Michael Wilcke

Hexentage

Historischer Roman

 

 

 

Aufbau-Verlag

Impressum

ISBN 978-3-8412-0248-2

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Erstausgabe erschien 2003 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der

Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Motivs von Shaiith / iStockphoto und einer Karte von Osnabrück/www.historic-maps.de

 

Kartenillustration: Jessica Krienke

 

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Danksagung

karte

|5|Kapitel 1

Der hübsche blonde Junge mit den verweinten Augen mochte nicht älter als drei oder vier Jahre sein. Seine Mutter hatte ihn in die Apotheke gebracht, weil er seit Stunden ununterbrochen geweint und über stechende Schmerzen in seinem Bauch geklagt hatte. Anna, die Frau des Apothekers, tastete vorsichtig seinen Leib ab. Stets, wenn ihre Finger in die Nähe seines Magens drückten, verzerrte das Kind sein Gesicht und stieß wimmernde Klagelaute aus, die an das Jaulen einer Katze erinnerten.

Anna strich dem Jungen tröstend über das Haar und wandte sich zu seiner Mutter um. Wenngleich diese vor allem um ihren Sohn besorgt war, wanderten ihre Blicke dennoch neugierig über das Inventar der Offizin, der Werkstatt dieser Apotheke, die auch als Laboratorium genutzt wurde. Vor allem die zahlreichen mit farbigen Wappen und Etiketten geschmückten Gefäße aus Ton, Glas oder Metall, die säuberlich in den Regalen und Schränken aufgereiht waren, zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. In diesen Töpfen befanden sich Arzneien und Heilmittel, die aus pulverisierten Früchten, Rinden und Wurzeln gewonnen wurden. Auch Minerale wie Arsenik, Schwefel und Quecksilber fanden hier ihren Platz.

Die Nasenflügel der Mutter bewegten sich unmerklich und erschnupperten wohl die ungewohnten Gerüche von Süßholz, Kampfer, Baldrian und all dem Unbekannten mit heilbringender Wirkung. Der mannshohe Bronzemörser mit seiner Stoß- und Stampfeinrichtung sowie die beiden brodelnden und zischenden |6|Destillationsapparaturen trugen zusammen mit den eigenwilligen Düften dazu bei, dieser Umgebung eine geheimnisvolle Atmosphäre zu verleihen.

»So sprecht doch, was ist mit ihm?« flehte die Mutter, die ihre Aufmerksamkeit nun wieder ganz auf ihren Sohn lenkte.

Anna bat mit einem Fingerzeig um Geduld, klappte einen abgewetzten Ledereinband auf und blätterte die Seiten durch, bis sie auf die Abbildung stieß, nach der sie gesucht hatte. Sie drehte die Zeichnung der Pflanze in Richtung des Jungen, so daß er sie sehen konnte.

»Kennst du diese Pflanze?« fragte Anna.

Der Junge starrte einen Moment lang grübelnd auf die Zeichnung und nickte verhalten.

»Hast du davon gegessen?«

Wieder ein Nicken.

Annas Vermutung wurde bestätigt. Wie sie es geahnt hatte, wurde das Kind von einer Vergiftung geplagt. Gewiß unangenehm für den Jungen, aber es gab weitaus schlimmere Krankheiten, die ähnliche Symptome aufwiesen. Oft genug kam es vor, daß Anna bei Menschen, die über schier unerträgliche Schmerzen an der rechten Seite klagten, eine Verhärtung ertastete, die darauf hinwies, daß sich an dieser Stelle das Gedärm entzündet hatte. In einem solchen Fall blieb ihr nichts weiter übrig, als diese Männer und Frauen an einen Chirurgen weiterzuempfehlen, wohlwissend, daß ein Patient diese Krankheit nur selten überlebte.

»Was fehlt ihm?« verlangte die verzweifelte Mutter zu wissen.

