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© Querverlag, Berlin 2001

Erste Auflage September 2001

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und graphische Realisierung von Sergio Vitale unter
Verwendung einer Fotografie von Tiziano Bedin

ISBN 978-3-89656-556-3

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Above and below me

World without end.

Emmylou Harris

Heimatkunde

Kapitel 1

„Scheißwetter!“ sagt Klaus und blinzelt gegen die Windschutzscheibe, als bräuchte er eine Brille. Der Scheibenwischer quietscht und bildet dünne, hellbraune Streifen auf dem Glas.

Der Regen ist nur ein leichtes Nieseln; wie ein schmutzig grauer Schleier wandert er übers Land, das nun hügeliger wird. Die Autos auf der Autobahn verschwimmen in den aufgewirbelten Nieselwolken, die Rückleuchten wirken blaß und schwach, glimmen wie Positionslichter von Schiffen kurz vor dem Versinken.

Es regnet immer, wenn er nach Oberbirk fährt, so war es vor drei Jahren, so ist es heute. Klaus weiß es, stellt sich darauf ein, reißt Witze darüber, doch eigentlich macht es ihn wütend. Als hätte sich die Schlechtwetterfront absichtlich zu seinem Empfang zusammengezogen, weil er hier nichts mehr verloren hat, weil er fortgegangen ist vor Jahren, weil er danach nur widerwillig seine Besuche absolvierte, maximal ein Wochenende blieb und dann sagte, daß er wieder wegmüsse, weil er schließlich was zu arbeiten habe und weil sein Leben ja woanders stattfinde.

Dieser Scheißdrecksregen also ist der Willkommensgruß nach über drei Jahren. Drei Jahre ist Klaus nicht in Oberbirk gewesen, nun hat seine Heimat nichts Besseres vor, als diesen Niesel zu schicken als Begrüßung.

„Scheißdrecksregen!“ sagt Klaus noch mal.

„Ist ja nun gut, Kleener“, beschwichtigt ihn Henry und streichelt ihm den Nacken zum Trost. Henry weiß, daß seinem Freund diese Fahrt schwerfällt, und schweigt, denn Klaus hat schlechte Laune. Mit jedem Tag, den diese Reise näher rückte, wurde Klaus unleidlicher. Gestern, als er die Reisetasche packte, schien seine Laune mit jedem Paar Socken, mit jedem Slip und mit jedem Hemd übler zu werden. Als ihn Henry dann fragte, was sie denn unternehmen würden in diesen drei Tagen und ob es in Oberbirk irgendein Museum gäbe, vielleicht irgendeines mit Spielzeug, schien es, als platzte Klaus vor Wut. Eine unnötige Wut, wie Henry glaubte, deshalb nahm er sie anfangs nicht sehr ernst.

„Ein Museum? Natürlich! Abgehackte, alte Puppenköpfe!“ preßte Klaus hervor.

„Mit der Laune kannst du alleine hinfahren“, hatte Henry ruhig geantwortet.

„Nein“, erwiderte Klaus klar und deutlich, fast schon etwas zu überzeugt, als würde er an einer Idee festhalten, an der er sich, gerade weil er nicht an sie glaubt, verzweifelt festkrallt.

„Nein, ich habe denen gesagt, du kommst mit, also kommst du mit. Die haben sich jetzt darauf eingestellt, daß wir zu zweit kommen.“ Leise fügte Klaus ein zerbrechliches „Sorry“ hinzu, wie eine wertvolle, dünnwandige Porzellanfigur auf einem sehr schmalen Sims.

Die. Das sind die Eltern von Klaus. Er hat sie fast drei Jahre nicht gesehen, gerade mal telefoniert hat er mit ihnen, selten, alle zwei Monate vielleicht. Ferner sind die noch der Bruder von Klaus, nebst Gattin und Sohn. Henry weiß nicht einmal ihre Namen. Die Eltern kann er mit Herr und Frau ansprechen, ja, er wird sie siezen, das gehört sich so.

„Meine Schwiegereltern also“, hatte er gegrinst.

Klaus griente nicht. Er sagte nur: „Ja. Oder so ähnlich.“

Warum diese gereizte Stimmung seit Tagen herrscht, warum er jetzt im Auto angespannt am Steuer sitzt, das hat Klaus ihm nicht erklärt. Und Henry fragt nicht. Er spürt es immer, wenn Klaus sich verschließt, wenn seine Miene den Charme eines Tresors annimmt, nicht einmal Henry hätte die Chance, jemals die Kombination herauszufinden. Henry wäre lieber nicht mitgefahren. Andererseits interessiert es ihn. Automatisch drängen sich ihm Bilder aus seiner eigenen Kindheit auf, verstaubt wirken sie, die Farben sind etwas verschwommen und vergilbt. Mutter in ihrem gestreiften Badeanzug, die ihm gerade den großen blauweißen Wasserball zuwirft, sich dann zu Vater auf die große Decke fallenläßt und lacht.

„Komm! Komm her, Henry-Junge! Wo ist denn der Henry-Boy!“

Sie küssen sich und winken ihm zu. Sein Vater war also noch dabei. Ihr Lachen wird durch den Wind zerfetzt.

Klaus legt seine Hand auf Henrys Knie und versucht etwas zu lächeln, wirft ihm einen kurzen, zärtlichen Blick zu. Eine weitere Entschuldigung. Klaus will sich zusammenreißen.

„Da kommt eine Raststätte, soll ich dich ablösen?“ fragt Henry.

