Umschlag

Nicola Förg ist im Oberallgäu aufgewachsen und studierte in München Germanistik und Geographie. Sie lebt mit vielen Tieren in einem vierhundert Jahre alten denkmalgeschützten Bauernhaus im Ammertal. Als Reise-, Berg-, Ski- und Pferdejournalistin ist ihr das Basis und Heimat, als Autorin Inspiration, denn hinter der Geranienpracht gibt es viele Gründe zu morden – zumindest literarisch. Im Emons Verlag erschienen ihre Kriminalromane »Schussfahrt«, »Funkensonntag«, »Kuhhandel«, »Gottesfurcht«, »Eisenherz«, »Nachtpfade«, »Hundsleben«, »Markttreiben« sowie die Katzengeschichten »Frau Mümmelmeier von Atzenhuber erzählt«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2002 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Atelier Schaller, Köln
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
Umschlaglithografie: Media Cologne GmbH, Köln
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-037-7
Oberbayern Krimi
Originalausgabe

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Für Charlotte

 
 
 
1.

»Wir sind doch hier nicht in Disneyland! ›Interaktives Mountainbike-Downhill-Race am Nebelhorn in einem Event Castle‹, ich glaube es nicht! Die sollten sich lieber mal live bewegen und ihren Gehirnen echten Sauerstoff zuführen«, grummelte Jo vor sich hin. »Am End’ haben wir computeranimierte Sennerinnen, die auf Knopfdruck ein Allgäuer Liedchen trällern und dabei strippen, oder was sagst du dazu, Falco?«

Jos sechsjähriger Fjordwallach Falco hatte wie immer mit freundlich nach hinten geklappten Ohren zugehört, ab und an zustimmend geprustet und ansonsten die Unaufmerksamkeit seiner Reiterin dazu genutzt, Tannenzweige vom Baum zu zupfen. Selbst ein dicker, kurzer Norwegerhals erreicht giraffenartige Länge, wenn es ums Essen geht. Wieder schnappte er zu, und eine Ladung Schnee rieselte in Jos Halsausschnitt.

»Rübennase!«, schimpfte Jo und hob drohend ein Ende des Zügels, was Falco mit einem Ohrklapp nach rechts quittierte, um sofort den nächsten Ast zu erhaschen. Jo gab auf, wie fast immer. »In deiner Erziehung bin ich definitiv gescheitert. Ein Psychologe würde mir wahrscheinlich sagen, ich übertrage meinen Freiheitsbegriff auf die Kreatur. Freizeit ist Freiheit – auch für so ein Vieh wie dich.«

Falco waren solche tiefschürfenden Betrachtungen offenbar egal. Während er hurtig durch den Schnee trabte, gelang es dem Norweger immer wieder, Tannenzweige zu pflücken. Der Naturlehrpfad von der Gunzesrieder Säge herauf war im Winter eigentlich gesperrt, aber an einem Montagvormittag, über dem eine archaische Stille lag, kümmerte das niemanden. Kein Mensch weit und breit, und selbst auf dem Ostertalweg war der Schneepflug noch nicht gefahren. Jo lenkte nach rechts, um im Hohlweg zur Geißrücken Alpe etwas an Höhe zu gewinnen – sie liebte den Blick auf den Stuiben und Buralpkopf auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Das winterliche Licht zauberte der Natur sanfte Konturen, ein watteweiches Winterwunderland. Nach einer klirrend kalten Nacht übernahm die Sonne das Zepter. Der Frühling ließ sich jetzt, Anfang März, bereits erahnen.

Falco hatte etwas Neues, möglicherweise Essbares, entdeckt, auf das er jetzt zustrebte. Eine bunte Jacke, die an einer Fichte hing. Er schnappte zu, und mit einem Schneeschauer fiel der Anorak zu Boden.

Jo wollte wegen der neuerlichen Dusche gerade fluchen, als ihr der Satz in der Kehle stecken blieb. Falco riss den Kopf hoch, seine Nüstern waren weit aufgebläht. Dann erstarrten beide zu einer Art Reiterstandbild.

Im Schnee saß ein Mann, friedlich an einen Baum gelehnt, was bei der Kälte ungewöhnlich genug war. Weit verblüffender fand Jo jedoch die Tatsache, dass er keine Schuhe, sondern nur dicke gelbe Socken trug. Das eigentlich Irritierende aber war das Loch in seinem Kopf: mitten auf der Stirn. Ein rotes Rinnsal war zur Nase gelaufen, hatte sich dort geteilt und war über beide Wangen geronnen; das eine Blutbächlein war weiter bis zum Kragen vorgedrungen, das andere im Mundwinkel versiegt.

Das alles registrierte Jo eher interessiert als panisch. Sie hätte wohl noch lange so auf den Mann gestarrt, aber Falco machte einen jähen Satz zur Seite. Mechanisch klopfte sie seinen Hals, so wie sie es immer tat, wenn das Pony wegen eines Traktors oder einer übermütig über eine Koppel buckelnden Kuh erschrak. Das hier war allerdings weder ein Traktor noch eine Kuh! Das war ein Toter!

Jetzt wagte Jo es nicht mehr, hinzusehen. Mit zitternden Fingern suchte sie nach dem Handy in der Innentasche ihrer Fleecejacke.

»Mist, kein Netz, verfluchte Telekom«, stöhnte sie. Sie wendete Falco vorsichtig, trabte an und wurde plötzlich von einem wilden Fluchtreflex erfasst. Sie hieb dem Fjordwallach die Hacken in die Seite und galoppierte den verschneiten Weg bergab.

Jo riss an den Zügeln, und Falco rutschte mit weggeknickter Hinterhand vor die Tür des Anwander Hofs am Ortsrand von Gunzesried.

Der Anwander Bauer stand auf eine Schneeschaufel gestützt und lächelte gutmütig. »Dua hofele, Frau Doktr, pressiert’s so arg?«

Jo schaute ihn an, als würde sie sein Gesicht zum ersten Mal sehen. Ein Gesicht, in das harte Bergbauernarbeit ihre Furchen gezogen hatte, ein Gesicht, aus dem braune Augen blickten, die viel jünger zu sein schienen als der zähe, kleine Mann. Sekundenlang passierte nichts. Dann legte der Anwander die Schneeschaufel weg, streckte die Arme aus und hob Jo fast vom Pferd. Sie sackte zu Boden und kam nur langsam wieder hoch.

