Sonja Hilzinger

Berufsprofilierung

Sonja Hilzinger

Berufsprofilierung

Ein Praxisbuch für

Akademikerinnen und Akademiker

Verlag Barbara Budrich

Opladen • Berlin • Toronto 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

© 2013 Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin & Toronto

www.budrich-verlag.de

ISBN 978-3-8474-0061-5 (Paperback)

eISBN 978-3-8474-0319-7 (eBook)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Bettina Lehfeldt, Kleinmachnow – http://www.lehfeldtgraphic.de Satz: Susanne Albrecht, Leverkusen

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de

Inhalt

Einladung zum Lesen & Arbeiten

1Berufsprofilierung: Person & Profession sinnvoll verbinden

1.1Was ist Berufsprofilierung?

1.2Mein eigener Weg: Autorin, Lektorin, Beraterin

2AkademikerInnen auf dem Arbeitsmarkt: Chancen und Risiken

2.1Arbeiten im 21. Jahrhundert

2.2Geschlechtsspezifische Voraussetzungen und Perspektiven

2.3„Karrieren“ in der Welt des globalisierten Kapitalismus

2.4Perspektiven im Wissenschaftsbetrieb

2.5Perspektive Freie Berufe

2.6Der Arbeitsmarkt der Zukunft für AkademikerInnen

2.7Wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen als Perspektive

3Wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen: Chancen und Risiken

3.1AkademikerInnen als GründerInnen

3.2FreiberuflerInnen in Kulturberufen

3.3Akademisierung, Feminisierung und Prekarisierung

3.4FreiberuflerInnen zwischen Ethos und Kommerz

4Kompetenzen, Lernprozesse und Biografiearbeit

4.1Sinn und Nutzen des Kompetenzbegriffs

4.2Lernprozesse und Biografiearbeit

5Ihre Lernbiografie schreiben und mit ihr arbeiten

5.1Ihre Wertanlage

5.2So legen Sie Ihre Lernbiografie systematisch an

5.3So machen Sie eine Erzählung aus Ihrer Lernbiografie

5.4Weiterarbeiten mit Ihrer Lernbiografie: Biografiearbeit

5.5Weiterarbeiten mit Ihrer Lernbiografie: Berufsprofilierung

5.6Den Blick von außen nutzen

5.7Mit dem Verfremdungseffekt arbeiten

6Nachhaltige Lebensentwürfe

6.1Neue Verhältnisse, alte Widersprüche

6.2Kritik des unternehmerischen Selbst I: Richard Sennett

6.3Kritik des unternehmerischen Selbst II: Ulrich Bröckling

6.4Aktiv gestaltete Biografiearbeit als Perspektive

6.5Ökonomie und soziale Bewegungen

6.5.1Frauenbewegung und Frauenprojekte

6.5.2Andere Modelle für alternatives Wirtschaften

7Das „ganze Leben“

7.1In Bewegung sein

7.2Körper & Gesundheit

7.3Freundschaften & Familie

7.4Arbeit & Leistung

7.5Materielle Sicherheit & Geld

7.6Werte & Normen

7.7Mit dem Fünf-Säulen-Modell arbeiten: Ziele setzen

7.8Ihre Vision ausgestalten

7.9Mit Ihrer Vision arbeiten

7.10Machen Sie Ihre Vision fruchtbar

7.11Leiten Sie aus Ihrer Vision Planung und Motivation ab

7.12Reflektieren und prüfen Sie immer wieder, was genau Sie tun

8Vom Markt her denken

8.1Das integrative Modell

8.2Ihre Kernkompetenzen herausarbeiten

8.3Ihre Lebensperspektive entwickeln

8.4Marktorientiert: Probleme suchen und Ihre Lösung finden

8.5Zielgruppengenau: Profilieren Ihrer Dienstleistung

8.6Tätigkeit: Ihre Tätigkeitsfelder profilieren

8.7Tätigkeit: Ihr Berufsbild konzipieren

8.8Kommunikation: Ihre Selbstorganisation als FreiberuflerIn

8.9Kommunikation: Person & Profession optimal kommunizieren

9Lösungswege aus Problemzonen

9.1Lösungsorientiert denken und handeln

9.2Geldwert und Selbstwert

9.2.1Eine eigene Geldkultur entwickeln

9.2.2Preis und Wert

9.2.3Preiskalkulation

9.2.4Variable und feste Größen in der Rechnung

9.3Arbeitsökonomie

9.3.1Warum arbeitsökonomisch denken und handeln?

9.3.2Arbeitsorganisation

9.3.3Selbstorganisation

9.4Mit Stress umgehen

9.4.1Positiver und negativer Stress

9.4.2Zwischen Über- und Unterforderung im eigenen Rhythmus bleiben

9.4.3Die innere Unabhängigkeit bewahren

10Literaturauswahl

Einladung zum Lesen & Arbeiten

Dieses Buch ist für Sie geschrieben,

Dieses Buch soll Sie ermutigen, Leben und Arbeiten selbstbestimmt zu entwickeln und zu gestalten – aber Sie sollen auch die Risiken und Nebenwirkungen kennen, um eine tragfähige Entscheidung treffen zu können. Deshalb ist dieses Buch eine Mischung aus Informationen, Erfahrungswissen und Praxisteilen.

Der eine rote Faden, der sich durch dieses Buch zieht, ist Berufsprofilierung als Methode, mit der Sie Person und Profession zu einer individuell sinnvollen Einheit für sich entwickeln. Wie Sie das im Einzelnen tun, finden Sie schwerpunktmäßig in den Kapiteln 5 (Ihre Lernbiografie schreiben und mit ihr arbeiten) und 7 (Das „ganze Leben“).

Der zweite rote Faden bietet Ihnen Hintergrundwissen auf der Basis von Theorie wie in den Kapiteln 2 und 3 (AkademikerInnen auf dem Arbeitsmarkt: Chancen und Risiken; Wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen: Chancen und Risiken) und von theoretisch und historisch fundiertem Erfahrungswissen wie in Kapitel 6 (Nachhaltige Lebensentwürfe). Dieses Hintergrundwissen ermöglicht Ihnen, eine an Ihrer persönlichen Perspektive orientierte Entscheidung für die Richtung und Ausprägung Ihrer Berufsprofilierung zu treffen – solide, weil Sie wissen, um was es geht; souverän, weil Sie sich selbst ein Bild machen können; sicher, weil Sie Chancen und Risiken für Ihre Profilierung im Bereich wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen ermessen können.