Klaus überlegt einen Moment, dann nickt er, schaut kurz auf die Uhr im Armaturenbrett. Sie sind kurz vor Triptis, dort werden sie abfahren. Ja, eine Pause wäre nicht schlecht. Nachher müssen sie sich durch die Berge quälen, werden Steigungen im dritten Gang hochkriechen, enge Kurven passieren, getunten und tiefergelegten BMWs mit verwöhnten, dumpfen Jungs am Steuer ausweichen müssen, an Baustellenampeln stehen und durch enggebaute Käffer fahren.

Klaus kennt das. Die Lemminge werden wieder drängeln zwischen Triptis und Saalfeld, ständig zu dicht auffahren, daß er demonstrativ auf die Bremse treten wird, damit sie sich verpissen, diese Kevins, Marcos oder Maiks und wie sie alle heißen mögen. „Pack“ nennt Klaus sie am liebsten. Das Pack wohnt auch im Berliner Umland, wo wenigstens die Straßen gerader und breiter sind zwischen den Alleen, an deren Bäumen sich ab und an einer von dem Pack den leeren Schädel kaputt fährt.

Das Pack wohnt auch hier in Thüringen, wo es fast schon fränkisch ist. Das Pack wohnt überall, wo Provinz ist. Und Oberbirk ist Provinz. Zu groß, um ein Dorf zu sein, bei weitem zu klein, um als Stadt durchzugehen.

„Die gehören deportiert, zum Lausitzring. Da können die jedes Wochenende vor Publikum ihre blöden, kleinen Leben verschleudern. Da richten sie wenigsten keinen großen Schaden an.“ Wenn Klaus so etwas auf Partys sagt, dann zucken die anderen zusammen und weichen zurück. Niemand versteht diesen Sarkasmus, niemand will ihn verstehen. Er ist ihnen zu roh und zu scharf.

Was Henry mit so einem Klaus will, verstehen sie noch weniger. Die Partys finden natürlich bei Henrys Freunden statt. Mittlerweile haben sie sich aneinander gewöhnt, Klaus und Henrys Freunde. Wahrscheinlich auch, weil Klaus etwas weicher geworden ist neben Henry.

Nach seinem letzten Besuch in Oberbirk hatte er Henry kennengelernt. Den schönen Henry, von dem Klaus anfangs dachte, daß einer wie Henry immer gewinnt, daß er immer bekommt, was er will, immer im Mittelpunkt, nie um eine Antwort verlegen, schlagfertig und charmant, immer witzig. Klaus hat ihn gehaßt, diesen polierten Affen. Diesen gutaussehenden Gewinner, der, als Klaus ihn nach seinem Beruf fragte, nebenbei, routiniert und ganz normal, also grundsätzlich eitel, antwortete: „Ich bin in der IT-Branche.“

„Ach, IT.“ Klaus zog die Vokale mißbilligend in die Länge. „Also was ganz Modernes.“

Henry reagierte nicht auf seinen Hohn, und Klaus nahm sich zusammen. Es war irgendein Geburtstag irgendeiner Freundin. Henry fragte unbeeindruckt, was er denn arbeite, und Klaus antwortete trocken: „Ich bin Laborant.“

Klaus blinkt und nimmt die Abfahrt zur Raststätte Osterfeld. Er ist nicht erschöpft oder müde, sie sind erst zwei Stunden unterwegs, sie könnten ebensogut noch bis Triptis weiterfahren. Aber Klaus will hier eine Pause, als sei hinter der Autobahnabfahrt ein fremdes Land, als wollte er die bevorstehende und unumgängliche Grenzüberquerung hinauszögern, um sich noch eine Weile sicher und behütet zu fühlen.

Er parkt den kleinen, dunkelblauen Peugeot, sie steigen aus, strecken sich kurz, dann setzen sie sich wieder in den Wagen und lassen die Türen auf. Noch immer nieselt es. Henry zündet sich eine Zigarette an und kramt in der Tasche auf dem Rücksitz.

„Kaffee?“

„Ist noch was drin?“ fragt Klaus und nickt dabei.

„Reicht noch“, antwortet Henry, als er in die Thermoskanne schaut. Klaus hat schon während der Fahrt zwei Becher getrunken. Henry schenkt ein und reicht Klaus den Becher. Sie trinken aus einem.

„Danke“, sagt Klaus und nimmt einen kräftigen Schluck, der Kaffee ist schon lau und schmeckt nach Thermoskanne, aber immer noch besser als das Gesöff an den Raststätten.

Henry schaut Klaus an, ein bißchen verstohlen und heimlich von der Seite. Er sieht sein Profil, die hohe, zerfurchte Stirn, die fast immer gerunzelt ist und Klaus älter macht. Seinen vollen, schönen Mund, der so oft beleidigt tut, der so gut küßt wie kein anderer Mund, den Henry bisher geküßt hat. Es ist ein hungriger Mund, manchmal ein gehässiger vielleicht, aber hungrig paßt am besten. Er ist so maßlos in seiner Lust, so barsch und vernichtend in seinem Urteil.

„Ich bin Laborant“, hatte Klaus also auf dieser Party gesagt, und Henry erwiderte: „Aha?“ Scheinbar interessiert, was ihm Klaus nicht abnehmen wollte.

Laborant – das klingt für Henry nach weißgekachelten Räumen, nach Menschen in weißen Kitteln und mit lächerlichen Haarnetzen, die sich über Mikroskope beugen und rätselhafte Flüssigkeiten, die aussehen wie virulente Faßbrause, in Reagenzgläser füllen, die kritisch in Erlenmeier-Kolben blicken, in denen irgendeine dieser Limonaden ausflockt oder eine Aufschlämmung bildet. Fast wie Kaffeesatzlesen sieht das für denjenigen aus, der nicht Laborant ist, der Labore nur aus dem Fernseher kennt.

