Die Simpsons
und die Philosophie

Schlauer werden mit der
berühmtesten Fernsehfamilie
der Welt

Herausgegeben von
William Irwin, Mark T. Conard
und Aeon J. Skoble

Aus dem Amerikanischen
von Nikolaus de Palézieux

TROPEN SACHBUCH

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel

»The Simpsons and Philosophy: The Doh! of Homer«

bei Open Court Publishing Company, Chicago

Copyright © 2001 by Carus Publishing Company

Für die deutsche Ausgabe

© 2007/2016 by J. G. Cotta‘sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Umschlaggestaltung und Frontispiz unter

Verwendung einer Collage von Sascha Dreier

Gestaltung: Tropen Studios, Leipzig

Lektorat: Anne Thiem

Vielen Dank für die Unterstützung bei:

Sabrina Schleicher, Ilja Klück und Michael Naulin

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50341-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10051-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Lionel Hutz und Troy McClure
(an die Sie sich vielleicht von Fernsehsendungen wie
Die Simpsons erinnern)

Inhalt

Einführung – Meditationen über Springfield?

Teil I
Die Figuren

Homer und Aristoteles
Raja Halwani

Lisa und der amerikanische Antiintellektualismus
Aeon J. Skoble

Warum Maggie wichtig ist – Klänge der Stille, aus Ost und West
Eric Bronson

Marges moralische Motivation
Gerald J. Erion und Joseph A. Zeccardi

Also sprach Bart – Über Nietzsche und die Tugenden des Bösen
Mark T. Conard

Teil II
Ich hab nichts gemacht – Ethik und Die Simpsons

Die moralische Welt der Familie Simpson – Eine kantische Perspektive
James Lawler

Heuchelei in Springfield
Jason Holt

Freude an der so genannten »Eisecreme« – Mr. Burns, Satan und das Glück
Daniel Barwick

Teil III
Die Simpsons und die Philosophen

Ein Marxist in Springfield (Karl, nicht Groucho)
James M. Wallace

»Und der Rest schreibt sich von selbst« – Roland Barthes sieht Die Simpsons
David L. G. Arnold

Was Bart Denken nennt
Kelly Dean Jolley

Nach Ideen von …

Mit den Stimmen von …

Einführung
Meditationen über Springfield?

Wie viele Philosophen benötigt man, um ein Buch über Die Simpsons zu schreiben? Offenbar ungefähr zehn, um es zu schreiben, und drei, um es herauszugeben. Doch das ist nichts, wenn man bedenkt, dass dreihundert Leute acht Monate brauchen, um eine einzige Episode der Simpsons herzustellen, die 1,5 Millionen Dollar kostet. Mal im Ernst, haben wir nichts Besseres zu tun, als über Fernsehsendungen zu schreiben? Die Antwort heißt: Ja, bestimmt. Aber es hat Spaß gemacht, diese Essays zu schreiben, und wir hoffen, die Lektüre macht Ihnen ebenso viel Spaß.

Der Grundstein für dieses Buch wurde vor ein paar Jahren gelegt. Nachdem die beliebte Sendung Seinfeld nicht mehr ausgestrahlt wurde, hatte William Irwin eine ungewöhnliche Idee: eine Sammlung philosophischer Aufsätze über diese »Sendung über nichts«. Er und seine Philosophenkollegen hatten viele humorvolle und anregende Diskussionen darüber geführt. Weshalb also nicht diesen Spaß in ein Buch packen? Seinfeld and Philosophy war in Amerika ein echter Erfolg, nicht nur bei Akademikern, sondern auch beim breiten Publikum.

Eine andere Fernsehsendung, die von Irwin und seinen Freunden gern gesehen und ausgiebig diskutiert wurde, war Die Simpsons. Man schätzte die Ironie, die Respektlosigkeit der Serie und merkte bald, dass sie einen reichen und fruchtbaren Boden für philosophische Untersuchungen und Diskussionen bot. Daher beschloss Irwin, ebenfalls einen Band über die Simpsons zusammenzustellen. Mark Conard und Aeon Skoble, die bereits für das Seinfeld-Buch geschrieben hatten, fungierten als Mitherausgeber.

Wenn Sie also dieses Buch lesen, haben Sie entweder ein wenig Interesse an Philosophie, an den Simpsons oder an beidem. Die Sendung besitzt genügend Intelligenz und Tiefe, um so manche philosophische Diskussion zu rechtfertigen, und als beliebte Fernsehserie kann sie zugleich dazu dienen, etliche philosophische Themen für eine größere Leserschaft aufzuarbeiten.

Die Simpsons steckt voller Satire und ist heutzutage ohne Frage eine der intelligentesten und literarischsten Fernsehkomödien. (Das hat nicht viel zu sagen, aber trotzdem …) Wenn wir das behaupten, mag das für all jene unpassend klingen, die sie als simplen Zeichentrickfilm über einen Trampel und seine Familie abtun. Doch aufmerksame Zuschauer bemerken darin ein humoristisches Niveau, das weit über einfachen Klamauk hinausgeht. Es gibt mehrere Ebenen: Doppeldeutigkeiten, Anspielungen auf Hochund Populärkultur, visuelle Witze, Parodien und selbstreferentiellen Humor. Als Antwort auf Homers Kritik an einem Cartoon, den seine Kinder sehen, erwidert Lisa: »Wenn Cartoons für Erwachsene gemacht wären, würden sie zur besten Sendezeit ausgestrahlt!« Dennoch ist Die Simpsons eindeutig für Erwachsene gemacht, und es wäre zu einfach, die Sendung als populäre Zeichentrickserie abzutun.