Der dritte rote Faden sind die vielen praktischen Übungen, Hinweise, Anregungen und Tipps, die Sie in den verschiedenen Phasen der Berufsprofilierung wie Kapitel 8 (Vom Markt her denken) und dann im konkreten Berufs- und Lebensalltag wie Kapitel 9 (Lösungswege aus Problemzonen) unterstützen.

Dieses Buch mit seiner speziellen Mischung von Wissen, Erfahrung und Praxis will Sie begleiten, unterstützen, Ihnen Ideen und Anregungen, Fragen und Lösungsvorschläge bieten auf dem Weg des Profilierens, dessen Ziel die Einheit von Person & Profession ist. Was diese Verbindung so bereichernd und faszinierend macht, erfahren Sie im ersten Kapitel.

Berufsprofilierung und Biografiearbeit gehen dabei Hand in Hand. Für beides nutzen Sie Ihre Lernbiografie (5. Kapitel) – sie zeigt Ihnen, wo Sie heute stehen – und die Arbeit mit Ihrer Vision (7. Kapitel) – sie zeigt Ihnen, wie Sie in fünf oder in zehn Jahren leben und arbeiten wollen.

Welche Chancen und Risiken der Arbeitsmarkt heute und in nächster Zukunft für AkademikerInnen bereithält und welche Rolle darin wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen spielen können, erfahren Sie im 2. und 3. Kapitel. Daten, Zahlen, Fakten sind dabei aus geschlechterdifferenter Perspektive dargestellt und ausgewertet.

Dass und wie Selbstbestimmung und Nachhaltigkeit auch in Zeiten des globalisierten Kapitalismus möglich sind und was ein kritischer Blick auf gängige Begriffe wie Kompetenz oder unternehmerisches Selbst zutage treten lässt, zeigen Ihnen die Kapitel 4 und 6.

Erwerbsarbeit ist bei weitem nicht das ganze Leben, aber sie ist ein wichtiger Teil davon. Ein integriertes Modell des „ganzen Lebens“ lernen Sie im 7. Kapitel kennen. Damit der Perspektivenwechsel von „was kann ich?“ zu „welche Lösungen biete ich an?“ gelingt, trainieren Sie im 8. Kapitel, vom Markt her zu denken.

Ob Sie als FreiberuflerIn oder als AngestellteR an einer Universität, in einem Unternehmen, in der Forschung oder bei einer Behörde arbeiten – Lösungswege aus Problemzonen, wie sie das 9. Kapitel an den zentralen Beispielen Geldwert/Selbstwert, Arbeitsökonomie und Umgang mit Stress aufzeigt – werden Sie immer wieder brauchen. Sie werden hier aus lösungsorientierter Perspektive entwickelt.

Dieses Buch bietet Ihnen praxisorientiert, systematisch und kompakt Erfahrung und Wissen aus meiner langjährigen Beratungspraxis, aber auch aus meinem Alltag als Wissenschaftlerin und Freiberuflerin. Meinen KlientInnen bin ich dankbar für die vertrauensvolle und inspirierende Zusammenarbeit, die eine ganz wesentliche Voraussetzung für das Schreiben dieses Buches war. Meine FreundInnen Ute Wellstein, Carmen Gerstmann-Fricke, Eva Göllner-Breust und Franz Müller haben das Manuskript mit ihren kritischen Kommentaren, Fragen und Vorschlägen bereichert und mich wunderbar unterstützt. Dafür danke ich meinen „ErstleserInnen“ von Herzen.

Mein Dank gilt außerdem der Verlegerin Barbara Budrich, die beherzt und schnell entschlossen das bereits fertiggestellte Buch ins Programm nahm, und Sarah Rögl für ihr klares, engagiertes und behutsames Lektorat.

Ein Gespräch, getragen von Aufmerksamkeit und Empathie, mit einem Gegenüber, das Ihnen zuhört, mitdenkt, nachfragt und eigene Gedanken entwickelt, widerspricht, Zweifel aufgreift und Fakten beisteuert, den roten Faden im Blick behält und Sie zum Lachen bringt – dies alles und mehr können Sie im Dialog mit einer guten Beraterin, einem guten Coach erwarten. Die offene, konzentrierte und lebendige Atmosphäre eines solchen Gesprächs ist durch nichts zu ersetzen.

Auch dieses Buch kann die besondere Produktivität des Gesprächs nicht ersetzen. Aber es kann Sie auf andere Weise unterstützen und inspirieren: die richtigen Fragen aktivieren, Gedanken anstoßen, Informationen bereitstellen, Träume klarer und Ziele realistischer werden lassen.

Dieses Buch ist ein Arbeitsangebot an Sie. Die Arbeit – und das ist nicht wenig! – müssen Sie alleine tun: lesen, wann Sie Zeit und Lust dazu haben, sich Notizen machen, die Übungen schriftlich ausarbeiten, Gedanken, Ideen und Fragen festhalten, die sich bei der Lektüre einstellen, recherchieren und Was-wäre-wenn-Szenarien entwickeln …

Freuen Sie sich auf neue Herausforderungen!

Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Glück dabei.

Berlin, im August 2012

Sonja Hilzinger

www.sonjahilzinger.de | email@sonjahilzinger.de

1Berufsprofilierung: Person & Profession sinnvoll verbinden

1.1Was ist Berufsprofilierung?

Person & Profession sinnvoll verbinden – was heißt das? Sie können auch sagen: Aus der Berufung den Beruf machen und so ein sinnerfülltes Leben führen. Erwerbstätigkeit und Spaß an der Arbeit zusammenbringen. Ein ganz individuelles Berufsprofil entwickeln und damit Geld verdienen. Eine ökonomisch tragfähige Verbindung schaffen zwischen dem, was Sie sind, und dem, was Sie tun.