»Euer Sohn hat vom Ackersenf gegessen. Dieses Kraut schwächt den Körper eines Menschen und verursacht Schmerzen in seinem Magen.«

»Wird er sterben?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Es war richtig, daß Ihr Euch sofort an mich gewandt habt.« Sie musterte den Jungen und sorgte sich trotz ihrer aufmunternden Worte |7|um ihn. Einen gesunden und kräftigen Menschen konnte der Ackersenf kaum schädigen, doch dieses Kind war mager und geschwächt, seine Arme und Beine waren nicht viel dicker als die Äste eines jungen Baumes. Sie erinnerte sich daran, daß der Name der Mutter Mareke Wessels war und daß sie zu den ärmsten Bürgern der Stadt zählte. Ihr Ehemann, der Scherenschleifer Rudolf, war vor einem halben Jahr auf dem Weg in die benachbarte Ortschaft Bramsche von Wegelagerern überfallen und erschlagen worden. Mareke Wessels und ihr Sohn lebten seither in einer armseligen Behausung und ernährten sich von den Erzeugnissen ihres kargen Gartens sowie den Almosen, die sie erbetteln konnten. Wahrscheinlich gab es an vielen Tagen nicht einmal ein Stück Brot für sie, um ihren Hunger zu stillen. Wen mochte es da verwundern, daß dieses Kind über die Äcker streifte und sich von Unkraut ernährte?

»Ich werde eine Medizin aus Balsamkraut zubereiten, die Eurem Sohn das Gift aus dem Körper treibt und ihn kräftigt.«

Anna wollte sich dem Arzneischrank zuwenden, doch Mareke Wessels hielt sie zurück, indem sie eine Hand auf ihren Arm legte. »Bitte wartet, Frau Ameldung.« Ihr ausgezehrtes Gesicht, das die vielleicht dreißigjährige Frau älter aussehen ließ als Anna, die bereits die vierzig überschritten hatte, war von Resignation gezeichnet. »Ihr wißt, daß ich Eure Dienste nicht bezahlen kann.«

Anna starrte sie verwundert an. Traute diese Frau ihr tatsächlich zu, daß sie ihrem Kind die Medizin, die nur wenige Groschen wert war, verweigern würde? Im nächsten Moment mußte sie sich eingestehen, daß diese Reaktion keineswegs ungewöhnlich war. Es gab viele, zu viele Ärzte und Kurpfuscher in der Stadt, denen das Honorar heiliger war als das Wohl der Patienten.

»Laßt das Eure geringste Sorge sein«, raunte Anna und machte sich daran, die Arznei herzustellen. Sie zerstieß Balsam, Raute und Betonienkraut in einem kleinen Mörser, drückte den Saft |8|aus und vermischte ihn mit der doppelten Menge eines Abführmittels. Diese Medizin füllte sie in ein Glasfläschchen, verkorkte es und drückte es der Mutter in die Hand.

»Sorgt dafür, daß Euer Sohn dies an einem warmen Ort trinkt. Entweder wird er dann das Gift erbrechen, oder es wird ihm durch das Hinterteil hindurchgehen.« Anna zögerte, dann griff sie in die Tasche ihrer Schürze und förderte eine schimmernde Kupfermünze zutage. Für sie war es kein großes Opfer, doch dieser Frau und ihrem Sohn konnte ihre Mildtätigkeit für einige Tage das Leben erleichtern. »Nehmt es«, sagte sie und schob Mareke Wessels die Münze zu. »Kauft Eurem Sohn davon gute Milch und vielleicht auch Brot und Käse, damit er etwas Nahrhaftes zu Essen bekommt und schnell wieder Kraft schöpft.«

Mareke Wessels preßte das Fläschchen und die Münze an ihren Busen und schenkte Anna ein dankbares Lächeln.

»Ihr seid ein guter Mensch, Frau Ameldung. Das werde ich Euch nie vergessen. Wenn Ihr es wünscht, mache ich mich in Eurem Haushalt nützlich. Ich könnte Holz für Euch sammeln, Euch bei der Wäsche behilflich sein oder Euren Garten pflegen.«

»Pflegt zunächst Euer Kind«, erwiderte Anna. »Es braucht Eure Hilfe dringender als ich.«

»Ich stehe tief in Eurer Schuld. Ihr seid fürwahr ein barmherziger Engel. Den bösen Gerüchten, die über Euch verbreitet werden, habe ich ohnehin niemals Glauben geschenkt.«

Anna quittierte diese letzte Bemerkung mit einem wohlwollenden Nicken. Natürlich wußte sie um diese Gerüchte. Manchmal wunderte es sie, daß überhaupt noch so viele Menschen zu ihr kamen, um ihre Hilfe zu erbitten.

