Katharina Drexler

Ererbte Wunden heilen

Therapie der transgenerationalen Traumatisierung

Zu diesem Buch

Können traumatische Erlebnisse der Eltern oder Großeltern auf die folgenden Generationen weiterwirken? Was dem Erfahrungswissen vieler Menschen entspricht, belegen nun auch aktuelle Forschungen zur Stressverarbeitung und Epigenetik zweifelsfrei. Die Autorin, Ärztin und Traumatherapeutin, beschäftigt sich seit zehn Jahren wissenschaftlich und therapeutisch mit der Frage, wie seelische Wunden vererbt werden und, vor allem, wie diese Wunden heilbar sind. Mit ihrem Buch liegt nun der erste systematische Behandlungsansatz der Therapie transgenerationaler Traumata vor. An ausführlichen Fallgeschichten werden die einzelnen Schritte transparent und nachvollziehbar erläutert und auch vermittelt, wie die Interventionen in die gesamte Therapieplanung eingebettet werden.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

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Impressum

Leben Lernen 296

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89203-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10987-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20357-8

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Meinen Eltern Rose (1935 – 1996) und Robert (1922 – 1994)

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

als ein Mensch, der das Gespräch mit einem Gegenüber schätzt und seit Jahrzehnten täglich viele Stunden praktiziert, fiel es mir zunächst schwer, vor dem Bildschirm zu sitzen und meine Gedanken ohne Rückmeldung festzuhalten. Mich an ein Buch zu wagen, empfand ich als ein Vorhaben, das nicht unbedingt meiner Natur entspräche.

Da ich aber davon überzeugt bin, dass ererbte Wunden für viel individuelles wie auch gesellschaftliches Leid verantwortlich sind, hegte ich den Herzenswunsch, mehr Menschen zu erreichen, als ich dies bisher mithilfe meiner Seminare, die ich seit 2005 zu diesem Thema halte, oder in den Therapien vermocht hatte.

Meine Hoffnung ist, dass mithilfe dieses Buches transgenerational weitergegebene Traumatisierungen sowohl von Betroffenen als auch von Fachleuten aus den helfenden Berufen schneller und klarer erkannt werden und sich hierdurch eine Chance auf Heilung eröffnet. Denn nur, was wir kennen, erkennen wir. Und nur, was wir erkennen, können wir auch heilen.

Wie Sie sehen, verfolge ich mit meinem Buch ein Ziel.

Um mich mit Ihnen – den Lesern und Leserinnen – in einen Dialog zu begeben, stellte ich Sie mir während des Schreibens vor. Da ich viele verschiedene Gesprächspartner gewöhnt bin, waren auch Sie in meiner Phantasie mal der Sohn oder Enkel einer Vertriebenen, mal eine Kollegin, die mehr wissen, verstehen und darüber hinaus zur Verarbeitung ererbter Wunden beitragen möchte, mal Sohn eines Kriegstraumatisierten oder die Tochter einer Mutter, die sexuell traumatisiert wurde.

Mein Buch soll Sie einladen, mit mir ins Gespräch zu kommen. Vielleicht lassen Sie manchmal das Buch sinken und treten in diesen Dialog ein, indem Sie Geschriebenes durch eigene Erfahrungen ergänzen. Sollte dieses Buch für Sie eine Ermutigung darstellen, hätte es seinen Zweck erfüllt.

Ich wünsche Ihnen eine erhellende Zeit bei der Lektüre!

Ihre Katharina Drexler

Kapitel 1

Wer hat dieses Buch geschrieben?

Gerne möchte ich Ihnen zeigen, wem Sie hier über die Schulter blicken.

Ich bin seit meinem 26. Lebensjahr Ärztin und habe mich anschließend weitergebildet, zunächst zur Fachärztin für Psychiatrie und anschließend zur Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie. Seit 2000 bin ich in einer eigenen Psychotherapiepraxis in Köln niedergelassen.

Die Integration traumatherapeutischer Techniken in meine Arbeit ab den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat diese in einem ungeahnten Ausmaß erleichtert und bereichert. Seit 2001 bin ich EMDR-Therapeutin, seit 2006 Supervisorin für EMDR (EMDRIA Deutschland). Zu EMDR s. Kapitel 4 ab Seite 31.

Während ich früher vollständige Heilungen vorwiegend den operativen Fächern der Medizin zugeordnet hatte, durfte ich nun etwas, das ich für mich »Operation an der offenen Seele« nenne, erleben und mich mit meinen PatientInnen daran freuen, dass die Psychotherapie sich selbst überflüssig gemacht hatte.