»Wahrscheinlich pressiert’s wirklich nicht mehr.« Jo versuchte, zu ihrer sonst üblichen Ironie zu finden. »Da draußen sitzt einer ohne Schuhe, nur in Socken!«

Der Anwander Bauer schaute erstaunt. »Frau Doktr Johanna? Ja meh, und?«

Jo riss sich zusammen. »Der ist tot, glaub ich. Du solltest die Polizei anrufen.«

Der Bauer hatte Jo noch immer fest umfasst und rief über den Hof: »Zenta, Zenta!«

Seine Frau in Kittelschurz und einer viel zu großen Lammfellweste streckte den Kopf aus der schweren Holztür. »Häh?«

»Bring dr Frau Doktr an Obschtler und ruaf dia Polizei in Kempta a. Mir hend a Leich. Schick di, fei glei sofort!«

Wenn der Anwander Bauer »fei glei sofort« sagte, dann war’s ernst; »glei sofort« war schon brenzlig, aber in der Verstärkung mit »fei« nun wirklich todernst!

Als das Polizeiauto in den Hof gefahren kam, saß Jo in der Stube, hatte zwei Obstler getrunken und begann langsam, wieder klar zu denken.

»Griaß eich mitanand!« Polizeihauptkommissar Gerhard Weinzirl und sein junger Kollege, Polizeiobermeister Markus Holzapfel, traten in den Raum. Gerhard nickte den Anwanders zu und rutschte neben Jo auf die Eckbank unter dem Herrgottswinkel. Er sah sie scharf an und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Mädel, was ist los?«

Jo blickte Gerhard an und sagte leise: »Da draußen sitzt der Rümmele im Schnee, ohne Socken und so … so blass.« Jo stockte und horchte dem Klang der Stimme nach. Jemand hatte Rümmele gesagt. Sie selbst! Natürlich, sie hatte ihn von Anfang an erkannt. Das war der Rümmele gewesen, aber so fahl, so reduziert – wo der große, feiste Mann doch sonst immer so rote Backen, eine von feinen roten Äderchen durchzogene Nase und flackernde dunkle Augen gehabt hatte!

Gerhard pfiff durch die Zähne. »Du meinst Hans Joachim Rümmele, den Rümmele?«

Jo nickte. »Er war so, er wirkte so, er …«

Gerhard verstärkte den Druck seiner Hand. Es ging etwas Beruhigendes von ihm aus – eine Eigenschaft, die ihm Jo früher nicht attestiert hätte.

Gerhard war der Local Hero ihrer Jungmädchenträume gewesen, der geheimnisumwitterte Schwarm in ihrer Stammdiskothek, dem »Pegasus«. Diese Diskothek in Kemptens Altstadt war eine Institution für Jo gewesen, eine bessere Heimat als ihr Elternhaus. Hier hatten alle ihre pubertierenden Freundinnen Zuflucht gefunden. Im ständigen Reigen begegnete man sich, ging ein Stück gemeinsam, gehörte zu Cliquen mit wechselnder Besetzung, verleumdete sich, hasste und liebte sich – und feierte.

Die endlosen Nächte waren vielleicht gar nicht so spannend gewesen, und die Rauschgiftorgien, die man dem »Pega« nachsagte, hatte es nie gegeben. Aber Jo hatte zum Zirkel der Erlesenen gehört. Sie durfte an der Getränkeausgabe oder beim DJ stehen. Der Rock kurz, das Dekolleté tief, ein Jungmädelvamp im Banne einer ebenso banalen wie aufregenden Kleinstadt. Es waren Nächte mit ewig gleichen Ritualen gewesen. »Stairway to heaven« lief als letztes Lied, und stets schickte Jo sehnsüchtige Blicke zu Gerhard hinüber. Ob er sie noch zum »Kaffee« einladen würde? Acht von zehn Malen war er schon weg, wenn das unbarmherzige Licht den Raum erleuchtete und Jo von ihren Drehungen über die fast leere Tanzfläche wieder aufsah.

Nur manchmal hatte er sich die Ehre gegeben und war als Liebhaber eigentlich keine Offenbarung gewesen. Aber dieses Spiel von Kommen-Lassen und sich Entziehen, das beherrschte er meisterlich. Außerdem waren Frauen für ihn wohl eher sekundär, er hätte eine Bergtour mit seinen Kumpels jederzeit einer Nacht mit Jo vorgezogen. Aber genau das machte ihn interessant. Selbst wenn Jo andere, feste Freunde hatte und Gerhard immer erst sehr spät, plötzlich wie ein Spuk, in seinem Trenchcoat und mit herrlich zerknittertem Gesicht, schlaksig und provokant neben der Tanzfläche auftauchte, war es um Jo geschehen: Herzrasen! Stairway to hell!

Etwas wie ein unzertrennbares Band hatte zwischen ihnen existiert, und es hatte bis heute gehalten. Die alten Cliquen hatten sich mittlerweile über die Welt verstreut. Nur wenige der früheren Freunde waren aus dem Studienexil zurückgekommen: als aufstrebende Junganwälte, Mediziner oder Journalisten. Man sah sich selten. Jo war so viel unterwegs, dass sie am Abend oft nur noch todmüde aufs Sofa sank. Gerhard ging es ganz ähnlich. Für Jo war Gerhard ein Rettungsanker aus einer Zeit, die weder besser noch einfacher gewesen war, aber eine Zeit, die sie längst verklärt hatten. Wenn sie sich heute trafen, lud Gerhard nicht mehr zum Kaffee, sondern in seinen Weinkeller ein – und wirklich nur des Weines wegen! Nach langen Arbeitstagen tranken sie Barolo statt des Teenie-Asti und dekantierten ihn kunstvoll. Sie verwendeten Riedelgläser statt Pappbechern, und natürlich hatte Gerhard immer Ciabatta und Grana vorrätig. Hinterher gab es Grappa von Poli, den Stoff, aus dem die Grappaträume sind.

»Früher haben wir Apfelkorn gesoffen«, sagte Gerhard jedes Mal grinsend, »wir sind richtig spießige Snobs geworden.«

»Stimmt!«, pflegte Jo dann zu sagen. »Aber wir haben wenigstens kein Reihenhaus gebaut.«

Jetzt lächelte Gerhard Jo aufmunternd zu und schob sie vorsichtig zur Tür hinaus. Draußen stand der von einer Mist-Eis-Schlamm-Mischung überzogene uralte Jeep vom Anwander bereit; mit dem Polizei-Audi wären sie nicht weit gekommen.

»Wohin, Jo?«, fragte Gerhard sanft.

»Den Ostertalweg hinauf. Es gibt da den kleinen Parkplatz, wo der Forstweg zur Geißrücken Alpe und zum Berghaus Blässe abzweigt, da sitzt er …«

Wie das klang: Da sitzt er. Nach einem Picknickausflug vielleicht.

Die Mittagssonne ließ Schneekristalle auf den offenen Feldern funkeln, die Temperatur lag knapp über null. Es war ein perfekter Wintertag, so lebendig, hell und klar – kein Tag für Tote. Als würde die Sonne das wissen, tanzte sie neckisch auf Rümmeles Nase und gab den zwei Blutrinnsalen einen Hauch ins Violette.

