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SCHWARZE SEELEN

GIOACCHINO CRIACO

SCHWARZE SEELEN

ROMAN

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

FOLIO VERLAG
WIEN • BOZEN

© der deutschsprachigen Ausgabe
FOLIO Verlag Wien • Bozen 2016
Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto: © Francesca Casciarri/Calias

Grafische Gestaltung: Dall’O &Freunde
Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart
Printed in Europe

ISBN 978-3-85256-684-9

www.folioverlag.com

Viel, zu viel Blut haben die Söhne des Waldes vergossen – Brüder, auf sinnlose und dumme Weise getrennt.
Mögen Gott und die Götter ihren kriegerischen Geist besänftigen, und den Dämon austreiben, von dem sie besessen sind.

Wir gingen schnell, kämpften uns durch feuchtes Farn- und Heidekraut. Er voran, ich folgte wie ein von Hunden gezogener Schlitten. Wir hatten die Tiere gemolken, sie im Stall eingeschlossen und die Milch abgestellt, dann waren wir in der Dämmerung aufgebrochen, wir mussten das Gebirge überqueren, das eine Meer hinter uns lassen und so lange gehen, bis wir ein anderes sahen. Das Schwein sollte uns viele Kilometer entfernt übergeben werden.

Es regnete seit Tagen. Doch die Regenjacke des schweren Tarnanzugs des Ejército español war wasserdicht, Hemd und Hose blieben trocken. Die Körperwärme entwich schubweise, und durch die offene Innentasche überprüfte ich immer wieder, ob das AK-47 nass wurde. Bei der Berührung des kalten Metalls bekam ich einen zusätzlichen Adrenalinstoß. Ich berührte den plumpen Abzug, versicherte mich, dass er auf U und nicht auf R oder J stand. Wir durchquerten dichte, niedrige Eichenwälder, streiften immer wieder dornige Ginsterbüsche, die den Stoff einrissen und die Haut zerkratzten; wir brachen durch enge Pinienreihen, ihre niedrigen, dürren Äste suchten zielsicher das Gesicht; wir mussten den Kopf senken und uns mit dem Schild der Kappe gegen den Angriff wehren; wir gingen durch hohe majestätische Lärchenwälder, ihre weichen Nadeln lagen am Boden und darunter verbargen sich tiefe, von Wildschweinen gegrabene Löcher; wenn man hineintrat, stellte sich heraus, ob man elastische und kräftige Knöchel hatte, trat man allzu kühn hinein, bedurfte es kräftiger Schultern – wenn sie denn da waren – als Stütze.

Wir gingen durch riesige Buchenwälder, die die Ebene beherrschten, das knisternde Laub konnte im stillen Wald ohrenbetäubenden Lärm verursachen.

Als wir den Gipfel erreichten und uns an den Abstieg machten, wiederholte sich die Vegetation in umgekehrter Reihenfolge. Für Unerfahrene wäre eine derartige Überquerung selbst am helllichten Tag ein Wahnsinn, wenn nicht gar Selbstmord gewesen. Dichte Wälder, glatte Felsen, wilde Gebirgsbäche, hinterhältige Steilhänge, Stacheldrahtzäune.

Er verschmolz mit der offenbar wilden Natur, tauchte völlig ein und wurde ein Teil von ihr, ein wesentlicher Teil. Die Berge, die sich gegen Übergriffe wehrten, nahmen ihn auf, und er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt.

Er war fest davon überzeugt, dass er und die Berge zwei Dinge hassten, Eichen und Schweine, denn beide waren schädlich für die Umwelt. Die Eiche trocknete den Boden aus, dank ihrer Früchte wurden die Schweine fett, und sie wiederum zerstörten Wälder, Dämme, Pilzstände, Felder und Weiden.

Er kannte jeden Übergang, jeden Baum und Bach, jede Klippe, jeden Unterstand und jede Falle, wie das nur ein Einheimischer konnte. Er war hier geboren und aufgewachsen. Er war zwar eine Zeitlang weggegangen, doch die Berge hatten ihn gnadenlos zurückgeholt. Wer hier geboren wurde, starb hier auch. Man starb aus zweierlei Gründen, aus Armut oder im Kugelhagel. Sowohl dem einen als auch dem anderen konnte man nicht entkommen.

Er, das war mein Vater.

Ein typisches Produkt dieser Erde. Untersetzt, kräftig, robust. Gleichzeitig verhärtet und zerbrechlich.

Vor allem aber war er entschlossen, durchzuhalten um jeden Preis, auch wenn er gegen das Gesetz oder die Moral verstoßen musste.

Gemeinsam gingen wir über den Weg, der uns zum Schwein führte, der Nahrung und dem Gift unserer Erde.

Als wir ankamen, war es bereits Nacht. Wir sondierten die Gegend, indem wir immer enger werdende konzentrische Kreise zogen. Niemand da. Nur die nachtaktiven Tiere leisteten uns Gesellschaft. Wir setzten uns auf zwei große Steine hinter der Leitplanke am Rande der Nothaltebucht. Warteten.

Hin und wieder durchbrach ein Geräusch die stille Nacht. Zwei Scheinwerfer erhellten die Dunkelheit. Fahrzeuge fuhren vorbei. Warten.

Nach ein paar Stunden hörten wir ein Dröhnen anderer Art. Ein Lastwagen fuhr langsamer, blieb stehen. Eine Tür ging auf und Schatten sprangen über die Planke und kauerten sich auf den Boden. Der große Lastwagen fuhr wieder los.

Nach einigen Sekunden herrschten wieder Dunkelheit und Schweigen.

