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Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Personen oder Institutionen wäre rein zufällig.

Erste Auflage September 2013

Lektorat: Regina Nössler

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale
unter Verwendung eines Fotos von Fotolia
(© Bred&Co – Fotolia.com)

ISBN 978-3-89656-551-8

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Für die echte Rara

1

Normalerweise gehe ich gerne ins Büro. Aber gleich nach dem Urlaub als Erstes eine Leiche auf dem Schreibtisch vorzufinden, das stellte doch eine der unangenehmeren Arten dar, die Arbeit wieder aufzunehmen. Selbst wenn es sich, streng genommen, nicht um Urlaub gehandelt hatte, sondern lediglich um das Abfeiern von Überstunden.

„Du bist bei der Kripo, Karin. Da musst du eben mit allem rechnen.“

Die Meinige hat gut reden. Auch sie ist beruflich meist mit Mord und Totschlag beschäftigt. Oder wenigstens mit Verbrechen aus Leidenschaft. Von Zeit zu Zeit kommt auch ein bisschen Inzest vor. Aber sie ist Opernsängerin, da ist so etwas eher normal. Beruflich gesehen. Einen Vorteil hat sie jedenfalls. Bei ihr ist, egal um welchen Tatbestand es geht, die Angelegenheit in der Regel nach rund drei Stunden beendet. Der Fall geklärt, die Schurken tot und das Kostüm hängt auch schon wieder auf dem Bügel oder dreht eine Runde in der theatereigenen Waschmaschine. Richtig, Wagner braucht länger. Aber bei dem lässt sich zwischendurch in die Partitur gucken oder wenigstens ins Textheft, falls sich der Handlungsfaden ein bisschen verheddert haben sollte. Dergleichen pflegt in der Oper fast so häufig einzutreten wie im richtigen Leben.

Angesichts der Leiche auf meinem Schreibtisch hätte ich gerne eine Partitur gehabt. Oder wenigstens einen Klavierauszug. Aber nichts da. Zwischen Locher und Telefon lag weder ein Notenheft noch ein echter Toter. Letzterer hätte bei den Mitarbeiterinnen der Gebäudereinigung auch für einige Empörung gesorgt. Was ich vor mir hatte, war ein ebenso schlichter wie dünner Ordner. Darin befanden sich sorgfältig abgeheftete Details zu einem ungeklärten Todesfall. Der hatte mich aus meinem Büro in der Kriminalinspektion Eisenach in das beschauliche Arnstadt gebracht. Das bescherte mir für die Dauer der Ermittlungen einen erheblich kürzeren Weg zur Arbeit: Ich bin hier aufgewachsen und wohne fast um die Ecke der Polizeistation.

Hier in Arnstadt, zwischen Erfurt und dem Thüringer Wald, gehört ein Mord nicht zur Tagesordnung. Der Aktenordner, in dem ich lustlos blätterte, schon eher. Sein Inhalt ließ sich bei bestem Willen nicht als Opernlibretto bezeichnen. Kollege Eckhert war ursprünglich für den Fall zuständig gewesen. Seine fleißig produzierten Aktenvermerke zeichnen sich durch eine gewisse Trockenheit aus. So ist er eben, unser Hauptkommissar Manfred Eckhert. Nur nach Feierabend und am Wochenende blüht er auf, wenn er sich mit dem Kleingarten rund um seine Datsche beschäftigen kann. Dieser Garten war der Grund, weshalb ich den Ordner überhaupt auf meinem Tisch hatte. Die Begegnung des Eckhert’schen Fußes mit der Bodenhacke wäre vermutlich erheblich weniger folgenreich auch für meinen Arbeitsalltag verlaufen, wenn der Kollege wegen der Sommerhitze die Gartenarbeit nicht ausgerechnet in Badeschlappen vorgenommen hätte. Nun war er krankgeschrieben und der Fall mir übertragen. Da saß ich also an diesem sonnigen, ersten Augustmorgen hinter einem Schreibtisch in der Polizeistation Arnstadt und blätterte. Montag bleibt Montag, Leiche hin oder Leiche her.

Der bisherige Ermittlungsstand? In den frühen Morgenstunden des 28. Juli hatten zwei Kollegen von der Streife bei einer Kontrollfahrt durch die Arnstädter Fußgängerzone eine Leiche entdeckt. Das Ergebnis der Obduktion bestätigte ihre erste, indiziengestützte Vermutung. Zugegeben, Kaliber .22 erzielt nicht die gleichen optisch eindrucksvollen Resultate wie beispielsweise eine .45-er Magnum, aber selbst hier in der Provinz haben wir gewisse Erfahrungen sammeln können.

Der Fall war für Arnstadt natürlich das Ereignis schlechthin. Dass hier, abgesehen von Kleinkriminalität, nicht gerade viel passiert, sah Egino von Wasten, der Leiter einer mit viel Aufwand betriebenen Konzertreihe, wohl etwas anders. Aber das gehörte zu seinem Amt. Gerade hatte er angerufen und nach dem Stand der Ermittlungen gefragt. Was sollte ich ihm sagen? Wieso hatte ich ihm überhaupt etwas zu berichten?

