Die Kurfürstenklinik 25 – Operation ohne Patient

Die Kurfürstenklinik –25–

Operation ohne Patient

Roman von Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER DIGITAL GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert, Oliver Melchert, Mario Melchert

Originalausgabe: © KELTER DIGITAL GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.kelterdigital.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-111-9

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»Können Sie nicht etwas schneller fahren?« fragte die junge Frau mit gepresster Stimme. »Ich… ich habe Angst um den Kleinen.«

Der junge Taxifahrer nickte gutmütig und trat das Gaspedal noch weiter durch. Es schien ein echter Notfall zu sein, das Baby wimmerte wirklich zum Steinerweichen, und die Mutter war so blaß, daß er zunächst Angst gehabt hatte, sie würde ihm während der Fahrt zusammenbrechen.

»Was hat er denn?« fragte er teilnahmsvoll.

»Das weiß ich ja eben nicht. Er weint öfter mal, aber so schlimm wie in dieser Nacht war es noch nie. Es klingt schrecklich. Ich glaube, daß er große Schmerzen hat.«

»Waren Sie schon mit ihm beim Arzt?«

»Ja, sicher, er hat schon mal eine kleine Erkältung und ein bißchen Fieber gehabt, aber noch nie etwas Ernstes. Ich dachte zuerst, diesmal sei es auch eine Erkältung, weil er immer niest, aber das glaube ich jetzt nicht mehr.«

Wie um zu beweisen, daß seine Mutter Recht hatte und daß es dieses Mal wirklich anders war, schrie das Kind jetzt noch lauter. Es klang in der Tat verzweifelt. Ein heiseres, ohnmächtiges Weinen.

Erneut erhöhte der Taxifahrer die Geschwindigkeit. »Das geht einem ja durch Mark und Bein«, murmelte er und warf der jungen Frau im Rückspiegel einen besorgten Blick zu, ob sie nicht doch noch ohnmächtig werden würde. Er hatte schon genug Ärger gehabt in dieser Nacht mit Betrunkenen, die randaliert hatten und dann nicht bezahlen wollten.

Er war seit über zwölf Stunden unterwegs, er wollte nur noch nach Hause und schlafen. Aber diese beiden mußten unbedingt in die Kurfürsten-Klinik gebracht werden, und er hoffte von Herzen, daß man ihnen dort helfen könnte.

»Wieso haben Sie sich denn allein auf den Weg gemacht?« fragte er. Er hieß Bülent Erkim, seine Eltern waren Türken, aber er war in Berlin geboren und kannte sich in Deutschland besser aus als in der Türkei. Die Deutschen war in vieler Hinsicht merkwürdig, fand er, aber auch hier ließ doch ein Mann seine Frau nicht allein mit dem kranken Kind ins Krankenhaus fahren mitten in der Nacht? Was war das für ein Mann, der so etwas tat? »Warum ist Ihr Mann nicht bei Ihnen?« fragte er.

»Ich habe keinen Mann«, sagte sie leise, während sie das Baby an sich drückte und küßte, um es zu beruhigen. »Wir… wir haben uns getrennt kurz nach der Geburt. Es war ein Irrtum.«

Sie war eine gute Mutter, das sah er. Sie liebte ihr Kind. Und hübsch war sie auch. Sie tat ihm leid. Es war schwer für eine Frau, allein mit einem Kind.

»Da vorn ist die Klinik«, sagte er. »Ich fahre Sie direkt vor die Notaufnahme – sie haben gute Ärzte da.«

Sie nickte. Das Kind hatte sich ein wenig beruhigt, es jammerte jetzt nur noch leise vor sich hin. »Ist ja gut«, flüsterte sie. »Gleich sind wir in der Klinik, dort wird man dir helfen, Moritz!«

Er hielt vor der Notaufnahme und sprang aus dem Auto, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie hielt ihm einen Geldschein entgegen, doch er schüttelte den Kopf. »Ich will kein Geld von Ihnen«, erklärte er. »Alles Gute für Sie und den Kleinen.«

In ihren großen dunklen Augen schimmerten Tränen, als sie sich bedankte. »Sie sind ein guter Mensch«, flüsterte sie. »Auf Wiedersehen.«

Er blickte ihr nach, wie sie, den Jungen fest an sich gespreßt, eilig zum Eingang der Notaufnahme lief. Als sie verschwunden war, stieg er wieder in den Wagen, wendete und fuhr zügig davon. Auf einmal war er gar nicht mehr müde, sondern im Gegenteil hellwach. Schmelzer hieß sie, das wußte er. Sie hatte bei der Zentrale angerufen und ihren Namen angegeben. Den wußte er, und ihre Adresse kannte er auch. Er würde beides nicht vergessen und sie vielleicht irgendwann einmal fragen, was dem Kleinen gefehlt hatte.