Matt Groening hat zwar Philosophie studiert, aber keiner der Autoren dieses Buches glaubt, es gebe eine tiefere philosophische Bedeutung hinter Groenings Cartoon. Es heißt ja nicht Die Philosophie der Simpsons oder Die Simpsons als Philosophie, sondern Die Simpsons und die Philosophie. Wir wollen nicht die Intention Matt Groenings und seiner Autoren interpretieren. Wir möchten ganz einfach die philosophische Bedeutung der Simpsons herausstellen, wie wir sie sehen. Manche Essays in diesem Buch sind Überlegungen von Akademikern über eine Sendung, die sie mögen und die ihrer Meinung nach etwas über einen bestimmten philosophischen Aspekt aussagt. So wirft beispielsweise Daniel Barwick einen Blick auf den geizigen Griesgram Mr. Burns, um zu sehen, ob wir von seinem Unglücklichsein etwas über die Natur des Glücks erfahren können. Andere Autoren erkunden das Denken eines bestimmten Philosophen, indem sie eine der Figuren betrachten. Mark Conard etwa stellt die Frage, ob Nietzsches Ablehnung der traditionellen Moral Barts schlechtes Benehmen rechtfertigen könne. Wieder andere Autoren stellen philosophische Themen anhand der Sendung so dar, dass sie auch einem Laien zugänglich sind, der Interesse an philosophischer Reflexion hat, dies jedoch nicht beruflich betreibt. So erforscht Jason Holt die »Heuchelei in Springfield«, um festzustellen, ob Heuchelei und Scheinheiligkeit immer unethisch sind.

Dieses Buch soll Philosophie keineswegs auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren; wir haben sicher nicht die Absicht, die Philosophie zu trivialisieren. Im Gegenteil hoffen wir, dass auch die Nichtspezialisten unter unseren Lesern mehr Philosophie lesen, und zwar solche, die sich nicht auf Fernsehsendungen bezieht. Und wir hoffen auch, dass unsere Kollegen die Essays anregend und unterhaltsam finden.

Ist es legitim, philosophische Essays über Popkultur zu schreiben? Die Standardantwort darauf besteht normalerweise in dem Hinweis, dass auch Sophokles und Shakespeare zu ihrer Zeit populär waren, und kein Mensch stellt die Gültigkeit philosophischer Reflexionen in ihrem Werk in Frage. Im Fall der Simpsons gilt dies jedoch nicht. Diese Antwort würde geradezu zu der falschen Annahme herausfordern, die Familie Simpson wäre Teil der Weltliteratur und von einer Tiefe, die die Bedingungen des Menschseins beleuchtet wie nie zuvor. Das behaupten wir gewiss nicht. Trotzdem sind die Simpsons tiefgründig und sicher auch lustig genug, um unsere ernsthafte Aufmerksamkeit zu rechtfertigen. Durch ihre Popularität kann man an ihnen traditionelle Themen der Philosophie so darstellen, dass sie Leser außerhalb der Universitäten erreichen.

Und bedenken Sie außerdem, dass Philosophen auch nur Menschen sind. Also frei nach Bart Simpson: »Nicht gleich ausflippen, Freunde!«

Teil I
Die Figuren

Homer und Aristoteles Raja Halwani

Somit ergibt sich …, dass es sich, bei allem Suchen, doch dem Wissen entzieht, was glücklich [leben] bedeutet und was das [oberste] Gut im Leben ist.

— Aristoteles: Eudemische Ethik, 1216a10

Ich kann nicht so nach 08/15-Muster vor mich hin leben wie du. Ich will alles! Die erschütternden Tiefs, die berauschenden Hochs und das sahnige Dazwischen! Sicher, ein paar Puritaner und Blaustrümpfe werden über meine arrogante Art und meinen Moschusgeruch schockiert sein, und ich werde auch nie zum Liebling der so genannten Stadtväter, die sich die Zungen wetzen und über die Bärte streichen und beraten, was mit diesem unmöglichen Homer Simpson geschehen soll.

— Homer Simpson (»Lisas Rivalin«, Episode 102)

Homer Simpson gibt kein besonders gutes Bild ab, wenn man ihn vom moralischen Standpunkt aus betrachtet. Das gilt vor allem für seinen Charakter, weniger für sein Verhalten (obwohl er auch hier nicht gerade glänzt). Trotzdem scheint es etwas an Homer zu geben, das im moralischen Sinne bewundernswert ist. Woraus sich folgende Frage ergibt: Wenn Homer Simpson moralisch so schlecht abschneidet, wie kann man ihn dann bewundern? Das wollen wir untersuchen.

Die Charaktertypen bei Aristoteles

Aristoteles hat vier verschiedene Charaktertypen aufgelistet.1 Grob gesagt – und mit Ausnahme des übermenschlichen und des tierischen Charakters – haben wir den tugendhaften, den beherrschten, den unbeherrschten und den boshaften Charakter. Jeder dieser Charaktere unterscheidet sich in Bezug auf seine Taten, Entscheidungen sowie sein Verlangen und würde daher auf eine bestimmte Situation ganz unterschiedlich reagieren.