Gewiss, Thuringia sonat, Thüringen klingt. Aber doch nicht nach der Weitergabe von Zwischenergebnissen einer laufenden Ermittlung! Ich gebe zu, dieses Thuringia sonat, wie der wohltönende Name der Konzertreihe lautet, ist für unsere Region von großer Bedeutung. Fast so sehr wie ihr künstlerischer Leiter selbst. Für die Region. Aber für die Ermittlungen? Das musste sich erst herausstellen. Wie so vieles andere, das ich für wichtiger hielt. Selbst wenn das Herrn von Wasten nicht angenehm in den Ohren sein konnte.

Der Festivalmann hatte sich nach der Wende, als erkennbar wurde, dass die Angelegenheit überraschenderweise doch von Dauer sein würde, aus Richtung Altbundesländer in Thüringen eingefunden. Natürlich ist er mit allen Entscheidungsträgern seit einigen Wahlperioden bestens vernetzt und so wunderte ich mich, dass er sich nicht gleich an den entsprechenden Minister oder wenigstens den zuständigen Polizeidirektor gewandt hatte.

Kaum war der Telefonhörer wieder aufgelegt, stand der Leiter der Station Arnstadt in der Tür. Er kennt den Festivalmann und bewundert ihn sehr. Die Art, wie Egino von Wasten mit Menschen umgeht, die ihm weder für sich selbst noch für seine Anliegen als wichtig erscheinen? „Er ist eben eine Künstlernatur.“ Nun wohl.

„Die Akte Sansheimer haben Sie?“ Mit einer fahrigen Bewegung strich sich Manfred Schulte den quer gekämmten Scheitel glatt. „Fein, fein. Hauptkommissar Eckhert fällt ja nun eine Weile aus. Also, dann machen Sie mal, Frau Rogener. Sie kennen sich da ja aus, in dem Milieu.“

Milieu? So konnte man es auch nennen. Der Tote, Ulhart Sansheimer, war Orchestermusiker in Suhl gewesen, Bratsche, sechstes Pult. Da sein Ensemble das Abschlusskonzert beim Festival spielen sollte, war die Aufregung des Veranstalters vielleicht sogar berechtigt. Ich gebe zu, im Stillen gönnte ich ihm ein paar Probleme. Die Künstlernatur und mich verbindet eine ebenso herzliche wie gegenseitige Abneigung. Ich war als Zeugin bei einer Gerichtsverhandlung aufgetreten, als es um eine gehörige oder eher ungehörige innerörtliche Geschwindigkeitsüberschreitung gegangen war. Alte Geschichten. Aber Thüringen pflegt nun einmal seine Traditionen.

Egino von Wastens Sorgen um das Festivalfinale konnte ich immerhin verstehen. Der Orchestervorstand hatte sogar erwogen, das Konzert abzusagen. Das wusste ich aus der Zeitung. Wer wollte es ihnen verdenken? Auch wenn ein Bratscher normalerweise keine besonders herausragende Position in der Hackordnung eines Ensembles einnimmt, schon gar nicht, wenn es sich um einen aus der letzten Reihe handelt – nach dem gewaltsamen Ableben eines Mitglieds wurde nicht einfach so zur Tagesordnung übergegangen. Jedenfalls nicht in Thüringen.

Zurück zur Aktenlage. Kollege Eckhert hatte akribisch vermerkt, dass Ulhart Sansheimer laut verschiedenen Äußerungen zu seiner Person ein eher unangenehmer Zeitgenosse gewesen sein musste, der noch nicht einmal mit seinem Partner am letzten Pult ohne Reibereien ausgekommen war. Das mochte für die offiziell gemimte Pietät eine untergeordnete Rolle spielen, für mich jedoch hatte es unerfreuliche Konsequenzen. Der Bratscher war laut Aktenlage dermaßen unbeliebt gewesen, dass seine Kollegen nichts oder nur äußerst wenig über sein Privatleben wissen wollten. Wenn schon sie ihm nach Kräften aus dem Weg gegangen waren, wen konnte ich dann noch fragen, was er eine knappe Woche vor dem Konzert mitten in der Nacht auf dem Arnstädter Marktplatz gewollt hatte?

Die Theorie der Spurensicherung brachte mich nicht weiter. Sansheimer war vor dem Bachdenkmal aufgefunden worden, zwar nicht mit den sprichwörtlichen heruntergelassenen Hosen, aber immerhin mit offenem Reißverschluss. Dem Anschein nach hatte der Bratscher unserem großen Komponisten auf außermusikalische Weise gehuldigt. Zum Glück war das der Presse nicht bekannt. Die Marketingabteilung hatte auch so schon genug Probleme. Beim Festival wie beim Orchester.

Außer diesem Detail gab die Akte nicht viel her über den Toten. 59, geschieden, Exfrau wieder verheiratet. Kein Kontakt, seit sie kurz vor der Wende über Ungarn in den Westen ausgereist war. Zwei Kinder. Die Tochter, 37, arbeitete für ein Hotel in Suhl, der Sohn, 28, war Pfleger in einem Erfurter Hospiz. Trauer über den Verlust des Vaters sei beiden nicht anzumerken gewesen, stand in der Aktennotiz. Kollege Eckhert hatte die Alibis notiert und selbstverständlich bereits überprüft. Es wäre auch zu schön gewesen.

