Dr. Laurin -56-


Der Vater meines Kindes – schuldig?


Andreas Gewissensqualen sind grenzenlos


Roman von Patricia Vandenberg

Freut sie sich nun oder freut sie sich nicht?, fragte sich Dr. Leon Laurin, als er die junge Frau betrachtete, die sich mit geschlossenen Augen zurücklehnte. Er hatte ihr soeben ihre Vermutung bestätigt, dass ein Baby unterwegs war, und zwar schon im zweiten Monat.

»Wie lange werde ich arbeiten können, Herr Doktor?«, fragte Andrea Manderscheid. »Heiraten wollten wir ja ohnehin, aber mein Verlobter ist gerade in einer prekären Situation.«

Warum erzählte sie das eigentlich dem Arzt, bei dem sie heute zum ersten Mal war?

Dr. Laurin klärte sie über die Gegebenheiten auf.

Andrea versprach ihm, in vier Wochen zur Kontrolluntersuchung zu kommen und nahm dann den Mutterpass in Empfang.

In Dr. Laurins Kartei wurde eine neue Patientin eingetragen. Andrea Manderscheid, Goldschmiedin, 26 Jahre, unverheiratet, wohnhaft in München. Dr. Laurin fragte sich, warum sie ausgerechnet zu ihm gekommen war, da es doch genügend Gynäkologen in München gab.


Eigentlich hatte Andrea Dr. Laurin fragen wollen, ob man nichts gegen diese Schwangerschaft unternehmen könne. Aber im Grunde hatte sie gehofft, dass sie sich irrte.

Zu Hause wird es ja Trubel geben, dachte sie jetzt. Sie sah große Schwierigkeiten vor sich, aber vielleicht machte sie sich zu viele Gedanken. Vielleicht freute sich Siegbert auf das Kind.

Seit fünf Monaten spielte Siegbert Brian eine beträchtliche Rolle in ihrem Leben. Mit seinem Charme hatte er die sonst so kritische Andrea besiegt. Andrea hatte sich bis über beide Ohren in den gut aussehenden Mann verliebt, der das bestechende Auftreten eines Gentlemans hatte, und damit auch Gnade vor den Augen ihrer konservativen Eltern fand.

Ihnen gefiel es, dass Siegbert ihre Tochter dazu bewegt hatte, die Stellung einer Geschäftsführerin in einem exklusiven Juweliergeschäft anzunehmen. Sie waren nie damit einverstanden gewesen, dass Andrea sich dafür entschieden hatte, das Goldschmiedehandwerk zu erlernen. Sie hätten es lieber gesehen, wenn sie, wie ihr Vater, die höhere Beamtenlaufbahn eingeschlagen hätte. Aber Andrea hatte ihren Beruf aus Lust und Liebe an schönen Dingen erwählt. Auf einen grünen Zweig hätte sie damit aber nach Siegberts Ansicht nicht kommen können, und eines Tages, sie kannten sich sechs Wochen, brachte er ihr eine Annonce mit.

»Geschäftsführerin?«, hatte sie gefragt, »dazu eigne ich mich doch nicht.«

»Du mit deinem Aussehen und Auftreten«, hatte Siegbert gesagt. »Jedenfalls wirst du da bestimmt mehr verdienen, wenn du schon unbedingt berufstätig bleiben willst.«

Andrea dachte zurück. Damals hatte sie eigentlich schon von einer Heirat mit Siegbert geträumt, und als Frau eines vermögenden Mannes hätte sie ihren Beruf nur als Hobby betrachten können, meinte sie für sich.

Aber Siegbert hatte ihr erklärt, dass augenblicklich eine solche Flaute auf dem Baumarkt herrsche, dass er nicht wüsste, wie es weitergehen solle.

Welche Art von Geschäften er machte, erklärte er nicht. Jedenfalls mussten es welche sein, die ihm trotz der Flaute auf dem Baumarkt viel Geld einbrachten, denn er lebte nach wie vor auf großem Fuß, hatte eine luxuriöse Eigentumswohnung und war nach seiner eigenen Meinung ein vermögender Mann.

Nun, Andrea bewarb sich um die Stellung der Geschäftsführerin bei dem bekannten Juwelier Malte Ohlsen, und sie wurde auch sofort engagiert bei einem Gehalt, dem sie nicht widerstehen konnte.

Gerechnet hatte sie nicht damit, dass sie die Stellung bekommen würde, aber es war wohl ihre charismatische Erscheinung, die den Ausschlag gab.

Jedenfalls hatte Malte Ohlsen sie nur prüfend gemustert, ihren Zeugnissen dabei weniger Beachtung geschenkt.