Ich konnte sie riechen, ich wusste, was sie dachten. Sie hatten keine Angst, sie wussten, dass sie erwartet wurden. Dann vertrieb ein kurzer, trockener Pfiff meines Vaters jede Befürchtung. Sie hatten es geschafft, sie waren in Sicherheit. Die Last der Schuld, die sie mitbrachten, wurde jetzt auf die starken Schultern meines Vaters geladen.

Ich bemerkte, dass ich nervös war. Das Schwein war behände ausgestiegen, ruhig und aufrecht. Ich hatte gehofft, es würde gebeugt sein und jammern, damit ich keinen Respekt empfinden musste und auch kein Mitleid.

Er war jedoch aufrecht und mit erhobenem Kopf auf uns zugekommen. Seine Haltung sagte uns, dass er keine Angst vor uns hatte. Und sie sagte auch, dass das Wichtigste für ihn, seine Familie, weit weg und in Sicherheit war. Er hatte keine Angst, uns gegenüberzutreten.

Das verhieß nichts Gutes, dachte ich.

Wortlos gingen wir zu ihm hin. Mein Vater nahm Lucianos Hand, legte sie auf seine Schulter und führte ihn weg, bis sie sich in einem Sicherheitsabstand von der Straße befanden. Dasselbe machte er mit Luigi. Dann nahmen wir das Schwein in die Mitte und gingen zu ihnen hin. Im Morgengrauen würden wir wieder aufbrechen.

Als es so weit war, wandte sich mein Vater an das Schwein, sprach leise und sanft mit ihm – er erklärte ihm, dass der Weg lang sein, dass er ihm die Handschellen abnehmen würde, dass wir immer Halt machen würden, wenn er müde war, dass er zu essen und zu trinken bekommen würde, wenn er hungrig und durstig war, und dass er ihn an den gefährlichsten Stellen tragen würde. Wenn er sich jedoch wehrte, würde er ihn zwingen und über den Boden schleifen.

Das Schwein nickte zustimmend und wir brachen auf.

Wir gingen schnell. Nach ein paar Stunden beschloss mein Vater, dass es für die anderen an der Zeit war, eine Rast einzulegen.

Endlich durfte ich meine Freunde umarmen, allerdings wortlos. Ich stellte den Rucksack auf den Boden, holte den Kocher heraus und machte Kaffee. Im Eichenwald fiel leichter Aprilregen, ich teilte Schokolade und Kekse aus und betrachtete die seltsame, am Boden kauernde Truppe, die darauf wartete, dass die Mokkamaschine pfiff und spritzte und sich Kaffeeduft verbreitete. Eine friedliche Szene, nur die schwere Kapuze, die das Schwein trug, störte.

Der Kaffee stieg auf und brodelte. Ich leerte ihn in Plastikbecher und verteilte sie. Luciano war begeistert, das war für ihn das Beste an den Bergen. Hin und wieder kam er herauf und machte eine große Wanderung, einfach weil er Lust dazu hatte, und wenn er müde war, lehnte er sich an einen Baumstamm, trank den Kaffee, den ich ihm zubereitete, und zündete schließlich seine unvermeidliche Zigarette an; er zögerte diesen Moment immer so lange wie möglich hinaus, um ihn noch mehr zu genießen. Nach der Nacht im Lastwagen, dem langen Marsch freute er sich über das Leben, das er führen durfte, mit der Zigarette im Mund.

Wir tranken Kaffee, aßen Schokolade, und als Luciano sich wie nebenbei noch eine anzünden wollte, die dritte, riss mein Vater sie ihm aus dem Mund und wir setzten uns wieder in Bewegung. Das Schwein ging ganz ruhig, verlangte kein einziges Mal eine Pause, Wasser oder Essen, deshalb kamen wir früher an als vorgesehen. Mein Vater ging uns schnellen Schritts voraus, und als wir eintrafen, standen schon die dampfenden Teller auf dem Tisch, randvoll mit Ricotta und Molke, Brotschnitten daneben. Wir langten ordentlich zu, auch dem Schwein schmeckte die Spezialität. Mein Vater hielt Wache, und wir vier, auch der mit der Kapuze, streckten uns auf den Ginstermatten in der Wärme des Gasofens aus.

Nach ein paar Stunden weckte uns mein Vater, die Geisel war nicht mehr da, er sagte, er habe sie in ihre Unterkunft gebracht.

Wir versteckten Waffen und Tarnanzüge, zogen uns um, ich half beim Ziegenmelken, wir stiegen ins Auto und fuhren über die Schotterstraße voller Kurven und Schlaglöcher ins Dorf.

Am Morgen darauf nahmen wir wie immer um 6.30 Uhr den Autobus und fuhren in die Stadt. Wir gingen ins Gymnasium und drückten fünf Stunden lang die Schulbank.

Damals hielt ich es für ganz normal, dass man einen Mann als „Schwein“ bezeichnete. So nannten die Hirten des Aspromonte die zahlreichen Geiseln, die in den dichten Wäldern versteckt waren.

Um die Bezeichnung „Hirte“ zu verdienen und um Herren der Berge und ihrer Bewohner zu sein, musste man Ziegen hüten, nur sie waren edle Tiere, würdig, auf den unzugänglichen Höhen zu grasen. Die Ziegen waren Gefährtinnen und Freundinnen.

Ein wahrer Hirte verachtete Schafe, dumme Herdentiere; er fürchtete Kühe, wegen ihrer fast menschlichen Gefühle, und er mästete jedes Jahr ein Schwein, obwohl es schädlich für die Umwelt war, es wurde gesondert gehalten und nur mit Molke und Abfällen gefüttert. Ein ekelhaftes Tier, aber notwendig, um den harten Winter zu überleben.