Vom Orchester kam ebenfalls niemand in Frage, war das Ergebnis seiner nächsten Recherche. Nach einem Gastspiel im Fränkischen war der Bus just zur vermuteten Tatzeit in eine Radarkontrolle geraten. Die Orchestermitglieder hatten bereits zusammengelegt, um dem Fahrer die fällige Buße zu bezahlen. Das durfte ihnen das amtlich bestätigte Alibi schon wert sein, fand ich.

„Warum ist der Sansheimer eigentlich nicht mitgefahren?“ Kollege Hansen, der mit mir an diesem Fall arbeiten sollte, war trotz der dürren Aktenlage noch nicht mit den Fakten vertraut.

„Inoffiziell war es wohl akutes Faulfieber. So etwas Ähnliches hat der Orchestervorstand jedenfalls angedeutet, steht hier. Aber immerhin hatte der Arzt einen schweren Hexenschuss festgestellt und Reiseunfähigkeit bescheinigt.“

„Aua. Hexenschuss ist übel.“ Jochen Hansen verzog das Gesicht. Mit einer Körperlänge von etwas über zwei Metern ist er anfällig für Rückenprobleme.

„Wenn er denn mal wirklich einen hatte. So, wie der hier aus den Akten rüberkommt, habe ich da meine Zweifel.“

„Na, ist auch egal. Obwohl, mit einem Hexenschuss, da fährt doch keiner eben mal so aus Jux von Suhl nach Arnstadt. Wie ist er überhaupt hergekommen?“

„Ich weiß doch auch nicht mehr, als in der Akte steht, Jochen. Mit dem eigenen Auto jedenfalls nicht.“

Kollege Eckhert und seine Gründlichkeit. Eine seiner Aktennotizen hielt die Episode von vor ein paar Monaten fest. Es war das Übliche gewesen, die Kombination von Hochprozentigem und Höchstgeschwindigkeit hatte auch bei Ulhart Sansheimer nicht funktioniert. Der Wagen war Schrott und der Führerschein erst einmal fort.

„Es gibt ja Leute, denen ein Fahrverbot nicht viel bedeutet.“

„Anscheinend hat sich der Sansheimer aber dran gehalten, Jochen.“

Das hatte der Kollege ebenfalls recherchiert. Eine der wenigen positiven Äußerungen, die er aus dem Orchesterbüro erfahren hatte. Leider war er nicht weitergekommen bei der Frage, wie Sansheimer nach Arnstadt gelangt war. Vom Warum ganz zu schweigen. Eine Fahrkarte war in seinen Taschen nicht entdeckt worden. Dafür ein alter DDR-Pass, sogar mit diversen Stempeln, die mehrfache Reisen in den Westen beurkundeten. Ein bundesrepublikanischer Ausweis? Fehlanzeige.

Kollege Eckhert hatte sich beim zuständigen Bürgeramt erkundigt, ob der Bratscher überhaupt einen gehabt hatte. Doch trotz der amtlichen Beteuerungen, dem sei so gewesen, war das gute Stück bisher nicht aufgetaucht. Der Ausweis mochte sonst wo stecken. Bei dem wenigen, das die Orchesterkollegen über Sansheimer und seine bevorzugten Aufenthaltsorte außerhalb des Konzertpodiums sagen konnten, war es mehr als fraglich, ob wir das Dokument jemals zu Gesicht bekommen würden. Eine Nichtspur weniger.

Es war dem Kollegen Eckhert immerhin nicht schwergefallen, jemanden zu finden, der Ulhart Sansheimer in Arnstadt gesehen hatte. In einer Kellerkneipe nahe beim Bachdenkmal erinnerte sich die Bedienung recht gut an ihn. Dass er dort gewesen war, konnte ich allerdings auch aus dem Obduktionsbericht schließen. Außer um den Schusskanal – Projektil etwa im Fünfundvierzig-Grad-Winkel an der Schädelbasis eingedrungen, die Waffe aufgesetzt, die Folgen für Haut, Knochen und Gehirnmasse im Rahmen der üblichen Befunde – hatte sich der Leichenbeschauer auch um alles andere Relevante gekümmert. Sein Befund erwähnte eine größere Menge von Knoblauch­baguettes in unterschiedlichen Verdauungsstadien. Die Kneipe, in der man sich an Sansheimer erinnerte, hat diese Aufbackbrötchen als besondere Spezialität auf der Karte. Der Bratscher musste etliche Stunden in dem Kellerlokal zugebracht haben, wenn wir seinem Verdauungstrakt Glauben schenken wollten. Und welcher Darm lügt schon?

Kollege Eckherts Fleiß hatte erst durch die Hacke eine Zwangspause zugeteilt bekommen, weshalb ich die Ermittlungsergebnisse aus dem Lokal ebenfalls sauber abgeheftet vorfand. Viele Seiten waren es nicht. Wie auch? Der Arnstädter an sich ist sich im Grunde selbst genug. Fremde, die am Nebentisch in der Kneipe sitzen, werden kaum beachtet. Tatsächlich erinnerte sich die Servicekraft nur deshalb noch an Sansheimer, weil der sich bei den ersten Knoblauchbaguettes über deren Verbrennungen dritten Grades mokiert hatte.