Angenommen also, eine Frau, die wir hier »Lisa« nennen wollen, ginge die Straße entlang und fände eine Brieftasche mit sehr viel Geld darin. Als tugendhafter Charakter würde sie nicht nur die Brieftasche dem zuständigen Fundbüro übergeben wollen, sie würde das auch noch gerne tun. Lisas Wunsch würde mit ihrer richtigen Entscheidung und Tat übereinstimmen. Betrachten wir nun Lenny, der ein beherrschter Charakter ist: Würde er die Brieftasche finden, könnte auch er die richtige Entscheidung treffen – die Brieftasche unversehrt abgeben – und er wäre auch in der Lage, gemäß dieser Entscheidung zu handeln, doch er würde dabei gegen sein eigentliches Verlangen angehen müssen. Das nämlich charakterisiert eine beherrschte Person: um das Richtige zu tun, muss sie gegen das eigene Verlangen ankämpfen.

Bei dem unbeherrschten und dem boshaften Typ sieht es schon schlechter aus. Der Unbeherrschte kann zwar die richtige Entscheidung fällen, leidet dabei allerdings unter seiner Willensschwäche. Im Fall der Brieftasche – und angenommen, Bart ist unser unbeherrschter Charakter – würde er daher seinem Verlangen erliegen, das Fundstück zu behalten, obwohl er weiß, dass es falsch ist. Der boshafte Mensch schließlich kämpft weder gegen sein Verlangen noch gegen seinen Willen. Er trifft vielmehr von vornherein eine moralisch falsche Entscheidung, die dann im Einklang mit seinem Verlangen steht. Wenn Nelson boshaft wäre, würde er beschließen, das Geld zu behalten (und die Brieftasche entweder wegwerfen oder leer zurückgeben). Nelson hätte nicht nur das Verlangen, so zu handeln, er würde es auch tatsächlich tun.

Schauen wir uns also näher an, was einen tugendhaften Charakter ausmacht. Ein tugendhafter Mensch ist einer, der Tugend besitzt und ausübt. Tugenden sind Charaktereigenschaften, die den Menschen in die Lage versetzen, richtig zu handeln und zu fühlen. Weil das so ist, verstehen wir, warum Aristoteles darauf beharrt, dass »Tugend« ein Begriff ist, der sowohl Taten als auch Gefühle betrifft (Ethik, Buch II, vor allem 1106b15–35). Wenn jemand zum Beispiel gütig ist, kann er unter den passenden Umständen und den richtigen Menschen gegenüber mildtätig sein. So würde er nicht einfach jedem Geld geben, der danach fragte. Der tugendhafte Mensch handelt vielmehr gemäß der Erkenntnis, dass der Empfänger tatsächlich Geld braucht und es vermutlich sinnvoll verwenden wird. Auch emotional reagiert er auf die Situation. Das heißt, er würde das Geld freudig und nicht bedauernd geben, und er würde dies wegen des beklagenswerten Zustands des Empfängers tun. Im Gegensatz dazu würde ein beherrschter Mensch sich nicht leicht von seinem Geld trennen. Nicht, weil er es nicht erübrigen kann, sondern weil er dazu neigt, gierig zu sein oder zu überschätzen, wie sehr er zukünftig dieses Geld brauchen wird.

Die Vernunft spielt also in unserem Beispiel eine wichtige Rolle. Denn wenn man die Fähigkeit haben muss, Situationen richtig einzuschätzen, um tugendhaft zu sein, dann kann der tugendhafte Mensch nicht dumm oder naiv sein. Er muss einen kritischen Verstand besitzen, der ihn unterschiedliche Situationen wahrnehmen lässt, auf die er angemessen reagieren kann. Tatsächlich hält Aristoteles daher daran fest, dass das Thema Ethik keine allzu klare Präzisierung zulässt (Ethik, 1094b13–19). Aristoteles besteht auf der Rolle der praktischen Vernunft (phronesis): Wenn man auf intuitive Weise tugendhaft wäre, besäße man nicht die »volle« Tugend, sondern höchstens eine »natürliche« (Ethik, 1144b3–15), und eine natürliche Tugend zu besitzen heißt, das Richtige nur per Zufall zu tun.2

Aristoteles’ Bedingungen für richtiges Handeln runden unsere Darstellung ab. Er behauptet: » [Der Mensch] muss erstens wissentlich, zweitens auf Grund einer klaren Willensentscheidung handeln, einer Entscheidung, die um der Sache selbst willen gefällt ist, und drittens muss er mit fester und unerschütterlicher Sicherheit handeln.« (Ethik, 1105a30–1105b) Was Aristoteles will ist Folgendes: Zunächst muss derjenige, der tugendhaft handelt, auch wissen, dass seine Tat tugendhaft ist. Er handelt gemäß den Bedingungen, »die verwirklicht werden, indem man häufig gerechte und besonnene Handlungen vollzieht«. Die zweite Bedingung beinhaltet sogar gleich zwei Voraussetzungen: Der Handelnde muss freiwillig handeln, und zwar gerade weil die Tat tugendhaft ist. Also selbst wenn jemand wohl wissend anständig handelt, wäre diese Tat noch nicht tugendhaft, es sei denn, er handelte auch deshalb, weil die Tat anständig ist. Die dritte angeführte Bedingung ist entscheidend und bringt uns zurück an den Anfang unserer Diskussion: Ein tugendhafter Mensch handelt nicht nur tugendhaft, wenn und weil eine Tat anständig ist, sondern er handelt tugendhaft, weil er ein anständiger Mensch ist. Er ist in der Lage, sich moralisch korrekt zu verhalten, wenn die Situation es verlangt. Auch das bedeutet, einen »festen und unveränderlichen Charakter« zu haben.