Und überkommenen Gepflogenheiten zufolge, von denen die Alten erzählten, besaßen die Hirten nicht nur einen Schweinestall in der Nähe des Ziegenstalls, sondern einen zweiten, geheimen und perfekt getarnten im dichten Wald, der für eine schmutzige, aber lukrative Tierhaltung bestimmt war. Nötig für den wirtschaftlichen Aufschwung, der, wie man überzeugt war oder sich überzeugen hatte lassen, unmittelbar bevorstand.

Damals war das so, für viele und auch für mich.

Darin bestand ein paar Jahre lang die Haupttätigkeit meines Vaters und auch meine.

Zu Beginn des Frühjahrs bauten wir ein paar Kilometer vom Stall entfernt einen neuen Schweinestall. Während der milden Jahreszeit hielten wir dort vier, fünf Monate lang eine Geisel. Wir kassierten die vereinbarte Summe, und sobald das Lösegeld bezahlt war, übergaben wir die Geisel, die dann ganz woanders freigelassen wurde.

Gott, der den Armen gegenüber großzügig ist, hatte meinem Vater sieben Kinder geschenkt. Ich war der Älteste, dann waren fünf Mädchen gekommen, dann wieder ein Junge.

Als Kind hatte mein Vater bei den Hirten ausgeholfen, oder besser gesagt, er war ihr Knecht gewesen. Nach seiner Hochzeit war er ausgewandert und hatte seinen Lohn bis auf die letzte Lira nach Hause geschickt. Und als er den nötigen Betrag zusammengespart hatte, um sich eine Herde zu kaufen, war er in seine geliebten Berge zurückgekehrt.

Meine Kindheitserinnerungen beschränken sich auf eine Zinkwanne, in der wir uns einmal die Woche der Reihe nach wuschen, ohne das Wasser zu wechseln; auf Nudeln und Kartoffeln abwechselnd mit Gemüsebrühe, auf mit Wasser gestreckte Tomatensauce, gestopfte Kleider, immer dieselben, löchrige Sandalen sommers wie winters; auf ein gemeinsames Bett mit einer Eisenstange in der Mitte, die ich noch immer im Rücken spüre.

Luciano hatte dieselben Erinnerungen, abgesehen davon, dass er seinen Vater nie kennengelernt hatte, der vor seiner Geburt von Blei durchsiebt worden war.

Luigi, das jüngste von zehn Kindern, dessen Vater in allen Kneipen im Dorf zu Hause war, hatte bei uns die Familie gefunden, die er vermisste.

Alle unsere Altersgenossen hatten dieselben Erinnerungen, dennoch waren nicht alle zu einer derart giftigen und todbringenden Frucht herangereift wie wir. Wir zerstörten Leben, leise und offenbar gewaltlos, wir waren die gefährlichsten.

Wer nicht zur Familie gehörte, war ein Feind und potenzielles Opfer. Untereinander waren wir herzlich, fürsorglich, fast zärtlich.

Ob wir nun so geworden sind oder ob wir genetisch prädisponiert waren, unsere Gewalttätigkeit hat nicht nur uns Schmerz und Leid gebracht, sondern auch Menschen, die dachten, vor uns sicher zu sein.

Mit neunzehn hatten wir bereits gestohlen, Überfälle begangen, Menschen entführt und getötet. Wir lehnten die Welt, in der wir lebten, ab, weil sie nicht die unsere war, und nahmen uns, was wir wollten.

Der nächtliche Marsch durchs Gebirge sollte endgültig unser Leben verändern und auch das von vielen anderen. Es war der letzte falsche Schritt in einer langen Reihe von Irrtümern. Wir befanden uns auf einer Fahrt in die Hölle. Nicht, um wie üblich der Mafia einen Dienst zu erweisen, hatten wir die Geisel in Empfang genommen. Dieses Schwein hatten wir selbst gefangen, oben, in der nebeligen Poebene.

DIE SÖHNE DER WÄLDER

 

Drei normale Schüler, so wirkten wir nach außen hin.

Luigi war in der Schule faul, wie übrigens auch im Leben; ich war durchschnittlich, kam gerade so durch; Luciano hingegen war der klassische Streber, es gab kein Thema, bei dem er sich nicht auskannte, kein Buch, das er nicht gelesen hatte.

Wir gaben jedoch nicht nur vor, brave Jungs zu sein, wir waren es tatsächlich: wohlerzogen, nie frech. Unsere Welt bestand jedoch nur aus uns dreien, wir waren in ein und derselben Siedlung zur Welt gekommen und aufgewachsen. Kindergarten, Volksschule, Gymnasium: immer zusammen, und wir hatten uns geschworen, so würde es immer bleiben. Nichts würde uns je trennen.

Monatelang, jahrelang hatte man uns ausgeschlossen. Die Kinder der Hirten sollten ins Gymnasium gehen? So hatten alle gedacht. Aber letztendlich hatten uns auch die Klassenkameraden willkommen geheißen, denn mit der Zeit gewöhnt man sich an alles.

Doch wir waren anders als die Söhne der Unternehmer und der wohlsituierten Bürger. Die Jause, die Jahreskarte für den Bus, die Bücher, die Kleider, die Freizeitbeschäftigungen, die Studiengebühren mussten wir uns selbst bezahlen. Die Alternative hätte darin bestanden, zu einem Mindestlohn in der Werkstätte eines Automechanikers oder in einem Frisiersalon zu schuften, wir hätten einem Maurer geholfen oder schlimmstenfalls Ziegen gehütet.