Sie haben ein Studium erfolgreich absolviert, vielleicht promoviert und einige Jahre im Wissenschafts- oder Bildungsbereich, in der Kreativ- und Kulturwirtschaft Berufserfahrungen gesammelt. Und Sie haben Lust, sich eine freiberufliche Existenz aufzubauen mit dem, was Sie gut können und gerne tun: mit einer oder mehreren wissensintensiven Dienstleistungen, mit einer speziellen Geschäftsidee, mit einer Mischung aus freiberuflichen und gewerblichen Tätigkeiten – oder Sie wollen erst einmal probeweise, neben Ihrer 30-Stunden-Stelle, Erfahrungen mit beruflicher Selbstständigkeit sammeln.

Sie haben nach dem Studium als WissenschaftlerIn im Ausland gearbeitet und wollen sich neu orientieren. Sie arbeiten in einem Unternehmen oder in einer Behörde, die Ihnen zu wenig Flexibilität bieten, um Beruf und Familie nach Ihren Vorstellungen verbinden zu können. Ihre Partnerin hat den Traumjob gefunden – aber dafür ist ein Umzug erforderlich und Sie wollen auf Dauer keine Fernbeziehung führen; Sie nutzen die Gelegenheit, sich neu zu positionieren.

Wie Sie aus Ihrer akademischen Profession Ihr individuelles Berufsprofil entwickeln

In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie aus Ihrer akademischen Profession Ihr individuelles Berufsprofil entwickeln. Es ist ein Praxisbuch, das Sie bei Ihrer Profilierungsarbeit inspirieren, unterstützen und ermutigen wird. Es enthält aber auch Informationen über Arbeitsmarkt und Arbeitsbedingungen von AkademikerInnen – aktuell und mit Blick auf die Zukunft. Es zeigt Ihnen die Chancen und Risiken, sich als AkademikerIn im Bereich wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen zu profilieren. Und es entstand aus meiner langjährigen Beratungspraxis. Meine Kernkompetenz als Beraterin ist die individuell mit Ihnen erarbeitete Einheit von Person & Profession: Ihr Profil. Mein Beratungskonzept basiert auf dem Dialog, ist ressourcen- und lösungsorientiert, methodisch vielfältig und kreativ.

Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht der Markt. (Trotzdem müssen Sie natürlich auch vom Markt her denken lernen.) Ihr Profil – in einem freien Kulturberuf, im Bereich wissensintensive Dienstleistungen, als Solo-Selbstständige, in einem der klassischen (verkammerten) freien Berufe oder auch im Rahmen einer Anstellung – soll nicht nur Ihren Kompetenzen entsprechen, sondern auch zu Ihrer Persönlichkeit und Ihrem Lebensentwurf passen. Als Beraterin unterstütze ich Sie dabei, professionell und marktorientiert zu arbeiten und dabei selbstbestimmt und im Einklang mit Ihren Werten zu leben. Dieses Buch ist ein Arbeitsangebot an Sie: Ihr individuelles Berufsprofil zu entwickeln.

Methodischer Ansatz der Berufsprofilierung: Perspektivenwechsel und Konkretisierung

Die Methode, die Sie dabei nutzen können, ist die Berufsprofilierung. In ihr verbinden sich zwei Prozesse: wiederholter Perspektivenwechsel und wiederholte Konkretisierung. Sie wechseln immer wieder die Perspektive auf ein und dasselbe Thema, Sie trainieren also den Perspektivenwechsel. Und Sie trainieren, zu jeder Nachfrage noch eine weitere und noch eine weitere Nachfrage zu entdecken, bis Sie das Höchstmaß an Konkretion erreicht haben, das in diesem Moment möglich ist. Perspektivenwechsel und Konkretisieren – genau das werden Sie in den verschiedenen Übungen, die dieses Buch enthält, immer wieder trainieren.

Das Material, mit dem Sie arbeiten – neben den einzelnen Kapiteln – sind Ihre Lebensgeschichte, Ihre Kompetenzen, Ihre Wertvorstellungen und Ihre Visionen. Profilieren ist eine spannende Aktivität, eine intellektuelle und emotionale Anstrengung, ein kreatives Spiel, ein Abenteuer.

Im Folgenden werde ich der Lesbarkeit wegen für wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen die Abkürzung WKD gebrauchen. WKD stellen, da sie eine akademische Ausbildung voraussetzen, grundsätzlich eine Berufsperspektive für AkademikerInnen dar. Die Rahmenbedingungen – ob in einer freiberuflichen, einer unternehmerischen oder angestellten Tätigkeit – sind dabei sekundär. Auch Mischformen oder phasenweise Wechsel zwischen der einen oder anderen Form sind natürlich möglich. Der Übersichtlichkeit wegen orientiere ich mich in diesem Buch auf freiberuflich ausgeübte WKD, was Berufsprofilierung betrifft, gehe aber in den entsprechenden Kontexten auch auf die darüber hinausgehende Biografiearbeit ein und weise dies auch im Inhaltsverzeichnis aus.

1.2Mein eigener Weg: Autorin, Lektorin, Beraterin

Ich will Ihnen zum Einstieg an meinem Beispiel zeigen, wie Person & Profession zu der für mich sinnvollen Verbindung wurden. Das ist kein abgeschlossener Prozess: In meinem Fall ist es eine Entwicklung, die vor mehr als dreißig Jahren begonnen hat und weiter in Veränderung begriffen ist.

Ich bin geprägt von den sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre in Westdeutschland. Als Schülerin begeisterte mich der Satz „Ändere die Welt, denn sie braucht es“ aus Bertolt Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe. Als Studentin gründete ich mit anderen Frauen ein Frauenzentrum. Als Professorin für Neuere deutsche Literatur lehrte ich über literarische Themen aus kultur- und sozialgeschichtlicher Perspektive, Schwerpunkte bildeten Aufklärung, Romantik und Realismus, die Weimarer Republik, das Exil und die DDR. Als Literaturwissenschaftlerin veröffentlichte ich zu den Themen, die mich selbst brennend interessierten: Autorinnen, ihre Werke, ihre Zeit, ihr Leben – von Karoline von Günderrode über Anna Seghers und Margarete Steffin bis zu Inge Müller und Christa Wolf.