»Da ist noch etwas, was ich Eurem Sohn mit auf den Weg geben möchte«, sagte Anna und lief rasch in den Hinterhof, wo sie neben dem Kräutergarten auch ein Blumenbeet angelegt hatte. Sie pflückte die Blüte einer weißen Lilie und reichte sie dem Jungen, der die Blume zweifelnd betrachtete.

|9|»Es wird sicher noch ein paar Tage in deinem Bauch kneifen, aber diese Blüte wird die Schmerzen in sich aufnehmen«, erklärte ihm Anna. »Du kannst es beobachten. Sie welkt im gleichen Maße dahin, wie du erblühen wirst.«

Es war ein durchschaubarer Trick, da die Blüte ohnehin vertrocknen würde, aber der Junge nahm die Lilie, betrachtete sie interessiert, und Anna war überzeugt, daß diese kleine Geschichte ihre Wirkung zeigen würde – so wie sie schon viele andere Kinder in seinem Alter über den Schmerz hinweggetröstet hatte.

Mareke Wessels hob ihren Sohn auf dem Arm. Er klammerte sich um ihren Hals und weinte sich weiter an ihrer Schulter aus. Anna begleitete sie aus der Offizin in den der Straße zugewandten Verkaufsraum, der von dem breiten Rezepturtisch dominiert wurde, an dessen kunstgeschmiedeten Aufsätzen die kleinen Handwaagen hingen, die der Apotheker zur Rezeptur benutzte. Ihr Ehemann Heinrich Ameldung stand gebeugt über einem Lesepult, blätterte im Antidotarium und warf über die Augengläser hinweg seiner Frau wenig freundliche Blicke zu.

»Gott möge Euch schützen«, sagte Mareke Wessels und drückte zum Abschied Annas Hand.

»Euch ebenso«, erwiderte Anna und schaute Mutter und Sohn nach, wie sie ihren Heimweg über den nur wenig belebten Marktplatz der Stadt Osnabrück antraten, der von der in der Blütezeit des gotischen Stils erbauten Marienkirche sowie dem prächtigen Rathaus eingerahmt wurde. Vor wenigen Jahren noch hatten sich zahlreiche Händler und Gewerbetreibende auf diesem Platz getummelt, doch nachdem der Krieg eine große Anzahl unberechenbarer Söldner in die Stadt gebracht hatte, hatte sich das Handwerk in die sicheren heimischen Werkstätten zurückgezogen und von dort aus den Verkauf betrieben. Selbst an diesem sonnigen ersten Augusttag des Jahres 1636 wagte sich kein einziger Händler auf den weitläufigen Platz.

Anna erkannte auf der Rathaustreppe eine hochaufgeschossene |10|Gestalt. Es handelte sich um den Ratsherren Jobst Voß, der offensichtlich nach jemandem Ausschau hielt. Er stierte in Richtung der Straße, die zum Dom führte, dann zuckte sein Gesicht plötzlich zur Seite, und er fixierte Anna mit tiefliegenden, arglistigen Augen.

Für einen Moment glaubte Anna den Anflug eines hämischen Grinsens auf seinem Gesicht zu erkennen, doch im nächsten Augenblick drehte Voß sich auch schon wieder ab und stapfte in das Rathaus. Von Jobst Voß konnte Anna nichts Gutes erwarten; er war ein enger Vertrauter des Bürgermeisters, der wiederum die unheilvollen Gerüchte, die man über sie verbreitete, so begierig aufnahm wie ein Kind die Muttermilch.

Nachdenklich kehrte Anna in die Apotheke zurück, wo sie ihr erzürnter Ehemann empfing.