IT-Branche dagegen klingt kreativ, nach dynamischen, dekorativ ungepflegten Menschen, die an Hochleistungs-Computern sitzen, wo sie die Zukunft bearbeiten und bebildern, als Dateien speichern und auf CD-ROMs brennen, als wäre das Leben ein großes Computerspiel.

Nein, Klaus mochte diesen Henry nicht. Er wollte ihn nicht mögen, er war ihm zu modern, zu perfekt und zu interessant. Klaus fühlte sich klein neben ihm, unscheinbar, blaß, unspektakulär. Immerhin, einen Internetanschluß besaß er schon damals. Das verschwieg er jedoch an jenem Abend.

Und doch wich Henry keinen Schritt von seiner Seite, befaßte sich mit Klaus, fragte ihn aus über das Labor, die Forschung – wenn man Bluttests anonymer Patienten so nennen kann, dann dürfte sich Klaus geschmeichelt fühlen – und die nachzuweisenden Bakterien und Krankheiten. Hepatitis A, B und C, Diabetes, versteckte Entzündungen, Tumore, Rückstände im Urin und so. Henry fragte sogar, ob Klaus auch HIV nachweisen muß.

„Ja, ab und zu.“

Henry nickte, als wüßte er, wie man solche Tests anstellt, als hätte er es hundertmal selber getan, und bemerkte, daß er neulich wieder so einen Test hatte machen lassen. Negativ.

„Aha“, meinte Klaus. Er habe sich bis dahin nicht testen lassen. Er bildete sich ein, daß bei einem positiven Ergebnis die Krankheit schneller ausbrechen würde, einfach weil man darauf wartete.

Und so landeten sie im Bett in dieser Nacht. Beiden war nicht bewußt, daß es der Anfang einer Beziehung war. Sie kamen einander fremd vor, unbekannt, in verschiedenen Welten unterwegs. Es schien daher kein Risiko zu sein, miteinander zu schlafen. Auch Henry war sich der möglichen Folgen nicht bewußt, obwohl er es war, der diesen seltsamen Klaus angebaggert hatte.

Es kann sein Mund gewesen sein, denkt Henry. Oder waren es die Augen, die ihn so faszinierten? Diese blaugrünen Steine, in denen eine aufgeweckte Melancholie schimmert, als wollten sie alles sehen, als hätten sie Angst, es könnte ihnen etwas entgehen.

Ja, vielleicht die Augen, denkt Henry. Er denkt es und wundert sich, daß er es denkt.

Klaus bemerkt den Blick und dreht sich zu Henry, sieht ihn an, ernst und zugleich zärtlich. Henry beugt sich hinüber und küßt ihn. Ganz kurz nur, ganz zart, tröstend, als wüßte er, was sie erwartet.

„Na, mein Kleener“, sagt er leise, und jetzt lächelt Klaus ein wenig wie ein Patient, der auf seinen Befund wartet, und reicht ihm den halbvollen Kaffeebecher hinüber.

Ja, die Augen. Henry weiß, warum er über diese Augen nachdenkt. Seit er den Brief bekommen hat, fragt er sich, warum und wie sehr er Klaus liebt, ob er ihn überhaupt liebt und ob ihm etwas fehlen würde, wenn Klaus nicht mehr bei ihm wäre. Und warum er bei Klaus so sicher ist wie bei keinem anderen. Obwohl keiner seiner Freunde es versteht, obwohl jeder sie für ein ungleiches Paar hält.

Henry, der Meister der kleinen Spitzen, die, zwischen zwei netten Worten sorgsam plaziert, immer treffen. Er stichelt, ohne zu beleidigen, und lächelt dabei charmant.

Klaus dagegen schwingt Schwerter, vernichtet, keult Menschen beiseite, die er nicht mag, läßt sich anmerken, wenn er sie nicht leiden kann. Seine Meinung hält er zuweilen hoch wie einen Schild, seine Meinung ist ein Harnisch gegen die anderen, die meist irritiert zurückweichen, weil er ihnen seine Worte gegen den Kopf schleudert wie Steine.

Nein, es war nicht abzusehen, für niemanden, daß aus ihnen ein Paar werden könnte. Am wenigsten für die beiden. Henry war blond damals. Alleine das hätte Klaus schon für eine seiner verbalen Hinrichtungen genügt. Ein blonder Mann im orange gestreiften Pulli und in schmal geschnittenen Hosen, im Retro-Look. Trendy. Klaus trägt meist Jeans und ein kariertes Hemd. Er hat Dutzende solcher Hemden. Daß sie langweilig sein könnten, darüber hat er noch nie nachgedacht, oder er gibt es nicht zu.

Henry könnte schönere Männer als Klaus kriegen, auffälligere als diesen karierten Klaus, und das weiß er auch. Er hatte schönere. Etliche. Und doch sitzt er hier neben diesem unscheinbaren, stillen Klaus, auf einer Fahrt ins Ungewisse. Henry ist auch nicht mehr blond, denn während er sich in Klaus verliebte, hatte er keine Zeit mehr gehabt, nachfärben zu lassen. Es war auch nicht mehr wichtig. Innerhalb von drei Monaten war er wieder in einem unbestimmten Ton zwischen dunkelblond und hellbraun angelangt.

Henry weiß nicht, wie die nächsten drei Tage verlaufen werden, um so weniger, weil Klaus stiller wird. Dabei müßte Klaus derjenige sein, der ihm Mut macht, denn er, Henry, ist schließlich der Fremde, der Neue, das Großstadtkind. Er kennt die Eltern von Klaus nicht, er kennt die Kleinstadt Oberbirk nicht, mußte sie suchen im kleinen Autoatlas, fand sie ganz im Süden, wo der Thüringer Wald fast schon Frankenwald ist. „Das ist ja an der alten Grenze“, stellte er erstaunt fest.