Schon als kleine Kinder hatten wir einen Plan. Wir hatten eindeutig andere Ambitionen.

Alle wussten, dass es in der Stadt einen alten Waffenhändler gab, der keine Fragen stellte, man musste ihm nur Geld geben. Also brachen wir in Wohnungen und kleine Läden ein und tauchten mit siebenhunderttausend Lire bei Cavalier Attilio Fera, dem Waffenhändler, auf. Mit einem legendären Colt Cobra Kaliber .38 Special und einer nicht minder berühmten Beretta 7,65 M70, einer Selbstladepistole, gingen wir weg.

Damit begann die Jagd nach Geld, um unseren Traum zu verwirklichen.

Autofahren war das Einzige, das Luigi unvergleichlich gut konnte. Wir lernten schnell, Autos zu knacken, es wartete immer eines auf uns, versteckt in einer Gasse oder hinter einem Schilfröhricht. Und mindestens einmal im Monat blieben in der Schule drei Plätze frei. Postämter am Stadtrand, kleine Dorfbanken, Gemeindeschatzämter, Juweliere waren uns bald äußerst gut vertraut.

Wir kauften uns nun öfter mal neue Kleider und zogen uns jetzt genauso gut oder sogar besser an als die anderen, zu Hause gab es schmackhafteres Essen und ich bekam ein eigenes Bett.

Als ich das erste Mal Geld nach Hause brachte, weinte meine Mutter einen ganzen Tag lang, als wäre sie in Trauer, mein Vater senkte den Kopf, schwieg eine Woche lang, und dann wurde er Schweinehirt.

In diesen Jahren wurden nicht nur berühmte, sondern auch weniger bekannte Menschen entführt, kleine Landbesitzer, deren Entführung nur wenige Tage oder höchstens einen Monat dauerte und, gemessen am Risiko, sehr wenig einbrachte. Aber für jemanden, der gar nichts hatte, waren ein paar Millionen Lire viel oder alles.

Anders als früher ging mein Vater nun hin und wieder am Abend in eine Bar. Nach einer Weile tauchten seine neuen Freunde bei uns im Stall auf. Merkwürdige Leute. Männer, die eine ganz eigene, altertümliche, geheimnisvolle und unverständliche Sprache sprachen, sie erwähnten die Namen von tüchtigen, fähigen, anständigen Leuten.

Plötzlich brach eine unbekannte Welt in mein Leben ein, sie bestand aus jovialen Zärtlichkeiten und feuchten Küssen, eine tödliche Umarmung. Später kam mir allein beim Gedanken an diese Welt das Kotzen.

Am Anfang bemerkte ich den Dreck nicht. Ich und mein Vater verliebten uns in diese Menschen. Nur Luciano begriff, wer sie waren, er hielt sie nicht aus. Er versuchte uns klarzumachen, wie armselig sie waren, dass sie uns reinlegten. Doch letztendlich folgte er mir, wie immer, wie bei allen Dingen.

Die, wie Luciano sie nannte, gingen ein paar Jahre lang in unserem Leben und in unserem Stall ein und aus. Feste, bei denen auf unsere Kosten gefressen und gesoffen wurde, waren an der Tagesordnung.

Drei- oder viermal brachten sie uns Geiseln, auf die wir aufpassen sollten und die kurz vor ihrer Freilassung abgeholt wurden; doch vom Geld blieb nie viel übrig, die Ärmsten mussten sich ja um viele Menschen kümmern, um Witwen und inhaftierte oder flüchtige Freunde. Sie ließen uns ein paar Millionen Lire da und versprachen, dass es beim nächsten Mal besser laufen würde.

Und so begannen wieder die Fressorgien, man umarmte und küsste einander, man schwor einander Freundschaft und lebenslange Treue, man suchte Patenschaften für die Kinder. Die Einnahmen wurden für Feste ausgegeben, für Verpflichtungen, man musste den Besuch der Freunde ja erwidern, und bei den Hochzeiten, zu denen man immer wieder eingeladen wurde, musste man sich mit einem fetten Umschlag einfinden.

Abwechselnd mit denen tauchten im Stall auch welche auf, die wir als Schatten bezeichneten, Flüchtige, Gesuchte, Geflohene; immer war einer da, für den wir sorgen mussten. Für gewöhnlich waren es arme, ahnungslose Jungs, die von denen, ihren Freunden, in Schwierigkeit gebracht worden waren, arme Teufel, die, um sich nicht länger in feuchten und dunklen Häusern verstecken zu müssen, in die Berge kamen, um Frischluft zu tanken.

Sie hielten nicht lange stand, sie hielten die Entbehrungen und die Einsamkeit nicht aus. Viele wurden im Dorf in einer Nische hinter einem Schrank gefasst und landeten im Gefängnis, andere flüchteten in große Städte des Nordens oder ins Ausland, und nicht wenige landeten in einem Graben.

Die meisten Gespenster, die bei uns Unterschlupf gefunden hatten, vergaßen uns Hirten, einige blieben uns jedoch in tiefer Zuneigung verbunden, die erfolgreicheren unter ihnen hörten nicht auf, uns immer wieder etwas zu schicken.