Natürlich stellte sich schnell heraus, dass es für das, was meine Profession war, nirgends eine Planstelle gab – also entwarf ich mir mein eigenes Berufsprofil. Ich arbeitete freiberuflich, weil ich so meinen Leidenschaften und Interessen folgen konnte. Und ich konnte davon leben. Im Laufe der Jahre entwickelte ich ein Profil, in dessen Zentrum das Wort steht: das geschriebene, gedachte, gedruckte, gesprochene Wort. Die Schwerpunkte meiner Tätigkeiten haben sich verändert. Inzwischen spielt zum Beispiel die Lehre keine so große Rolle mehr wie noch vor einigen Jahren. Schreiben, lektorieren und beraten sind jetzt meine hauptsächlichen Tätigkeiten. Mit anderen Worten: Ich BIN Autorin, Lektorin und Beraterin.

Während ich als Hochschullehrerin gearbeitet habe, gefiel mir neben der Lehre am besten die individuelle Förderung und Betreuung der Studierenden. Genau das habe ich dann als freie Beraterin angeboten. In meiner Praxis erlebte ich immer häufiger junge AkademikerInnen, die auf der Suche waren nach Alternativen zum Wissenschaftsbetrieb mit seinen befristeten Verträgen, dem Mobilitätsdruck, dem nahezu unplanbaren Berufsweg. Für sie entwickelte ich ein modularisiertes Konzept zur Berufsprofilierung. Es ist zugeschnitten auf AkademikerInnen, die sich mit wissensintensiven und kulturellen Dienstleistungen als FreiberuflerInnen selbstständig machen wollen.

In meiner Beratungspraxis hatte ich die Erfahrung gemacht, dass WissenschaftlerInnen jede Menge fachliche, methodische und auch soziale Kompetenzen für eine freiberufliche Existenz mitbringen – aber selten unternehmerische, um auf dem Markt zu bestehen. Mit ihnen trainierte ich den Perspektivenwechsel von „was kann ich?“ zu „für welches Problem habe ich die Lösung?“. Und gleichzeitig vermittelte ich, dass der Mensch – und nicht der Markt – das wirklich Wichtige ist; dass es nie nur um den Beruf, die Erwerbstätigkeit, die Karriere geht, sondern immer um das ganze Leben, um soziale Beziehungen und Gesundheit, um Motivation und Leistung, um Visionen und um Geld, um Werte und um Biografiearbeit.

Natürlich hatte ich das Ziel, von dem leben zu können, was ich am liebsten tue, und dabei meine eigene Chefin zu sein. Und ich hatte einen Plan, wie ich das umsetze. Im Laufe der Zeit erwies es sich als sinnvoll, nach dem Modell der „flexiblen Planwirtschaft“ vorzugehen: dem roten Faden zu folgen und gleichzeitig offen zu sein für sich bietende Möglichkeiten, unerwartete Erfahrungen, neue Perspektiven. So haben sich die Rahmenbedingungen und Schwerpunkte meiner Arbeit verändert, die Themen aber blieben. Weiterbildungen und Spezialisierungen haben mein Profil bereichert.

Auf diesem Weg gab es natürlich Stolpersteine und blinde Flecken. Um nur einige zu nennen: Ich hatte anfangs keine Ahnung, was man alles wissen muss, um freiberuflich zu arbeiten. Ich habe meine ganz besonderen Kompetenzen lange gar nicht als solche erkannt, sondern für selbstverständlich genommen. Und mein Verhältnis zu Geld war gänzlich unterentwickelt – wer die Welt verändern will, fragt nicht, wie sieht mein Honorar aus. Lange Jahre fehlte mir der Mut, mir als Unternehmerin Ziele zu setzen. Warum? Ich hatte Angst zu scheitern, war zu ungeduldig, zu wenig bewandert in handfestem betriebswirtschaftlichem Wissen für die Praxis. Ein Stolperstein war für mich auch die Frage: Was bedeutet „Erfolg“ für mich? Konfrontiert mit Erwartungen und Vorstellungen, die in unserer Gesellschaft über Erfolg kursieren, ist es nicht einfach, diesen Begriff für das eigene Leben zu bestimmen. Heute weiß ich: Erfolg bedeutet für mich Sinn, ein sinnerfülltes Leben, und dazu gehört die Einheit von Person & Profession.

2AkademikerInnen auf dem Arbeitsmarkt: Chancen und Risiken

In diesem Kapitel erhalten Sie anhand aktueller Studien, von Hintergrund- und Erfahrungsberichten Einblicke in die Arbeitsmarktsituation, wie sie sich seit der Jahrtausendwende entwickelt hat, und auch, in welche Richtungen sich der akademische Arbeitsmarkt entwickeln kann und wird. Die geschlechterdifferente Perspektive ist für die Auswahl und Auswertung aller hier vorgestellten Zusammenhänge grundlegend.

Sie erfahren, wie sich Ihre Perspektiven im Wissenschaftsbetrieb darstellen und wie in den Freien Berufen. Dabei geht es immer darum, sowohl die Chancen als auch die Risiken einer Berufstätigkeit bzw. eines Lebensentwurfs zu betrachten und abzuwägen. Warum für AkademikerInnen gerade wissensintensive und kulturelle Dienstleistungen eine zukunftsträchtige Perspektive sein können – darum geht es dann im letzten Unterkapitel.

2.1Arbeiten im 21. Jahrhundert

Wie sieht der Arbeitsmarkt im Jahr 2012 für AkademikerInnen aus? Welche Voraussetzungen und welche Potenziale bringen sie mit, welche Lebensentwürfe wollen sie gestalten, welche Perspektiven können sie realisieren? „Klassische“ Berufe und Berufsverläufe für AkademikerInnen gibt es zunehmend weniger, sie werden immer brüchiger und fordern immer mehr Anpassungsleistungen inklusive Flexibilität und Mobilität, führen zu befristeten Anstellungen, in prekäre Beschäftigungssituationen. In meiner Beratungspraxis mache ich zunehmend die Erfahrung, dass insbesondere für Frauen freiberufliche Tätigkeiten immer attraktiver werden, weil hier die Möglichkeiten einer individuellen Berufsprofilierung in Verbindung mit einer selbstbestimmten Lebensgestaltung relativ groß sind. Aber wie Sie später in den Unterkapiteln sehen werden, in denen es um Biografiearbeit geht, trifft dies nicht nur für freiberufliche Profile zu, sondern überhaupt für individuelle Profile, in denen Person & Profession eine Einheit bilden.