„Ich habe immer in den Westen geguckt, jeden Tag“, sagte Klaus und nickte wichtig.

„Und?“ fragte Henry.

„Das war eben so“, sagte Klaus, als sprächen sie übers Wetter.

In den letzten Tagen war er kurz angebunden. Henry hat es aufgegeben, nach Oberbirk zu fragen. Entweder würde Klaus von ganz alleine anfangen, ihm darüber zu erzählen oder eben nicht. Dieser Besuch bei den Eltern ist wichtig für Klaus. Das weiß Henry. Nicht etwa, weil es ihm Klaus gesagt hat, aber er hat es gespürt und merkt es auch jetzt. Klaus steht unter Spannung. Die nächsten drei Tage werden nicht einfach sein. Deshalb hat Henry den Brief bislang verschwiegen.

Er wird ihn auch jetzt nicht ansprechen. Noch zwei Wochen Zeit hat er, dann wird er zum Personalgespräch nach Hamburg fahren. Man will ihn abwerben. Insgeheim hat er schon eine Entscheidung getroffen. Er will den Job.

Henry ist gut in seiner Arbeit, jetzt hat es ihm jemand bestätigt. Fast das Doppelte könnte er verdienen und endlich mit der Software arbeiten, auf die er sich auf eigene Kosten spezialisiert hat, was von den anderen und vom Chef nicht honoriert, sondern nur argwöhnisch registriert wird. Er will weg aus dieser Klitsche. Wenn er nach Hamburg ginge, bliebe jedoch Klaus allein in Berlin.

Henry drückt die Kippe aus, gibt Klaus den Kaffeebecher, ohne getrunken zu haben, zurück, beugt sich vor und prüft, ob die Kippe auch wirklich erloschen ist, dann hebelt er das kleine Plastikschälchen aus der Verankerung.

„Ich mach den mal schnell leer.“ Draußen sucht er einen Müll­eimer. Klaus beobachtet Henry, wie er hastig durch den Niesel zur Tonne rennt, die Schultern eingezogen, und den Aschenbecher dort auskippt, dabei den Kopf wegdreht und etwas angewidert die Augen zusammenkneift.

Klaus muß lächeln. Er trinkt den Kaffee aus und hat keine Gewissensbisse dabei. Henry ist kein großer Kaffeetrinker; er brüht sich lieber einen Pfefferminztee auf oder trinkt Cola. Sogar beim Frühstück, wenn Klaus sich einen großen Becher Kaffee einschenkt, nimmt Henry lieber Cola.

Inzwischen hat sich Klaus an die Cola am Morgen gewöhnt, ja er hat sogar nach der ersten Nacht mit Henry umgehend Cola gekauft. Drei große Flaschen, obwohl er noch gar nicht wußte, ob sie sich je wiedersehen würden. Obwohl am Abend zuvor Henry noch der alerte Affe, der gewandte Sunny Boy war, mit dem Klaus ums Verrecken nichts zu tun haben wollte.

Klaus kaufte drei große Flaschen Cola. Vielleicht war es Hypnose, Vorahnung oder Bestimmung. Aber am selben Abend klingelte Henry wieder bei Klaus, schlief eine weitere Nacht bei ihm, und zum Frühstück stellte Klaus ihm ein Glas Cola hin, als wäre es schon immer so gewesen.

Henry rennt zum Auto zurück, kommt an die Fahrerseite und bedeutet Klaus auszusteigen, damit er sich ans Steuer setzen kann.

Klaus schüttelt den Kopf, macht die Tür auf und sagt: „Laß mal. Ich fahr dann doch selber.“

Henry zuckt mit den Schultern, läuft ums Auto herum, steigt ein und läßt sich in den Sitz fallen, als käme er von einem Sprint zurück.

„Wenn du willst, aber ich könnte auch“, sagt er.

„Laß mal“, wiederholt Klaus, „das ist so ’ne bescheuerte Strecke, ich kenn die besser. Ich mach das schon.“

„Gut, du bist der Chef“, lächelt Henry.

„Wenigstens für die nächsten drei Tage“, sagt Klaus, sein Lächeln ist unsicher, aber wenigstens ist da wieder eins.

„Ach, mein Kleener. Das machen wir schon.“

Henry legt wieder seine Hand in den Nacken des Freundes, beugt sich hinüber und küßt ihn. Klaus nimmt den Kuß dankbar an, erwidert ihn mit diesen trotzigen Lippen, die eigentlich so weich sind und zärtlich, die alles, was sie berühren, zu verzaubern scheinen. Sie kennen Henrys Körper, sie haben ihn erforscht, gleich in dieser zweiten Nacht, als wären sie ein Sinnesorgan, das einen Panzer aus Trotz trägt und nur um sich beißt, weil es um die eigene Empfindlichkeit weiß und sich ängstigt.

Für einen Moment sehen sie sich in die Augen. Henry streichelt Klaus kurz über die Wange, dann weicht er dem Blick aus, läßt ihn los und lehnt sich zurück. Für eine Sekunde ist es still im Auto. Klaus kommt es vor, als hätte er das erst jetzt bemerkt. Sie haben kaum geredet in den letzten zwei Stunden. Nur das Brummen des Motors und ab und an ein Scheibenwischerquietschen waren zu hören. Klaus kramt im Handschuhfach nach einer Kassette, findet das ABBA-Tape und steckt es in den Spieler. Ja, ABBA braucht er. Jetzt. Henry schmunzelt.

Draußen läuft eine Frau mit blaugemustertem Kopftuch und beige-melierter Strickjacke vorbei, sieht sich suchend um, als wäre sie gerade aus einem Mähdrescher gefallen oder auf diesem Parkplatz ausgesetzt worden. Sie bleibt kurz stehen, dann hastet sie weiter zum Raststättengebäude.