Zu den Schatten, die uns nicht vergaßen, gehörte auch Stefano Bennaco, ein verspielter dreißigjähriger Junge, der wegen einer schiefgegangenen Entführung Lebenslänglich bekommen hatte. Im Baskenland hatte er schließlich Zuflucht gefunden; auch er liebte die Berge, von allen durchreisenden Gästen hatte er am längsten standgehalten. Über einen Cousin schickte er uns, was uns im Wald von Nutzen sein konnte: Rucksäcke, Zelte, Tarnanzüge, Bergschuhe, Angeln, Bogen, Feldlampen, Liegen. Um die Ausrüstung zu verstauen, hatten wir sogar eine kleine Hütte bauen müssen. Sie wurden aus zweierlei Gründen Schatten genannt: weil sie eine offene Rechnung mit dem Gesetz oder mit anderen Personen hatten; wenn bereits Blut geflossen war, wurden die Schatten zu schwarzen Seelen oder zu tingiùti, zu Kohlegeschwärzten, je nachdem, ob sie aller Voraussicht nach lebend davonkommen würden oder todgeweiht waren.

Im Besonderen erinnere ich mich an zwei Schatten, an einen Kohlegeschwärzten, Donato Porcino, und an eine schwarze Seele, Sante Motta.

Der Vater des armen Donato hatte sich geweigert, die Einwilligung zur Hochzeit seiner Tochter mit einem Banditen zu geben, doch dieser hatte sich über die Weigerung seines Beinahe-Schwiegervaters hinweggesetzt, die Frau mit Gewalt genommen und ihn getötet. Donato hatte Rache geschworen und war untergetaucht.

Da er wusste, dass sein Vater der Taufpate meiner Mutter war, und da ihm Freunde und enge Verwandte die Tür vor der Nase zugeschlagen hatten, tauchte er mitten in der Nacht bei uns zu Hause auf. Wir führten ihn ins Gebirge und versteckten ihn ein paar Monate lang, wir versuchten ihn zu überzeugen, dass es am besten war, eine Zeitlang aus dem Dorf zu verschwinden, wir würden ihn zu einem befreundeten Schatten in den Norden schicken. Doch er bestand darauf, zu einem Freund zu gehen, der in einem nahen Dorf wohnte; er sagte, der sei eine anständige Person und würde ihm helfen. Wir führten ihn über die Berge, und als wir den Stall seines Freundes sahen, umarmte er uns und dankte uns aufrichtig. Ich versuchte ihn ein letztes Mal umzustimmen, ich sagte, ich würde ihm bei seinem Rachefeldzug helfen, er antwortete, einen Freund ziehe man nicht in Schwierigkeiten mit hinein.

Dank seines Freundes sahen wir ihn nie wieder.

Sante Motta, der zweite Schatten, war der uneheliche Sohn eines alten Banditen, der ein Leben in Wohlstand geführt, seine ehelichen Kinder behütet aufgezogen und zur Schule geschickt hatte. Sante hatte nur das bekommen, was übrig geblieben war. Und als die Zeiten sich änderten und neue und grausame Padrini die faul und fett gewordenen Ehrenmänner ersetzten, als Don Santoro Bekanntschaft mit Bleikugeln und dem Herrn der Finsternis schloss, verkauften die legitimen Erben alles und gingen fort, um die Früchte von dreißig Jahren Camorraleben zu genießen. Nur Sante vernahm die Stimme des Blutes, mit Gewehrschüssen eroberte er sich die Stelle seines Vaters und war nun der einzige Sohn.

Sante hatte jahrelang ein wahres Einsiedlerdasein geführt und nur ganz wenigen Menschen Vertrauen geschenkt. In der Zeit auf der Flucht hatte er nicht nur den Tod gesät, sondern auch viel Geld gemacht, als einer der ersten hatte er den Drogenhandel für sich entdeckt. Und erst als er glaubte, den Sieg errungen zu haben, gab er die Deckung und das langjährige Misstrauen auf und kehrte zu seinem wenig fürsorglichen Vater heim. Allerdings wurde er seinem Ruf gerecht und nahm vier der gedungenen Mörder mit in den Tod, die von den zahlreichen, weit verstreuten Waisen bezahlt worden waren, um ihn kaltzumachen.

Sante vererbte uns einiges Gutes und einiges Schlechtes: ein AK-47 und eine CZ 75, ein russisches Maschinengewehr und eine Dienstpistole des tschechoslowakischen Heeres, für damalige Verhältnisse ultramoderne Waffen, denn damals kannte man bei uns höchstens Doppelflinten Kaliber 12 von Beretta oder Franchi; er öffnete uns die Augen bezüglich der Ehrenmänner und versaute unsere Seelen, denn er lehrte uns zu töten. Seine Mutter, Witwe eines Hirten von auswärts, lebte im Dorf ihres verstorbenen Mannes, wo man ein anderes Meer sah als bei uns, hatte fünf Kinder von fünf verschiedenen Vätern, sie war die ältere Schwester meines Vaters. Er hatte ihr den Lebenswandel nie verziehen, zu dem sie von Not und Elend gezwungen worden war, und grüßte sie nicht mehr, er nahm die Feindschaft mit ins Grab.

Aus diesem Grund war Sante zu uns gekommen, wir waren sein Fleisch und Blut. Und wegen seiner Schwester war mein Vater kein Ehrenmann geworden und konnte auch keiner werden, er erwies den Mafiosi höchstens hin und wieder einen kleinen Dienst.

Die Alten bezeichneten uneheliche Kinder als Maultiere, sie sagten, Gott sorge dafür, dass sie ihren leiblichen Vätern ähnlich sahen, um der Welt deren Sünde zu offenbaren. Sie versuchten ihr ganzes Leben lang unter Beweis zu stellen, dass sie bessere Söhne waren als die offizielle Nachkommenschaft und dass sie die Liebe der Väter mehr verdienten als jene. Und so war es auch tatsächlich.