»Auweh!«, sagte der Anwander, und »Pfft« entfuhr es Gerhard.

Ein toter schwäbischer Bauunternehmer in gelben Socken mitten im Schnee – das verlieh dem Begriff »Gelbfüßler«, der wenig charmanten Beschreibung für Württemberger, eine ganz neue Dimension.

Gerhard breitete die Arme aus. »Da können wir nichts mehr tun. Markus, sicher die Stelle ab und bleib da! Wir fahren zurück und informieren die Mordkommission. An denen werden wir hier nicht vorbeikommen.« Er schaute, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. Die Kollegen in Zivil, die gerne auf Miami-Vice-Typen machten, waren ihm ein Gräuel. Er zog sein Handy heraus und ließ sich in Kempten im Polizeipräsidium durchstellen. Kühl und routiniert gab er Befehle und erklärte präzise, wo der Anwander Hof zu finden sei.

Der Jeep holperte zurück zum Hof, wo Zenta geblümte Keramikteller mit feinen Haarrissen langer Gebrauchsjahre auf den Tisch gestellt hatte. »Ihr miasset eabas easse!«

Während des Essens sprach keiner ein Wort. Jo stocherte in Zentas Krautwickeln und hing ihren Gedanken nach. Woher war Rümmele gekommen? Ohne Schuhe, ohne Fahrzeug?

Plötzlich wurde die Stille durchbrochen von einem Röhren wie am Nürburgring. Der Anwander erhob sich bedächtig, ging zum Fenster und seufzte: »Auweh.«

Auch Jo ging zum Fester. Sie sah einen schicken silbernen BMW 520i. Er war tiefer gelegt, mit Breitreifen und mit einer Lackierung versehen, die so viel metallischer war, als es je eine von der Stange hätte sein können. Der BMW hatte sich in der leicht ansteigenden Auffahrt des Skilifts festgefahren. Der Fahrer gab hektisch Gas, Schnee und Kiesel sprühten durch die Luft. Dann bekam der Wagen Bodenhaftung, machte einen Satz nach vorne, trudelte und rutschte. Schließlich glitt er ganz sachte seitwärts und wie in Zeitlupe in eine gewaltige Schneewächte.

»Auweh!«, sagte der Anwander noch mal.

Jo beobachtete, wie sich zwei Männer aus der Beifahrertür schälten. Der eine trat wutentbrannt gegen den Reifen, der andere klopfte an seinen Hosen herum.

Aber was hieß da Hosen? Beinkleider aus feinstem Wildleder, zarte Lederschühchen, ein Kaschmir-Rolli und eine Sonnenbrille, die jeden Sizilianer hätte alt aussehen lassen. Ein Beau, alle Wetter!

Gerhard und Jo traten vor die Tür.

»Volker Reiber, Kriminalhauptkommissar, Kempten«, grüßte der Lederbehoste in Jos Richtung und rollte das typische Augsburger R mindestens so schön wie seine Namensvetterin Carolin. »Herr Weinzirl«, er nickte Gerhard militärisch zu.

Gerhard atmete tief durch: Der Reiber – ausgerechnet! Erst kürzlich war er aus Augsburg nach Kempten versetzt worden. Hochgelobt vom einfachen Kommissar in die höheren Sphären echter Kriminalistik. Er hatte von Anfang an bei den Kollegen auf der Wahrung des unpersönlichen »Sie« beharrt. Er ging nie mal schnell mit auf ein Bier. Er trank nämlich keins, nur Tee!

Kein Wunder, befand Gerhard. Wer mit dem Augsburger Hasenbräu aufgewachsen ist, kann schon zum Abstinenzler werden. Daneben galt Augsburg immerhin auch als die Wiege des »Zwetschgendatschi«, daher der Name »Datschiburger«. Gerhard hasste Zwetschgen. Er hatte eine Zeitlang im Raum Augsburg gearbeitet und war mit der Stadt nie warm geworden – zu akkurat, zu sauber waren die gepflegten Gärten und Wege.

»Obiburg« nannte Gerhard die Schwabenmetropole deshalb auch. Keine Stadt hatte so viele Obis, Praktiker, Globus und Co. proportional zur Bevölkerung. Diese Heimwerkerkönige bunkerten allsamstäglich in Mammut-Märkten alles Erdenkliche für ihr properes Reihenhäusle und ihren geschleckten Vorgarten – als gäbe es nie mehr Nägel, Bohrmaschinen, Blättersauger und Gartenzwerge zu kaufen! Ein Horror für Gerhard, der eher ein Vertreter des kreativen Chaos war. Und was Gärten betraf, Gerhards nicht vorhandener grüner Daumen trieb sogar fehlerverzeihende Pflanzen wie eine Yucca in ewige Dörrnis.

Augsburg war für ihn genau wie Volker Reiber ein Symbol des Spießertums. Augsburg und Volker Reiber hatten von Anfang an keine Chance bei Gerhard bekommen.

Auch bei allen anderen Kollegen hatte der Augsburger Kriminalhauptkommissar sich schnell alle Sympathien verscherzt. Als er zum ersten Mal nach einer Lagebesprechung am allgemeinen Geplänkel teilnehmen wollte, hatte er ein Bonmot ganz tief aus der Mottenkiste gezogen, demzufolge man im Allgäu ist, »wenn d’ Kia scheener als d’ Föhla sind«. Das darf ein Allgäuer sagen, aber niemand aus Datschiburg! Als er dann noch mit einem jovialen »wir Schwaben müssen doch zusammenhalten« bei den Kollegen auf Verbrüderung machte, hatte Reiber die Fettnapfskala engültig ausgereizt.

Es gibt nun mal keine schlimmere Schmach für die Urallgäuer, als irgendwo im Ausland, das bereits am Ammersee oder in München anfängt, als »Schwaben« angesprochen zu werden. Ein Allgäuer ist ein Allgäuer ist ein Allgäuer! Kein Bayer und schon gar kein Schwabe! Das Unterland wie Kaufbeuren und Memmingen ignoriert der echte Bergallgäuer aus Oberstaufen, Balderschwang oder Füssen ebenso geflissentlich. Gerhard kam aus Eckarts bei Immenstadt, und das war nun wirklich ein perfekter Abstammungsnachweis!

2.

Gerhard Weinzirl nickte Volker Reiber säuerlich zu. »Das ist Johanna Kennerknecht, sie hat die Leiche entdeckt.«

Reiber checkte Jo – besser gesagt, er schien ihre Erscheinung regelrecht zu screenen: ihre mistverdreckten Bergstiefel, die Jeans mit Knieloch, aus dem eine froschgrüne Strumpfhose spitzte, den Fleecepulli Größe Super-Oversized, der übersät war von Pferdehaaren.