„Dabei machen wir die immer so. Und die werden sehr gerne gegessen.“

In Arnstadt ist es nicht üblich, sich in Gaststätten über das Essen zu beschweren. Ortsfremde, besonders aus dem Westen angereiste, lassen diese Möglichkeit der Tarnung allerdings gerne außer Acht und werden folgerichtig unschwer erkannt. Ob es nun an Sansheimers feiner Zunge gelegen hatte oder an deren Schärfe, für das Resultat war beides unerheblich. Die Kellnerin hatte sogar noch gewusst, wer mit am Bratschertisch gesessen hatte. Frau Schmidt.

Der Name ist nicht gerade selten, weder in Arnstadt noch überhaupt. Dass diese spezielle Frau Schmidt ausgerechnet die Kritikerin von der Lokalpresse sein musste, entzückte mich nicht gerade. Aber solche Dinge werden uns gesandt, um uns zu prüfen. Sagt meine Freundin, wenn sie ihre Kritiken liest.

2

Kollege Hansen begleitete mich zur Geschäftsstelle der Zeitung, wo wir Dorothea Schmidt antrafen. Da eine Redaktion in der Regel mehr Ohren als Schreibtische hat, gingen wir in ein nahe gelegenes Café, wo uns die wenigen Gäste ignorierten.

Die Kritikerin erinnerte sich gut an den Bratscher. Sie stammt nicht aus Arnstadt, was ihre Aufmerksamkeit in Bezug auf andere Kneipengäste erklären mochte. Allerdings war Sansheimers Verhalten auch nicht gänzlich unauffällig gewesen.

„Er hat ziemlich viel telefoniert. Mit seinem Handy. So eines von diesen ganz neuen war das, knatschgrün. Schweineteuer, aber öko. Sie wissen schon.“

Ja, ich wusste. Der neue Telefonanbieter hatte die Werbung für sein voll recyclebares Handypaket mit den Flatrate-Tarifen bis in die letzte Köhlerhütte verteilt. Das Gerät war deutlich auffälliger als die vertrackten Details im Kleingedruckten.

Wieso hatte das Ding in dem Gewölbekeller funktioniert? Vielleicht hatte Sansheimer einfach protzen wollen und nur so getan? Das vermutete auch Dorothea Schmidt.

„Der Keller ist doch ein einziges Funkloch. Vielleicht war das ja einfach nur eine Attrappe? Da gibt es doch durchaus ansprechende Fakes, mit denen man cool aussehen kann und die recht überzeugend klingeln. Das Ding hat allerdings reichlich echt gewirkt, jedenfalls auf mich. Und der Mann hat ständig auf dem Display rumgefummelt und gemacht und getan.“

Natürlich gehört es sich nicht, bei fremden Gesprächen zuzuhören. Aber rein dienstlich hoffte ich auf eine Spur. Konnte Frau Schmidt uns etwas berichten über die Telefonate?

„Ich hätte mich ja gerne woanders hingesetzt. Aber nach dem Konzert war hier Hochbetrieb.“

Den Festivalprospekt kannte ich nicht auswendig, aber wenigstens wusste ich, dass am 28. Juli eine Schülerin der Meinigen in der Bachkirche aufgetreten war. Und da ich schon die Kritikerin vor mir hatte, konnte ich ja auch fragen.

„Und, wie war es?“

„Och ja. Vielleicht besser für Rossini geeignet als für Bach, aber sonst eine sehr schöne Stimme. Hat mir gut gefallen, ja. Dem Publikum auch. Ich glaube, dieser Bratscher war auch da. Zumindest lag ein Programm neben seinem Bier.“ Dorothea Schmidt sah meinen Kollegen an. „Sie habe ich auch gesehen“, sagte sie.

Eine neue Seite an Jochen? Kaum. Die Sängerin ist seine Verlobte. Da hatte er für die Schwiegereltern in spe Fahrdienst machen dürfen.

„Haben Sie sich über das Konzert unterhalten?“

„Hätte ich. Wer mag schon stumm an einem Tisch sitzen. Aber er hantierte dauernd mit diesem blöden Handy herum.“

„Wissen Sie zufällig, mit wem er gesprochen hat?“

„Bei den ersten Telefonaten habe ich nicht darauf geachtet. Dann kam Schatzilein dran. Mäuselchen war die Nächste.“ Frau Schmidt genoss die Situation sichtlich. „Namen hat er überhaupt keine genannt. Und es hatte sich immer schnell ausgeschatzit, so viel weiß ich noch. Dann hat er gleich die nächste Nummer angerufen. Wenn das Gespräch länger als drei Sätze dauerte, wurde aus dem Mäuselchen in Nullkommajosef ein geiles kleines Luder.“

Die Kritikerin schüttelte den Kopf.