»Diese Frau machte auf mich nicht den Eindruck, als wäre sie in der Lage gewesen, deine Dienste zu bezahlen«, rief er.

»Diese Frau«, entgegnete Anna, »ist kaum in der Lage, sich und ihren Sohn zu ernähren.«

»Also hast du kein Geld von ihr genommen.«

»Natürlich nicht.« Herrje, dachte Anna. Wie würde er reagieren, wenn er wüßte, daß ich ihr sogar etwas von seinem Geld zugesteckt habe?

Heinrich Ameldung fuhr sich mit den Händen durch sein schütteres Haar »Anna, dies hier ist eine Apotheke und kein Kloster, das Almosen an Bettler und Herumtreiber verteilt.«

»Aber wir sind Christen, und darum ist es unsere Pflicht, den Bedürftigen zu helfen. Oder willst du das etwa abstreiten?«

Er wußte im Grunde, daß sie Recht hatte, und zuckte deshalb resignierend mit den Schultern. »Du hast einfach ein zu großes Herz. Wenn es sich herumsprechen sollte, daß du Arzneien ohne Bezahlung herausgibst, wird das eines Tages noch uns und die gesamte Osnabrücker Ärzteschaft in den Ruin treiben.«

Anna lachte und schloß ihn in die Arme. Auch wenn er sich äußerlich bärbeißig und kühl gab, wußte sie doch um seinen |11|guten Charakter. Er beschwerte sich oft darüber, daß sie Arzneien an die Armen verschenkte, aber er verbot es ihr auch nicht.

Ein Pochen an der Tür ließ Anna zusammenfahren. Es klang energisch, nicht wie das zumeist zögerliche Klopfen der Kranken, die ihr Haus aufsuchten. Heinrich Ameldung löste sich von ihr und öffnete die Tür.

Abrupt verschafften sich zwei mit Degen bewaffnete Büttel und ein untersetzter Amtmann Eintritt in die Apotheke. Alle drei blickten recht finster in Annas Richtung. Hatte der Ratsherr Voß nach diesen Männern Ausschau gehalten? Anna spürte, daß ihre Knie weich wie Teig wurden, doch sie zwang sich, keine Schwäche zu zeigen.

»Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?« fragte Heinrich Ameldung, der bewundernswert ruhig blieb. Weitaus nervöser wirkte der Amtmann, doch man merkte ihm an, wie bemüht er darum war, Entschlossenheit an den Tag zu legen, und so verkündete er mit lauter, aber schwankender Stimme: »Meister Ameldung, Eure Frau steht unter dem Verdacht, die Schwarze Taufe empfangen und Zauberei angewandt zu haben. Es ist daher der Beschluß des ehrbaren Osnabrücker Rates, daß Frau Anna Ameldung, geborene von der Heiden, zum Armenhof geladen werde, um sich einer Befragung zur Ermittlung ihrer Schuld zu unterziehen.«

Ameldung trat einen Schritt auf den Amtmann zu und funkelte ihn aus zornigen Augen an. »Wollt Ihr behaupten, mein Weib sei eine Hexe?«

»Dem Rat liegen Beweise vor, nach denen …«

»Der Rat«, fiel ihm Ameldung höhnisch ins Wort, »stellt nichts weiter dar als eine Ansammlung abergläubischer Dummköpfe, die in Panik gerät, wenn des Nachts eine Katze heult.«

Der Amtmann hob warnend einen Finger. »Mäßigt Eure Zunge, Meister Ameldung. Euch droht eine Geldstrafe, wenn Ihr den Rat beleidigt.«

|12|Anna Ameldung begriff, daß sie sich zu sicher gefühlt hatte. Das Gerücht, sie stehe mit dem Teufel im Bunde, machte bereits seit zwei Jahren die Runde in der Stadt, doch erst seit Anfang dieses Jahres, als in Osnabrück zum ersten Mal seit fast einem halben Jahrhundert Frauen unter dem Verdacht der Hexerei festgenommen und hingerichtet worden waren, hatte Anna erkannt, welche Gefahr dieses bösartige Gerede, das einem dummen Scherz entsprungen war, für sie bedeuten konnte. Trotz allem hatte sie im Grunde nie wirklich erwartet, daß es der Rat wagen würde, die Frau eines der ehrbarsten Osnabrücker Kaufmänner der Hexerei zu bezichtigen.