Homers Charakter: Neiiin, neiiin – neiiin!

Gemessen an Aristoteles’ Charakterdarstellung sieht es für Homer Simpson ziemlich düster aus (dieses Urteil werde ich später nicht zurücknehmen; man erwarte also keine geistreiche Unterscheidung, die diese Behauptung revidiert). Betrachten wir zunächst einmal die Tugend der Mäßigung, die die Fähigkeit einschließt, im weitesten Sinne unsere körperlichen Bedürfnisse zu zügeln. Man merkt sehr schnell, dass Homer weit davon entfernt ist, ein maßvoller Mensch zu sein. Unter anderem ist er nicht tugendhaft im Hinblick auf seine körperlichen Bedürfnisse; er kommt hier dem boshaften Charakter bei Aristoteles ziemlich nahe. Das betrifft weniger seine Sexualität als seinen Konsum von Essen und Getränken. Ständig will er alles in sich hineinschlingen, und diesem Begehren überlässt er sich bedenkenlos. In »Homer hatte einen Feind« (171)3 isst er lustvoll die Hälfte eines Sandwichs, das seinem zeitweiligen Mitarbeiter Frank Grimes (»Grimey«) gehört. Selbst nachdem Grimes Homer darauf hingewiesen hat, genehmigt sich dieser noch zwei weitere Bissen, ehe er das Sandwich in den Beutel zurücklegt. Seine Fressgier lässt ihn außerdem ein paar interessante Rezepte erfinden. Etwa die halb gekochte Waffel, die Homer um ein ganzes Stück Butter wickelt und sich dann in den Mund schiebt (»Ein gotteslästerliches Leben«, 62). Seine Gesundheit ist durch seine schlechten Essgewohnheiten zeitweise so sehr gefährdet, dass er sich einer Bypass-Operation unterziehen muss (»Oh Schmerz, das Herz«, 70). Doch auch das ändert nichts an seinem Verhalten. Ja, selbst unmittelbare und starke körperliche Schmerzen können Homer nicht beirren. Man denke an die Episode, als er verdorbenes Fleisch im Kwik-E-Mart isst, erkrankt und ins Krankenhaus gebracht wird. Anstatt Apu zu verklagen, lässt er sich sofort durch dessen Angebot von zehn Pfund vergammelter Garnelen besänftigen. Homer bemerkt wohl, dass die Garnelen »irgendwie komisch« riechen, isst sie aber trotzdem und kommt wieder ins Krankenhaus (»Apu, der Inder«, 91). Homers Völlerei ist so sehr Teil seines Charakters, dass er sogar im Halbschlaf weiterisst. In »Kampf um Bobo« (82) schlafwandelt er in die Küche, macht die Kühlschranktür auf und meint: »Mmm … 64 Scheiben amerikanischer Käse«, und verputzt sie in einer einzigen Nacht. Homers Maßlosigkeit bedarf keiner weiteren Erklärung; sein Name ist zum Synonym geworden für die Liebe zum Essen und zum Bier (vor allem der Marke »Duff«).

Er ist überdies ein notorischer Lügner; ihm fehlt jeglicher Anstand. In »Keine Experimente!« (79) belügt er seine Familie, indem er behauptet, er ginge arbeiten, obwohl er in Wahrheit die Duff-Brauerei-Tour machen will. Weitere Schwindeleien: Er belügt Marge hinsichtlich seines nie gemachten Highschool-Abschlusses (»Wir vom Trickfilm«, 124); er unterschlägt seine finanziellen Verluste bei Investitionen (»Homer gegen Patty und Selma«, 116); und er verspricht immer wieder, er wolle sein gekauftes Gewehr weggeben (»Homer und der Revolver«, 179). Einmal verwickelt Homer auch Apu in ein großes Lügengespinst, als der seiner Mutter gegenüber behauptet, er sei mit Marge verheiratet, und so Marge zwingt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen (»Hochzeit auf indisch«, 181).

Homer fehlt auch jedes Gespür für die Bedürfnisse und Ansprüche anderer; er scheint weder Wohlwollen noch Gerechtigkeitssinn zu besitzen. In »Ein Fluch auf Flanders« (40) drängt er Ned Flanders, ihm seine Möbel für einen Spottpreis zu verkaufen, obwohl er weiß, dass Ned pleite ist und verzweifelt Geld braucht. In »Die Kontaktanzeige« (47) rät er Bart, sich unter seinem Decknamen Woodrow (Mrs. Krabappels heimlicher Brieffreund) von Mrs. Krabappel zu trennen und ihr einen kurzen Brief zu schreiben: »Geliebte Puppe, willkommen im Abschiedsland. Seine Einwohner: du.« (Vorher hat er Bart versichert, dass gefühlvolle Liebesbriefe seine Spezialität seien.) Er hat auch nicht den geringsten Hang zur Großzügigkeit. Einmal sagt er zu Bart: »Was, du hast beide Hunde weggegeben? Du weißt doch, was ich vom Verschenken halte!« (»Der tollste Hund der Welt«, 168) Und er beschließt, bei Freddy Quimbys Anklage wegen Körperverletzung auf unschuldig zu plädieren; nicht, weil er der Meinung ist, Quimby sei unschuldig, sondern weil er weiß, dass die Geschworenenbesprechung dann stillstände und er kostenlos im Springfield Palace Hotel übernachten könnte (»Bart packt aus«, 98).