Klaus schaut ihr nach. Sie ist eine Vorbotin, sie könnte eine der Oberbirker Frauen sein, deren Gesichter sich schon mit Anfang zwanzig entschieden haben, nicht mehr jung zu sein, die ein altkluges Doppelkinn haben, nach unten gezogene Mundwinkel, die sich hinter Mißtrauen verschanzen und so tun, als wüßten sie, spätestens seit ihrer Konfirmation, alles besser.

„Dann wollen wir mal“, sagt Klaus, zieht die Tür zu und läßt den Wagen an.

„Gut, dann woll’n wir mal“, echot Henry und schnallt sich an.

Sie schlängeln sich zur Autobahnauffahrt durch; es stehen nur drei Autos auf dem Parkplatz herum. Sogar die LKW scheinen bei dem Wetter daheim geblieben zu sein. Klaus schaltet, blickt in den Rückspiegel, dann über seine linke Schulter und gibt Gas. Leise beginnt Agnetha Fältskog mit The Winner Takes It All.

Henry holt sich den zerfledderten Autoatlas aus dem Türfach und sucht nach Oberbirk, fährt mit dem Finger bis zu dem Ort, von dem er nichts weiß. Ihm ist die ganze Ecke fremd. Als Kind war er einmal in Oberhof. Das Interhotel, das wie zwei Sprungschanzen aussah, war gerade neu gebaut, daran kann er sich erinnern. Mehr von Thüringen kennt Henry nicht. Er erinnert sich kaum an diesen Urlaub. Er weiß noch, daß sie oft an der Ostsee waren, in Warnemünde, auf dem Darß und auf Usedom. In Oberhof, das fällt Henry jetzt ein, ist er alleine mit seiner Mutter gewesen, es muß also nach der Scheidung gewesen sein.

Wann war das? 1975? Er war zehn oder elf. Sie sitzt am Küchentisch, unter der hektisch tickenden Küchenuhr, und starrt einfach auf das Muster der Tischdecke. Dann sieht sie Henry an, der gerade von der Schule nach Hause gekommen ist, der noch mit dem Schulranzen in der Tür steht und bemerkt, daß sie geweint haben muß. Nicht weil er es ihr ansah, aber in diesem Augenblick war es so still in der Wohnung. Und Henry hatte Angst. Das war der Tag, an dem sein Vater sie verlassen hatte. Henry hat ihn noch ein paar Male gesehen, im Tierpark, auf dem Fernsehturm. Dann nicht mehr, und es scheint, als vermißte er das nicht. Sein Vater war fort, und seine Mutter erklärte es nicht. Henry hatte ihn sich abgewöhnt. Einfach so.

Henry fährt mit dem Zeigefinger durch Thüringen, umkreist Oberbirk, schlägt eine Kurve, bewegt sich wieder nordöstlich, um eine Orientierung zu haben, sucht nach der Landesgrenze zu Bayern, versucht so den alten deutsch-deutschen Grenzverlauf nachzuziehen, tippt dann wieder kurz auf die Autobahnabfahrt Triptis und forscht nach weiteren Bundesstraßen.

„Welche Strecke nehmen wir? Da gibt es diverse Möglichkeiten.“

„Ja, ich weiß. Eigentlich wollte ich diesmal die 85 nehmen. Die kenn ich nämlich gar nicht.“

„Wie?“

„Entweder war’s Sperrgebiet oder Westen.“

„Sperrgebiet?“ wiederholt Henry verwundert.

„Na, grenznah. Da ist man nur mit Passierschein reingekommen.“

„Ach, gab’s so was?“ Henry fragt dumm und merkt, daß er dumm fragt.

„Ja, so was gab’s. In Ostberlin hatten sie wahrscheinlich keinen Platz für so was“, grinst Klaus.

„Gut“, sagt Henry schelmisch, „fahren wir nun durch den Westen oder durchs Sperrgebiet?“

Klaus überlegt kurz, dann sagt er bestimmt: „Wir fahren ganz normal, den Ostweg, über Saalfeld und Neuhaus am Rennweg. Die 85 nehmen wir dann auf der Rückfahrt.“

„Okay“, sagt Henry.

„Okay“, bestätigt Klaus, setzt aber nach einer kurzen Pause hinzu: „Auf dem Rückweg fahren wir dann durchs Sperrgebiet.“

„Ja, klar, wenn die uns lassen.“ Henry kichert ein bißchen.

„Die lassen uns schon“, sagt Klaus verschwörerisch. Diese Verhältnisse, diese Ausdrücke liegen so weit zurück.

Henry raucht wieder, sieht noch immer auf die Karte und freut sich im stillen, daß Klaus sich aufzuheitern scheint.

„Was machen wir eigentlich drei Tage lang?“

„Ha“, Klaus lacht kurz auf, „was wir machen?“

Er bedeutet Henry, ihm auch eine Zigarette anzuzünden. Henry reicht sie ihm; er zieht, stößt den Rauch aus wie ein Filmstar.

„Was wir also machen“, fährt Klaus fort. „Mutti wird uns mit Thüringer Klößen vollstopfen, mit Rostbräteln aus der Pfanne, dann hat sie bestimmt auch Bratwürste gekauft, weil du das sicher noch nicht kennst. Vati hat mindesten ein Karnickel geschlachtet, das gibt es dann zu den Klößen. Sie wird Tonnen von Kuchen gebacken haben, und am Abend wirst du ständig mit Süßigkeiten und Knabberzeug umstellt. Sie wird uns drei Tage füttern wie Kriegsheimkehrer.“

„Ops“, sagt Henry und kneift sich in den kleinen Bauchansatz. „Das kann ich gebrauchen.“

„Mutti wird rumwuseln wie angestochen und beim Mittagessen schon fragen, was wir zum Abendbrot essen möchten, und beim Abwasch schon die Kaffeemaschine startklar machen fürs Kaffeetrinken, daß wir ja nicht auf die Idee kommen, abzuhauen, und weil sie sicher Erdbeertorte gebacken hat. Auch wenn’s uns zu den Ohren rauskommt. Keine Chance.“

„Ops“, sagt Henry noch mal, „da ist wohl der Cholesterinspiegel in Oberbirk so hoch wie die Berge.“

„Das ist bloß Mittelgebirge. Oder hast du in Heimatkunde nicht aufgepaßt“, belehrt ihn Klaus.