Sie konnte mit ihrem Chef zufrieden sein.

Malte Ohlsen war ein sehr zurückhaltender Mann um die Vierzig, und obgleich man ihn nicht attraktiv nennen konnte, eine imponierende Erscheinung.

Es konnte ihm nicht entgehen, dass Andrea häufig von Siegbert Brian abgeholt wurde, und vor zwei Wochen hatte er sich dann zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass sie von einem solchen Mann besser die Finger lassen solle. Das hatte ihm Andrea allerdings sehr verübelt und war schon entschlossen gewesen, ihre Stellung zu kündigen.

Das hatte Siegbert ihr aber ausgeredet.

»Lass ihn doch quatschen«, hatte er gesagt. »Wahrscheinlich gefällst du ihm, und er ist eifersüchtig.«

Seltsam war es schon, denn wenn sie jetzt darüber nachdachte, gefiel ihr diese Bemerkung gar nicht so sehr.

War sie denn nur abfällig gewesen, nicht auch warnend? Ihr wurde es ganz heiß. War das nur, weil sie sich Gedanken machte, dass Siegbert nicht erfreut sein könnte, dass sie ein Kind erwartete?

Hinter ihr hupte es, und es wurde ihr bewusst, dass sie zu langsam fuhr. Sie hatte ihrem Chef zwar gesagt, dass es etwas später werden könnte, da sie zum Zahnarzt müsse, aber sie war so gewissenhaft, dass sie die Zeit nicht zu lange überziehen wollte.

Sie kam zwanzig Minuten später dort an und fand Malte Ohlsen vor. Sie wusste nicht, dass sie blass aussah und sich die innere Erregung auf ihrem Gesicht widerspiegelte.

»War es schlimm, Andrea?«, fragte Malte Ohlsen besorgt.

Er sprach sie von Anfang an mit dem Vornamen an. Er wäre das so gewöhnt, hatte er erklärt. Er handhabte es allerdings auch bei den beiden Verkäuferinnen so, mit denen Andrea recht gut zurechtgekommen war.

Ingrid war allerdings zum letzten Ersten gegangen, weil sie heiraten wollte, und Renate musste ganz plötzlich mit einer Blinddarmentzündung in die Klinik. Andrea hatte ihrem Chef erklärt, dass sie ganz gut allein zurechtkommen würde.

»Leider muss ich morgen nach Amsterdam, eine Kollektion Diamanten besichtigen«, erklärte Malte Ohlsen. »Ich habe einen Wachmann engagiert, damit Sie nicht allein sind. Dass ich mich auf Sie verlassen kann, weiß ich.«

Andrea sah ihn an. Er war etwas größer als sie, breit in den Schultern und gut proportioniert.

Sein volles dunkelbraunes Haar war an den Schläfen leicht ergraut, der intensive Ausdruck seiner grauen Augen jagte Andrea eine seltsame Beklemmung ein. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als könne er durch sie hindurchschauen.

Sie hielt diesem Blick dennoch stand und fragte sich dabei, wieso er soviel Vertrauen zu ihr haben könnte.

»Der Wachmann wird über Nacht hierbleiben und morgen vormittag um zehn Uhr abgelöst werden«, sagte Malte Ohlsen. »Ich hoffe, dass ich bis morgen abend zurück bin, andernfalls schließen Sie die Tageseinnahme in den Safe ein. Ich möchte nicht, dass Sie sich einer Gefahr aussetzen.«

Er verabschiedete sich gegen fünf Uhr.

Von seinem Privatleben wusste Andrea gar nichts. Vielleicht hatte er eine Familie irgendwo, aber sie trat nicht in Erscheinung. Sie wollte sich darüber auch keine Gedanken machen, aber sie musste doch daran denken, dass er ihre Hand heute ein wenig länger und fester umschlossen hatte und zum Abschied sagte: »Wenn Sie irgendwelche Sorgen haben, dürfen Sie es mir ruhig sagen, Andrea. Passen Sie gut auf sich auf.«

Seine Stimme hatte einen sehr warmen und besorgten Klang gehabt. Ja, das ging ihr nicht aus dem Sinn.

Er war gegangen und Siegbert kam hereinspaziert, lässig das sehr elegante Sakko über die Schulter gehängt.

»Du bist allein? Wie erfreulich«, sagte er und gab ihr einen Kuss. »Wo steckt dein Tyrann?«, fragte er.