2003 stieß ich gemeinsam mit meiner Patientin Frau Geiger1 (s. Kapitel 6 »Ererbte Trauer«) erstmalig bewusst auf ein übertragenes Trauma. Als Therapeutin habe ich seither vielfältige Erfahrungen gesammelt mit der Diagnostik und Behandlung ererbter Wunden.

Erst durch die Erfahrung mit Frau Geiger jedoch verstand ich, dass ich bereits Jahrzehnte zuvor Spezialistin für ererbte Wunden geworden war, da ich selbst eine solche Wunde in mir trug.

Ich hatte immer großen Respekt vor Pionieren wie dem Arzt und Chemiker Sir Humphry Davy, der 1800 in einem Selbstversuch feststellte, dass das Einatmen von Lachgas das Schmerzempfinden aufhebt. Solch eine Chance, eine möglicherweise hilfreiche neue Behandlungsmethode im Selbstversuch zu erproben, hat sich mir durch mein eigenes transgenerational übertragenes Trauma eröffnet.

Solange ich denken konnte, tauchte der immer gleiche Traum in Variationen auf: Unzählige Male hatte ich geträumt, dass ich mich auf der Flucht befand und angegriffen wurde. Mal drohte mir Erschießung, mal sollte ich durch einen Pfeil getötet werden. Fast immer waren mir wichtige Menschen an meiner Seite. Häufig fanden die mir Lieben den Tod. Hin und wieder träumte ich auch, ich sei getroffen und müsse sterben.

Woher kamen diese Träume? Tagesreste schienen keine Rolle zu spielen. Ich fand keine Antwort und lernte, diese in unregelmäßigen Abständen über Jahrzehnte auftretenden Albträume hinzunehmen. Auch in meinen Selbsterfahrungen im Rahmen der Weiterbildungen ließ sich keine Erklärung für die Träume finden, geschweige denn konnten diese aufgearbeitet werden.

Es sollte Jahre dauern, bis ich den Zusammenhang zwischen meinen Träumen und den Traumata meines Vaters herstellte.

Mein Vater wurde 1922 in Budapest geboren. Sein Vater war Jude, seine Mutter Katholikin, beide waren engagierte Sozialdemokraten. 1943 wurde mein Vater einberufen und zur Flakabwehr eingeteilt. Die Papiere bezüglich seiner ethnischen Abstammung musste er durch einen Zufall nicht vorweisen.

Ab 1940 trat Ungarn dem Dreimächtepakt bei, der zwischen dem Deutschen Reich, Italien und Japan geschlossen worden war. Im April 1941 beteiligte sich Ungarn am Balkanfeldzug, ab Juni 1941 am Krieg gegen die Sowjetunion. Großbritannien erklärte am 7. Dezember 1941 Ungarn den Krieg, Ungarn wiederum den USA am 12. Dezember desselben Jahres.

Unter dem ungarischen Großverweser Miklós Horthy fanden ab 1943 geheime Verhandlungen mit den Alliierten statt. Am 15. 10. 1944 erklärte Horthy die Kapitulation Ungarns. Einen Tag später wurde er im Unternehmen Panzerfaust von SS-Truppen gestürzt und in Bayern interniert, während die faschistische Pfeilkreuzlerpartei die Regierung Ungarns übernahm.

Nachdem die Kapitulation Ungarns, die sogenannte Horthy-Proklamation, über das Radio verbreitet worden war, jubelte mein Vater. Ein meinem Vater vorgesetzter Unteroffizier und strammer Nazi beschimpfte Horthy als Landesverräter, woraufhin mein Vater auf ihn losging und es zu einer Prügelei kam, die nur durch das Eingreifen anderer ohne schwerwiegende Verletzungen beendet werden konnte. Als am nächsten Tag die Gegenproklamation der Pfeilkreuzer verlesen wurde, entschied sich mein Vater zu desertieren. Zuvor manipulierte er noch alle Flugabwehrgeräte derart, dass es beim morgendlichen Einschalten zu einem Kurzschluss kam.

Durch die Kontakte seiner Eltern zur sozialdemokratischen Opposition konnte er sich erstklassige falsche Papiere besorgen und gemeinsam mit seinem besten Freund Iván untertauchen. Iván war als Jude im Arbeitsdienst eingesetzt worden und desertiert, als seine Einheit Richtung Westen – was bedeutete ins KZ – verlegt wurde. In den folgenden Wochen versorgte mein Vater an die hundert Menschen mit falschen Papieren, tauschte hierbei eingenommenes Geld gegen Waffen und knüpfte Kontakte zu sozialdemokratischen, kommunistischen und studentischen Untergrundgruppen.