Volker Reibers gezischtes »Angenehm« bedeutete wohl das Gegenteil, und er schien nun schnellstens zum Tatort zu wollen. Sein Kollege, wohl der Mann von der Spurensicherung, schaute verzweifelt auf den Wagen, der halb im Schnee steckte. Dann stakste er wie ein Storch zum Heck des Autos, wühlte im Schnee und stemmte die Klappe des Kofferraums hoch, der sich augenblicklich mit Schnee füllte.

Jo senkte den Blick, um nicht zu grinsen. Gerhard Weinzirl sagte: »Ich würde Ihnen vorschlagen, den Jeep von Herrn Anwander zu nehmen, denn Ihrer …« Er brach mit einer Handbewegung in Richtung des BMW ab.

Sie holperten los, dank der Nicht-Federung des Anwanderschen Wagens touchierte der groß gewachsene Kripo-Dressman im Minutenrhythmus die Querstrebe des zerschlissenen Lederdachs. Kleine Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen, dachte Jo, rief sich aber sofort zur Räson, immerhin ging es um einen Toten, sogar um einen höchst brisanten Toten: HJ Rümmele. Er selbst hatte sich HJ rufen lassen!

Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Der großspurige Bau-Großkotz, der das Allgäu wie eine Spinne mit einem Netz von schwäbischen Zweitwohnungen überzogen hatte. Natürlich durfte sie das nur inoffiziell denken. Taktik war in ihrem Beruf oberstes Gebot – aber nicht gerade Jos Stärke!

Die Firma Rümmele-Bau hatte aber auch bei vielen anderen Bauvorhaben die Finger im Spiel gehabt, ob bei Reihenhauskomplexen oder bei Großprojekten. Rümmeles liebstes Kind war das Event Castle in Bühl am Alpsee. Seit Wochen war er in der Diskussion um diesen Freizeit-Fun-Park der größte Befürworter gewesen.

Am Fundort angekommen, hielt Jo sich am Rande und sah dem geschäftigen Treiben leicht abwesend zu. Die Stelle wurde vermessen und abgesteckt; der Arzt, den irgendjemand per Handy gerufen hatte, redete auf Volker Reiber ein, und Gerhard sah immer noch aus wie vor einer Zahnbehandlung.

Offenbar war es schwierig, irgendwelche Spuren zu sichern, denn seit gestern waren gut vierzig Zentimeter Neuschnee vom Himmel gerieselt. Von einem Auto oder einem sonstigen Fahrzeug gab es keine Abdrücke. Auch Schuhe, vielleicht feste Bergstiefel, passend zur Outdoor-Hose, waren nicht zu entdecken.

Volker Reiber kam auf seinen Lederslippern auf Jo zugeschlittert – auch ihm hätten Bergstiefel nicht geschadet. »Wann, sagen Sie, haben Sie ihn gefunden?«

Jo gab sich Mühe, exakt zu sein. »Es muss gegen elf gewesen sein, als Falco …«

»Von einem Falco weiß ich nichts«, blaffte Reiber sie an.

»Falco ist ein Fjordwallach -«

»Ein was?«, unterbrach sie Reiber.

»Ein Pony aus Norwegen, ein Fjordpferd eben, und der hat an dieser Jacke gezogen.« Sie deutete auf den Anorak, der auf einer Plane mit einer Nummer versehen dalag. »Die Jacke fiel dadurch zu Boden, mit ihr der Schnee vom Baum, und das gab den Blick auf Herrn Rümmele frei. Sonst hätte ich ihn nie gesehen.«

Volker Reiber stöhnte: »Ein Pferd hat die Spuren vernichtet.« Er sprach »Pferd« aus wie den Namen einer hoch ansteckenden Krankheit.

Reiber rutschte von dannen, die Hose vom Schneestapfen wie ein Autowischleder um die Beine geklatscht, brüllte weiter Befehle und rief schließlich zum Abmarsch.

Zum zweiten Mal suchte der Jeep seine Spur holpernd durch den Schnee, Reiber saß diesmal vorne. »Können wir Ihre gute Stube zur Befragung verwenden?«, versuchte er es jetzt auf die freundliche Art.

Der Anwander meinte nur: »Jo mei …«

Als sie über den Hof gingen, zog es Volker Reiber die Füße weg, und der Bauer bekam ihn gerade noch am Ärmel zu fassen. Ein »Danke« kam dem Augsburger Kommissar jedoch nicht über die Lippen. Die Karawane bezog die Küche, wo Zenta an der Spüle stand.

Volker Reiber wies alle an, Platz zu nehmen. »Wie spät ist es also beim Eintreffen von Frau Kennerknecht und dem Tier auf dem Hof gewesen?«, fragte er den Anwander und sprach dabei jedes Wort so betont aus, als würde er mit einem Taubstummen reden, der von den Lippen lesen muss.

»Grad elfe durch, I schaufel immer um elfe, und weit war i noit«, brummte der Anwander.

»Er schaufelt immer um elf Schnee und hatte gerade erst begonnen«, übersetzte Gerhard.

»Das ist doch keine Angabe«, entgegnete Reiber ungehalten.

Da kam es unerwartet von Zenta: »Isch es scho. I hab au grad zum Kocha agfanga, und i war au noit weit.«

»Hier läuft vieles in geregelten Bahnen«, mischte sich Jo ein, »danach können Sie die Turmuhr stellen.«

Volker Reiber bedachte sie mit einem langen Blick und fragte zuckersüß: »Und Sie, Frau Kennerknecht, reiten auch just immer um elf Uhr vorbei und waren auch ›noit weit‹?«

»Leider nein, ich hatte heute frei und habe den schönen Tag genutzt.« Jos Stimme war ein Eishauch.

Volker Reiber setzte ein Lächeln auf. »Am Montag haben Sie frei? Soso, haben Sie denn sogar einen eigenen Salon?«

Es herrschte ein kurzes Schweigen, dann platzte Gerhard mit einer Lachsalve heraus, die er nur durch hektisches Schlucken wieder unter Kontrolle brachte.

Jo sah verwundert zu ihm hinüber, dann begriff sie. Ein Salon? Der Lederstrumpf hielt sie für eine Friseuse! Sie fasste sich. »Ich glaube, wir wurden uns noch nicht richtig vorgestellt: Doktor Johanna Kennerknecht, Doktorin der Soziologie, geschäftsführende Direktorin des lokalen Tourismusverbands.« Sie konnte es sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Meine freien Tage gebe ich mir selbst, und da ich gestern, am Sonntag, noch spät auf einem Meeting war, war ich so frei …«

Im Raum hing die Stille schwer wie ein nasses Handtuch. Jo horchte ihren Worten nach: Frau Doktor Johanna Kennerknecht, Tourismusdirektorin. Klang großspurig. Der verhasste Name Johanna war eine Erbschaft von Großmama Johanna Maria Kunigunde. Es hätte also viel schlimmer kommen können: Kunigunde Kennerknecht!

