort auf die Reisenden macht, entscheidend prägen. Wer gleich mit Taxen negative Erfahrungen macht, bei dem bleibt ein bitterer Geschmack zurück.

Bisher ist es keiner Behörde gelungen, Ordnung in das chaotische Taxi-System zu bringen. Vor Jahren durfte man die Chefs der Taxizentrale eine Bande von Kriminellen nennen. Sie ließen sich auch gerne in gestreifter Gefängniskluft fotografieren. Die meisten Taxler kennen die Stadt kaum, sprechen fast kein Niederländisch, haben oft nicht mal eine Prüfung abgelegt und veranstalten auf Kosten der Fahrgäste gerne Stadtrundfahrten. Als seriös gelten Fahrer von TCA 7×7. Manche Unternehmen »waschen« Geld.

In Amsterdam werden Sie schnell immun gegen jede Art von Kleinkunst. Das Zentrum ist voll davon. Sie werden empfangen von Musikanten mit Panflöte, Akkordeon und Didgeridoo, Trommeln aus Afrika. Gaukler überraschen mit ausgefallener Akrobatik, Radfahrer kurven in akrobatischen Schwüngen um Reisende herum und manchmal weht ein süßlicher Duft. Sie spüren sogleich, warum Amsterdam als die kosmopolitischste Stadt Europas mit babylonischer Sprachvielfalt gilt: Die Welt ist längst nach Amsterdam gekommen. Seit mehr als vierhundert Jahren ist es ein Ort von Zuwanderern und Glücksrittern, Touristen und Ganoven, Armutsflüchtlingen und Sinnessuchern. In vielen Menschen fließt das Blut aus vielen Ländern, und Amsterdam ist immer dabei. Da streift Sie ein Augenlächeln und Sie blicken versonnen den schlanken dunkelhäutigen Mädchen oder Jungen nach. Prompt wird sich bei Ihnen das Amsterdamer Glücksgefühl einstellen.

Karl Baedekers ›Handbuch‹ für Holland und Amsterdam belegte bereits 1927, dass diese Stadt immer ein beliebtes Städteziel war. Jedes Mal, wenn ich in diesem roten Buch lese, staune ich, wie präzise alles beschrieben wurde, um dann festzustellen, dass sich eigentlich nicht so viel verändert hat. Zwar haben sich die Reisezeiten von München oder Köln halbiert, aber die Stadt empfängt ihre Gäste immer noch mit einem hohen Geräuschpegel, sie ist nach wie vor kulturelle Hauptstadt der Niederlande, ein quirliges Sammelbecken für Menschen aller Nationen und Zungen, Prunkstück europäischer Architektur, internationaler Lebensfreude und wird in einem Atemzug mit so aufregenden Städten wie Paris, Hongkong, Kopenhagen, Venedig oder Lissabon erwähnt. Vielleicht haben Sie Glück und eine der letzten Drehorgeln begrüßt Sie auf dem Dam mit swingender Musik oder dem Ohrwurm ›Tulpen aus Amsterdam, tausend rote, tausend gelbe …‹.

Um Rat gefragte Bewohner der Stadt zeigen sich Ihnen gegenüber hilfreich, sind um keinen Fingerzeig verlegen. Sie werden bemüht sein, in der ihnen fremden Sprache zu antworten. In ihrer Hilfsbereitschaft überschlagen sie sich dann förmlich: »Also, Sie gehen geradeaus, dann die dritte Straße nach rechts, am Ende biegen Sie nach links in die Gasse ab. Nein, warten Sie. Besser ist es, wenn Sie jetzt rechts abbiegen, dann kommen Sie an einen kleinen Platz, den können Sie nicht verfehlen, denn dort ist ein Schuhgeschäft. Dort wenden Sie sich nach links, dann durch den engen Steg zur Gracht. Nein, es geht noch schneller. Sie gehen vom kleinen Platz einfach geradeaus und die erste, nein, die zweite Gasse, die biegen sie ab …« Alles begriffen? Keine Sorge, auch unsereins kommt manchmal dort an, wo er eigentlich nicht hinwollte, trifft dann womöglich unversehens auf Prinzessin Máxima, die das Königshaus vor der Bedeutungslosigkeit gerettet hat.