Heimatkunde. Wieder erschreckt es Henry, wie viele der alten Wörter Klaus noch sagt. Er hat sie vergessen, beiseite gelegt, einfach nicht gebraucht, weil sie nicht mehr passen. Wie alte Kleidungsstücke, die längst aus der Mode sind. Kampfgruppe, Konsum, Partei, Kaufhalle. Auch Henry hat früher all diese Ausdrücke benutzt. Deswegen erschrickt er wahrscheinlich über diese Wörter. Sie kommen ihm bekannt und fremd zugleich vor. Wie aus einer anderen Sprache, die er lernte und längst vergessen hat, weil kaum einer sie noch spricht.

„Und was werden wir zwei machen? Falls wir uns noch bewegen können?“

„Einen Ausflug oder so. Ich zeig dir ein bißchen was.“

„Gut.“

Henry ist beruhigt, es scheint irgendein Knoten geplatzt zu sein.

„Da ist Striptis“, ruft Henry wie ein ungeduldiges Kind und deutet auf das blaue Schild, das die Abfahrt Triptis ankündigt. Klaus nickt, gibt ein zustimmendes „Mh“ von sich, blinkt und reiht sich in die rechte Spur ein, nachdem er einen LKW überholt hat. Henry ist eigentlich froh, daß er nicht am Steuer sitzt, denn Klaus ist der bessere Fahrer – auch wenn er sich manchmal Luft macht, vor sich her schimpft. Wenn hinter ihm einer drängelt, sagt er meistens „Na, du verficktes Dreckstück“ und tritt demonstrativ auf die Bremse. Kriecht ein Auto, dann drängelt er und sagt: „Schneckenarsch.“ Heute hat er noch nicht geschimpft.

Sie fahren ab, die Straße macht einen imposanten Bogen, dann zeigt der Wegweiser nach Gera und nach Saalfeld. Klaus biegt rechts in Richtung Saalfeld ab.

„Müssen wir noch mal tanken?“

„Nein“, sagt Klaus, nachdem er auf die Anzeige gesehen hat. Der Tank ist fast noch halbvoll.

Henry sieht sich die Landschaft an. Die Straße sinkt immer tiefer in die Berge, die im Dunst liegen. Sie fahren an Dörfern vorbei, aus denen Kirchtürme ragen, um die sich unscheinbare Häuser drängen.

Es ist November. Die Felder sind längst abgeerntet und gepflügt. Sie sehen irgendwie satt aus und dunkel, haben Ecken und Nischen in die Waldränder geschlagen. Er hört Klaus etwas murmeln.

„Was?“

„Die Straße ist neu.“

„Aha“

„Vor drei Jahren mußte man noch durch die ganzen Nester schleichen. Aber die haben die wohl neu gebaut, die Straße hier.“

Sie lassen „die Nester“ also rechts liegen, Henry liest fremde Namen, sieht in der Ferne wieder Häusergrüppchen, einzelne Gehöfte, verwitterte Scheunen mit offenem Dachstuhl, einen kleinen Friedhof am Waldrand.

„Ist das hier mehr katholisch?“

„Nein.“ Klaus schüttelt den Kopf.

„So? Ich dachte, Thüringen ist katholisch.“

„In der Rhön sind die Katholen oder oben im Eichsfeld. Aber hier sind das Protestanten.“

„Und du? Bist du auch ein Protestant?“ Henry grinst und sieht zu Klaus hinüber. Der grinst auch.

„Getauft bin ich, aber dann hatt ich damit nichts mehr am Hut. In der Christenlehre war ich noch. Beim Fräulein Amtor, die hatte immer so enge Pullis an, daß alle Jungs ihre Titten bestaunt haben. Die hat beim Pfarrer gewohnt. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ich denke, die Protestanten dürfen das.“

„Im Prinzip schon, aber der Pfarrer war verheiratet und hatte drei Kinder …“

„… und Fräu’n Amtor“, ergänzt Henry belustigt.

„Ja“, bestätigt Klaus, „und Fräu’n Amtor.“

„Fräu’n Amtor, das klingt ein bißchen trockenpflaumig.“

„Nö, die war schon ein heißer Feger.“

„Also gut, du bist nicht mehr protestantisch. Vielleicht hätten sie für dich einen jungen Pfarrer für die Christenstunde engagieren sollen, mit engem Pulli und enger Hose. Amen.“ Henry lacht leise in sich hinein.

„Obwohl“, Klaus hält einen Moment inne, „ich war sogar mal der erste Hirte im Krippenspiel.“

Klaus sieht kurz zu Henry hinüber. Sie strahlen sich an, Henry legt die Hand auf sein Knie.

„Das war meine Karriere als Schauspieler.“

Klaus seufzt, halb echt und halb gekünstelt. Er wirkt erleichtert. Henry hat es bemerkt.

„Glaubst du, daß es schlimm wird?“

Henry fragt, weil er es wissen will und weil er weiß, daß jetzt der Moment ist, diese Frage zu stellen.