Der Doktor entstammte einer bahnbrechenden Dissertation in Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über »Die Soziologie des Berufssurfers – eine Standortbestimmung«. Das buchte Jo nun eher unter Jugendsünde ab, inklusive der intensiven und intimen Recherchen am Gardasee an gleich zwei blondlockigen Berufssurfern. Die Note für das Werk war im »Na ja«-Bereich anzusiedeln, aber im Rigorosum war es Jo gelungen, den Professor durch Gegenfragen und Charme aus dem Konzept zu bringen. Sie hatte mit Halbwissen brilliert und war damit durchgekommen. Sie war – und das zog sich durch ihr gesamtes Leben – eine Meisterin im Dilettieren. Jo traute sich oft Dinge zu, von denen sie eigentlich besser die Finger gelassen hätte. Der wortgewaltig errungene Doktortitel gehörte dazu. Für die Stellensuche allerdings war der Titel von Vorteil gewesen. Sie hatte unter fünfzig Bewerbern und Bewerberinnen den Zuschlag als Geschäftsführerin des neu gegründeten Fremdenverkehrsverbands »Immenstädter Oberland« bekommen.

Zenta durchbrach das Schweigen. »Des isch ja kähl. Do hend Sie gar kuin richtiger Doktr, bloß so an Soz-Dingsda. Aber eigentlich isch des ja drohlet wie bohlet. Gstudiert sind dir!«

Jo lächelte Zenta freundlich an. Recht hatte sie, das war wirklich gehüpft wie gesprungen. Ihr war der Doktor sowieso nicht wichtig. Gerhard unterdrückte immer noch einen Lachanfall, Markus Holzapfel war mit bebenden Schultern zu Zenta an den Spülstein getreten und verkniff sich jeden Blick auf Volker Reiber.

Reiber selbst schluckte. »Aha, also Frau Doktor. Dann sind Sie ja so etwas wie eine lokale – äh – Instanz und kennen wohl auch den Toten?«

Jo straffte die Schultern. »Sie werden kaum jemanden finden, der ihn nicht kennt. Hans Joachim Rümmele ist …«, sie unterbrach sich, »Herr Rümmele war ein bekannter Bauunternehmer. Er war in diversen Ausschüssen und im Gemeinderat tätig.«

»Verheiratet?«, wollte Reiber wissen.

»Ja, mit Frau Denise Rümmele.«

»Wohnhaft? Nun lassen Sie sich doch nicht jede Information aus der Nase ziehen, Frau Doktor.« Reibers Ton war unangenehm.

Jo schluckte, und Gerhard antwortete an ihrer Stelle sehr kühl: »Die Rümmeles wohnen in Oberdorf am Niedersonthofner See, ich kenne die Adresse.«

Volker Reiber wies Gerhard an, ihn zu Frau Rümmele zu chauffieren. Zu Jo gewandt raunzte er: »Und Sie halten sich zur Verfügung!«

»Auweh.« Der Anwander durchbrach das Schweigen, denn sie alle schauten starr zur Tür, nachdem Volker Reiber und Gerhard verschwunden waren. Nur noch der Duft von »Obsession« hing in der Luft. Gerhards Kollege Markus, dessen niederer Dienstgrad für Volker Reiber wohl eine Beleidigung war und der einfach zurückgelassen worden war, sinnierte:

»Die erste Einschätzung des Arztes zur Todeszeit lautete fünf Uhr abends bis etwa acht Uhr abends. Aber so im Schnee, bei der Kälte …? Das kann auch später gewesen sein.« Er sah Jo eindringlich an.

»Du glaubst doch nicht, dass ich jemanden umbringe!« Jo war erschüttert.

»Ich glaube gar nix, aber für den schlauen Kollegen aus Augsburg ist offensichtlich, dass du nicht zu Rümmeles Bewunderern gehörst! Und außerdem wird Frau Rümmele dem Reiber die Szene am Sonntag im Gasthof Krone in Stein bestimmt in allen Farben schildern, vor allem den Auftritt von Peter Rascher. Du warst da, ich war da, das halbe Allgäu war da, und wir alle wissen, was passiert ist, als Rümmele ging.«

3.

Jo hätte gern Markus’ Fähigkeit zur Lakonik besessen. Ihr krampfte sich immer noch der Magen zusammen, wenn sie an gestern dachte. Rümmele war aus dem Saal im Gasthof Krone in Stein gerauscht. Mit ihm waren seine Gefolgsleute hinausgepoltert, bestehend aus seinem PR-Referenten und einem amerikanischen Planer, den Rümmele nur den »Visionär« nannte. Mit von der Partie war eine Assistentin im Britney-Spears-Look gewesen, Rümmeles Gattin Denise und einige Allgäuer Hoteliers. Und hinter diesem Tross war Peter Rascher hergelaufen. Er war nach vorne gestürmt, hatte Rümmele in der Tür erregt herumgerissen und gebrüllt: »Wenn du das tust, Rümmele, dann wirst du deines Lebens nicht mehr froh, und dein Disney-Abklatsch, der fliegt in die Luft!«

Die Sitzung war eindeutig eskaliert und das schon in einem so frühen Stadium der Planung. Eigentlich hatte man bei einem Weißwurst-Frühstück gegen halb zwölf Uhr ganz entspannt einer ersten Präsentation des Event Castle lauschen und dann in einer Podiumsdiskussion das Für und Wider abwägen wollen. Bis alle ihre Plätze eingenommen und ein wenig geplaudert hatten, war es ein Uhr geworden. Friedlich bis dahin, die Ruhe vor dem Sturm.

Das Castle war Rümmeles Baby – ein abstruser Plan, fand Jo, aber gerade deshalb so gefährlich. Jo moderierte, kam kaum über die einleitenden Worte hinaus, weil HJ seinen amerikanischen »Visionär« ins Spiel brachte. Dieser begann auszuführen: »Hello Allgäu« – er sprach das aus wie ›Olgei‹ – »Spielberg wird bald staunen. Das Olgei Event Castle katapultiert euch in die Zukunft.« Er tippte sich an den Cowboyhut, und Rümmele klatschte frenetisch.

Nun kam Britney zum Zug. Sie lächelte wie eine Verkäuferin im Shopping-TV, schob den gepiercten Bauchnabel ins Publikum und zappte eine todschicke Videopräsentation zusammen, die der Pressesprecher der Rümmele-Bau erläuterte. Das Event Castle sollte ein Erlebnisschloss direkt am Alpsee werden, eine Pazifik-Badelandschaft, eine bunte Welt der Düsen und Speedkanäle. Dazu Play Stations und High-Tech-Spiele, virtuelle Wanderungen, Höhlenbegehungen, Mountainbiketouren. Alles sauber, antiseptisch, klimatisiert, kunstlichtbeleuchtet.