Homer hat zwar ein paar Kumpel, doch er hat keine echten Freunde. Aristoteles betont die Wichtigkeit der Freundschaft, weil wir ohne Freunde keine Tugend einüben und auch kein erfülltes Leben führen können. Homer hat höchstens Saufkumpanen (Barney, Lenny und Carl), aber niemanden, mit dem er seine Ziele, Aktivitäten, Freuden und Sorgen teilen könnte.4 Ja, man möchte sogar behaupten, dass Homer überhaupt keine anderen Ziele und Aktivitäten als das Trinken hat.

Sein Geschick als Ehemann und Vater lässt gleichfalls zu wünschen übrig (Aristoteles scheint Eheleute und Kinder in den Rahmen der Freundschaft mit eingeschlossen zu haben, siehe: Ethik, 1158b9–16). Schauen wir uns also einige von Homers Schnitzern an: Er versucht, Lisas Liebe zu gewinnen, indem er ihr ein Pony kauft (»Lisas Pony«, 43). Er verübelt es Bart, dass er einen »großen Bruder« von der Großer-Bruder-Agentur – einem Sozialprojekt für vaterlose und vernachlässigte Jungen angefordert hat, nimmt diese Rolle dann jedoch selbst gegenüber Pepi ein, den er »Pepsi« nennt (»Großer Bruder – Kleiner Bruder«, 72). Er schickt Bart zur Strafe zum Arbeiten in ein Varietétheater (»Der beliebte Amüsierbetrieb«, 156). Homer schürt das Feuer der Geschwisterrivalität, als Lisa ihr Talent für Eishockey entdeckt: »Am Freitag spielt Lisas Mannschaft gegen Barts Mannschaft. Ihr steht im direkten Konkurrenzkampf. Seid bloß nicht zimperlich miteinander, nur weil ihr Bruder und Schwester seid. Ich will sehen, wie ihr bis zum Letzten um die Liebe eurer Eltern kämpft.« (»Lisa auf dem Eise«, 107) Wir wollen auch nicht vergessen, wie oft Homer Bart unterdrückt, eingeleitet meist durch »Na warte, du mieser kleiner …!« (Obwohl es in »Wer ist Mona Simpson?«, 132, einmal heißt: »Du kriegst gleich eine gequanzt!«) Und außerdem vergisst Homer durchgehend, dass Maggie überhaupt existiert.5

Seine Qualitäten als Ehemann sind nicht besser. Marges Projekte unterstützt er entweder gar nicht oder steht ihnen zumindest gleichgültig gegenüber; das jedenfalls erklärt er gegenüber Marge in »Bühne frei für Marge« (59). Seine Weigerung, Kulturveranstaltungen und Ausstellungen zu besuchen, lässt Marge einmal die Gesellschaft von Ruth Powers suchen, mit der sie sich kurze Zeit später in einer polizeilichen Verfolgungsjagd à la Thelma und Louise wiederfindet. Homer entschuldigt sich zwar bei Marge, doch diese Entschuldigung lässt tief blicken: »Verzeih mir, Marge, dass ich kein besserer Ehemann war. Es tut mir auch leid, dass ich versucht hab, Gulasch in der Badewanne anzurühren, und das Auto mit deinem Hochzeitskleid gewachst hab. Ich bedaure auch … Ach, sagen wir einfach ich bedaure unsere ganze Ehe bis zu diesem Augenblick.« (»Die rebellischen Weiber«, 84) In »Ehegeheimnisse« (100) läuft Homer zu Höchstform auf. Er merkt, was er Marge als Einziges zu bieten hat: »totale Abhängigkeit«. Denn selbst wenn er ihr helfen will, vermasselt er alles: als Homer Marge einmal beim Brezelverkaufen unterstützen will, bittet er die Springfield-Mafia um Hilfe und bringt Marge damit in die unschöne Situation, sich mit Fat Tony und seiner Bande auseinandersetzen zu müssen (»Marge und das Brezelbacken«, 160).

Außerdem wird jede Hoffnung, Homer könne moralische Tugenden erlangen, durch die Erkenntnis zunichtegemacht, dass ihm die eine intellektuelle Tugend fehlt, die ein ethischer Charakter braucht: die der praktischen Vernunft (phronesis). Phronesis ist kein theoretisches Wissen, obgleich auch das Homer abgeht. Es ist auch kein Tatsachenwissen, was Homer gleichfalls nicht vorweisen kann. Praktische Vernunft ist die Fähigkeit, auf intelligente Weise den eigenen Weg durch die Welt zu finden, moralisch und zielorientiert. Einige wenige Beispiele mögen genügen. Zunächst verschreibt sich Homer einigen höchst zweifelhaften Lehrsätzen. In »Eine ganz normale Familie« (1) stellt er fest: »Ich habe es doch immer gewusst! Die Lösung deiner Probleme findest du nicht auf dem Boden einer Bierflasche, sondern im Fernsehen!« Und wo wir schon beim Thema Flaschen sind, soll Homers berühmter Trinkspruch nicht unerwähnt bleiben: »Auf den Alkohol! Den Ursprung – und die Lösung – sämtlicher Lebensprobleme!« (»Der mysteriöse Bier-Baron«, 166) In »Der Fahrschüler« (57) erzählt er Bart: »Wenn einem irgendetwas schwerfällt, dann soll man es lieber bleiben lassen.« Und in »Todesfalle zu verkaufen« (183) meint er zu Marge: »Versuchen ist der erste Schritt zum Versagen.«