Für einen »flüchtigen« Besuch hatte Baedeker mindestens drei Tage vorgeschlagen. Und wie damals, muss man sich die Stadt erwandern – auch wenn Sie den Eindruck haben, alles sei hier fahrradgerecht. Amsterdam ist kein urbanes Biker-Paradies. Kreative Fotografen radeln auch nicht! Sie wissen, nur beim Flanieren lässt sich das Leben festhalten und nachempfinden, wie es war, als diese Stadt alle sieben Weltmeere beherrschte und die klassischen Viertel der Ankunft für alle Besucher – Grachtengürtel und Altstadt – entstanden.

Amsterdam ist durchgehend geöffnet. Etwa 55 000 Hotelbetten warten auf Gäste. Die nächtlichen Endstationen können einige tausend Euro kosten, wenn Sie es luxuriös mögen, zu billig dürfen die Zimmer aber auch nicht sein, ab 65 Euro bekommen Sie ein Bett und eine Dusche. Die beliebtesten und begehrtesten Adressen liegen im Grachtengürtel und im Museumsviertel. Grachtenhotels sind zwar romantisch, können aber recht eng sein. Viele Hotels vermieten am Wochenende nur ab drei Tage. Ausgefallen und angenehm sind etwa »Ambassade«, »The College«, »Hotel V«, »Conservatorium«, »Andaz«, »Dylan«, »Citizen M«, »Maison Rika« oder »Arena«. Eine günstige Alternative ist die ehemalige Jugendherberge, das moderne »Stayokay«. Da die Stadt zu keiner Zeit über Besuchermangel klagen kann, sollte man rechtzeitig reservieren. Erhoben wird auch eine »Bettensteuer« von 5,5 Prozent.

Am besten, Sie begucken sich das Angebot im Internet:

www.visitamsterdam.nl.

Schön ist es in Amsterdam zu jeder Jahreszeit, das Wetter meist sonniger und frischer als in Deutschland. Richtig voll wird es über Silvester und zu Ostern. Autofahrer verfluchen dann den Moment, als sie sich entschieden haben, mit dem Wagen zu kommen. Bereits am Karfreitagmorgen gibt es die ersten Staumeldungen in Richtung Amsterdam. Die Nachrichtensprecherin warnt: »Der Ferienverkehr sorgt für extra Staus.« Stündlich werden diese Meldungen aktualisiert und am Mittag rollen bereits vermehrt Wagen mit ausländischen Nummernschildern durch die Straßen.

Wie international die Stadt ist, sieht man an den europäischen Euromünzen, die man als Wechselgeld erhält, aber auch an den zahlreichen Ausländern, die hier leben und arbeiten sowie an den zwei Universitäten, die von ausländischen Studenten in großer Zahl besucht werden. Von den »akademischen Flüchtlingen« wie sie nicht immer freundlich umschrieben werden, stehen deutsche (»Duitse invasie universiteiten« titeln die Medien) Studenten an erster Stelle und sind im Gegensatz zu ihren holländischen Kommilitonen, die gerne daheim bleiben, regelrechte Nomaden. Von den rund 48 000 ausländischen Studenten, die im Königreich studieren, kommen rund 12 000 aus der Bundesrepublik. Ein Großteil von ihnen hat Amsterdam gewählt, und dies liegt auch am positiven Image der Stadt. Außerdem gibt es keinen hohen Numerus Clausus und sie zahlen ebenso wie niederländische Studenten 1906 Euro pro akademisches Jahr, in den Genuss von Studienfinanzierungen können sie auch kommen. Das wiederum verdanken sie den EU-Regeln. Studenten aus Nicht-EU-Ländern müssen mindestens jährlich 8000 Euro niederlegen, um eingeschrieben zu werden.

Master-Plan

Ewig strahlt das Juwel

Jan Six blickt mich so eindringlich an, als habe er gerade seinen ockergelben Mantel über die linke Schulter geworfen, als wolle er in diesem Moment aus dem Bild treten, um mit mir einen Spaziergang durch Amsterdam zu machen. Jene Stadt, die während seiner Regentschaft Weltstadt war. Jan Six bleibt, lächelt, und das seit 1654. In jenem Jahr hat ihn Rembrandt für die Ewigkeit festgehalten. Das Besondere an dem Auftragsporträt: Es ist der einzige echte Rembrandt, der noch an dem Platz hängt, für den es gemalt wurde: in der Beletage des Patrizierhauses an der Amstel. Jan Six war mehrmals Bürgermeister sowie Förderer und Freund von Rembrandt.