„Nein, schlimm nicht“, sagt Klaus und läßt den Satz in der Luft hängen, bevor er ihn beendet: „Schlimm nicht, aber vielleicht ein bißchen nervig.“

„Kommt dein Bruder auch?“

„Nein. Ist mir auch egal. Besser, er kommt nicht.“

„Warum?“

„Weil es mir egal ist“, sagt Klaus. „Wir haben uns einfach nichts zu sagen. Wir schicken uns nicht mal Geburtstagskarten.“

Die Umgehungsstraße ist zu Ende. Sie fahren durch Pößneck; ein verwittertes Schild wirbt für die Landesgartenschau vom vorvergangenen Jahr. Die mit Schiefer beschlagenen Häuser sind ganz nah und verengen die Straße.

„Aber wieso? Ist doch dein Bruder.“

Klaus atmet tief durch.

„Seit er seine Tussi geheiratet hat, ist Funkstille. Er ist mit in ihr kleines Kaff gezogen, und seitdem hat sich’s. Damals hab ich noch ab und zu angerufen, weil auch das Kind da war. Schließlich bin ich ja der Onkel. Aber irgendwann hatt ich die Schnauze voll von ihrer Muffigkeit. Die ist einfach eine muffige, blöde Fotze.“

„He“, beschwichtgt ihn Henry.

„Wenn’s doch aber so ist?“

„Wie heißen die eigentlich?“

„Mein Bruder heißt Frank und seine Tussi Yvonne. Schön, nicht? Yvonne. Mit Ypsilon. Würg.“

„Na, irgendwas muß dein Bruder an ihr finden“, beschwichtigt Henry, „sonst hätte er sie doch nicht geheiratet.“ Er versucht sich die Namen einzuprägen: Frank und Yvonne also.

„Tja, irgendwas. Ich glaub, es war Torschlußpanik, weil Fränkchen dachte, mit fünfundzwanzig ist der Zug abgefahren. Und da kam das kleine Yvönnchen, da hat er sich wohl gesagt: Die Preßwurst ist zu fett zum Weglaufen. Und da hat er zugeschlagen.“

„Sei nicht so böse“, ermahnt Henry ihn halbherzig, denn er will jetzt zuhören.

„Und schwanger war sie auch gleich, hat sich’s aber wegmachen lassen. Also die wollten sich, ganz dolle. Das mit der Abtreibung weiß ich auch nur inoffiziell.“

„Wie?“

„Das habe ich gehört. Daheim ist da nicht drüber gesprochen worden. Die Höhn hat das mal gesagt.“

„Die Höhn?“

„Das ist unsere Nachbarin. Ein vertratschtes, falsches Dreckstück, das nach meiner Rechnung etwa hundertsiebzig Jahre alt sein muß. Die wirst du auch kennenlernen. Die läßt sich nichts entgehen.“

„Und du glaubst, das stimmt?“

„Warum nicht?“

„Wo wohnt dein Bruder?“

„Die wohnen in Steinach, da fahren wir nachher durch. Da wohnen die Hundsfresser“, sagt Klaus fast ein bißchen belehrend, aber in seiner Stimme trieft es vor Spott und Herablassung.

„Hä?“

„Ja, die fressen Hunde da. Hat man jedenfalls immer gesagt. Weiß nicht, ob mein Bruderherz auch schon einen netten Terrier zu seinen Klößen hatte.“

„Dackel am Spieß“, sagt Henry trocken, und jetzt lachen sie beide. Das Auto steht an einer Fußgängerampel, niemand überquert die Straße, ABBA besingen Fernando. Die Ampel springt auf grün. Klaus schaltet.

„Gut, Frank und Yvonne treffen wir also nicht“, stellt Henry fast beruhigt fest. Obwohl er schon neugierig ist, mehr als er zugeben mag.

„Nö, hoff ich jedenfalls nicht. Ich hab meiner Mutter gesagt, daß ich keinen Bock drauf hab.“

Es scheint, daß der Niesel jetzt nachläßt. Vor den herbstlich melierten Bergen hängen Nebelschwaden, verbergen die Spitzen, wirken wie erstarrt. Die Fichten sind dunkelgrün, fast nicht mehr als grün zu definieren, die Buchen und Birken haben ihr rostiges Laub fallen lassen.

„Schön hier eigentlich“, sagt Henry.

„Ja, eigentlich“, bestätigt Klaus, und es klingt traurig. Henry macht die Musik aus, sie haben eh nicht zugehört. Er könnte es Klaus jetzt sagen, die Stimmung wäre günstig, aber er tut es nicht. Er will warten, bis sie zurück in Berlin sind. Er will ihn nicht hängenlassen, nicht jetzt. Das Risiko ist zu hoch. Für diese drei Tage kann sich Henry Zeit nehmen, kann überlegen, ob diese Beziehung es wert ist, einen guten Job fahren zu lassen, oder ob das Angebot zu gut ist, um bei Klaus zu bleiben.

„Guck mal, da vorne ist ’ne Tanke. Wollen wir noch mal anhalten?“

„Schon wieder?“ fragt Henry verwundert.

„Ja, schon wieder“, bestätigt Klaus und biegt in die Einfahrt. Diesmal bleibt Henry sitzen, und Klaus tankt, obwohl er nicht tanken müßte.

Klaus füllt auf, schaut mißtrauisch auf den Zählerstand. Als er zum Laden geht, bedeutet er Henry, mitzukommen. Henry steigt aus und folgt ihm.

Im SnackShop steht ein Mädchen hinter dem Ladentisch, die Schultern eingezogen und die automatische Glastür argwöhnisch beäugend. Ein junger Mann lehnt hinten in der Ecke, wo der Ladentisch aufhört, an einem Sims, auf dem ein Bier steht. Er ist braungebrannt, trägt einen weiten Pullover mit Zopfmuster, ist wahrscheinlich muskulös, die Spitzen seiner kurzen Haare sind blondiert. Klaus würde ihn wahrscheinlich „Pack mit Stachelschweinlook“ nennen.