Ein Versuch, seinen Vater mithilfe falscher Papiere zu retten, scheiterte. Als Jude war mein Großvater im Arbeitsdienst eingesetzt. Nach der Machtübernahme durch die nationalsozialistischen Pfeilkreuzer wurden die bereits zuvor ghettoisierten Juden in KZs deportiert. Als mein Vater mithilfe seiner gefälschten Papiere den »Juden Drexler« zu »verhaften« versuchte, musste er erfahren, dass sein Vater bereits mit dem vorherigen Transport deportiert worden war. Mein Großvater starb im KZ Mauthausen zwischen der Räumung des KZs und dem Eintreffen der Alliierten an den Folgen der massiven Mangelernährung.

Am 7. Dezember 1944 gerieten Iván und mein Vater in eine Razzia, bei der die erstklassigen Papiere nichts nützten, denn einer der Kontrollierenden kannte Iván persönlich. Da die Papiere Iváns und die meines Vaters offensichtlich aus derselben Quelle stammten, wurden beide verhaftet. Sie wurden drei Tage verhört und gefoltert. Am 10. 12. 1944 wurden mein Vater und sein Freund zur Exekution vorgeführt. Dass sie in den Wirren auf dem Hof den Platz getauscht haben, hat mir mein Vater nur einmal von Emotionen überwältigt erzählt. Dieses Detail muss für ihn besonders schwer erträglich gewesen sein. Der Schütze, der nun hinter meinem Vater stand, war offensichtlich ungeübt, sodass er die Abweichung der Pistole durch den Schuss nicht ausglich. Statt eines Genickschusses durchschoss er meinem Vater den Kieferknochen und mit einem zweiten Schuss in den Rücken die Lunge. Als mein Vater aufwachte, lag sein Freund tot neben ihm. Er versuchte, ihn zu wecken, und brauchte Minuten, um zu verstehen, dass Iván nie mehr aufstehen würde.

Mein Vater konnte sich zu einem Haus schleppen. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht und dort versorgt. In Ungarn war das möglich, da ein Großteil der Bevölkerung mit den Nationalsozialisten nicht sympathisierte. Die Verletzungen heilten rasch und ohne bleibende Schäden. Die letzten Tage vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen konnte mein Vater sich in Budapest verstecken.

In meinen Albträumen hatte ich die schlimmste traumatische Erinnerung meines Vaters durchlebt, immer und immer wieder, analog zu Albträumen, die Traumatisierte immer wieder das traumatische Geschehen wiedererleben lassen.

Wir können davon ausgehen, dass Träume der Verarbeitung von Erlebnissen dienen. Wenn allerdings das Erlebte unsere Selbstheilungskräfte übersteigt, wachen wir aus dem Traum auf, ohne einen Ausweg aus der Situation gefunden zu haben. Wiederholte Träume stellen einen wichtigen Auftrag tieferer Bewusstseinsschichten dar. Werden jedoch sogar in Psychotherapien ererbte Traumata nicht als solche erkannt, kann der Auftrag noch so oft erteilt werden, erledigt wird er nicht.

Nachdem ich mit Frau Geiger die Erfahrung gemacht hatte, möglicherweise einen gangbaren Weg zur Heilung ererbter Wunden gefunden zu haben, erklärte ich einem von mir geschätzten, erfahrenen traumatherapeutischen Kollegen die Vorgehensweise. Ich bat ihn, mit meinem verinnerlichten Vater eine EMDR-Sitzung zu machen.

Es war eine spannende Innenerfahrung, wie verändert ich saß, mich fühlte und dachte. In dieser Sitzung konnte das ererbte Erschießungstrauma vollständig verarbeitet werden. Seither sind 14 Jahre vergangen, in denen die oben geschilderten Albträume nie wiedergekehrt sind.

Kapitel 2

Ererbte Wunden – was wir bislang wissen

2.1 Bisherige Auseinandersetzung mit dem Thema

Psychoanalytiker im deutschsprachigen Raum, in Israel sowie den USA veröffentlichten bereits ab Mitte der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts Fallbeschreibungen von Nachfahren Holocaustüberlebender. Veröffentlichungen aus den 70er- und 80er-Jahren setzten sich über den Einzelfall hinaus mit der Frage auseinander, welche Folgen der Holocaust bei den Kindern der Überlebenden zeigt (Barocas & Barocas, 1979; Grubrich-Simitis, 1979; Kestenberg, 1974 und 1982; Sigal, 1974). Die Nachfahren dieser massiv traumatisierten Eltern zeigten Symptome, als hätten sie selbst Traumata erlitten.