Zweitens ist Homer vollständig unfähig, Schlussfolgerungen zu ziehen: Über Timmy O’Toole (den fiktiven Jungen, von dem Bart behauptet, er wäre in einen Brunnen gefallen) zieht er den Schluss, dass er ein wahrer Held sei. Das folgert er aus der »Tatsache«, dass er in einen Brunnen gefallen ist und nicht herauskann (»Wer anderen einen Brunnen gräbt«, 50). Bürgermeister Quimbys Politik, mit einer Patrouille gegen Bären vorzugehen, hält er allein schon deshalb für erfolgreich, weil ja keine Bären durch die Straßen von Springfield zögen! Als Lisa darauf hinweist, dass diese Begründung eher fadenscheinig sei, hält er das für ein Kompliment (»Volksabstimmung in Springfield«, 146). Dann wieder »argumentiert« Homer gegen Lisas Behauptung, Kabel zu stehlen sei falsch, auch sie sei eine Diebin, da sie zu Hause für ihr Essen und für ihre Kleidung nicht bezahle (»Das achte Gebot«, 26).

Drittens lässt Homer einen der entscheidenden Aspekte der praktischen Vernunft vermissen: die Fähigkeit, das eigene Leben nach wichtigen und wertvollen Zielen auszurichten und diese dann verantwortungsvoll und moralisch zu verfolgen. Homer hat zwar viele Lebensträume, wie zum Beispiel den, Einschienenbahn-Fahrer zu werden (»Homer kommt in Fahrt«, 71) und die Dallas Cowboys zu besitzen (»Das verlockende Angebot«, 153), doch Träume sind keine Ziele, und Letztere hat Homer nicht zu bieten. Jedenfalls keine, die erstrebenswert sind. Er scheint damit zufrieden, ein inkompetenter Sicherheitsinspektor zu sein, der im Sektor 7g in Burns’ Elektrizitätswerk arbeitet und zusieht, wie einige seiner Untergebenen vor ihm befördert werden. Ja, er ist sogar bereit, sich so sehr zu mästen, dass er als arbeitsunfähig gilt und von zu Hause aus arbeiten kann (»Der behinderte Homer«, 131). Wenn Homer überhaupt ein Ziel im Leben hat, dann das eines wertlosen Lebens mit Essen, Trinken und Faulenzen. Nimmt man noch seine extreme Leichtgläubigkeit hinzu (man denke nur daran, wie oft Bart ihn hereinlegt), haben wir einen Menschen mit minimaler Denkfähigkeit vor uns.

Homers Charakter: Nur wenig Glanz

Wir sollten jedoch nicht zu hart mit Homer umgehen, denn zuweilen handelt er vorbildlich. Selbst wenn er zum Beispiel oft vergisst, dass es Maggie überhaupt gibt, ist sein Arbeitsplatz mit Bildern von ihr übersät, die er aus Liebe zu ihr aufgehängt hat (»Und Maggie macht drei«, 112). Homer begeht auch zu keinem Zeitpunkt bewusst Ehebruch, obwohl er das durchaus mehrfach könnte (»Homer auf Abwegen«, 55, und »Homer liebt Mindy«, 87).6 Außerdem ist er oft zärtlich und voller Liebe zu Marge: um ihre erste, »miese« Hochzeit wettzumachen, lässt er sich von ihr scheiden und heiratet sie ein zweites Mal (»Scheide sich, wer kann«, 157). Auch Lisa kann er hin und wieder für sich gewinnen. Er unterstützt beispielsweise ihren Plan, das Lügengespinst zu lüften, das Jebediah Springfields Ursprünge umgibt (»Das geheime Bekenntnis«, 139), und er macht ihr Mut, indem er sie bei der Little Miss Springfield Show anmeldet (»Lisa, die Schönheitskönigin«, 63). Zwei Mal verzichtet er darauf, eine Klimaanlage zu kaufen, nur damit sie ein Saxophon bekommt (»Die Saxophon-Geschichte«, 177). Und einmal nimmt er sie klammheimlich mit ins Springsonian Museum, damit sie endlich die Ausstellung »Schätze der Isis« sehen kann (»Die Kugel der Isis«, 192).