„Seine Worte. Nicht meine. Auf dem Niveau ging es dann weiter.“

Niveau? Nun ja. Immerhin konnten die Anreden als Indiz dafür gelten, dass der Bratscher mit Frauen gesprochen hatte, vorausgesetzt, Schatzilein und Mäuselchen wohnten nicht auf der bunten Seite des Regenbogens. Aber ganz gleich, wer nun am anderen Ende der Verbindung gewesen war, so etwas gehört sich nun wirklich nicht vor Publikum, das nicht dafür bezahlt hat. Nicht hier in Arnstadt. Vielleicht hatte der Bratscher seine Worte mit Absicht gewählt? Die Kritikerin ist in der Region nicht unbekannt und einige wünschen sich, einmal so richtig gehässig zu ihr sein zu können.

„Es war schon unangenehm, alles mithören zu müssen. Irgendwann habe ich auf Durchzug geschaltet und einfach nicht mehr darauf geachtet. Das lernt sich in einer Redaktion.“

„Wie lange saßen Sie denn an dem Tisch?“

„Da muss ich überlegen. Das Konzert war um neun Uhr vorbei. Dann habe ich noch ein paar Worte mit dem Organisten gewechselt. Wissen Sie, der Platz auf der Kulturseite reicht einfach nicht, das ganze Festival mit großen Berichten zu begleiten. Das wollte ich ihm aber lieber persönlich sagen, Sie verstehen? Danach habe ich mich mit ein paar Freunden getroffen, in unserer Stammkneipe am Kohlenmarkt. Da sind wir bis kurz nach zwölf geblieben. Auf dem Heimweg bin ich dann noch in den Keller. Ich hatte Hunger und um die Zeit hat nur da noch die Küche auf. Der Laden war voll. Ja, und dann war an dem kleinen Tisch ganz hinten noch ein Stuhl frei. Dieser Bratscher saß bereits da. Er hatte gerade Knoblauchbaguettes serviert bekommen.“

„Und wer ging zuerst?“

„Ich. Das war so kurz nach eins. Ich hatte die Nase voll von der Telefoniererei. Aber da ich ja an seinen Tisch gekommen war, wollte ich nichts sagen. Dafür schien es ihm auch zu sehr zu gefallen, einiges zu flüstern, das man außer in einschlägigen Filmen nicht öffentlich von sich gibt. Wenn ich mich beschwert hätte, die Genugtuung, die wollte ich ihm nicht gönnen.“

Es war schon merkwürdig, wie sie über den Toten sprach. Gut, eine hysterische Szene hatte ich nicht erwartet, aber zumindest Frauen machen in solchen Fällen normalerweise Bemerkungen in Richtung „… und wenn ich bedenke, dass er kurz darauf …“ Aber nichts dergleichen. Vielleicht sind Kritiker abgebrühter und verlangen selbst bei Mord noch nach Haltungsnoten nebst künstlerischem Gesamteindruck. Oder hatte Dorothea Schmidt etwas zu verbergen?

Kurz nach eins? Der letzte Saldo für den kleinen Tisch war um ein Uhr siebzehn erstellt worden. Auch das war in der Akte vermerkt. Wenig später hatte sich Sansheimer aufgemacht, mit unbekanntem Ziel. Weit war er nicht gekommen. Frau Schmidt würde sich noch einige Fragen gefallen lassen müssen.

Vorsichtshalber ging ich davon aus, dass die Kritikerin aus dem Polizeibericht wusste, wann der Bratscher gefunden worden war. Viertel drei. Also eine Stunde, nachdem er das Kellerlokal verlassen hatte. Wie groß war die Chance, dass Frau Schmidt nicht zumindest ahnte, dass sie eine der Letzten gewesen war, die Sansheimer lebend gesehen hatten? Auf jeden Fall blieb sie merkwürdig gelassen. So ruhig ist normalerweise kein Unschuldiger. Gerade die werden kribbelig, wenn die Polizei sie befragt. Besonders bei ungeklärten Todesfällen. Es gibt einfach zu viele Krimis, in denen Unschuldige wie die Täter aussehen und sich heillos abstrampeln müssen, bis der Mörder sich durch einen Zufall selbst enttarnt.

Aber wenn sie es gewesen war? Hätte die kaum 1,60 Meter große Frau es schaffen können, dem deutlich längeren Sansheimer die Waffe an die Schädelbasis zu drücken? War das möglich, ohne dass das Opfer auf irgendeine Weise reagierte? Der Alkoholpegel im Bratscherblut war zwar leicht erhöht gewesen, aber Sansheimer hätte sogar noch fahren dürfen. Wenn die Fahr­erlaubnis noch gültig gewesen wäre, versteht sich.

Die Autopsie hatte ergeben, dass die Leiche neben der Schussverletzung weitere Blessuren aufwies, aber diese ließen sich alle mit dem Zusammenbrechen des tödlich Getroffenen auf dem Kopfsteinpflaster des Platzes erklären. Also, Frau Schmidt. Die Anatomie sprach nicht dagegen. Mit dem Alibi war es nicht weit her. Aber wo war das Motiv? Und wo die Waffe?

„Wenn Sie sonst keine Fragen mehr haben, können wir das Ganze dann jetzt beenden? Ich muss nach Gossel und habe nur abgewartet, bis der Feierabendverkehr durch ist. Stau das ganze Jonastal entlang, da habe ich nun wirklich keine Lust drauf.“

Gossel? Ach ja, das Festival.