Jan Six der Zehnte hat ebenfalls den beneidenswerten Blick auf die Amstel – wie schon sein Ur-Vorfahr. Das ist gediegenes Amsterdamer Ambiente. Reden wir also über die Stadt, Mijnheer Six!

Der Grachtengürtel, Heren-, Keizers- und Prinsengracht, ist untrennbarer Bestandteil der Mythologie von Amsterdam. Er wurde in der sumpfigen Brache vor der Stadtmauer erbaut und umrundet wie ein steinernes Korsett die Altstadt, ein übervölkertes Labyrinth enger Gassen. Wir haben es mit etwas sehr Kostbarem zu tun, wenn wir vom Drei-Grachtengürtel sprechen, erzählt Jan Six, und doch handele es sich um eine Filmkulisse. Alles Attrappe, relativiert er die Schönheit des historischen Stadtbildes, wo kein Hochhaus den Blick verstellt. Die Stadt habe Seuchen und Herbststürme überstanden, blieb von Feuersbrünsten und allzu verheerender Kriegszerstörung verschont, aber die Moderne habe ihr schwer zugesetzt. Blicke man hinter die restaurierten Fassaden, so fände man nichts als Verwüstungen. Von der ursprünglichen Innenausstattung seien allenfalls zwei Prozent bewahrt geblieben. Wir haben es mit europäischer Geschichte zu tun, und das bringe Verpflichtungen mit sich. Das alles erzählt Jan Six. Im Gegensatz zu seiner Blickweise bin ich immer wieder angenehm überrascht, was alles erhalten geblieben ist. Aber vielleicht liegt das auch nur am idealisierten Blick.

Und Six kann sich richtig in Rage reden, wenn er mit dem Finger auf Stadtplaner, Projektentwickler und vor allem auf die Stadtväter zeigt, die weder eine Vision haben noch über Fingerspitzengefühl verfügen. Beängstigend sei, dass die Stadt den Massentourismus noch mehr fördern wolle, als ob wir nicht schon genug Besucher hätten. Damit würde die kulturelle Identität gefährdet. Ich will die Amsterdamer wachschütteln, erzählt der 1947 geborene Jan Six. Wenn er von seinem Haus aus an der Amstel entlangwandert, falle ihm immer wieder die Einmaligkeit des Grachtengürtels auf. Ein Problem sei auch, dass die Stadt langsam im Sumpf versinke. Den Untergang werden wir nicht mehr erleben, beruhigt mich Six und gibt mir den Tipp, alte Stadtansichten im Historischen Museum anzuschauen. Etwa das Idealbild, so wie es Caspar Philips Jacobsz zwischen 1768 und 1771 aufgezeichnet hat.

Sie können natürlich nicht alle Museen besuchen, aber jene, die ein umfassendes Bild zur Stadtgeschichte vermitteln, sollten Sie doch betreten: Das Historische Museum. Wechselausstellungen, die die Stadt zum Thema haben. Das restaurierte Schifffahrtsmuseum, Terrasse am Wasser, mit seiner spannend schönen Sammlung zur maritimen Geschichte und der Nachbau des Ostindienfahrers »Amsterdam«. Schön auch für Kinder, besonders weil hier im Sommer Szenen aus dem Seemannsleben nachgespielt werden.

Wie fahrlässig mit dem historischen Erbgut umgesprungen werde, sieht Six, wenn er von seiner Beletage auf den Amstelhof blickt, in dem eine Dependance der Hermitage (St. Petersburg) eingerichtet wurde. Eine falsche Wahl sei das, denn das Gebäude zähle seiner Meinung nach gemeinsam mit dem Rijksmuseum, der Centraal Station und dem Koninklijke Paleis zu den besonders markanten historischen Bauwerken. Im Amstelhof, ein Altersheim aus dem 17. Jahrhundert, hätte das Historische Museum einziehen müssen. Da geben ich und viele andere ihm Recht. Aber der Direktor der Hermitage-Zweigstelle hatte die besseren Beziehungen – bis hin zur Königin. Allein das zählt.