Allem Anschein nach hatte sie sich geirrt.

»Meine Frau ist keine Hexe. Sie wurde übel verleumdet«, sagte Ameldung.

»Sie wurde von mehreren verläßlichen Quellen beschuldigt. Ihr werdet einsehen, daß der Rat diese Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen kann.«

»Und wenn ich mich weigere, sie gehen zu lassen?«

»Dann werden wir sie mit Gewalt aus diesem Haus schaffen«, meinte der Amtmann mit einem Seitenblick auf die beiden kräftigen Büttel, die ihn flankierten.

Ameldung ballte die Hand zur Faust und streckte sie den ungebetenen Besuchern drohend entgegen. »Bei Gott, dann werdet ihr mich niederschlagen müssen.«

»Hört auf!« fuhr Anna dazwischen. Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Ich werde Eurer Aufforderung Folge leisten, denn ich habe nichts zu befürchten. Gott weiß, daß ich mich keines der Verbrechen schuldig gemacht habe, derer Ihr mich bezichtigt.«

»Das wird sich herausstellen«, sagte der Amtmann.

Heinrich starrte sie verzweifelt an, doch ihre Entscheidung war unumstößlich, auch wenn es bedeutete, daß sie ihn vielleicht für immer verlassen mußte.

»Gebt mir einige Minuten, um mich umzuziehen.«

|13|Der Amtmann nickte, gab dann aber, als Anna Anstalten machte, die Treppe in den ersten Stock hinaufzusteigen, einem der Büttel ein Zeichen, woraufhin der Mann ihr nach oben folgte.

»Keine Sorge, ich werde schon nicht durch das Fenster davonfliegen«, sagte sie, während sie mit zitternden Fingern die Bänder ihrer Haube unter dem Kinn zusammenknotete. Der grobschlächtige Büttel, der sie nicht aus dem Auge ließ, grunzte nur. Anscheinend hatte er ihren Scherz nicht verstanden.

Himmel, dieser Mann ist wirklich davon überzeugt, daß ich eine Hexe bin, stellte sie erschüttert fest.

Aus einer Kleidertruhe suchte sie einen dunkelgrauen, mit Goldfäden verzierten Umhang aus grobem Stoff, der für diese Jahreszeit eigentlich zu warm war. Da Anna befürchtete, daß sie mehrere Nächte auf einem harten Lager verbringen mußte, würde er sich aber wohl als nützlich erweisen.

Mit einer simplen Befragung würde sich diese Angelegenheit nicht regeln lassen. Anna wußte, daß man sie in den Bucksturm sperren würde, einen alten Wehrturm, der als Hexengefängnis diente. Man würden sie in Ketten legen und womöglich sogar foltern, um das Geständnis einer nicht vorhandenen Schuld zu erpressen. Ihr wurde übel bei dem Gedanken daran, daß man sie ihrer Würde beraubte und sie von den Menschen und der Umgebung trennte, die sie liebte.

Wer soll den Kindern helfen, wenn man mir das Leben nimmt? dachte Anna traurig.

Als sie wieder in die Apotheke trat, ging sie zu Heinrich und berührte zärtlich seine Wange. Sein Zorn war dahin, er wirkte nun, da sie mit Umhang und Haube vor ihm stand, einfach nur erschüttert. Sein Gesicht war so blaß, als hätte man das Haupt mit Mehl bestäubt, und in seinen Augen schimmerten Tränen. Sie hatte ihn in all den Jahren niemals weinen gesehen. Auf diese Art zu erfahren, wie viel sie ihm bedeutete, machte es ihr nur noch schwerer, zu gehen und ihn hier zurückzulassen.

|14|»Gib mich nicht auf«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Niemals, so lange ich lebe«, erwiderte er leise.