„Wie ist es, Frau Rogener, möchten Sie mitkommen?“

Mein Gaydar piepte, wenn auch fast unhörbar. Es konnte sich um einen reinen Automatismus handeln. Auf jeden Fall wurde mir Dorothea Schmidt allmählich unheimlich. Ahnte sie wirklich nicht, dass sie ziemlich weit oben auf der Verdächtigenliste stand? Aber was hieß da „Liste“? Die Kritikerin war die einzige an Sansheimers Tisch, an die sich die Zeugin erinnern mochte. Das schien Dorothea Schmidt allerdings nicht weiter zu belasten. Viel unruhiger wurde sie bei der Vorstellung, nicht pünktlich zum Konzert zu erscheinen.

Kollege Hansen und ich verständigten uns mit einem kurzen Blick. Die üblichen Ermittlungen zu Bürozeiten hatten außer Aktenvermerken nichts erbracht. Dann mussten wir eben unüblich tätig werden. Er würde sich in der Kellerkneipe umsehen, während ich ein Häppchen Kultur zu mir nahm. Wer wusste schon vorher, ob eine Spur auf den Holzweg führte oder nicht? Vielleicht kam nichts für den Fall Verwertbares dabei heraus, aber wenn ich wenigstens ein schönes Konzert erlebte, wollte ich mich nicht beklagen.

Dorothea Schmidt öffnete die Tür ihres Kleinwagens und räumte geschäftig Tüten vom Beifahrersitz auf die Rückbank. Auch im Fußraum raffte sie einiges zusammen. Mein Blick blieb an einem Aufkleber am Handschuhfach hängen. „Na und?“ stand darauf. Aha.

Wir kamen ins Gespräch. Dorothea Schmidt verdiente sich als freie Mitarbeiterin bei der Zeitung ein mehr oder weniger deftig belegtes Zubrot. An den Job war sie eher durch Zufall geraten. Sie stammte aus den Altbundesländern, hatte eine befristete Stelle in Arnstadt angenommen und war nach deren Auslaufen in Thüringen hängen geblieben. Etliche Werkverträge und Zwischenjobs später war sie mittlerweile noch dreieinhalb Monate von Hartz IV entfernt. Gab es denn in den Industriegebieten vor der Stadt keinen Bedarf für Texterinnen? Nicht mein Problem, beschloss ich. Dem Klischee „Kritiker gleich frustrierter Musiker oder Musikwissenschaftlerin ohne Zukunftsperspektive“ entsprach sie nicht. Warum war Dorothea Schmidt dann meist so streng in ihren Kritiken?

„Ach, ich bin ja selbst am glücklichsten, wenn es ein schönes Konzert wird. Aber ich lasse mich ungern verschaukeln. Und ich hasse es, wenn mir ein lustlos heruntergefiedeltes Programm gefallen soll, nur weil irgendein bekannter Name auf dem Plakat steht. In Arnstadt gehen so wenige Leute ins Konzert. Vielleicht dreißig sehe ich regelmäßig, noch einmal dreißig hin und wieder. Der Rest, das sind Touristen. Die paar Einheimischen, die wirklich gern gehen, denen die Musik am Herzen liegt, die haben es nicht verdient, dass man sie mit einer mittelmäßigen Leistung abspeist und behauptet, sie hätten auch noch dankbar dafür zu sein.“

Dass meine Freundin das ähnlich sieht, behielt ich lieber für mich. Jetzt war kaum der richtige Moment, sie unverbindlich ins Gespräch zu bringen.

Der Presseausweis, den Dorothea Schmidt vor der Marienkirche präsentierte, machte Eindruck.

„Hoffentlich schreiben Sie auch was Gutes. Sonst bin ich böse mit Ihnen.“ Das dauergewellte Großmütterchen an der Kasse schien es als handfeste Drohung zu meinen. Die Kritikerin lächelte gezwungen und ging zu einer Bank in der Mitte des Kirchenschiffs. Ein paar Euros leichter folgte ich ihr in gebührendem Abstand. Mich beachtete niemand, was mir nur recht sein konnte. Schließlich hatte ich einen Mord aufzuklären. War da ein Konzertbesuch wirklich angemessen? Ratlos sah ich mich um und betrachtete den schmucken Orgelprospekt. Das Instrument selbst war seit Jahren unspielbar, stand im Programm­zettel. So tot wie mein Bratscher, dachte ich. Auch wenn hier nur der Zahn der Zeit geknuspert hatte, tot blieb tot. Aber warum war Sansheimer das? Bei einem Schuss in den Nacken ließ sich an Notwehr eher nicht glauben. Totschlag vielleicht? Ach was. Die Beurteilung des Tatbestandes war ohnehin Sache des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft und nicht meine.

Zwei junge Finnen vertrieben mir das Grübeln schnell. Das Konzert dauerte gerade einmal eine gute Stunde, zwei Zugaben noch und schon drückten wir uns am Kollekteteller vorbei nach draußen.