Die Stadt stand im 17. Jahrhundert, zu Lebzeiten von Bürgermeister Six, auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Es war die klassische europäische Stadt, die die Verheißungen von Freiheit, Wohlstand und Gezelligheid verwirklicht hatte und deren architektonische Gestalt auch ein Symbol des Gemeinwohls war. Die Amsterdamer zimmerten ihre wendigen Dreimaster in Serie, schossen sich auf Spanier und Portugiesen ein, klauten deren Seekarten, segelten nach Afrika, Asien und Südamerika, wo die Reichtümer der Welt lockten.

Im Sumpf erbaut, auf Pfählen ruhend, kroch die Amphibie Amsterdam immer weiter an Land, um bald nach Paris, London und Neapel die viertgrößte Stadt Europas zu werden. Eine Weltstadt, Knotenpunkt des Handels, Börsenplatz, Sitz großer Unternehmen und der VOC. Der erste multinationale Konzern hatte Handelsstationen in China, Ostindien, Ceylon und Afrika und unglaubliche Gewinne erzielt. Amsterdam war die Schaltzentrale der damaligen globalen Ökonomie und Machtzentrale im Sklavenhandel. Von hier aus wurde ein Weltreich zwischen West- und Ostindien, Kapstadt und Nieuw Amsterdam, dem heutigen New York, regiert und dirigiert. Die Kapitalströme beeinflussten Europa, Niederländisch war Weltsprache, die Tabak- und Zuckerhändler erbauten sich ihr Tusculum an der Amstel. Der vorherrschende Duft, der in den Straßen hing, war Tabak. Die Menschen waren »kollektiv nach Tabak und Alkohol süchtig«, hatte der Historiker Simon Schama herausgefunden.

Es gab koffiehuizen, getrennt nach Männern und Frauen, und hungern musste auch niemand. Das von allen Ständen favorisierte Gericht war hutspot, ein auch heute noch beliebter Kartoffel-Karotten-Eintopf mit Fleisch. Kurz, von allem gab es im Überfluss – dank der neu entwickelten Marktwirtschaft. Amsterdam, die damals am dichtesten bevölkerte Stadt der Republik, war aber auch die kriminellste. Der Zeedijk, der Dam und der Leidseplein waren die berüchtigtsten Arbeitsplätze der Diebe. Auch heute ist es dort nicht anders. Ich kann Ihnen versichern, es ist in der Tat ein merkwürdiges Gefühl, wenn man in der eigenen Manteltasche eine Hand berührt, die dort nichts zu suchen hat.

Die drei Wasseravenuen, die Heren-, die Keizers- und die Prinsengracht, gelten als ein architektonisches Gesamtkunstwerk. Der Halbmond war die erste planmäßige Erweiterung einer mittelalterlichen Stadt und das größte städtebauliche Projekt seiner Zeit. Der Master-Plan wurde wie ein Scheibenwischer in etwa 60 Jahren verwirklicht. Aufgefallen ist Ihnen inzwischen sicher auch, dass überall Wohnboote liegen – nur nicht an der Herengracht. Das liegt daran, dass der vornehme Charakter dieser Wasserstraße erhalten bleiben sollte.

Venezianer sahen im Grachtengürtel das klassische Schönheitsideal einer idealen Stadt verwirklicht, eine Architektur nach menschlichem Maß. Und dann das Grün. Die Grachten sind von Linden, Ulmen sowie Platanen bestanden und das alles sorgt für eine heitere Atmosphäre.

»Wir befinden uns hier im Herzen der Dinge. Finden Sie nicht, dass die konzentrischen Kanäle von Amsterdam den Kreisen der Hölle gleichen? Der bürgerlichen, von Albträumen bevölkerten Hölle natürlich«, fragt der Pariser Tourist Clamence, ein traumatisierter Egoist, in Albert Camus’ ›Der Fall‹, und fährt fort: »Aber dann verstehen Sie, warum ich sagen kann, der Mittelpunkt der Dinge sei hier, obgleich wir uns am Rande des Kontinents befinden. Aufgeschlossene Menschen begreifen diese Wunderlichkeiten.« Ein Buch ohne Handlung, das 1956 veröffentlicht wurde und dem Autor ein Jahr danach den Nobelpreis eingebracht hat.