Erst mit einem deutlichen zeitlichen Abstand folgten in den letzten Jahren Studien zu den Folgen der Kriegstraumatisierung in Deutschland und den Auswirkungen auf die Kinder und Enkel (Ermann, 2009; Holstein et al., 2010; Krausz, 2008; Lampater, Möller & Thießen, 2010; Radebold, Bohleber & Zinnecker, 2008; Reddemann, 2015).

Zunächst hatten Scham- und Schuldgefühle sowie deren Verdrängung angesichts der Verantwortung für Krieg und Holocaust vorgeherrscht (Eckstaedt, 1996; Eickhoff, 1989; Mitscherlich & Mitscherlich, 1967). Durch den zeitlichen Abstand und die Auseinandersetzung mit den Folgen für die Kinder und Enkel gelingt es inzwischen, die Kriegsgeneration nicht nur als eine traumatisierende, sondern auch traumatisierte wahrzunehmen (Drexler, 2013). Bezieht man auch partielle posttraumatische Belastungsstörungen mit ein, sind die heutigen Älteren häufiger von posttraumatischen Symptomen betroffen als die nachfolgenden Generationen. Auch zeigen Untersuchungen einen Zusammenhang mit schlechterer körperlicher Gesundheit.

Von großer Bedeutung für den gesellschaftlichen Diskurs sind die Medien, insbesondere Fernseh- und Kinofilme, die in den letzten Jahren verstärkt die Themen Krieg, Vertreibung und Flucht aufgreifen, sowie Bücher und Romane, die sich mit den Nachfahren der Kriegsgeneration befassen und so das Thema weitergegebener Traumata einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen (Alberti, 2010; Aust, Burgdorff et al., 2005; Bode, 2009; Bruhns, 2004; Heinl, 1994; Ustorf, 2008).

Als Kriegskinder werden diejenigen bezeichnet, die während des Zweiten Weltkrieges Kinder waren, ihre Kinder wiederum als Kriegsenkel. Kriegsenkel sind oft von außergewöhnlicher Loyalität gegenüber Mutter und Vater geprägt, deren Bedürftigkeit die eigenen Bedürfnisse überdeckte. Von klein auf hatten sie die Bedürftigkeit der Erwachsenen gespürt und versucht, es ihnen »leicht« zu machen und sie zu trösten (Ermann, 2009).

Während wissenschaftliche Studien zu Kriegsenkeln noch weitgehend fehlen, finden wir eine breitere Datenlage bei Nachfahren von Vietnam-Veteranen und insbesondere bei Kindern und Enkeln Holocaust-Überlebender. Die dort erhobenen Befunde decken sich weitgehend mit denen bei Kriegsenkeln.

Selbstverständlich können nicht nur Traumata übertragen werden, die große Bevölkerungsgruppen betreffen, sondern auch individuelle Erfahrungen von Gewalt oder schwerer Vernachlässigung (Drexler, 2013).

2.2 Wie können wir uns eine Übertragung traumatischer Wunden von einer Generation auf die nächste vorstellen und erklären?

2.2.1 Bedeutung der Interaktion

Bei der Übertragung von Traumata kommt mit Sicherheit der Interaktion zwischen traumatisierten (Groß-)Eltern und ihren Nachfahren eine wesentliche Rolle zu. Die Übermittlung von Emotionen erfolgt nicht nur über verbale Kommunikation, sondern ebenso über Körperhaltung, Gestik, Mimik, Blick, Stimme, gewährte oder versagte Berührungen.

Der Erziehungsstil von Menschen, die an einer Traumafolgestörung leiden, ist unmittelbar geprägt von der traumatischen Erfahrung (Krell, Suedfeld & Soriano, 2004). Der erschütternde Verlust an Sicherheit in der eigenen Vergangenheit lässt Traumatisierte häufig nach möglichst großer Sicherheit für ihre Kinder streben, wodurch diese lernen, überwachsam und ängstlich zu sein. Daraus wiederum ergeben sich häufig Schwierigkeiten bei der Individuation und Ablösung. Was als belastend betrachtet werden soll, beurteilen die Eltern auf der Basis ihrer traumatischen Erfahrung. Die Kinder wiederum lernen hierdurch, eigene Probleme als trivial anzusehen (Ermann, 2009).