An den Hang unterhalb von Zaumberg wollte Rümmele zudem ein »Step o’ Mountain« bauen. Britney war jetzt dazu übergegangen, ihre Präsentation mit ausholenden Handbewegungen zu untermalen, was ihr knappes Top unanständig weit hoch rutschen ließ. Dazu schwadronierte nun der Visionär weiter: »Frisch zu Berge mit der technologisierten Stahlbetontreppe mit ungefähr siebentausend Stufen. That’s it, Olgei! Die Unterkonstruktion wird, gestützt durch filigrane Stahlprofile, dem Geländeverlauf folgend aufgebaut. Trainer begleiten selbst ungeübte Mountain-Stepper – der Berg 3000 gehört dem Convenience-Kletterer!«

Convenience-Kletterer, Jo würgte an diesem Begriff.

Das alles wollten Rümmele und sein Visionär in das Umfeld eines künstlichen Schlosses verpflanzen, dem King Lui vorstehen sollte. King Lui würde Paraden abnehmen und Gäste begrüßen.

»Lui ist in Adaption des Märchenkönigs eine positiv konnotierte Person, die in royaler Ambiance die Historie involviert und so Empathie hervorbringt«, fiel nun gerade Rümmeles Pressesprecher wieder ein.

Einigen der Hoteliers stand der Mund offen. Jo wusste, dass sie kein Wort verstanden hatten, aber beeindruckt waren. Wie sie das hasste! Die Blender, die profilneurotischen PR-Strategen, hatten noch immer ein leichtes Spiel. Fremdwörter, Flip-Charts, technisches Blendwerk, blonde Staffage mit langen Beinen, und die Hoteliers lagen ihnen voller Ehrfurcht zu Füßen.

Sie sandte einen flehenden Blick zu Peter Rascher, dem Sprecher des Arbeitskreises Umwelt der lokalen Agenda-21-Gruppe, der mit ihr auf dem Podium saß. Sein Rauschebart wehte, als er aufsprang:

»Disney kann so was machen – wir nicht! Schaut euch doch um, wir haben einen echten See und echte Berge. Mit diesem Bau unterm Hotel Rothenfels verschandelt ihr den schönsten Ausblick auf den See, und dann noch diese Himmelstreppe! Was ist das für ein Himmel? Body-Kult für die Fit-for-Fun-Generation! Eitle Egoisten, die unterhalten werden wollen! Sollen die doch echte Berge besteigen, in unserem echten See baden. Bühl, ein uriger, kleiner Badeort, wird mit einem Großparkplatz zubetoniert. Das ist krank! Wir haben einzigartige Feucht-Biotope um den See, wir haben das Eckartser Moos. Das ist unsere Erlebniswelt, nicht die leere Hülle eines Schlosses, das nicht mal einen konzeptionellen Bezug zu seinem Innenleben hat.«

Aus einigen Ecken klopfte man zustimmend auf die Tische, und dann stand Rümmele auf.

»Peter Rascher«, er ließ den Namen im Raum verklingen, »unser ökologisches Gewissen. Ein Biologielehrer, der am Fellhorn die ersten Schneekanonen verhindern wollte, und heute hat jeder Skiort eine. Anders hätte der Wintersport gar nicht überlebt. Ist so jemand eine Instanz? Schaut ihn euch an, unseren Quoten-Öko. Nichts gegen eine Bio-Wanderung mit Schülern durchs Moos. Sollen sie was lernen, die lieben Kleinen. Aber unsere Gäste, die wollen Action, Events, Erlebnisgastronomie. Ihr redet doch immer von der Überalterung im Tourismus. Rascher, bleib in deiner Schule.«

Der Saal raste, die einen tobten vor Begeisterung, die anderen vor Wut. Jo schrie ins Mikro: »Ruhe verdammt, Ruhe alle!« Der Lärm flaute ab.

Jo versuchte ihr Bestes. »Nun benehmen wir uns doch wie erwachsene Menschen. Natürlich müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Region auch für den jungen Gast attraktiv machen können, aber ich halte nichts von so einem Kunstprodukt. Die Städter wollen und brauchen echtes Naturerleben. Und wenn ich Ihnen, Herr Rümmele, auch zustimme, dass Zwölf- bis Fünfzehnjährige von Blumenwanderungen nichts halten, so gibt es immer noch andere Wege. Lasst sie beispielsweise eine Inline-Skater-Schnitzeljagd machen oder Indianercamps mit Trekkingreiten, das sind Erlebnisse, die sie zu Hause nicht haben. In der Schweiz sind Anbieter sehr erfolgreich mit Mulitrekking oder auch mit Lamatouren. Den Umgang mit Tieren, das brauchen diese Stadtkinder, und echte frische Luft. Play Stations haben die Kids in ihren muffigen Städten auch. Wir haben doch ein gutes Beispiel vor Augen. Das Bergbauern-Museum in Diepolz, das ist eine sinnvolle Einrichtung. Unaufgeregt, liebenswert, preiswert für Familien. Da lernen Kinder endlich mal, wie eine echte Kuh aussieht, und anfassen können sie die echten Tiere dann auch!«

Peter Rascher klatschte und einige andere.

Rümmele lächelte Jo überheblich an, fast so, als wollte er ihr wie einem unwissenden Kind gönnerhaft in die Wange kneifen. »Unsere Frau Doktor und ihr Bergbauern-Museum! Brav, brav, ich hab ja gar nichts gegen euren kleinen Zoo da oben. Ganz brav gemacht, und all die bunten Kühe, die bemalten und die echten gleich nebenan. Und natürlich der gute Herr Gemeinderat – Gott hab ihn selig –, wie der da für sein kleines Projekt gearbeitet hat, ganz brav. So was stößt bei unserer Frau Doktor natürlich auf offene Ohren, gell! Selbst immer draußen bei Wind und Wetter – umgeben von stark riechendem Viechzeug. Brav, Frau Doktor, aber das ist nicht jedermanns Sache.«

Rümmele hatte wie stets die wunde Stelle getroffen und bohrte genüsslich darin herum. Tiere waren schon immer Jos Schwäche gewesen. Sie liebte sie nun mal leidenschaftlich. Sie adoptierte unentwegt verstoßene oder gequälte Kreaturen. So war das schon immer gewesen. Laut Kennerknechtscher Familiensaga hatte sie an die hundert Meerschweinchen gehabt und ständig Vögel mit geschienten Flügeln. Was Tiere betraf, war Jo überempfindlich. Und dann war auch noch die Sache mit HJ Rümmele auf der Gartenparty passiert. Jo musste leider ab und zu für honorige Bürger ganz private, ganz zwanglose Feste geben, auch für Rümmele. HJ hatte mit Kuchenteller dagesessen, hatte über seine Heldentaten schwadroniert, als Jos Kater Herr Moebius auf den Tisch gesprungen war und die Nase in die Sahne versenkt hatte. Alle hatten gelacht, aber Rümmele hatte den Kater am Nackenpelz gepackt und ihn gegen einen Baum geschleudert. Der kleine Moebius hatte in einem Ton geschrien, den Jo nie vergessen würde.