Aber er tut es nicht: „Hallo! Die drei bitte. Und noch einen Kaffee und eine Cola“, sagt er.

„Tach“, sagt das Mädchen mit dünner Stimme. Sie sieht blaß aus, hat sich die Haare dunkelrot gefärbt, als wollte sie noch blasser wirken mit den kleinen, verkniffenen Augen und dem spitzen Mund, den sie mit einem viel zu dunkelroten Lippenstift nachgezogen hat.

„Dreiundvierzig sechzig“, wispert das Mädchen.

Henry stellt sich neben Klaus, der bezahlt, und das Mädchen gibt das Wechselgeld heraus, ohne einen von beiden anzusehen, dann hält sie einen Becher unter einen großen Thermosbehälter, dreht den Hahn auf, schenkt ein, kommt zum Tisch, stellt den Kaffee hin und deutet auf das Kühlregal.

„Cola ist da“, sagt sie fast entschuldigend, aber lustlos. Klaus geht mit dem Plastikbecher zum Kühlregal, holt eine Dose heraus und stellt sich dann an den Bistro-Tisch neben einer Vitrine, in der müde Baguettebrötchen auf Abnehmer warten.

„Ach, bitte noch zwei leichte West“, sagt Henry, und seine Stimme klingt hell. Das Mädchen nickt, als hätte sie gerade ihre Entlassung bekommen und als hätte sie es nicht anders erwartet. Henry versucht, ihr Alter zu schätzen. Zwanzig vielleicht? Möglicherweise jünger. Sie stellt sich zu dem jungen Mann, der auch noch ein Junge ist. Sie bleiben nebeneinander stehen, er lässig einen Arm angewinkelt, sie mit dem Rücken zur Wand, die Hände hinter sich verschränkt, und schauen ausdruckslos nach draußen. Er mustert kurz Klaus und Henry, nimmt eine Zigarette aus dem Aschenbecher, zieht kurz daran und läßt dann das Mädchen einen Zug nehmen. Sie sieht weiter auf die große verglaste Front, hinter der nur der Peugeot zwischen den Zapfsäulen steht.

„Äh, Entschuldigung, dürfen wir auch eine rauchen?“ fragt Henry in die Richtung der beiden. Das Mädchen zuckt mit den Schultern, dann nickt sie, immer noch den Blick starr nach draußen gerichtet. Dann schubst sie sich gleichgültig von der Wand weg, holt einen Aschenbecher, stellt ihn auf den Tisch und geht wieder zurück in ihre alte Position.

Jetzt aber legt der Junge den Arm um sie, so daß es für einen Moment aussieht, als würde sie zusammensacken unter einer drückenden Last. Aber im nächsten Moment verlagert sie ihr Gewicht und lehnt sich gegen ihn. Sie sprechen nicht, sehen nun gemeinsam in dieselbe Richtung, als hinge dort ein Gedanke, den nur sie beide kennen.

Henry und Klaus schweigen auch. Sie beobachten das seltsam stille und ernste Pärchen, das ihre Anwesenheit ohne Neugierde hinzunehmen scheint. Henry nippt an seiner Cola und sieht die beiden an, unaufdringlich und neugierig, einfach, weil sie ihn interessieren, weil er sich das Recht nimmt, Leute anzusehen. Er scheint ein Geheimnis zu kennen, denn wenn Menschen bemerken, daß Henry sie ansieht, werden sie weder aggressiv noch verlegen, manchmal scheint es, als sonnten sie sich in seinem wachen Blick.

Klaus wirft ab und an einen scharfen Seitenblick zu den beiden. Sähe er sie direkt an, würde der Junge ihm womöglich eine Tracht Prügel anbieten. Klaus nimmt sie wahr, aber er sieht sie nicht. Sie sind wie ein Geist, der sich nur im Augenwinkel ahnen läßt, der sich, will man ihm direkt ins Gesicht schauen, verflüchtigt und nur ein seltsames, unbestimmtes Gebilde hinterläßt, wie wenn sich Luft an einer Stelle etwas verdichtet.

Kapitel 2

Es nieselt, und der Friedhof sieht aus wie die Kulisse für einen Gruselfilm. Die hochgewachsene, sehr gerade Fichte steht an der Biegung zur kleinen Kapelle wie eine schlanke, sehr würdevolle und gefaßte Witwe, als wäre sie sich bewußt, daß gleich hinter ihr die Welt nur noch aus Undurchsichtigkeit, Mysterien und Nebel gemacht ist.

Schräg hinter der Fichte steht immer noch die Buche, deren Äste bis an den Boden reichen, unter denen man durchgeht, wie durch die Reste eines Märchenwaldes. Ein übereifriger Gärtner hatte den Friedhof bestellt, die Sträucher gelichtet, halbwüchsige Lärchen mit den Wurzeln entfernt, die Wege verbreitert, Sträucher gerodet, selbst die Hecke, die den Friedhof einst umschloß, die so dicht und geheimnisvoll schien, ist nur noch ein Rest, durchscheinend wie altes, von Motten zerfressenes Gewebe. Immerhin hatte der Gärtner – ein ehemaliger Steinmetz, der sich auf den vier Stufen vor der Gartenkneipe „Zur Hütte“ das Genick brach – sich nicht an die Buche gewagt, hatte die stolze Fichte stehenlassen. Auch die beiden Kastanien am Eingang sind noch da, unter denen die Schulkinder im Herbst Kastanien sammeln und sich damit bewerfen, sich erschießen aus Spaß.