Über einen längeren Zeitraum Traumatisierte (wie insbesondere Holocaust-Überlebende, aber auch Kriegsveteranen und Flüchtlinge) erleben häufig eine sequentielle Traumatisierung, die zu einem anhaltenden Empathieverlust mit weitreichenden Folgen für ihre Beziehungs- und Bindungsfähigkeit führen kann.

Abb. 1 Bunter Drache, Elisabeth Eder

Abb. 2 Scherenschnittdrache, Elisabeth Eder

Auch wenn viele schwer Traumatisierte versuchen, durch Schweigen über das Erlebte die schmerzhaften Erinnerungen von ihren Familien fernzuhalten, vermitteln sich doch an ihre Kinder die impliziten Botschaften. Das kindliche Bemühen, die wahrgenommene elterliche Not zu verstehen, füllt das schwarze Loch des Schweigens mit Phantasien. Daher können auch Traumata übertragen werden, deren Inhalte sich nur durch Tabugrenzen, ein abruptes Dissoziieren der traumatisierten Bezugsperson oder Schweigen vermitteln. Der »Drache« wird nicht nur sichtbar, wenn sein Inneres bunt ist, auch als Scherenschnitt können wir ihn erkennen (Drexler, 2013).

Ein für mich eindrückliches literarisches Beispiel für einen Scherenschnittdrachen ist Lily Bretts 1999 erschienenes Buch »Too Many Men« (»Zu viele Männer«). Die Heldin des Romans wird von quälenden Albträumen heimgesucht, die sie weder einordnen noch verstehen kann. Erst während einer gemeinsamen Reise mit ihrem Vater nach Polen erfährt sie, dass die Träume traumatische Erlebnisse ihrer Eltern widerspiegeln, die beide Auschwitz überlebt haben.

Die israelische Psychotherapeutin Dina Wardi beschreibt in ihrem gleichnamigen Buch von ihr sogenannte »Gedenkkerzen« (1997). Als lebende »Gedenkkerzen« fungieren Kinder von Holocaust-Überlebenden, denen bestimmte Charaktereigenschaften eines während der Shoa Ermordeter zugeschrieben werden. Nicht selten tragen sie die Vornamen dieser Verstorbenen. Ihr Auftrag, den verlorenen Menschen zu ersetzen und den erlittenen Verlust ungeschehen zu machen, ist jedoch stets zum Scheitern verurteilt, sosehr sie sich auch bemühen mögen. Dina Wardi hat ein Behandlungskonzept entwickelt, das aus einer mehrjährigen Gruppentherapie in Kombination mit Einzeltherapie besteht.

Tilmann Moser führt im Vorwort zu ihrem Buch aus, dass auch in Deutschland Familien, die Angehörige durch den Zweiten Weltkrieg verloren hatten, ihre Kinder beauftragten, diese Verstorbenen »wiederauferstehen« zu lassen. Auch diese Nachfolgegeneration trägt an einer zweifachen Identität.

2.2.2 Neurobiologische Erkenntnisse

Das System der Stresshormone reguliert sich normalerweise durch einen Feedback-Mechanismus wie eine Heizung mit Thermostat selbst. Bei PatientInnen mit chronischem Stress wird das System nicht mehr reguliert, sondern heizt immer weiter hoch. Schließlich sind keinerlei Cortisolreserven mehr in den Nebennieren verfügbar. Oder um im Bild zu bleiben: die »Öltanks« sind leer. Während wir bei akutem Stress einen Anstieg des Cortisolspiegels finden, führt chronischer Stress aufgrund des Ausschöpfens aller Reserven schließlich zu erniedrigten Cortisolspiegeln.

Durch chronischen Stress erniedrigte Cortisolspiegel lassen sich nicht nur bei Menschen finden, die selbst an einer Traumafolgestörung leiden, sondern auch bei ihren Kindern und sogar Enkeln.

Die New Yorker Professorin für Psychiatrie und Neurowissenschaften Rachel Yehuda untersuchte 38 Frauen, die als Schwangere unmittelbar vom Anschlag auf das World Trade Center am 11. 09. 2001 betroffen waren, und deren Säuglinge, als diese neun Monate alt waren. Sie und ihre MitarbeiterInnen konnten nachweisen, dass die Babys erniedrigte Cortisolspiegel aufwiesen, wenn ihre Mütter eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt hatten (Yehuda et al., 2005). Zuvor hatte die Forschergruppe bereits bei Nachfahren Holocaust-Überlebender erniedrigte Cortisolspiegel nachgewiesen (Yehuda et al., 1998 und 2002).