Eine akademische Ausbildung garantiert keine planbare „Karriere“

Für immer weniger AkademikerInnen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der gerade Weg vom Studienabschluss in eine planbare „Karriere“, die ihrem Leben für die folgenden Jahrzehnte eine stabile ökonomische Grundlage und einen institutionellen Rahmen bietet, die Regel, für immer mehr ist dies die Ausnahme. Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen bilden hier die Vorhut einer Entwicklung, die zunehmend auch NaturwissenschaftlerInnen, MedizinerInnen, JuristInnen und ArchitektInnen betreffen wird. Universitäre Bildung vermittelt – bestenfalls – Fähigkeiten und Kompetenzen wie selbstständiges Denken, Reflexionsvermögen, Strukturieren komplexer Sachverhalte, sprachliches Ausdrucksvermögen, Wissbegierde und Methodenkompetenz, die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren, und anderes mehr. Aber sie ist nicht (mehr) per se eine berufsorientierte Ausbildung, die auf ein spezifisches Tätigkeitsprofil oder eine bestimmte berufliche Position hin qualifiziert. Und wo sie den Markt im Blick hat, bedient sie häufig vorrangig wirtschaftliche Interessen und vernachlässigt die Bildung eines kritischen, unabhängigen ForscherInnengeistes. In den meisten Fällen vermittelt ein Universitätsstudium etwas Wesentliches überhaupt nicht: ökonomisch zu arbeiten, also einen Instinkt dafür zu entwickeln, wieviel Zeit, Ressourcen und Energie für ein bestimmtes Ergebnis sinnvoll und angemessen sind.

Veränderungen der Berufsperspektiven für angestellte und verbeamtete AkademikerInnen

Von den angestellten bzw. verbeamteten AkademikerInnen arbeiten etwa 90% in technischen Berufen und im Dienstleistungsbereich, also bei Banken und Versicherungen, im Gesundheitswesen und vor allem im öffentlichen Dienst, von Schulen über Krankenhäuser und Gerichte bis zu Ministerien. Auch diese institutionellen Einsatzgebiete für AkademikerInnen beginnen sich zu verändern, wenn auch eher langsamer als z.B. die Freien Berufe. Stellenausschreibungen aber bieten Orientierungen, machen Vorgaben und setzen klare Profile voraus. Deshalb ist die Notwendigkeit zur Berufsprofilierung für Lehramtsstudierende oder Ärztinnen und Ärzte zwar nicht zwingend – aber die Biografiearbeit, die ja Bestandteil des Profilierens ist, kann eine im positiven Sinne so herausfordernde und bereichernde Tätigkeit sein, dass Sie auch als Lehrer oder Ärztin Ihrer Neugier auf noch unbekannte individuelle Perspektiven folgen sollten.

Studienwahl und Geschlechtszugehörigkeit entscheiden über berufliche Zufriedenheit

Studien über die Phase des Übergangs von der Hochschule in die Berufstätigkeit (auf den folgenden Seiten erfahren Sie mehr dazu) zeigen vor allem zwei signifikante Unterschiede: Die Zufriedenheit mit der beruflichen Situation und das jeweilige Einkommen sind abhängig vom Studienfach und vom Geschlecht. Europaweit liegen hier AbsolventInnen der Elektrotechnik, Informatik, Physik, Chemie, Pharmazie und Humanmedizin vor denen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer. Nur etwa ein Viertel der HochschulabsolventInnen in Deutschland hat vier Jahre nach dem Examen (befristete) Arbeitsverträge, und in den prekären Erwerbsformen sind Akademikerinnen überrepräsentiert (vgl. Anm. 1).

Zunehmende Schwierigkeiten in der Berufseinstiegsphase

Was machen die anderen drei Viertel nach dem Studium? Vielleicht denken Sie jetzt an Mitstudierende, deren Weg Sie verfolgt haben oder mit denen Sie in Kontakt geblieben sind. Die Zeit zwischen Examen oder Promotion und der ersten „Ankunft“ im Beruf ist im Allgemeinen eine Phase der Orientierung und der Suche. Es geht darum, die Möglichkeiten zu sondieren, für sich einen Lebens- und Berufsweg zu entwickeln, den Lebensunterhalt zu bestreiten, die eigenen Kompetenzen ein- und umzusetzen. Man bewirbt sich auf ausgeschriebene Stellen, hört sich im Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis um, aktiviert Kontakte in realen und virtuellen Netzwerken, verschickt Blindbewerbungen, macht Praktika … Auf das, was sie in der Berufspraxis erwartet, sind die meisten AbsolventInnen nicht vorbereitet: auf hierarchische Unternehmenskulturen, auf Regeln und Umgangsformen, die niemand erklärt und die nirgends nachzulesen sind, auf Leistungsdruck, Mobbing, Einzelkämpfertum. Wie war das bei Ihnen?