Auf den ersten Blick erkennt der Besucher nicht, dass dem Amsterdamer Stadtbild zahlreiche Wunden zugefügt wurden. Das sieht nur ein Kenner wie Jan Six. Genau 78 Grachten wurden in den letzten 150 Jahren in Straßen umgewandelt, aber eine der größten Planungssünden wäre es gewesen, wenn der »Plan Kaasjager« Wirklichkeit geworden wäre. Der frühere Polizeipräsident wollte die Gracht Singel – rund um das historische Zentrum – in eine Schnellstraße verwandeln. Von Planlosigkeiten ohne Ende weiß auch drs. Walther Schoonenberg zu erzählen. Ich treffe den Vorsitzenden der Vereinigung ›Vrienden van de Amsterdamse Binnenstad‹ in seinem Haus an der Herengracht. Wir schauen gemeinsam auf die Gracht. Obwohl wir den Blick kennen, bestätigen wir uns gegenseitig, wie schön das doch alles ist. Auch er teilt die Auffassung von Six, dass die Stadtväter stets ein widersprüchliches Verhältnis zur Stadt hatten. »Sie erkennen einfach den Wert des Gesamtkunstwerkes nicht«, erklärt mir Schoonenberg. Da könne man es auch Touristen nicht übel nehmen, die meinen, sie befänden sich in einem Freizeitpark, und sich benehmen, als hätten sie nie soziales Verhalten gelernt.

Um den Erhalt des Kunstwerkes, das Amsterdam heißt, haben sich auch Stiftungen wie ›Hendrick de Keyser‹, ›Stadsherstel‹ sowie ›Diogenes‹ verdient gemacht. Wichtige und erfolgreiche Lobbygruppen. Schließlich ist das historische Zentrum »das Huhn, das die goldenen Eier« legt.

Wann aber ist ein Grachtenhaus ein Baudenkmal? Ein »stilechtes« Gebäude findet man kaum, und so stellt sich Restauratoren immer wieder die Frage, wie weit sie in die Baugeschichte zurückgehen können. Zumeist ist das Skelett aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, die Giebelfront im Stil Louis XIV. gehalten, der Giebel vielleicht Barock, die Sprossenfenster wieder jünger und das Portal erst einige Jahrzehnte alt. »Amsterdam besitzt die größte noch erhalten gebliebene historische Innenstadt. Auch wenn das Zentrum den Titel ›geschützte Stadt‹ trägt, müssen wir höllisch aufpassen, denn der Stadtrat hat sich Fluchtwege offen gehalten, um seine wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen«, sagt Schoonenberg.

Maklern sind die Denkmäler zum steuerlich subventionierten Markenartikel mit dem verkaufsfördernden Charme des Nostalgischen geworden. In Deutschland oder Frankreich gibt es noch so etwas wie Bildungsbürgertum, eine interessierte Mittelklasse, glaubt Jan Six, der Zehnte, hier hingegen fehle es an Qualität. Die Fehlentwicklungen hätten damit begonnen, erzählt Six, dass proletarisch geprägte Aufsteiger und Technokraten die Macht ergriffen. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entvölkerte das Zentrum. Es war die dritte Katastrophe nach dem Verlust der asiatischen Kolonien. Auf dem Zentrum basierte ein großer Teil der örtlichen Wirtschaft. Dazu kam der Verlust des städtischen Judentums, das in Kultur und Wirtschaft eine wichtige Rolle gespielt hat. Amsterdam hat dadurch an kultureller Identität verloren. Würden wieder mehr Menschen hier leben und arbeiten, die nichts mit dem Tourismus zu tun haben, wäre das Leben auch angenehmer. Ausländer und Neureiche seien in restaurierte Stadtpaläste eingezogen. Six nennt sie Verrückte. Warum? Weil es den meisten von ihnen nichts ausmache, mehrere Millionen Euro für ein Grachtenhaus hinzublättern oder sich für Unsummen ein Appartement zu kaufen, nur weil es plötzlich schick ist, am Grachtengürtel und nicht mehr auf dem Lande zu wohnen. Dabei haben sie keinerlei Verständnis für kulturelles Erbgut. Sie übermalen alte Balken, reißen historische Küchen heraus, lassen geschwungene Holztreppen abbrechen, Stuckarbeiten übertünchen. Die Strafe von einigen tausend Euro zahlen sie lächelnd. Six gibt zu, dass das Geld und der aufwändige Lebensstil der Reichen auch der Stadt zugute kommt.