*

Dr. Adrian Winter, der jüngste Chefarzt der Kurfürsten-Klinik und zugleich Leiter der Notaufnahme, verließ eben eine Behandlungskabine, als er eine junge Frau auf sich zulaufen sah, die einen weinenden Säugling an sich gepreßt hielt. Etwas an ihrem Gesicht und an der Art, wie das Kind schrie, ließ ihn innehalten. Er hätte sich eigentlich als nächstes um einen Mann kümmern sollen, der Opfer einer Messerstecherei geworden war, die in der Nähe des Bahnhofs Zoo stattgefunden hatte, doch jetzt sagte er eilig zu seinem Kollegen, dem Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer: »Kannst du den Messerstich bitte übernehmen, Bernd?«

»Sicher«, lautete die Antwort, und Adrian ging der jungen Frau entgegen.

»Was ist mit Ihrem Kind?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Aber er muß Schmerzen haben, so wie er weint. Hören Sie das?«

»Ja«, antwortete Adrian. »Seit wann weint er?«

»Ich weiß es nicht genau. Zuerst habe ich versucht, ihn zu beruhigen, aber das hat überhaupt nicht geklappt, im Gegenteil, er hat nur immer mehr geweint. Und er niest auch. Deshalb dachte ich ja zuerst, daß es vielleicht eine kleine Erkältung sei, weil auch die Augen tränen. Aber sein Weinen klingt anders als sonst. Da habe ich ein Taxi gerufen und bin direkt hierher gefahren.«

»Das war richtig«, sagte Adrian. »Geben Sie mir den Kleinen und nehmen Sie Platz. Ich werde ihn sofort untersuchen.«

Sie zögerte. »Kann ich nicht mitkommen? Ich verspreche, ganz ruhig zu sein und Sie nicht zu stören – aber er wird noch mehr Angst haben, wenn ich nicht in seiner Nähe bin.«

Adrian nickte. »Sie haben Recht«, sagte er ruhig. »Kommen Sie.«

Er ging voraus zu einer Kabine und rief auf dem Weg dorthin: »Julia! Schwester Claudia!«

Seine Kollegin, die Internistin Dr. Julia Martensen, und die stille, aber überaus tüchtige Schwester Claudia kamen aus verschiedenen Richtungen geeilt.

»Was gibt’s?« fragte Julia. Sie war fast fünfzehn Jahre älter als Adrian, doch sah man ihr das nicht an. Sie war eine schlanke, attraktive Brünette mit einem modernen Kurzhaarschnitt. Mit Adrian hatte sie sich trotz des Altersunterschieds auf Anhieb verstanden, sie waren ein ausgesprochen harmonisches Team.

»Wie heißen Sie?« erkundigte sich Adrian bei der jungen Frau. »Und wie heißt der Kleine?«

»Karina Schmelzer«, antwortete sie. »Mein Sohn heißt Moritz.«

Er nahm ihr den Jungen ab und legte ihn vorsichtig auf die Untersuchungsliege. Dann wandte er sich an Julia Martensen und Schwester Claudia. »Frau Schmel­zer hat zuerst gedacht, der Junge sei erkältet, weil er niesen muß und die Augen tränen, aber er scheint heftige Schmerzen zu haben. Das weist darauf hin, daß es wohl doch nicht nur eine einfache Erkältung ist.«

»Der arme Kleine«, sagte Julia mitleidig und beugte sich über das Baby. Aufmerksam betrachtete sie das zum Weinen verzogene Gesichtchen. »Könnte sein, daß er etwas am Auge hat?« fragte sie.

Karina Schmelzer hob ratlos die Schultern. »Mir ist aufgefallen, daß sie tränen – also, ich meine, auch wenn er nicht weint. Aber, wie gesagt, ich hab’ ja zuerst gedacht, es wäre vielleicht eine Erkältung.«

Schwester Claudia hielt das Kind fest, während die beiden Ärzte es untersuchten. Adrian tastete vorsichtig den Bauch des Jungen ab, während Julia sich die Augen genauer ansah.