2.2Geschlechtsspezifische Voraussetzungen und Perspektiven

Frauen und Männer bringen unterschiedliche Voraussetzungen und Erwartungen mit im Hinblick auf Studium, Berufswahl und Lebensentwurf. Einer Langzeitstudie von Hochschulforschern der Universität Konstanz (2005)1 zufolge übt eine freiberufliche Tätigkeit für Studentinnen eine deutlich größere Anziehungskraft aus als für ihre männlichen Kommilitonen. Manche Ergebnisse dieser Studie muten wie altbekannte Vorurteile über die sozial und historisch geprägten Geschlechterrollen an. So betonen die Autoren Ramm und Bargel die ausgeprägtere „sozial-interaktive Einstellung“ der Studentinnen gegenüber den Studenten. Frauen wollen stärker als Männer ihre Ausbildung und Qualifikation dafür nutzen, anderen Menschen zu helfen, zu gesellschaftlichen Veränderungen beizutragen, Verantwortung für das Allgemeinwohl zu übernehmen – sie erweisen sich also als altruistischer, stärker sozial orientiert und ideell motiviert. Mehr Frauen als Männer haben bereits vor dem Studium eine Berufsausbildung abgeschlossen. Auch die Wahl des Studienfaches folgt noch immer der traditionellen Orientierung: Etwa 70% der Frauen studieren Sprachen und Geisteswissenschaften. Innerhalb der zwanzig Jahre Laufzeit der Studie zeigte sich, dass den Studentinnen Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit und sozialer Aufstieg zunehmend wichtiger werden (neben der Erwartung, dass ihr Studium sie für eine interessante berufliche Tätigkeit qualifiziert). Immer mehr Akademikerinnen gehen also davon aus, dass sie mit ihrer Ausbildung und Berufstätigkeit ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten. Während des Studiums erleben allerdings die meisten – auch die leistungsstarken – Studentinnen, dass sie von den Lehrenden wenig gefördert und zu einer wissenschaftlichen Karriere ermutigt werden, dass sie deutlich weniger Möglichkeiten als ihre Kommilitonen erhalten, im Wissenschaftsbetrieb zu bleiben und sich weiterzuqualifizieren. Zwar sind seit 1983 (dem Beginn der Befragungen für die Studie) die Erfahrungen von Studentinnen mit Benachteiligungen im Studium von 40% auf 20% zurückgegangen. Aber sie müssen mehr leisten für dieselben Noten als ihre Mitstudenten, werden von den Lehrenden seltener zur Promotion ermutigt (2003 nur 38% abgeschlossene Promotionen von Frauen) und brechen häufiger das Studium ab. Im Umgang mit dem Internet sind weibliche Studierende sachbezogener und pragmatischer als männliche, sie entscheiden sich häufiger für Auslandsaufenthalte und haben ein größeres Interesse an alternativen Studienmodellen.

Dieser Aspekt scheint mir besonders interessant, denn er verweist auf den offensichtlich ausgeprägteren Wunsch von Studentinnen, ihre akademische Ausbildung flexibler in ihren Lebensalltag integrieren zu können, sowie eine stärkere berufspraktische Orientierung. So wünschen sie sich abwechselnde Phasen von Berufsarbeit und Studium, ein ausgewogeneres Theorie-Praxis-Verhältnis, einen Wechsel zwischen Präsenzphasen und E-Learning im Studium. Unter den beruflichen Wertorientierungen der Studentinnen dominieren professionelle Aspekte einer anspruchsvollen, vielfältigen, selbstständigen Tätigkeit, die sich, stärker als bei ihren Mitstudenten, an sozialen Werten und am Allgemeinwohl orientiert. Allerdings liegen, bedingt durch ihre Fächerwahl, die Tätigkeitsbereiche von Akademikerinnen eher im öffentlichen Dienst als in der Privatwirtschaft. Studentinnen planen seltener als ihre Kommilitonen berufliche Selbstständigkeit, und wenn, dann eher freiberuflich als unternehmerisch. Das könnte aber auch, wie die Ergebnisse der Studie nahelegen, an den einschlägigen Erfahrungen und Erwartungen der Frauen liegen: Sie wünschen sich stärkere und vor allem individuellere Unterstützung durch ihre Hochschule bei Fragen der Existenzgründung. Frauen erwarten mehr Schwierigkeiten beim Übergang vom Studium zum Beruf als Männer und rechnen auch weiterhin mit geringerem Einkommen und geringeren Aufstiegschancen – obwohl sie sich beim Berufsstart flexibler zeigen und eher bereit sind als Akademiker, Belastungen und Einbußen hinzunehmen.

Frauen in Wissenschaft und Forschung

Eine Kurzexpertise über Frauen in Wissenschaft und Forschung (2006)2 legt den Fokus auf die Situation von Akademikerinnen im Wissenschaftsbetrieb. Auch nach einem Vierteljahrhundert Gleichstellungs- und Frauenförderprogrammen beträgt der Frauenanteil unter den Professorinnen etwa 14%, obwohl die Hälfte der StudienanfängerInnen weiblich ist. Der Anteil der Akademikerinnen in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen liegt für alle Statusgruppen unter dem an den Hochschulen, am geringsten ist er in der industriellen Forschung. Auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt sich, dass Deutschland den Wissenschaftlerinnen kaum Arbeitsbedingungen, -möglichkeiten und Chancen bietet, ihr Potenzial zum Nutzen des Gemeinwohls zu entfalten. Lind, die Autorin der Expertise, sieht Ursachen dafür auch in Haltung und Verhalten der Akademikerinnen selbst. Im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen seien Wissenschaftlerinnen eher zurückhaltend in ihrer Selbstdarstellung und im Umgang mit offenen Konkurrenzsituationen und neigten dazu, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen und eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung zu entwickeln. Überwiegend sind jedoch systemische Ursachen auszumachen. Die Besonderheiten des Qualifikationssystems im deutschen Wissenschaftsbetrieb wie die Rekrutierung der Nachwuchsleute nach dem Prinzip homosozialer Kooptierung oder der langwierige, unsichere Qualifikationsprozess führen nicht nur tendenziell zur Ausgrenzung junger Akademikerinnen, sondern diese entscheiden sich vielfach gegen diesen Weg, weil ihnen solche Arbeitsbedingungen nicht attraktiv erscheinen oder ihren Wertorientierungen und Lebensentwürfen nicht entsprechen.