Ein Bein hatte merkwürdig verquer am Kater gehangen, als er versucht hatte, sich panisch ins Haus zu retten. Jo hatte ihn erwischt. Er hatte sich ein Bein gebrochen, das war reparabel gewesen. Viel schlimmer war, dass dieser kleine Kater, der auf jeden Menschen hoch erhobenen Schwanzes schnurrend zugeschossen war, sehr lange brauchte, um wieder Vertrauen zu fremden Menschen zu fassen.

Bei Rümmeles Worten spürte Jo die Ohnmacht, die sie damals empfunden hatte, wieder ganz akut. Sie war sehr empfindlich, wenn sie ihren Gerechtigkeitssinn verletzt sah, und Rümmele agierte immer unter der Gürtellinie. Ein ohnmächtiger Schmerz machte sich breit, einer, der im Magen beginnt, die Kehle zuschnürt und die Augen überschwemmt. Sie kämpfte mit den Tränen.

Peter Rascher merkte wohl, dass Jo nah am Wasser gebaut hatte. Er sprang in die Bresche und argumentierte weiter mit flammenden Worten: »Frau Kennerknecht hat völlig Recht. Wir müssen uns hier doch auf etwas besinnen, das wir wirklich können. Etwas, das zu unserer Gegend passt. Das Bergbauern-Museum ist das Genialste, das wir seit langem erdacht haben. Das ist sanfter Tourismus, aber einer mit Realitätsbezug! Wir wissen doch alle, dass die Abwanderung in bäuerlichen Gemeinden immens ist. Im Ort bleiben alte Leute und Mütter mit ganz kleinen Kindern. Der Rest pendelt zum Arbeiten in die Städte. Wenn aber alle unsere Bauern die Landwirtschaft aufgeben, dann sieht es düster aus für den Kulturraum Voralpenland. Wir brauchen die Bauern auch dann noch dringend als Landschaftspfleger, wenn sie längst nicht mehr gewinnbringend wirtschaften können.«

»Ach kommen Sie, Rascher, hören Sie mir doch auf mit Ihrem Bauernschmus. Das ist doch Romantisiererei einer längst untergegangenen Welt.« Rümmeles Ton war arrogant.

Peter Rascher haute so heftig auf den Tisch, dass sein Weißbierglas hüpfte. »Wir alle werden untergehen, wenn diese Welt wirklich stirbt. Sie auch, Herr Rümmele. Wenn unsere Bauern heute die Wiesen nicht mehr mähen, dann können wir der Erosion zusehen. Was würden Sie sagen, wenn die erste Mure Ihren privaten Palazzo Protzo wegfegt und Ihr Event Castle gleich dazu?«

Lacher brandeten auf. Rümmele lief knallrot an.

Jetzt war Peter Rascher in Fahrt. »Das Bauernmuseum in Diepolz zeigt diese Zusammenhänge auf, und nebenan befindet sich der erste Nutznießer. Die Sennerei kann gewinnbringend wirtschaften. Haben Sie den Käse mal probiert, Herr Rümmele? So etwas ist ein Geschenk des Himmels. Das ist ein Tourismus, der alle zusammenschweißt. Ihr Event-Schuppen hingegen ist eine dämliche Plastikwelt, ersonnen von Plastilin-Gehirnen.«

Der Saal kochte, alle schrien durcheinander, bis Rümmele hochschoss und einen dramatischen Abgang inszenierte. »Hört nur weiter auf eure sauberen Ökos. Wir bieten euch Arbeitsplätze, Aufträge für die Zulieferindustrie.« Er machte eine Kunstpause. »Ich kann das Event Castle auch am Tegernsee oder in Ischgl bauen, die sind da nicht so fortschrittsfeindlich wie hier in diesem hinterwäldlerischen, langweiligen Allgäu.«

Alarmglocken! »Arbeitsplätze« und »Fortschritt« – das waren die Marionettenfäden, an denen ganze Gemeinderäte zappelten.

Und dann gab ihnen Rümmele gleichsam den Todesstoß. »Da soll sich euer Rascher nur für irgendeinen zweifach getüpfelten Dickbauchfrosch einsetzen, für seine putzigen Allgäuer Kühe und eine Minderheit minderbemittelter Bauern. Ich gehe!« Sprach’s und rauschte aus dem Raum mit seinem Fanclub, gefolgt von Rascher und dessen hastig ausgestoßenen Drohungen.

Jo kehrte aus ihrer Erinnerung zurück. Sie schaute Markus an, der noch immer an einem von Zentas wackligen Küchenstühlen lehnte. Er hatte schon Recht. Frau Rümmele würde Peter Rascher mit Sicherheit zum Mörder hochstilisieren. Jo wusste, dass Markus mit seiner zeitlichen Einschätzung richtig lag. Peter Rascher und einige andere – sie selbst ja auch – waren bis etwa sieben Uhr sitzen geblieben und dann frustriert aufgebrochen. Jo sagte gequält zu Markus: »Aber der Peter Rascher würde nie jemanden umbringen.«

Nichts war mehr übrig von der Euphorie des Morgens. Jo erhob sich. Sie drückte dem Anwander und Zenta die Hand.

»Der Heiter isch im Stall, dem hob i eabas zum Freassa gäh«, sagte der Anwander. Falco! Den hätte Jo fast vergessen.

Als sie den Stall betrat, gab Falco ein leises Wiehern von sich und senkte die Nase sofort wieder ins Heu. Ihm schien es hier zu gefallen, der Anwander hatte zwei rabenschwarze Shetlandponys, die Falco Gesellschaft leisteten, und Falco liebte neue Gefährten – besonders solche, die kleiner waren als er.

Mechanisch legte Jo den Sattel auf und zurrte ihn erst gar nicht richtig fest. Sie ging zu Fuß neben ihrem Pferd her, bis zum Stall, der in der Ortsmitte von Gunzesried lag. Auf Falco warteten seine Stallkollegen. Fenja zwickte ihn sofort in den Hals und machte klar, wer die Chefin am Heuhaufen war. Falco trollte sich zu Ginger, einer zweijährigen Haflingerstute. Die biss er herzhaft in den feist gerundeten Hintern. Alles war wie immer bei den Vierbeinern. Ihr habt ein Leben, dachte Jo, als sie ihren Pferdestall verließ. Auf sie wartete niemand.