Sante vertraute uns jedoch an, dass sein Vater ihn – ganz im Gegenteil – oft zu sich hatte kommen lassen, dass sie ein herzliches Verhältnis gehabt und er ihm, mehr als den anderen, sein Wissen weitergegeben hatte. Der alte Boss hatte stets damit gerechnet, umgebracht zu werden, und ihm geraten: „Wenn sie mich umbringen, mach nur das, wonach dir ist, mach nur das, was du aus freien Stücken tust … und was du allein, ohne fremde Hilfe schaffst. Wenn du zuschlägst, zieh es durch, bevor sie begreifen, woher die Schläge kommen; denn wenn du diese Straße einmal eingeschlagen hast, kannst du nicht mehr zurück, früher oder später begegnet dir eine Waise, außer du hattest den Mut, sie schon als Säugling kaltzumachen. Wenn du Unterschlupf suchst, geh zu Menschen, die wenig Ansehen besitzen, sie fühlen sich geehrt und werden dich nie verraten; den Ehrenmännern geh jedoch aus dem Weg, mittlerweile sind sie das Krebsgeschwür unserer Erde; wenn sie reden, geben sie sich klug, ehrenhaft, loyal, doch ihre wichtigsten Vertreter sind in Wirklichkeit fast immer Dummköpfe, Verräter, Angeber und Komödianten.“

Und Sante erklärte, was seinem Vater zufolge ein Komödiant war: Wenn ein Ehrenmann einen Feind hatte und dieser als nicht gefährlich galt, konnte man ihn erschießen und brauchte nicht zu vertuschen, wer der Täter war. War der Gegner jedoch gefährlich, musste man ihn unbedingt ausschalten, allerdings ohne die Konsequenzen zu tragen; man musste also jemanden finden, der die Sache für einen erledigte oder dem man die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Man wartete, mitunter Jahre. Wenn das auserkorene Opfer einen Streit hatte, schlug man augenblicklich zu; die Angehörigen, die vor Trauer blind waren, richteten ihren Hass auf den letzten Feind des Opfers und vergaßen darüber ganz auf seine alten Feindschaften, und zur Freude des Komödianten rotteten sie sich gegenseitig aus. War das nicht möglich, legte man Köder aus, und sobald der Richtige gefunden war, schlug man zu. Und irgendein armer Trottel, überzeugt, die Welt von einem Verräter befreit zu haben, stand mit dem rauchenden Gewehr in der Hand da und trug die Konsequenzen.

Beim Tod seines Vaters erinnerte sich Sante an dessen Lehren und verbarg Hass und Trauer, nahm nicht am Begräbnis teil, er war ja nur ein im Stich gelassenes Maultier, führte eine Zeitlang sein gewohntes Leben weiter, und unter dem Vorwand, dass man in unseren Breiten verhungerte, verabschiedete er sich von allen, auch von den Mördern seines Vaters, und versuchte in der Fremde sein Glück.

Nach ein paar Jahren kehrte er mit einem Maschinengewehr zurück und schlug an einem einzigen Tag viermal zu, und dann am Tag darauf und dann noch einmal. Nach einem Monat waren die zehn direkten Feinde, die er ausgemacht hatte, tot. In aller Ruhe kehrte er in den sicheren Norden zurück, um Geld zu verdienen, und alle zwei oder drei Monate kam er zu uns, um seinen potenziellen Feinden die Erinnerung aufzufrischen.

Als sein Name in unserer Gegend schon eine Legende war und sowohl ich als auch mein Vater Spezialisten unserer jeweiligen Aktivität waren, stand er an einem winterlich nebeligen Vormittag plötzlich vor dem Stall, nicht als Bittsteller, sondern als Sieger. Er hatte eine Kalaschnikow umgehängt und eine Pistole Kaliber 9 mm am Gürtel. Er sagte: „Onkel, ich müsste ein paar Tage hierblieben.“ Mein Vater bot ihm warmen Ricotta an und machte ihm das Bett. Aber nicht aus Angst.

Er kam alle zwei bis drei Monate, zog das Arbeitsgewand an und arbeitete hart, härter sogar als mein Vater. Er sprach wenig, blieb eine Woche, erledigte seine Geschäfte und fuhr wieder ab. Sobald wir erfuhren, dass er da war, ließen ich, Luciano und Luigi alles liegen und stehen und begaben uns ins Gebirge. Sante war unser neuer Gott.

Er rückte unsere Ideen zurecht, er wies uns darauf hin, wie sehr sich das Leben unserer Freunde, der Ehrenmänner verbessert hatte, man sah immer mehr neue Autos, die ersten Wohnhäuser wurden gebaut, doch sie jammerten noch immer über ihr Dasein, während immer mehr wegen Entführung verurteilte Hirten auf die Gefängnisinsel Asinara geschickt wurden.

Damals verschwand die Liebe zu unseren „Freunden“ und an ihre Stelle trat Groll und Hass. Sante an unserer Seite gab uns die Kraft, die Mafiosi zu verjagen.

Langsam löste sich mein Vater von ihnen. Sie versuchten uns mit schönen Worten einzuwickeln, mussten jedoch zur Kenntnis nehmen, dass das Fest vorbei war, ließen von uns ab und übersiedelten in andere Ställe. Doch ihr Gestank war in unsere Häuser, in unsere Betten, in unsere Herzen eingedrungen. Sante versprach uns, sobald die Zeit reif wäre, würde er dafür sorgen, dass wir was Ordentliches machten. Mein Vater kehrte zu seinen Ziegen zurück und wir ins Dorf.

