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© Querverlag GmbH, Berlin 2004

Erste Auflage März 2004

Zweite Auflage November 2004

Lektorat: Bernd Gutberlet

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Anja Müller.

ISBN 3-89656-548-8

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

www.querverlag.de

Wenn es nur eine Wahrheit gäbe,

könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.

Pablo Picasso

Prolog

„Bring mich zum Lachen“, sagt er. „Es kommt mir vor, als hätte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gelacht.“ Er liegt im Bett, eingerollt in eine Decke, nur sein Kopf schaut heraus. „Erzähl mir eine Geschichte. Bitte.“ Seine Stimme ist fordernd und seine schmutzig braunen Augen, die mich immer an abgestorbene Algen erinnern, halten mich fest. Er wirkt müde und angestrengt. Der Tag war lang und er muss mit seinen Kräften haushalten.

Ich denke daran, was passiert ist, nachdem ich die letzte Geschichte erzählt habe. Wir waren allein, aber er kann sich an nichts erinnern. Ich schon, doch ich habe nichts gesagt. Noch nicht.

Ich schaue an ihm vorbei aus dem geöffneten Fenster auf die Zweige der Bäume im Garten. Trotz der hereinbrechenden abendlichen Dämmerung ist es noch warm draußen. Ein Mückenschwarm tanzt im Licht der untergehenden Sonne. Der Sommer liegt schon in Wartestellung. Irgendwo, in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit, gibt es Menschen, die in Eiscafés sitzen und Cappuccino trinken, Hand in Hand am Ufer des Flusses spazieren gehen, mit Knoblauch und Rosmarin gewürzte Fleischstücke auf einen Grill legen und den Tag mit einem Lächeln ausklingen lassen. Wie ich sie beneide!

Für die Nacht ist ein Gewitter angekündigt worden. Ich liebe Regen. Nach einem kräftigen Regenguss sieht die Welt wie frisch gewaschen aus; Autos, Bäume, Straßen, Häuser – alles blitzt wie auf Hochglanz poliert. Regen wäscht das Ende von etwas Altem herbei oder den Anfang von etwas Neuem. Genau, was wir brauchen, er und ich: einen passenden Schluss oder einen neuen Beginn.

Hoch über uns beginnt ein Flugzeug den Landeanflug. Das Dröhnen der Motoren dringt bis zu uns herein. Unwillkürlich schwirrt mir dieses alte Lied von Reinhard Mey im Kopf herum. Zusammenhanglos und unpassend.

„Ich kann nicht“, antworte ich schließlich tonlos. „Ich habe nichts Lustiges mehr auf Lager. Es ist alles … verschwunden.“

„Doch, du kannst“, murmelt er schläfrig. Sein Blick bohrt sich in mich hinein und am liebsten würde ich aus der Wohnung rennen, die Tür hinter mir zuschlagen und nie wieder zurückkommen. Aber es nützt nichts, ich weiß das aus Erfahrung.

„Also schön“, erwidere ich seufzend. „Dann werde ich eine ganz besondere Geschichte erzählen: unsere.“ Spöttisch füge ich hinzu: „Dir zu Ehren.“

Er sieht mich skeptisch an. „Unsere Geschichte?“ Er traut mir nicht. Aber wieso sollte er auch. „Du meinst, deine Version unserer Geschichte“, stellt er klar.

„Was soll das denn heißen? Hast du es anders in Erinnerung als ich?“

„Das wird sich zeigen“, erwidert er grimmig. „Du bist der skrupelloseste Mensch, den ich kenne. Aber fang schon an.“

Und dann öffnet sich mein Mund, meine Lippen bewegen sich und ich spinne mein Netz.

„Alles beginnt an einem frühen Montagmorgen …“