Jan Six, und nicht nur er, ärgert sich auch über die Arroganz jener Amerikaner, die Jahrzehnte in Amsterdam wohnen, es aber nicht für nötig halten, die niederländische Sprache zu sprechen. Sie lesen die »International NYT« statt der Stadtzeitung »Het Parool« – warum bleiben die eigentlich hier? So die rhetorische Frage. In der Tat verfolgt das alteingesessene Amsterdamer Bürgertum die wachsende Attraktivität ihrer Stadt mit einem Gefühl wachsenden Argwohns. Auch der Bürgermeister muss einräumen, dass es eine gewisse Fremdenfeindlichkeit in der als weltoffen geltenden Stadt gibt.

Von zwei Erscheinungen, entweder einer goldenen Zukunft oder einem goldenen Zeitalter, wird das Bild der Stadt geprägt. Das »Goldene Jahrhundert« war jene Epoche, als die Stadt, in der es zuvor nach Hering, Schalbier, Torffeuer und Pferden gerochen hatte, plötzlich zu einer Metropole aufstieg, zu einem Phänomen, das seinesgleichen auf der Welt suchte. Solange die Stadt das Zentrum einer Großmacht war, war der Kaufmann König und Kapitän, der sein Schiff sicher und reich beladen in den Hafen zurückbrachte.

Für das Königshaus, das nur Geld kostete und zu nichts nützlich war, hatten sie nie Sympathien. Das drückt sich auch in der Namensgebung der Grachten aus. Zuerst kommt der prachtvollste aller Kanäle, die Herengracht. Sie wurde nach den Regenten der Stadt, den mächtigen Herren, genannt. Mit der Keizersgracht erwies man dem deutschen Kaiser Maximilian die Ehre. Er hatte der Stadt die Kaiserkrone verliehen und die schmückt die Turmspitze der Westerkerk. Die einst mächtigere Hansestadt Lübeck wurde vom Kaiser nur mit der Königskrone ausgezeichnet. Die Prinsengracht, dort wo die eenvoudige burgers bauten, erhielt ihren Namen von Statthalter Willem van Oranje, Ahnherr des Königshauses.

Dank des Grachtengürtels ist die Orientierung eigentlich einfach. Damit Sie sich nicht verlaufen, merken Sie sich einfach den Satz Piet Koopt Hoge Schoene. PKHS – die Initialen stehen für die Prinsen-, Keizers-, Herengracht und Singel. Sie stehen in Richtung Bahnhof, dem man desto näher ist, je niedriger die Hausnummern sind. Diese Eselsbrücke lernten früher die Kinder, damit sie sich nicht verirrten.

Wie sieht mein eigenes Bild aus? Herrlich ist ein Spaziergang am frühen Morgen oder gegen Abend, wenn das Licht der Maler für wechselnde Stimmungen sorgt, sich die urbane und maritime Vielfalt entfaltet. Es lebt sich gut in der Geschichte. Bei schönem Wetter sitzen Bewohner auf ihren Treppen bei einem Glas Wein oder auch zwei, lesen die Zeitung, unterhalten sich mit Freunden oder gucken einfach den Booten nach. Touristen finden das verlockend, setzen sich auch auf Treppen, um ihren Joint zu rauchen oder ihre Snacks zu verzehren. Das stört viele Anwohner. An manchen Eingängen weisen Zettel die Eindringlinge darauf hin: Do not sit here oder This stairways is for exclusive use of the inhabitants of the building. Do not sit or access here.

Der Halbmond, jene konzentrischen Kanalringe mit Quergrachten (dwars)