Von den beiden Bütteln eskortiert wurde sie auf die Straße geführt, wo ein Pferdekarren für sie bereit stand. Die Sonne ließ sie unter dem schweren Umhang schwitzen. Anna blieben nicht die neugierigen Blicke der Umstehenden verborgen, die tuschelnd verfolgten, wie sie auf den Karren stieg.

Der Karren setzte sich in Bewegung und fuhr ruckelnd am Rathaus vorbei. Sie krallte ihre Finger um das Holz des Wagenaufbaus und brachte nicht mehr den Mut auf, sich zur Apotheke umzudrehen. Würde sie das Haus und ihre Familie jemals wiedersehen? Es war qualvoll darüber nachzudenken, und darum mußte sie versuchen, diese betrüblichen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen.

Aus den Augenwinkeln nahm sie an den Fenstern des Rathauses Bewegungen wahr. Anna berührte das kleine silberne Kruzifix, das an einer Kette um ihren Hals baumelte. Ihr Stolz und das Vertrauen auf Gott war alles, was ihr nun noch blieb.

Kapitel 2

Ist es ein Dämon, der dort vor ihm in der Ecke der Küche liegt und so gierig an einem Suppenknochen kaut, daß ihm der Speichel aus dem Mundwinkel trieft? Das kurze schwarze Fell glänzt wie Pech in der Sonne, der Geruch, der von dieser Kreatur ausgeht, erinnert an das strenge Aroma getrockneten Schweißes, und die funkelnden Augen lassen eine abgründige Bösartigkeit erkennen.

Doch es ist nur ein Hund, dem er sich mit langsamen Schritten nähert – ein großer magerer Streuner, der jede Bewegung der Person vor sich mit einem grollenden Knurren quittiert.

Wohlwissend, daß es gefährlich ist, das unberechenbare Tier zu berühren, wollen seine Füße nicht der warnenden Stimme seines |15|Verstandes gehorchen, die in seinem Kopf regelrecht aufkreischt, um ihn von diesem Hund fernzuhalten.

Er streckt eine Hand nach dem Fell aus, aber es sind nicht seine eigenen Finger, sondern die eines Kindes, das nicht ahnt, welches Unglück dieser Tag über es bringen wird.

Der Kopf des Hundes zuckt zur Seite, er läßt vom Knochen ab, und die Lefzen schieben sich über das spitze Gebiß.

Überrascht ziehen sich die Finger zurück, aber es ist bereits zu spät. Die Zähne des Tieres stülpen sich über die Hand und zerquetschen die Finger mit einem kräftigen Biß.

Ein schriller Schrei entringt sich seiner Kehle, als der Schmerz den Körper durchflutet. Dann ist der Hund über ihm, drückt ihn zu Boden und gräbt das messerscharfe Gebiß in sein Gesicht. Ein Schwall Blut schießt ihm in Augen und Mund. Sein Körper windet sich verzweifelt unter der Last des wie besessen zuschnappenden Tieres, und die Welt versinkt in einem dunklen Meer unvorstellbarer Qualen.

 

Jakob Theis riß entsetzt die Augen auf und starrte in sein eigenes Gesicht, das sich auf der Oberfläche einer mit Wasser gefüllten Messingschale widerspiegelte – das Antlitz eines Achtzehnjährigen mit schulterlangen Haaren und einem Kinnbart, der noch nicht recht wachsen wollte.

Einen Moment lang war er wie gelähmt. Selbst hier in der realen Welt ließ die schreckliche Pein des Todeskampfes seine Glieder verkrampfen. Dann befreite er sich aus der Gewalt seiner Vision und schleuderte mit einer wütenden Handbewegung die Messingschale von der Anrichte. Scheppernd fiel sie auf den Fußboden. Die Flüssigkeit verschwand so schnell in die Ritzen der Bodenbretter, als ergriffe sie panisch die Flucht vor seinem Zorn.

Nur das verfluchte Wasser ist schuld, schoß es ihm durch den Kopf. Plötzlich bekam er keine Luft mehr und fiel auf die Knie. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Jakob rang einige Augenblicke |16|vergeblich nach Atem, dann endlich löste sich die Enge in seinem Hals. Schwindel überfiel ihn, und er mußte sich an der Wand festhalten, um nicht hinzufallen.