4.

Nachdem Gerhard mit Volker Reiber den Anwanderschen Hof verlassen hatte, fuhren sie schweigend durch Gunzesried und Blaichach. Es war immer noch ein Bilderbuchtag. Das Licht des Spätwinters tauchte die Landschaft jetzt am Nachmittag in klare, fast skandinavische Farben. Der Himmel begann von Orange in einen Rosé-Ton zu changieren. An vielen Häusern zierten Eiszapfen die Dachrinnen, Eisstalaktiten, die langsam dem Frühjahr entgegenschmolzen. In Stein zog sich die Sonne gerade vom Rodelhang zurück, und die Kids mit ihren Holzschlitten oder Plastikwannen trollten sich allmählich nach Hause. Es wurde rasch kalt, als die wärmende Sonne versunken war. Eine Horde Schneeball werfender Gören tobte gerade über die Straße – und klatsch: Ein Schneeball landete auf Gerhards Scheibe.

»Verrohte Bagage«, ließ Volker Reiber sich vernehmen.

Gerhard betätigte lediglich den Scheibenwischer und fuhr durch Eckarts mit der markanten Kirche oben auf dem Dorfhügel, schnitt die Kurven hinauf nach Dietzen und bog rechts ab nach Oberdorf. Das Auto rumpelte über eine tiefe Abflussrinne, und Reiber verzog schon wieder das Gesicht. »Und so was soll eine Straße sein.«

Gerhard hielt vor dem Anwesen der Rümmeles in Oberdorf. Eine weiße Villa, die ins Allgäu passte wie eine Moschee aufs Nebelhorn, und ein Meisterstück des Stilbruchs dazu: Klotzige, alpenbarocke Balkone trutzten neben ligurischem Schmiedeeisen. Reiber betätigte einen schweren Türklopfer, der zu einer Ritterburg gepasst hätte.

Eine Hausangestellte öffnete und führte Gerhard und Volker Reiber ins Innere. Die Eingangstür war so in den Berg gebohrt, dass sie in einen Gang führte, der das Anwesen unterhöhlte, dann in eine gewaltige, mit Fackeln beleuchtete Marmortreppe überging und die Besucher erst wieder oben in der riesigen Halle entließ. Dort grüßte eine Ritterrüstung zu einer Le Corbusier-Liege hinüber, vor der auf einem Muranoglastisch eine Ming-Vase stand.

Und dann sahen sie Denise Rümmele hereinschweben. Blond gefärbt, das Haar toupiert und von einem glitzernden Band gehalten. Jeder womöglich menschliche Gesichtszug war übertüncht, das Bleu der schweren Augenlider passte zum Kostümchen in ebensolchem Himmelblau. Ihre Figur war zweifellos sehr ansprechend, wenn auch das Alter der Dame dank der Bemalung völlig im Nebulösen lag. Sie konnte fünfunddreißig oder fünfundfünfzig sein, dachte Gerhard.

»Sie wünschen?«, fragte sie Volker Reiber.

»Gnädige Frau.« Reiber deutete einen Handkuss an und hatte erst einmal gewonnen. Mehr sagte er allerdings nicht.

Frau Rümmele blickte von einem zum anderen. »Sodele ja, sodele, dann setzet Sie sich doch.«

Reiber sah Gerhard zurechtweisend an. Natürlich, die Drecksarbeit blieb an ihm hängen. »Frau Rümmele, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Gatte tot ist. Wahrscheinlich wurde er ermordet.« Er sprach sehr akzentuiert und wunderte sich über seine Wortwahl. Gatte!

Der Hausangestellten entfuhr ein »Heiligs Blechle«, und Denise Rümmele stieß spitze Schreie aus, was zwei Yorkshire-Terrier auf den Plan rief, die mit hochfrequentem Quieken in Frauchens Lamento einfielen. Die Angestellte stürzte sich auf die Tiere, und es gab eine Art Handgemenge. Als sich das Chaos gelegt hatte, war Frau Rümmele gefasst, und es war Gerhard unmöglich, jetzt noch festzustellen, was sie angesichts des Ablebens ihres Mannes empfinden mochte.

Denise Rümmele wies Gerhard und Reiber einen Platz auf der Designerliege zu und drapierte sich selbst auf einen Biedermeierhocker. Sie massierte sich theatralisch die Schläfen. »Was sagen Sie? Ermordet?«

Gerhard gab ihr einen knappen Abriss der Vorkommnisse, währenddessen massierte sie weiter ihre Schläfen.

»Gnädige Frau«, hob Reiber nun an, »können Sie sich vorstellen, was Ihr Mann gestern Abend im Gunzesrieder Tal gemacht hat?«

Kopfschütteln. So ging das Frage-und-Antwort-Spiel eine Weile. Ihr Mann sei am Sonntag in der Früh mit seinem Wagen weggefahren; beim Event-Castle-Meeting habe man sich getroffen und danach wieder getrennt. Nein, zum Fundort könne sie nichts sagen und auch nicht zum Verlust der Schuhe.

Schließlich fragte Volker Reiber: »Hatte Ihr Gatte Feinde?«

Denise Rümmele schoss vom Hocker hoch. »Feinde? Hunderte! Hanoi – das sind doch Barbaren hier!« Sie begleitete das Ganze mit einer weit ausholenden Handbewegung. »Ich lebe hier in einem Exil, einer Verbannung gewissermaßen. Nur meinem Mann zuliebe, der sich ja unbedingt hier ansiedeln musste. Als hätte es nicht gereicht, eine Bürofiliale hier aufzubauen, oder?«

Gerhard hielt den Blick konsequent auf den von irisierenden Mustern durchzogenen Fliesenboden gerichtet. Wenn diese Frau jenseits des Inhalts ihrer Rede nicht auch noch diesen Dialekt sprechen würde! Sie bemühte sich zwar ums Hochdeutsche, konnte aber ihr breites Stuttgarterisch kaum verleugnen. Ihm wurde übel – zumal er schon wieder Hunger hatte.

Frau Rümmele war nicht mehr zu bremsen. »Verbannung, sage ich. Woisch, Sie kriegen hier nicht mal Weckle!«

Gerhards Kopf zuckte hoch. Zufällig wohnten seine Eltern in Eckarts, und da es dort keinen Lebensmittelladen oder Bäcker gab, kauften sie in Oberdorf bei der Bäckerei Speiser ein. Brot gab es hier zweifellos, bloß klangen die Anekdoten rund ums Brot, die seine Eltern erzählten, ganz anders!