Manchmal zeigt Homer sogar Mut: Er geht auf Mr. Burns los, weil der zu viel von ihm verlangt (»Butler bei Burns«, 140) und sich nicht an seinen Namen erinnert (»Wer erschoss Mr. Burns?«, 125). Außerdem trommelt er auf George Bush ein (seine wahren Gründe dafür sind nicht klar; allein Parteitreue zu den Demokraten kann es jedenfalls nicht sein, sonst wäre Homer ja auch nicht der Freundschaft mit dem Republikaner Gerald Ford fähig, »Die bösen Nachbarn«, 141). Doch Homer kann auch nett sein, sogar gegenüber Leuten, die er für gewöhnlich hasst. In »Ein Fluch auf Flanders« (40) hilft er Ned, indem er die Verkäufe in dessen Leftorium ankurbelt. In »Homie und Neddie« (94) steht er für Ned in der Kirche ein (»… immer wieder hat er mir auch gleich all seine anderen Backen hingehalten«). Und in »Homer gegen Patty und Selma« (116) gibt er vor, sich gleich zwei Zigaretten angesteckt zu haben, damit Patty und Selma nicht wegen Rauchens bei der Arbeit gefeuert werden.

Gelegentlich finden sich bei Homer sogar Intelligenz und theoretische Weisheit. Als Beispiel für Ersteres entwirft er in »Der mysteriöse Bier-Baron« (166) mit aller Sorgfalt den Plan, Alkohol nach Springfield einzuführen, um ein berüchtigter »Bier-Baron« zu werden, und in »Der Tag der Abrechnung« (182) kommt er auf die Idee, Geld aus dem Skelett eines »Engels« zu schlagen. Homers Weisheit zeigt sich beispielsweise in einer seiner raren religiösen Einsichten, als er beschließt, nicht mehr in die Kirche zu gehen, da Gott ja überall sei. Obwohl er sich an dessen Namen nicht erinnert, zitiert er Jesus als jemanden, der sich zu Recht gegen orthodoxe Praktiken richtete (»Ein gotteslästerliches Leben«, 62). Und in seltenen Momenten scheint Homer sogar seine eigenen Grenzen zu erkennen. Einmal fragt er Marge bei ihrem Besuch an seinem Arbeitsplatz: »Bist du meinetwegen gekommen?« Eine zaghafte Vergewisserung, hinter der die Einsicht steckt, ein Mann von eher geringen Fähigkeiten und ebensolcher Bedeutung zu sein (»Der schöne Jacques«, 6). Auch prüft er zwei, drei Mal, ob Lurleen Lumpkin mit ihm flirtet, um sicherzugehen, dass sie wirklich an ihm sexuell interessiert ist (»Homer auf Abwegen«, 55).

Abschließendes Urteil über Homer

Was bedeutet das nun alles? In welchem Ausmaß hält Homer einer ethischen Beurteilung stand? Er ist kein schlechter Mensch. Wenn er auch nicht gerade tugendhaft ist, so ist er doch auch nicht böswillig. Die stärkste Empfindung, die wir für ihn haben können, ist Mitleid. Und das aus mindestens zwei Gründen. Zunächst lässt Homers Kinderstube sehr zu wünschen übrig. Er wuchs hauptsächlich in Springfield auf, dessen Einwohner – mit der seltenen Ausnahme von Lisa – ernste und schwerwiegende Charakterfehler haben, von Dummheit bis zu Bosheit, Inkompetenz und Unbedarftheit in weltlichen Dingen (sogar Marge, die doch eigentlich eine Ausnahme von den normalen Einwohnern Springfields ist, bleibt sehr konventionell und lässt oft die Fähigkeit zur Kritik vermissen7 ). Als nach der Flucht von Bürgermeister Quimby die Mitglieder der Mensa (des Gremiums der schlauesten Bürger Springfields) die Stadt regieren, sind sie gerade mal in der Lage, unfaire, restriktive und äußerst idealistische Regeln zu erlassen. Natürlich verursachen sie ein Chaos (»Die Stadt der primitiven Langweiler«, 219).

In einer solchen Umgebung heranzuwachsen, konnte sich nur schädlich auf die Charakterbildung und die intellektuellen Fähigkeiten auswirken. Zumal das Aufwachsen in gesunder Umgebung eine der wesentlichen Forderungen in Aristoteles’ Politik ist: »Wir haben uns die Aufgabe gestellt zu untersuchen, welche unter allen Formen staatlicher Gemeinschaft die beste für Leute ist, die – so weit wie möglich – ihren Wünschen entsprechend ihr Leben führen können.« (1260b27) Tatsächlich ist Aristoteles’ Ethik auch für den Staatsmann bestimmt, der die Grundzüge des ethischen Charakters definieren muss und eine politische Gemeinschaft entwerfen soll, die solche Charaktere hervorbringt. Wenn das zutrifft, haben wir wirklich Grund, Homer zu bemitleiden, denn die Tatsache, dass er in Springfield aufgewachsen ist, entzieht sich seiner Kontrolle.

Zusätzlich lässt auch Homers Elternhaus viel zu wünschen übrig. Seine Mutter verließ ihn, als er noch ein Kind war, und sein Vater hat ihn auch nicht gerade ermutigt, sich zu einem tugendhaften Menschen zu entwickeln; als Homer ein paar Ziele hatte, trieb sein Vater sie ihm gleich wieder aus (»Wer ist Mona Simpson?«, 132, und »Bart ist mein Superstar«, 180). Außerdem kann Homer mit Sicherheit nichts für die besonderen Gene der Simpsons, die eine fortschreitende Verdummung im Alter mit sich bringen. »Das defekte Simpson-Gen ist das Y-Chromosom«, nicht das X-Chromosom, weshalb Lisa und andere Simpson-Frauen schon immer gewitzt und erfolgreich waren (»Vertrottelt Lisa?«, 195). Sollte das stimmen, bleibt für Homer nur wenig übrig, was er selbst beeinflussen kann. Und es erklärt, warum er uns eher leidtut, als dass wir ihn verachten oder hassen.