»Weicht von mir, Dämonen!« stöhnte Jakob und bekreuzigte sich. Erst als das Schwindelgefühl in seinem Kopf nachgelassen hatte, war es ihm wieder möglich, sich zu orientieren. Er befand sich in Minden, im Haus seines Mentors und Brautvaters Johann Albrecht Laurentz. Sein Blick streifte durch die spärlich eingerichtete Kammer und blieb an dem Lesepult hängen, auf dem sich ein gutes Dutzend Bücher stapelte.

Man hätte es ein Übel nennen können, daß er als angehender Student der Rechtswissenschaften in Laurentz’ Haus auf eine Bibliothek gestoßen war, die ihm neben den Grundlagen juristischer Standardliteratur auch zahlreiche Werke und Traktate über das Wesen der Hexerei und der Teufelsbuhlschaften offerierte. Ein Fachbereich, der seit einiger Zeit Jakobs besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Als Folge legte er sich nicht mehr zur gewohnten Zeit am frühen Abend schlafen, sondern brachte Stunde um Stunde an seinem Lesepult zu und studierte im matten Licht einer Talgkerze Werke wie den Tractatus de Confessionibus Maleficorum et Sagarum des ehemaligen Trierer Weihbischofs Peter Binsfeld, Nicolas Rémys Daemonolatreiae libri tres oder die Abhandlungen des spanischen Jesuiten Martin Delrio, dessen Disquisitionum magicarum in Jakobs Augen ein ungemein detailliertes juristisches Lehrbuch über das Hexentreiben darstellte.

Vielleicht, so überlegte er, lag es an dem Mangel an Schlaf, daß die Vision ihn überrascht hatte. Die unheilvollen Gesichter hatten ihn nicht oft in den letzten Jahren überfallen, aber doch häufig genug, um Jakob begreiflich zu machen, auf welch bizarre Art der Teufel selbst frommen und rechtschaffenen Menschen nahe kam.

Wer anders als der Satan oder einer seiner Dämonen konnte die Macht besitzen, das Leiden und den Schmerz anderer Menschen |17|in seinem Kopf zum Leben zu erwecken? Ereignisse, die Wochen oder auch Monate zurücklagen, fanden so in ihm ein schreckliches Echo.

Jakob fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Wenn er die Augen schloß, sah er noch immer das Bild des geifernden Hundes vor sich, spürte wie die Zähne die Haut von seinem Gesicht rissen.

Aber warum? Warum nur war er verdammt dazu, diese Qualen zu erfahren und die Erinnerung daran für immer in sich zu tragen?

Wenn es überhaupt eines Grundes bedurft hätte, den Teufel zu hassen, dann hatte er ihn hierin gefunden.

Es klopfte an der Tür. Jakob atmete mehrere Male tief ein und aus und versuchte sich zu beruhigen. Erst dann öffnete er.

»Ich habe ein Geräusch gehört. Also nahm ich an, daß Ihr wach seid«, wurde er von Catharina begrüßt, einer Magd aus dem Gesinde des Laurentzschen Haushalts, die mit einem Becher Milchmehlsuppe und Rasierzeug eintrat.

»Die Schüssel … ich war wohl ein wenig ungeschickt«, sagte Jakob und hoffte, daß Catharina ihm nicht anmerkte, wie durcheinander er war.

»Ihr schwitzt, gnädiger Herr.« Catharina tupfte mit der Spitze ihrer Schürze seine Stirn ab. »Verfolgen Euch böse Träume?«

»Träume?« Jakob hielt inne. Warum nicht? Das war immerhin eine gute Erklärung. »Ja, Träume. Du hast ganz Recht.«

Während er die Milchmehlsuppe aß, wischte Catharina den Boden trocken und stellte die Schale zurück an ihren Platz. Argwöhnisch betrachtete sie die Bücher, die sich neben dem Lesepult stapelten. Sie nahm eines davon – es handelte sich um das Werk von Delrio – in die Hand und blätterte darin.