Unterschiedliche Sozialisationen der verschiedenen Generationen

Die Phasen von Studium und Berufsfindung verlaufen für jede Generation anders. Von den heute 50- bis 60-Jährigen haben nicht wenige ihre Studienjahre als Zeit der politischen Sozialisation, des politischen Engagements, des Ausprobierens kollektiver Lebens- und Lernformen, als Jahre der Persönlichkeitsbildung verstanden, und manche von ihnen, denen Berufsverbote den Weg als LehrerInnen oder als Angestellte im öffentlichen Dienst verbauten, suchten sich in den 1980er- und 1990er-Jahren ihre eigenen Wege. Die heute 30-Jährigen, die ihr Studium jetzt abschließen, haben bereits andere Motivationen, ihre Studienfächer zu wählen, als die Generation vor ihnen. Die Jüngeren sind mit der Notwendigkeit aufgewachsen, sich auf einen sich schnell wandelnden und in seinen Entwicklungen kaum prognostizierbaren Markt auszurichten. Sie haben in anderen Ländern einige Semester studiert, diverse Praktika absolviert, sind mehrsprachig und daran gewöhnt, sich wie ein Fisch im Wasser im World Wide Web zu bewegen. Das Lebensmodell, an dem sie sich orientieren, ist nicht (mehr) das „chronologische Modell“ mit den Phasen Studium, Karriere, Familiengründung. Ihr Modell ist häufig die biografische Improvisation, Chance und Last zugleich. Studium und Hochschule sind heute zumeist Durchgangsstationen, nicht mehr der prägende Ort zwischen Herkunftsfamilie und gesellschaftlicher Praxis. Jenseits des Studiums erstreckt sich die Unübersichtlichkeit. Junge akademisch gebildete Frauen und Männer sind gleichermaßen in der Situation, für ihr Leben Verantwortung zu übernehmen und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie für sich verschiedene Berufsprofile entwickeln und aus- und umbauen. Ein einziger Beruf, eine einzige Tätigkeit reichen heute kaum mehr aus für ein ganzes (Erwerbs-)Leben. Mit der Wahl kommt die Qual: Wie will, wie kann, wie soll ich leben? Es ist alles möglich und nichts selbstverständlich. Mit den Möglichkeiten wachsen Erwartungen, Wünsche und Ängste.

2.3„Karrieren“ in der Welt des globalisierten Kapitalismus

Welche Wege sind es nun, die in der Welt des globalisierten Kapitalismus „Karrieren“ ermöglichen? Das französische Wort carrière bedeutet Laufbahn. Die Laufbahn als beruflicher Aufstieg ist heute oft kaum mehr plan- oder berechenbar, sie ist Zufällen oder günstigen Umständen zu verdanken, sie scheitert an Widrigkeiten, verliert sich in Bruchstücken und Sackgassen. Dies alles macht es schwierig für die Einzelnen, positive Verläufe aktiv zu gestalten und auf diese Weise ihre Selbstwirksamkeit zu erfahren. Kriterien und Bedingungen für das Gelingen sind häufig intransparent, oft nur wenig von Qualifikationen und Kompetenzen und viel von den richtigen Kontakten abhängig. Auch reicht Fachwissen allein nicht mehr aus, gefragt sind das Vermögen zu lebenslangem Lernen, sind Fremdsprachen und interkulturelle Kompetenzen, Flexibilität und Mobilität, Teamfähigkeit und Vielseitigkeit.

Von der „Generation Praktikum“ ins akademische Prekariat

Die „Generation Praktikum“ (Matthias Stolz), ein europäisches Phänomen, betrifft seit den 1990er-Jahren vorwiegend eine zahlenmäßig relativ kleine Gruppe, nämlich HochschulabsolventInnen der Geistes- und Sozialwissenschaften und zum Teil auch JuristInnen und ArchitektInnen. Was ihre (Berufs-)Biografien zeichnet, scheint symptomatisch für die gesellschaftlichen Umbrüche in Zeiten des globalisierten Kapitalismus und wird sich tendenziell verschärfen. Wo die akademische „Normalbiografie“ noch ein paar Jahrzehnte zuvor den Berufseinstieg, also die erste Anstellung nach dem Studienabschluss, vorsah, dehnt sich heute eine Phase unbestimmter Dauer, die mit un- oder schlechtbezahlten Praktika in solchen Unternehmen oder Tätigkeitsfeldern angefüllt ist, in denen eine Festanstellung oder zumindest befristete Projektmitarbeit angestrebt werden. Der Lebensunterhalt wird unterdessen mit (ausbildungsfremden) Gelegenheitsjobs, durch Kredite oder die Unterstützung von Eltern und/oder PartnerInnen aufgebracht. Die Motive der PraktikantInnen sind vielfältig: Sie wollen Einblicke und Berufspraxis in verschiedenen Arbeitsbereichen gewinnen, ihre im Studium entwickelten Kompetenzen ausprobieren und weiterentwickeln, verschiedene Unternehmenskulturen kennenlernen, Kontakte knüpfen und überprüfen, welche Tätigkeiten und welche Rahmenbedingungen ihnen entsprechen und welche nicht. Faktisch werden die zumeist gut ausgebildeten, hoch motivierten und anpassungsbereiten jungen Frauen und Männer als billige und willige Arbeitskräfte eingesetzt. Eher selten lernen sie Neues, erweitern ihren Horizont und ihre Kompetenzen, erfahren Förderung und Wertschätzung, stärken ihr Selbstwertgefühl durch gut gemeisterte Herausforderungen. In nicht wenigen Projekten der Kultur- und Kreativwirtschaft ist die unbezahlte oder unangemessen bezahlte Arbeit von AkademikerInnen gang und gäbe. Hier etablieren sich zumeist prekäre Beschäftigungsverhältnisse auf der Basis von Werk- und Honorarverträgen, deren Fortsetzung ins Unendliche durch die Hoffnung genährt wird, es könnte endlich einmal eine gesicherte Position daraus werden.

Gelungene Biografiearbeit: eine Frage der Haltung

Wenn dann die Eine oder der Andere erfolgreiche berufliche Karrieren im herkömmlichen Sinne vorzuweisen haben, führt dies, wie einst die Urlegende des Kapitalismus – vom Tellerwäscher zum Millionär –, zwangsläufig zum Scheitern der vielen, die nach wiederholbaren, planbaren, aktiv gestaltbaren „Gesetzmäßigkeiten“ suchen, die es nicht gibt. Strukturell bedingte Probleme werden als individuelles Versagen erlebt. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass aus den Beispielen gelungener Biografiearbeit nichts zu lernen sei – das Gegenteil ist der Fall, aber eine Eins-zu-eins-Übertragung auf die eigene Situation gibt es nicht. Der entscheidende Satz in der Erfolgsgeschichte des Wissenschaftsjournalisten Bas Kast heißt „Wenn man eine Leidenschaft hat, dann sollte man sich durch nichts davon abbringen lassen“, und die Gründer der Berliner Zentralen Intelligenz Agentur motivierten sich, indem sie sich sagten: „Etwas Besseres als Festanstellung und Ich-AG finden wir allemal“.3 Der eigenen Leidenschaft folgen, die Berufung zum Beruf machen, Selbstverwirklichung und Erwerbstätigkeit miteinander verbinden – das ist das eine Leitmotiv, und die unbeirrbare, durch keine Fehlschläge und Umwege zu frustrierende Suche nach dem „Eigenen“ ist das andere. Solche Haltungen sind es, die übertragbar sind und die für die eigene Biografie fruchtbar gemacht werden können.