»Er ist kein Tyrann«, widersprach Andrea. »Er musste nach Amsterdam.«

Siegbert hob die Augenbrauen. »Und er hat dich ganz allein hier gelassen? Das gefällt mir nicht ganz.«

»Was soll schon passieren? Es kommt ein Wachmann, der über Nacht hierbleibt und morgen vormittag von einem anderen abgelöst wird.«

»Hast du überhaupt keine Angst?«, fragte Siegbert. »Hier liegt doch ein irres Vermögen.«

»Die Alarmanlage geht direkt zum Präsidium«, sagte sie. »Können wir uns nicht später außerhalb des Geschäftes treffen, Siegbert?«

»Du bist überkorrekt, aber gut. Ich habe sowieso noch was zu erledigen. Ich warte draußen auf dich. Ich schaue schon nicht zu, wie du den Safe einräumst.« Er lachte leise und tippte ihr den Zeigefinger auf die Nasenspitze. »Bis gleich, Liebling.«

Er war gut gelaunt, und Andrea schöpfte Hoffnung, ihn mit der Neuigkeit nicht zu sehr zu erschrecken.

Sie räumte die kostbaren Stücke aus den Vitrinen in den Safe, legte die Tageskasse dazu und schloss sorgfältig ab. Dann kam der Wachmann, der sich korrekt auswies und sich mit einem Handschreiben von Malte Ohlsen zusätzlich vorstellte.

Es war ein älterer Mann, freundlich, höflich, bescheiden. Er hätte schon öfter für Herrn Ohlsen gearbeitet, sagte er. Sie fragte sich dann nur, ob dieser mindestens Sechzig­jährige der geeignete Mann sei, Einbrecher abzuwehren.

So äußerte sie sich denn auch besorgt Siegbert gegenüber. »Ach, diese Burschen sind fix«, meinte er. 

»Und er braucht doch nur auf die Alarmglocke zu drücken.«

»Das ist es nicht. Die löst sich von selbst aus«, sagte Andrea, »aber manche begehen doch ganz raffiniert solche Raubüberfälle. Lassen wir das. Du bist gut gelaunt. Gehen die Geschäfte wieder?«

»Morgen erwarte ich einen großen Abschluss, Darling. Ich habe heute Abend noch eine Verabredung mit einem einflussreichen Mann, aber zum Essen können wir gehen. Ganz fein«, fügte er hinzu.

»Als Vorschuss für die erwarteten Geschäfte?«, fragte Andrea. »Man sollte erst nach Abschluss feiern.«

»Sei doch nicht immer so schrecklich ernüchternd«, sagte er. »Ich bin froh, wenn ich mit dir zusammen bin. Du bist so herzerfrischend aufrichtig.«

Er führte sie in ein Schlemmerlokal, das von lockenden Düften durchzogen wurde. Aber Andrea wurde es übel dabei. Ihre Nerven vibrierten, ihr Gesicht wurde fahl.

»Was hast du?«, fragte Siegbert.

»Was würdest du wohl sagen, wenn ich ein Kind bekommen würde?«, erwiderte Andrea.

Er blickte bestürzt von der Speisekarte auf. »Na, das wäre was«, brummte er. »Das könnten wir jetzt gar nicht gebrauchen. Ich habe nämlich vor, mit dir ins Ausland zu gehen.«

»Ins Ausland?«, fragte Andrea.

»Ja, ich habe ein phantastisches Angebot. Wenn es morgen mit dem Abschluss klappt, habe ich wieder Oberwasser und kann bei einer amerikanischen Firma einsteigen. Na, und zu deiner dummen Frage möchte ich nur sagen, dass ich nicht wild darauf bin, bald Vater zu werden. Später mal, wenn wir das Leben genossen haben, vielleicht, wenn du unbedingt so einen kleinen Schreihals haben willst. Aber deswegen dauernd Rücksicht nehmen zu müssen, würde mir nicht behagen. So dumm wirst du doch auch nicht sein, Andrea.«

So dumm war ich, dachte sie. Eigentlich verrückt.

Sie saß da wie erstarrt.

»Warten wir erst einmal ab, was morgen geschieht«, sagte sie gedankenverloren.

»Es geschieht gar nichts«, stieß er hervor. »Es wird sich bestens abwickeln.« Er sah auf seine Uhr. »Wir müssen uns mit dem Essen nur beeilen, Liebling, damit ich rechtzeitig zu der Verabredung komme. Wichtige Leute darf man nicht warten lassen.«

An diese Worte sollte sie später denken, denn früher hatte er immer gesagt: »Wer pünktlich kommt, ist im Nachteil. Es sieht immer so aus, als hätte man Interesse und viel Zeit.«

Sie fuhr heim. Ihre Eltern waren in der Oper. Sie war allein im Haus und hatte plötzlich Furcht.