„Blockflöte und Dudelsack“, sagte Dorothea Schmidt. „Nicht gerade mein Dream-Team. Aber wenigstens spielen die beiden recht ordentlich. Schade, dass die Orgel hinüber ist. Noch vor ein paar Jahren habe ich hier ein sehr schönes Konzert erlebt. Aber die Restaurierung würde sehr viel mehr Geld verschlingen, als im Ort aufgebracht werden kann. Kein Wunder, bei gut fünfhundert Einwohnern. Und das bisschen Geschichte, die Sagen um ein verschollenes Kloster, die nicht verbriefte Lage auf einem halb vergessenen Seitenarm des Jakobswegs, das alles reicht einfach nicht, um die Touristen zu holen.“

Außer uns beiden hatte das finnische Duo noch knapp vierzig weitere Zuhörer angelockt und wie mir die Kritikerin erzählte, war das im Vergleich zu anderen Konzerten nicht einmal schlecht.

Auf dem Rückweg zählte ich die Kreuze am Fahrbahnrand. Diskoraser sind auch im Jonastal ein nachwachsender Rohstoff. Dorothea Schmidt schwieg lange.

„Ich muss immer wieder an diesen Bratscher denken“, sagte sie endlich. „Wenn er mich mit seiner Telefoniererei nicht so genervt hätte, würde er dann noch leben?“

Diese Frau war wirklich selten naiv. Oder überaus gerissen. Ich war geneigt, sie vorläufig für nicht verdächtiger als andere Arnstädter zu halten. Schließlich hatte sie die Meinige bei deren seltenen Auftritten im Thüringischen bisher einigermaßen freundlich mit ihren Kritiken behandelt. Also wollte ich auch nicht so sein und fragte nach, wie sie das meinte.

„Hoppla. Das konnte man jetzt prächtig missverstehen, Frau Rogener. Ich denke, wenn wir ins Gespräch gekommen wären, vielleicht hätten wir dann noch etwas herumgesessen. Dann wäre eben nichts passiert.“ Sie seufzte. „Und wenn doch, dann hätte ich wenigstens eine Art Exklusivinterview.“

Ach, Frau Schmidt. Gerade hatte ich beinahe angefangen, sie zu mögen.

„So etwas Ähnliches haben Sie doch. Oder lässt sich aus der Telefoniererei nichts machen?“ Zugegeben, das war nicht fein. Manchmal kann ich mich nicht bremsen. Die Kritikerin sah irritiert aus. Aber sie schien die Frage ernst zu nehmen.

„Nein. Der Mann hatte doch Kinder. Gut, erwachsene, aber trotzdem. Wer möchte denn über seinen Vater in der Zeitung lesen, er habe den Sexprotz gemimt, kurz bevor er erschossen wurde? Sie etwa?“

Auch wenn ich Dorothea Schmidt nicht so bald in meinen Freundeskreis aufnehmen würde, ihr Mitgefühl für die Hinterbliebenen hatte zumindest den Effekt, dass es mir kaum recht sein würde, wenn sich meine Verdächtige tatsächlich als die Verantwortliche herausstellte. Vielleicht ließ sich doch etwas mit Sansheimers Telefoniererei anfangen. Wo war das Handy eigentlich abgeblieben?

Zurück in Arnstadt ging ich noch einmal ins Büro. Mein Gedächtnis hatte mich nicht getäuscht: Die Liste der Gegenstände, die bei dem Toten gefunden worden waren, war zwar lang, aber ein Handy stand nicht darauf, weder ein grünes noch sonst irgendeines.

Am nächsten Morgen hielten Kollege Hansen und ich Lagebesprechung. Sein Ausflug in die Kellerkneipe hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht, dafür immerhin eine leichte Knoblauchfahne. Natürlich wusste Jochen Bescheid auf dem aktuellen Handymarkt. Die spezielle Farbe, die Dorothea Schmidt erwähnt hatte, ließ auch ihn auf eine bestimmte Marke schließen.

„Reichlich teuer. Kann sich ein einfacher Bratscher so etwas leisten? Ach so, ja, die gibt es zum Tarif dazu. Aber trotzdem. Auch mit Flatrate …“

Bevor Jochen mich tiefer in das Tarifgefüge der Funknetzbetreiber einführen konnte, klingelte das Telefon. Der Festivalleiter. Egino von Wasten wollte den neuesten Stand der Ermittlungen erfahren. Wie war er eigentlich an die Durchwahl gekommen? Und wenn ich mich schon mit dummen Fragen aufhielt: Wer hatte ihm gesagt, dass ich für Kollege Eckhert eingesprungen war? Ich kam nicht dazu, dem Festivalmann diese Fragen zu stellen. Abrupt beendete er das Gespräch. Jochen, der über den Lautsprecher mitgehört hatte, wusste den Grund für die technischen Störungen.

„Er hat aus dem Auto angerufen. Mit dem Handy. Aber seins taugt nicht viel. Und so, wie das geraschelt hat, hat er keine Freisprecheinrichtung. Freundchen, Freundchen. Lass dich nicht erwischen, das wird teuer.“

Da sich der Kollege so gut mit der modernen Telekommunikation auskannte, warf ich ihm einen weiteren Brocken zum Durchkauen hin.