2.4Perspektiven im Wissenschaftsbetrieb

Die Generation der jungen AkademikerInnen, die etwa seit der Jahrtausendwende ins Berufsleben strebt, hat häufig bereits unter ungünstigeren Bedingungen studiert als die Generation davor: Studiengänge im Umbruch, zunehmende Verschulung und Ökonomisierung, schlechte Betreuungsverhältnisse, Zeit- und Leistungsdruck, eine kaum berufsfeldbezogene und praxisbezogene Ausbildung, Orientierungs- und Motivationsprobleme. Auch aus dieser Generation wählen Studierende den Weg in die Wissenschaft, in Forschung und Lehre. Dafür gibt es unterschiedliche Motivationen, wie ich in meiner Beratungspraxis seit Jahren erlebe. Wenn Sie zu dieser Generation gehören: Was ist es, was Sie dazu gebracht hat, diesen Weg einzuschlagen? Die einen folgen der Faszination der Forschung, andere sind die geborenen Lehrenden, begeistert von ihrem Fach und fähig, diese Begeisterung zu vermitteln, und wieder andere gehen diesen Weg mangels einer Alternative, weil sie aufgrund ihrer Studienfächer kein anderes Berufsbild vor Augen haben. DoktorandInnen promovieren in Graduiertenkollegs, in Drittmittelprojekten, als wissenschaftliche MitarbeiterInnen (nicht selten mit einer faktischen 40-Stunden-Woche auf einer befristeten 20-Stunden-Stelle) oder als StipendiatInnen und erleben in dieser Qualifikationsphase häufig mehr Unsicherheiten, Abhängigkeiten, Ausbeutung und Leistungsdruck als eine fachlich und menschlich angemessene Ausbildung, Förderung und Motivierung. Frauen haben – jedenfalls überwiegend – noch immer signifikant geringere Chancen, auf dem Weg in den Wissenschaftsbetrieb weiterzukommen. Wer es auf eine Juniorprofessur schafft, ist – je nach Fach – oft schnell ernüchtert angesichts des alltäglichen Spagats zwischen institutionellen Pflichten, den Erwartungen der Studierenden und den eigenen Ansprüchen an Lehre und Forschung einerseits und der zumeist unsicheren, unplanbaren Perspektive andererseits. Wer sich aber mit Leidenschaft der Wissenschaft als Lebensform verschrieben hat, schafft es, so motiviert, immer wieder, sich ein neues Stipendium, einen weiteren Werkvertrag oder eine neue befristete Stelle zu „organisieren“, ist bereit, den Arbeitsplatz, die Stadt, das Land zu wechseln, das bisherige soziale Umfeld zu verlassen, immer wieder neu anzufangen – und wird belohnt durch Freiräume für Forschung, produktive Begegnungen mit KollegInnen und Studierenden, faszinierende Erkenntnisse und Entdeckungen.

„Wissenschaft als riskante Berufskarriere“

Es ist gut zu wissen, auf was man sich einlässt. „Wissenschaft als riskante Berufskarriere“ – unter dieser Überschrift präsentierte die Monatszeitschrift des Deutschen Hochschulverbandes Forschung & Lehre (Heft 4/2008) die Auswertung des ersten Bundesberichts zur Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses. Wer sich auf den Weg in den (deutschen) Wissenschaftsbetrieb begibt, braucht vor allem eines: Risikobereitschaft.

Und wofür sollen junge, gut ausgebildete, motivierte, engagierte AkademikerInnen dieses Risiko eingehen? Fakt ist, und das seit Jahren, dass es für das Gros der promovierten und habilitierten WissenschaftlerInnen an deutschen Hochschulen und an außeruniversitären Forschungseinrichtungen kaum attraktive und verlässliche Perspektiven gibt: Diese liegen zwischen der ordentlichen Professur und der Position als Hartz-IV-BezieherIn. Wer sich auf den Weg macht, setzt sich vielfach prekären Verhältnissen aus: Befristung, Drittmittelfinanzierung, Teilzeitarbeit, untertarifliche Bezahlung. Unbefristete Arbeitsverhältnisse sind für die Nachwuchsleute im Wissenschaftsbetrieb die Ausnahme. Je nach Fachkultur, Uni oder Institut erleben sie nicht selten von feudalistischen Relikten durchwirkte hierarchische Strukturen, eine lähmende Überbürokratisierung und allzu häufig die Geringschätzung der für wenig prestigefördernd angesehenen Lehre und Betreuung der Studierenden.

Erwerbslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse

Natürlich sind prekäre Lebensverhältnisse ein weltweites Phänomen in den Zeiten des globalisierten Kapitalismus. Sie betreffen den ungelernten Arbeiter oder die Schauspielerin ebenso wie die Privatdozentin oder den bildenden Künstler, die zwar nicht erwerbslos sind, aber vom Ertrag ihrer Arbeit immer häufiger nicht leben, keine stabile Perspektive entwickeln und keine Altersvorsorge betreiben können. Als moderne TagelöhnerInnen versuchen sie, der Entsicherung des sozialen Lebens eine jeweils individuelle Bewältigungsstrategie entgegenzusetzen. Jede und jeder erlebt diese Situation anders, zieht andere Konsequenzen, motiviert und organisiert sich anders. Die Situation verschärft sich für diejenigen, die Kinder haben (wollen) oder eine Familie zu ernähren haben.

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