Natürlich waren alle Befürchtungen umsonst gewesen. Sie atmete erleichtert auf, als sie am nächsten Morgen zehn Minuten vor neun Uhr das Geschäft betrat.

Hans Herrmann saß in einem Sessel am Marmortisch und hatte eine Thermosflasche vor sich stehen. Er aß ein Brot und trank einen Schluck, bevor er sie gewahrte.

»Komisch«, sagte er, »man reagiert nur auf die Alarmglocke. In Herrn Ohlsens Haus bin ich mal aus Versehen an den Kontakt gekommen. Jemine, das war ein Aufruhr. Aber er hat nur gelacht und gesagt: ›Jetzt wissen wir wenigs­tens, dass sie funktioniert.‹«

»Sie mögen ihn«, sagte Andrea.

»Ist ja auch ein feiner Mensch«, erklärte der Mann. »›Passen Sie nur auf, dass Ihnen nichts passiert‹, sagt er immer, wenn ich draußen bin in seinem Haus. ›Dinge, die man kaufen kann, sind nicht so wichtig wie ein Menschenleben.‹«

»Lebt er dort ganz allein?«, fragte Andrea.

Verwundert sah sie der Wachmann an. »Freilich. Wussten Sie das nicht?«

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Zwei Männer kamen herein mit großen Sonnenbrillen, extravagant gekleidet, wie Andrea noch feststellte, doch dann stockte ihr Herzschlag, denn sie blickte in die Mündungen von zwei Pistolen.

Andrea wich zurück. Sie fühlte mehr, als sie sah, dass der Wachmann die Alarmglocke betätigen wollte. Dann nahm sie verschwommen wahr, wie er von dem zweiten, kleineren Mann niedergeschlagen wurde.

Der rannte dann auf ein Schaufenster zu. Warum ertönt die Alarmglocke nicht? dachte Andrea und warf sich zur Seite, wo die Handauslösung zu finden war. Doch der Große riss sie zurück. Sie wehrte sich verzweifelt, wollte seine Hand wegschlagen, in der die Waffe lag, und dann löste sich ein Schuss.

Sie spürte einen stechenden Schmerz, und bevor ihr Bewusstsein schwand, hörte sie wie aus unendlicher Ferne eine Stimme sagen: »Das wird Siegbert nicht gefallen, Mac.«

Dann schwanden ihr die Sinne.


*


»Dr. Laurin, Dr. Laurin!«, rief Hanna Bluhme aufgeregt.

»Ja, was ist denn?«, fragte er.

»Sie bringen Frau Manderscheid. Sie ist bei einem Überfall verletzt worden. In ihrer Tasche haben sie den Mutterpass gefunden. Den Wachmann bringen sie auch gleich mit.«

»Nun mal langsam, Hanna«, sagte Dr. Leon Laurin zu seiner anhänglichen Sprechstundenhilfe. »Was für ein Überfall?«

»Da ist ein Überfall auf das Juweliergeschäft verübt worden, wo Frau Manderscheid beschäftigt ist. Sie wissen natürlich, dass wir auch eine Chirurgische Station haben.«

»Wer weiß das so natürlich?«, fragte Leon Laurin.

»Die Polizei. Da sind wir doch schon bekannt«, erwiderte Hanna. »Hätte ich lieber sagen sollen, dass wir belegt sind?«

»Nein«, erwiderte Leon Laurin. »Frau Manderscheid? Wie seltsam. Sie war gestern zum ersten Mal hier. Ist sie schwer verletzt?«

»Das weiß ich nicht. Wo ist man heute überhaupt noch sicher? Wissen Sie noch, wie Sie mal auf die Bank gegangen sind und dann…« Sie kam nicht weiter, denn Sirenen kamen näher. Sie eilte an Dr. Laurins Seite hinaus.

Der Sanitätswagen traf ein.

Der Wachmann wurde auf die Chirurgische Station gebracht, Andrea Manderscheid nahm sich Dr. Laurin an. Sie hatte einen Schuss in die Schulter abbekommen, wie er schnell feststellte. Dem Wachmann ging es bedeutend schlechter. Er hatte eine klaffende Kopfwunde und ein Herz, das nicht mehr mitmachen wollte.

Auch Dr. Eckart Sternberg war beschäftigt. Zwei Frauen warteten heute wieder einmal vergebens auf ihre Männer, für die sie den Tisch gedeckt hatten.

Karin, der treue Hausgeist der Familie Laurin, hatte ein Radio in der Küche.