„Was ist wohl mit Sansheimers Handy passiert?“

Der Täter hatte nicht einmal den Versuch unternommen, das Ganze wie einen Raubüberfall aussehen zu lassen. Als der Bratscher entdeckt wurde, trug er eine fast echte Rolex am Handgelenk. Im Portemonnaie steckten eine EC-Karte, zwei weitere Exemplare Plastegeld sowie knapp vierhundert Euro in Scheinen nebst etwas Kleingeld. Und das nach der nicht gerade kleinen Zeche in der Kellerkneipe. Ein paar Visitenkarten fanden sich auch in den Taschen. Aber kein Telefon. Der gesamte Marktplatz war abgesucht worden, obwohl Sansheimer mit seiner Schusswunde vermutlich keinen einzigen Schritt mehr hatte machen können. Wo also war dieses vertrackte Handy? Kollege Hansen hatte einen Verdacht.

„Diese Kritikerin, die hat doch gesagt, dass er selbst angerufen hat. Vielleicht hat er ja doch nicht nur so getan, als ob. Nehmen wir an, es war keine Attrappe. Dann wird eine ganze Latte von Gesprächsverbindungen gespeichert, rein und raus. Kann sein, dass da jemand auf Nummer sicher gehen wollte. Oder einfach nicht die Zeit hatte, alles mal eben zu löschen, bevor er verduftete.“ Jochen schüttelte den Kopf. „Blödsinn. Die Verbindungen werden doch nicht nur im Gerät gespeichert. Vielleicht konnte er dieses schicke Gerät einfach nicht liegenlassen.“

Mein bewundernder Gesichtsausdruck half dabei, ihn zu überreden, bei den einzelnen Netzanbietern nach Ulhart Sansheimer zu recherchieren.

Während der Kollege telefonierte, sah ich mir die Visitenkarten genauer an. Zwei waren von Gaststätten, „Night-Club Schattoh“ und „Eden – die Bar für den anspruchsvollen Genießer“ priesen sich an. Die dritte kam von einer Konzertagentur mit Sitz in London. Eine weitere aus hochwertigem Karton hatte lediglich das passende Format, aber keinen Adressaufdruck. Auf ihr stand eine Folge von acht Ziffern, mit Kugelschreiber notiert und teilweise verwischt. Natürlich hatte die Spuren­sicherung die Sachen längst freigegeben, sonst hätte ich sie mir kaum aus der Asservatenkammer holen dürfen. Auch auf der Rückseite der Karte standen einige Ziffern. Es konnte sich um zwei Telefonnummern handeln, aber ohne Vorwahl half uns das nicht weiter. In den wenigsten deutschen Städten waren normale Telefonnummern achtstellig. Nur eine ordentliche Zahl von Nebenstellen konnte die Ziffernfolge so aufblähen. In Frage kamen Großbetriebe oder Behörden. Ich legte die Karte zurück und griff nach der letzten des kleinen Stapels. Wieder eine Visitenkarte. Thuringia sonat. Egino von Wasten. Auf dessen nächsten Anruf freute ich mich nachgerade. Aber hatte er nicht mehr ermittelnden Eifer verlangt? Also, auf zu seinem Büro.

3

Am Gebäude der Festivalverwaltung hing ein Schaukasten mit frisch geputzten Scheiben. Nur schemenhaft sah ich unser Spiegelbild näher kommen. Aber ich weiß ohnehin, dass Kollege Hansen und ich ein ungleiches Gespann sind. Neben dem baumlangen Jochen wirke ich trotz meiner 1,70 Meter klein. Schlank und kurzhaarig sind wir beide, aber ich habe dunkle Locken, während er semmelblond ist. Hin und wieder bekommen wir beide durchaus ernst gemeinte Komplimente von Männern. Die allerdings sind ihm so gleichgültig wie mir.

Die Geschäftsstelle sah aus wie die meisten solcher Büros: vollgestopft mit Prospekten, Kalendern und Landkarten an den Wänden, Schreibtisch, Computer, Kopierer, Drucker, Telefon, Faxgerät, Aktenvernichter, staubige Topfpflanzen. In der Ecke stand ein kleiner Tisch mit drei Klappstühlen, die ebenfalls als Ablagefläche für Papierstapel genutzt wurden. Außer der Sekretärin waren noch zwei Frauen anwesend. Alle drei schienen den gleichen Friseur zu haben. „Praktisch“ war das einzige positive Adjektiv, das mir zu den einfallslosen Kurzhaarschnitten in den Sinn kam. Während die Sekretärin uns erwartungsvoll ansah, zählten die beiden anderen auf der Abdeckung des Kopierers Wechselgeld.

„Guten Tag, mein Name ist Rogener. Ich hätte gerne Herrn von Wasten gesprochen.“

„In welcher Angelegenheit, bitte?“

Vermutlich bekamen selbst die Blätter der Topfpflanzen gerade spitze Ohren. Das Geräusch des Geldzählens war jedenfalls schlagartig leiser geworden. So etwas liebe ich. Wenn ich mein Anliegen hier im Vorzimmer nannte, dann wusste es vermutlich ganz Arnstadt noch vor der Mittagspause.

„Das würde ich ihm gerne selbst sagen. Bitte schauen Sie doch, ob er da ist.“