Der zweite Grund, warum unser Urteil über Homer, trotz seiner mangelhaften Tugend, nicht allzu harsch ausfällt, ist, dass er nicht grundsätzlich böswillig ist. Er ist selbstsüchtig und gierig, gibt sich der Völlerei hin und kann auch recht dumm sein, doch er ist kaum einer jener Menschen, die auf andere neidisch sind und ihnen Böses wollen. Es stimmt, dass er oft mit der klaren Absicht handelt, anderen zu schaden, aber diese Menschen haben irgendwie auch keine bessere Behandlung verdient. Die Verachtung zum Beispiel, die Homer gegenüber Selma und Patty empfindet, scheint angemessen zu sein, wenn man bedenkt, wie sie ihn behandeln und ihn ihrerseits ablehnen. Homer mag auch Mr. Burns nicht und fürchtet ihn. Und was immer man über Mr. Burns sagen kann, Homer hat recht: Burns ist der Inbegriff eines habgierigen, schlimmen und rücksichtslosen Kapitalisten, der über Leichen gehen würde, um sein Ziel zu erreichen.8 Letztlich behandelt Homer auch Flanders auf eine Weise, die von Gleichgültigkeit bis zu Verachtung reicht. Allerdings ist Flanders eine anmaßende, naive, ewig predigende Nervensäge. Was nicht besagen soll, dass Homers Behandlung von Flanders gerechtfertigt ist, doch sie ist verständlich. Wenn wir an diese Ausnahmen denken, dann gilt, dass Homer generell nicht böswillig ist und die Menschen nicht schlecht behandelt. Das ist ein weiterer Grund, warum Homer bei uns trotz seiner fehlenden Moral keine negativen Empfindungen hervorruft. Wir können also ein qualifiziertes Urteil darüber abgeben, dass Homer kein bösartiger Mensch ist, der ausschließlich von Untugenden geleitet wird. Ich sage »qualifiziert«, weil es eine Ausnahme von diesem Urteil gibt: Sobald es sich um den Appetit auf Essen und Trinken dreht, ist Homer in der Tat gemein. Er denkt gar nicht daran, das exzessive Essen und Trinken zu lassen, und verweigert sich damit den Tugenden der Mäßigung und der Enthaltsamkeit. Außer gelegentlichen Überlegungen zur Gesundheit findet er auch nichts Schlimmes dabei, sich selbst an unpassenden Orten dem Essen und Trinken hinzugeben. So sagt er in »König der Berge« (191) zu Marge: »Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass wir in der Kirche essen, hätte Er Völlerei zur Sünde erklärt.« Diese Überlegungen erlauben uns den sicheren Schluss, dass Homer in Bezug auf Essen und Trinken durchaus Untugenden an den Tag legt.

Die zahlreichen Beweise und Beispiele führen uns zu folgendem abschließenden Urteil: Homer ist kein tugendhafter Mensch. Der vielleicht hervorstechendste Grund ist dabei der, dass Homer nicht die Charakterstärke aufweist, die einen tugendhaften Menschen kennzeichnet. Man kann schlicht und einfach nicht darauf bauen, dass er das Richtige tun wird, nicht einmal aus Respekt gegenüber seinen Familienmitgliedern. Dennoch ist das Urteil, Homer wäre nicht tugendhaft, nicht so qualifiziert wie das Urteil, er wäre nicht böswillig. Denn obwohl Homer sich manchmal korrekt verhält, sind seine Gründe dafür meist windschief oder uneindeutig (seine mutigen Handlungen sind ein hervorragendes Beispiel dafür). Und was seine Familie betrifft: Selbst wenn Homer manchmal tut, was wir von einem guten Vater oder Ehemann erwarten, gibt es doch zu viele Beispiele, die das Gegenteil beweisen. Homer lässt ganz einfach den stabilen Charakter vermissen, den die Tugend verlangt.

Außerdem müssen wir uns daran erinnern, dass Homer in vielen Fällen, wo er das Richtige tut – vor allem, wenn seine Familie betroffen ist –, sehr gegen den Wunsch ankämpfen muss, sich anders zu verhalten. Manchmal entscheidet er sich für das Falsche, obwohl er weiß, was richtig wäre, und zeigt damit, was die alten Griechen akrasia oder »Willensschwäche« nannten. So entschließt er sich in »Kampf dem Ehekrieg« (15), während seines Aufenthalts in Catfish Lake fischen zu gehen, obgleich ihm bewusst ist, dass er seine Aufmerksamkeit eigentlich auf Marge und seine Ehe richten sollte.

Homer ist also kein tugendhafter Mensch. Wenn es um Essen und Trinken geht, ist er ein Aushängeschild für Untugenden; und was sonstige Lebensbereiche angeht, so pendelt er zwischen Mäßigung und Maßlosigkeit. Das soll natürlich nicht heißen, dass Aristoteles’ Einteilung der Charaktere zu geradlinig, unrealistisch oder vereinfachend wäre. Sie ist logischer Natur und keine Beschreibung, welche Typen von Menschen es tatsächlich gibt. Je nach Situation repräsentiert Homer unterschiedliche Charaktertypen.

Schlussfolgerung: Wie wichtig es ist, Homer zu sein