Wir hätten vorsichtiger sein sollen, die Freunde behielten uns im Auge, nachdem wir sie zum Teufel geschickt hatten. Wir hatten gelernt, dass wir uns gar nicht so sehr vor den Ordnungshütern, sondern vor ihnen in Acht nehmen mussten; sie übten Kontrolle aus, so als stünde ihnen diese Funktion rechtens zu.

Jedes Vergehen wurde, wenn sie davon erfuhren, augenblicklich bestraft.

Wir beschworen Luigi, der etwas leichtsinnig war, nichts von unseren Geschäften zu verraten. Im Übrigen gingen wir kaum ins Dorf, wir gingen zur Schule und hatten in der Stadt zu tun.

Doch obwohl ich und Luciano so vorsichtig waren, roch jemand Lunte. Wir hatten gerade einem netten kleinen Juweliergeschäft einen Besuch abgestattet und Luigi hatte unbedingt eine Uhr behalten wollen, von der wir glaubten, sie sei schlicht und unauffällig, er hatte versprochen, sie nicht zu tragen.

Aber nein.

Eines Abends tauchte Luigi zur Schlafenszeit bei mir zu Hause auf. Er war aufgeregt, ich stellte fest, dass er die Uhr am Handgelenk trug. Er erzählte, er habe in der Bar Karten gespielt.

„Du warst in der Bar? Mit der Uhr?“

„Ich erkläre es dir gleich, aber zuerst muss ich dir was Wichtiges erzählen.“

Er hatte Karten gespielt, war aufs Klo gegangen, um zu pissen, und hatte an der Klotür den Postdirektor angetroffen, den Ragioniere Turi d’Ascola, einen großen Kartenspieler, Hurenbock und Menschenkenner, so lautete zumindest sein Ruf. Der Ragioniere hatte sein Pech beim Kartenspiel verflucht; im Zorn und fast, als ob er Luigi gar nicht bemerkt hätte, entschlüpfte ihm, dass er, wäre er kein ehrlicher Staatsbeamter, jetzt am liebsten nach Hause gegangen wäre, die Schlüssel des Postamts geholt und sich die hundert Millionen Lire genommen hätte, die am nächsten Tag abgeholt werden sollten.

Wir waren immer darauf bedacht gewesen, nichts in unserem Dorf anzustellen, doch so eine Gelegenheit konnten sich drei Achtzehnjährige nicht entgehen lassen. Wir warteten hinter der Gartenhecke, bis der Ragioniere nach Hause kam. Als er sah, dass drei Pistolen auf ihn gerichtet waren, führte er uns, ohne großen Widerstand zu leisten, ins Haus und holte die Schlüssel des Postamts. Luigi und Luciano blieben schweigend zurück, um der Frau und der Tochter des Ragioniere Gesellschaft zu leisten. Ich fuhr mit Turi d’Ascola im Auto davon. Nach einer halben Stunde war ich wieder da, mit dem Ragioniere und dem Geld. Wir sperrten die Geiseln im Bad ein, und glücklich über diesen unglaublich einfachen Erfolg brausten wir davon.

Wir versteckten die Beute und am Morgen darauf gingen wir wie immer zur Schule. Eigentlich wollten wir Luigi Vorwürfe machen, weil er uns nicht gehorcht hatte, doch wir waren zu glücklich und zu stolz auf uns, und nach Schulschluss gingen wir ins Valenciano feiern.

In der Stadt gab es damals zwei Orte, wo man die Jungfräulichkeit verlor, im Rione Baracche oder im Valenciano. Baracche bestand aus ein paar Hütten, wo alte, zahnlose Liebesdienerinnen ihre Dienste anboten, mitten unter balgenden Katzen und Freiluftklos wurde man von Huren entjungfert, die sich angeregt mit Zuhältern und Stammkunden unterhielten, während sie es einem besorgten. Beim Hinausgehen plagte einen der Zweifel, ob das Weiche das Innenleben der Frau gewesen war oder ob sie vielleicht vergessen hatte, die zerrissene Strumpfhose auszuziehen.

Fünftausend Lire, Tripper inklusive, und man befriedigte öffentlich seine Lust.

Das Valenciano hingegen war ein legendäres Hotel, wo die Reichen aus dem Ort es mit exotischen und schönen ausländischen Mädchen trieben. Zwanzigtausend Lire pro Fick, ein herrschaftlicher Preis.

Wenn unsere Taschen voll waren, gingen wir zum Portier, der uns schon gut kannte, und oft leisteten wir uns eine Zugabe. Auch die Frauen waren offensichtlich glücklich darüber, dass sie es mit drei hübschen jungen Männern zu tun hatten und nicht mit alten Lüstlingen und ihren Hodenbrüchen.

Sobald die Euphorie vorbei war, sagten wir zu Luigi, er solle seine Gewohnheiten eine Zeitlang beibehalten und weiterhin in die Bar gehen, was er ohnehin seit Monaten tat. Am Abend war das Dorf in Aufruhr: Ein großer, professioneller Coup, Hunderte Millionen hieß es. Die Ehrenmänner schluckten die bittere Pille und beteten zur Madonna della Montagna.

Außerdem hieß es, der arme Ragioniere d’Ascola sei aufgrund des Schocks, sechs Pistolen auf sich gerichtet zu sehen – sechs Banditen waren in sein Haus eingedrungen und hatten ihn mit Gewalt auf das Postamt gezerrt –, krank geworden, er sei verwirrt und hätte sehr hohes Fieber. Es sei ungewiss, ob er nach dem schrecklichen Trauma jemals wieder arbeiten könne, er sei ja schon alt und der Pensionierung nahe.