»Ich kann nichts entdecken«, stellte Adrian schließlich fest. »Bauchschmerzen hat er offenbar nicht.«

»Aber er hat etwas im Auge«, sagte Julia. »Und ich glaube auch nicht, daß beide Augen tränen, sondern nur eines, das rechte. Sieh mal hier, Adrian.«

Das Kind zappelte und weinte noch verzweifelter als zuvor, aber Schwester Claudia hielt das Köpfchen behutsam fest, so daß nun auch Adrian sah, was seine Kollegin entdeckt hatte: Eine Verdickung unter dem rechten Oberlid.

»Das wird es sein«, murmelte er und wandte sich an die Mutter des kleinen Patienten. »Haben Sie bemerkt, Frau Schmelzer, ob er öfter nach dem rechten Auge gegriffen hat?«

Die junge Frau dachte nach. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie und überlegte. Dann meinte sie: »Doch, ja, das kann sein, aber ich habe nicht darauf geachtet, weil er oft mit den Händchen im Gesicht herumfährt.« Ihre dunklen Augen waren voller Angst auf den Arzt gerichtet. »Ist es etwas Schlimmes?« fragte sie ängstlich.

»Das können wir noch nicht genau beurteilen, Frau Schmelzer«, antwortete Adrian. »Aber der Junge muß von einem Spezialisten untersucht werden, das steht fest. Wir vermuten, daß etwas mit seinem rechten Auge ist. Sehen Sie bitte, hier: Eine kleine Verdickung unter dem Oberlid.«

Sie beugte sich über ihren Sohn, sah sich das Auge genau an und nickt dann: »Ja, das sehe ich. Und was bedeutet das?«

»Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Es könnte eine kleine Geschwulst sein, die ihm Unbehagen bereitet. Wir vermuten, daß nur sein rechtes Auge getränt hat und nicht, wie Sie denken, beide Augen. Das würde heißen, daß vielleicht der Tränenkanal verstopft ist und die Flüssigkeit nicht normal abfließen kann – deshalb läuft, wenn Sie so wollen, das Auge über.«

Ihre Unterlippe fing an zu zittern, und er sah, daß sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Rasch sagte er: »Wir können ihm sicher helfen, Frau Schmelzer, es ist gut, daß Sie gleich mit ihm gekommen sind.«

»Aber eine Geschwulst«, flüsterte sie, »eine Geschwulst am Auge, das ist doch etwas Schreckliches.«

Adrian warf Julia einen Blick zu, den sie sofort verstand. Sie sagte ruhig: »Bitte, Frau Schmelzer, kommen Sie mit mir nach draußen. Herr Dr. Winter muß die Untersuchung noch abschließen, und ich erkläre Ihnen, wie wir jetzt am besten weiter vorgehen.«

Sie nahm den Arm der jungen Frau und verließ mit ihr die Kabine.

Adrian beugte sich erneut über das Kind, das jetzt ruhiger geworden war. »Lass mich mal dein Auge sehen, Moritz«, sagte er sanft. »Ich tue dir nicht weh, aber ich muß es mir einfach mal ein bißchen genauer ansehen.«

Als hätte der Kleine verstanden, was der Arzt zu ihm sagte, hielt er still. Vorsichtig strich

Adrian über die Verdickung. Dann zog er das Auge ein wenig auf. »Ich hab’s befürchtet«, murmelte er.

»Ein Tumor?« fragte Schwester Claudia leise. »Glauben Sie, er hat einen Tumor, Herr Dr. Winter?«

»Ich fürchte ja, Schwester Claudia. Aber genau kann man das natürlich erst sagen, wenn ein Spezialist sich das Auge angesehen hat. Wir werden bis morgen warten müssen, fürchte ich.«

»Armer Moritz«, sagte Schwester Claudia. »Hoffentlich ist es nichts Bösartiges.«

Adrian nickte nur. Auf Frau Schmelzer und ihren kleinen Sohn würden ein paar schwere Wochen zukommen, das ahnte er bereits.

*

»Und er muß wirklich hier bleiben?« fragte die junge Frau mit zitternder Stimme.

»Frau Schmelzer«, sagte Julia Martensen ruhig, »es ist jetzt ein Uhr nachts. Der Spezialist wird morgen sehr früh im Haus sein, dann kann er Ihren Sohn sofort untersuchen – wir werden das organisieren. Lassen Sie ihn hier, dann verlieren wir keine Zeit. Übrigens denke ich, daß Sie ebenfalls hierbleiben können, wir sind auf solche Fälle vorbereitet.«

Die andere nickte mit gesenktem Kopf. »Gut«, meinte sie, »dann bleiben wir hier. Ich bin ja froh, wenn ihm geholfen wird.«

»Wollen Sie jemanden benachrichtigen?« fragte Julia. »Den Vater des Kindes vielleicht?«