Am Tag darauf lasen wir in der „Gazzetta del Sud“ die ausführliche Berichterstattung des Lokalreporters: Der Lastwagen mit den Rentengeldern habe am Morgen vor der Tat, gleich zu Beginn seiner Runde, eine Panne gehabt, man habe sie nicht beheben können und das Geld im Safe des Postamts deponiert, dessen Direktor d’Ascola war, und die Auszahlung auf den Tag darauf verschoben. Die Ermittler bezweifelten, dass sich die Panne zufällig ereignet hatte, man vermutete, untreue Angestellte in der Postzentrale hätten gemeinsame Sache mit den Banditen gemacht und steckten zweifellos auch mit der lokalen Mafia unter einer Decke. Die Beute betrug hundertfünfzig Millionen Lire.

Wir erstarrten zu Stein, ich war mir sicher, dass ich den Safe zur Gänze ausgeräumt hatte, aber auf die in der Zeitung genannte Summe fehlten fünfzig Millionen. Außerdem hatte der arme Direktor aufgrund des Schocks sechs Personen gesehen.

Wir begriffen bald, worin die Finte bestand. Turi d’Ascola war doch ein wahrer Teufel!

Der Ragioniere ging nicht mehr zur Arbeit, ließ sich vorzeitig pensionieren, und von der Abfindung kaufte er sich einen Weinberg, den er von nun an mit Hingabe betreute. Am Abend ging er wieder in die Bar, spielte jedoch nicht mehr Karten, er konnte sich nämlich nicht mehr konzentrieren, er begnügte sich damit, den anderen zuzusehen.

Als er Luigi wieder einmal am Klo traf, sah er ihn freudestrahlend an und fragte ihn nach der Uhrzeit. Luigi schwieg verlegen, als ahnte er den Sinn der Frage, der Ragioniere spielte nämlich mit der silbernen Taschenuhr, die ihm der Staat als Dank für vierzig Dienstjahre geschenkt hatte.

D’Ascola kam ihm zuvor und flüsterte ihm ins Ohr: „Dein Vater muss ja ordentlich gespart haben, wenn er dir eine Rolex kaufen konnte.“

Der Ragioniere war ein Spitzbube, er hatte Luigi monatelang beobachtet, hatte gesehen, wie er sich kleidete, wie viel er beim Kartenspielen verlor, und als der Liebe Gott für die Panne sorgte, nahm er das als Zeichen und packte die Gelegenheit beim Schopf; er trug fünfzig Millionen nach Hause, legte den Köder aus und erwartete uns im Garten, rechnete mit uns wie mit dem Sonnenaufgang. Und versüßte sich den Lebensabend.

Unsere Freunde zerbrachen sich monatelang den Kopf und schließlich gaben sie auf, sie kamen zu dem Schluss, dass der Überfall auf das Konto von Fremden ging.

Im eigenen Haus beschissen, von drei Jungs und einem alten Schlitzohr.

Wir bauten unser Haus um, ich bekam ein eigenes Zimmer, das ich mit meinem Bruder teilte, die Mädchen weinten vor Freude, als sie in einem großen Zimmer schlafen durften, mit fünf sauberen Betten nebeneinander und einem riesigen Schrank, in dem meine Mutter nun allmählich ihre Aussteuer verstaute. Im Grunde wollten wir ja nicht mehr als ein Leben als menschliche Wesen und nicht als Tiere. Die Mädchen brachen erneut in Tränen aus, als sie sahen, dass heißes Wasser aus dem Duschkopf spritzte und duftende Toilettenartikel auf der Ablage standen, das bedeutete den Abschied von der Zinkwanne. Sie waren so glücklich, dass sie meinen kleinen Bruder schnappten und ihn wie ein Schweinchen zu Weihnachten striegelten. Am Abend liebkosten sie meinen Vater und wetteiferten darin, wer ihm die aus fünfzig Jahren Schufterei krummen Nägel schneiden durfte. Er sah mich einen endlos langen Augenblick an und ließ sich abschmusen. Ich wusste, wenn ich in diesem Augenblick gestorben wäre, hätte mein Leben einen Sinn gehabt. Und dank unserer kleinen Jobs verbesserte sich das Leben in unserer Siedlung, die aus zwei gelben, gegenüberstehenden Wohnblöcken mit jeweils sechzehn Familien bestand, hier waren wir drei Freunde zu Hause.

Der Postraub wurde im ganzen Gebiet berühmt, das war der Beginn unserer kriminellen Karriere. Bis dahin waren wir bloß arme Teufel gewesen, die versuchten, dem Elend zu entkommen, die glaubten, Recht auf eine bessere Zukunft zu haben. Man hätte uns leicht aufhalten können. Von diesem Tag an festigte sich jedoch in uns die Überzeugung, dass wir in der Lage waren, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen; am Anfang hatten wir nur versucht, ein wenig Geld zusammenzukratzen, jetzt wollten wir wahren Reichtum. Wir würden ein unvorstellbares Niveau erreichen, jedoch beim ersten Zeichen aufhören.

Mit diesem Millionenraub waren endgültig alle Hemmungen gefallen, damals begann das letzte Schuljahr im Gymnasium. Wir wurden gierige Raubvögel. Am Anfang hatten wir einmal im Monat einen Überfall begangen, nun schlugen wir einmal in der Woche zu, doch zu Hause wurde es uns langsam zu eng. Wir hatten vor, so viel Geld wie möglich zu ergaunern und an der Universität Mailand zu inskribieren und zu übersiedeln. Allerdings als wohlhabende Studenten und nicht als arme Schlucker.