»All diese vielen winzigen Buchstaben«, stöhnte sie. »Wie anstrengend muß es sein, sie zu lesen und den Sinn dahinter zu verstehen.«

»Hast du dir niemals gewünscht, lesen zu lernen, Catharina?«

|18|Catharina grinste schief. »Wozu? Ihr habt mir einmal erzählt, daß Ihr Euch mit Büchern über das Erkennen und die Bestrafung von Teufelswerk beschäftigt. Ich sage Euch, sollte mir ein Teufel gegenübertreten, dann würde ich ihm ganz einfach einen kräftigen Tritt in den Hintern verpassen. Dazu brauche ich keine Bücher.«

An manchen Tagen beneidete Jakob sie um ihre Schlichtheit. Er selbst war eher ein Grübler, der sich jedes Problem zu Herzen nahm, während es Catharina gelang, trotz ihres kargen Lebens als Bedienstete stets ihren Frohsinn zu bewahren.

Er schmunzelte. »So kann man das Problem wohl auch lösen.«

Catharina lag noch etwas anderes auf dem Herzen. »Erlaubt Ihr mir, Euch zu rasieren?« Jakob wunderte es, daß sie überhaupt um seine Erlaubnis fragte. Er lebte seit nunmehr sieben Wochen im Haus von Johann Albrecht Laurentz, und bislang war kaum ein Morgen vergangen, an dem Catharina nicht darum gebeten hätte, sich um seine Bartpflege zu kümmern.

Dieser Dienst kam ihm nicht ungelegen, denn es gab einen besonderen Grund, warum er es vorzog, sich von Catharina rasieren zu lassen: seine linke Hand. Als Kind hatte er wie selbstverständlich die linke Hand bevorzugt. Er begann mit links die Schreibfeder zu führen, hielt den Löffel in der linken Hand und wischte sich auch den Hintern mit der Linken. Sein Vater, dem dieses Verhalten nicht verborgen geblieben war, hatte ihn bald darauf zur Seite genommen und ihm erklärt, daß die linke Seite des Körpers dem Teufel zugetan sei. Fortan übte er Jakob darin, die rechtschaffene rechte Hand zu benutzen. Zunächst legte er dabei noch Milde und Verständnis an den Tag, später jedoch wurde Jakob im elterlichen Haus die linke Hand auf den Rücken gebunden oder mit Schlägen traktiert, bis er lernte, auf ihren Gebrauch zu verzichten. Es dauerte Jahre, bis er darin geübt war, alltägliche Arbeiten mit der Rechten zu erledigen. Vor allem das Rasieren fiel ihm noch immer schwer. Oftmals ritzte die Klinge bei seinen ungelenken Bewegungen in die Haut, doch lieber |19|nahm er diese kleinen Blessuren in Kauf, als daß er dem Teufel einen Gefallen tat.

»Ich glaube, du würdest es mir sehr übelnehmen, wenn ich dir deine Bitte verweigerte.« Jakobs Worte gingen in den lautstarken Gesängen einiger Söldner unter, deren lärmende Stimmen durch das offene Fenster hereindrangen.

»Betrunkenes Pack!« schimpfte Catharina und klappte das Fenster zu. »Das wollen Soldaten sein? Die Kerle können mit einem Krug Branntwein sicher besser umgehen als mit ihren Musketen oder Degen.«

Jakob lächelte unwillkürlich angesichts der Verachtung, die Catharina den fremden Söldnern gegenüber an den Tag legte. Hier im Haus war oft darüber getuschelt worden, daß die Magd stattlichen Soldaten, die ihr schöne Augen machten, nicht unbedingt abgeneigt sei.

Die Anwesenheit einer Besatzungstruppe war für Minden zu einer unbequemen Normalität geworden, seit Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg vor annähernd zwei Jahren in schwedischem Auftrag die Stadt belagert und erobert hatte. Jakob erinnerte sich sehr gut an die Zeit, als Minden unter den Beschuß der Kanonen genommen worden war. Als die Munition zur Verteidigung ausging, hatte man aus den Bleidächern der Kirchen St. Marien und St. Simeon Kugeln für die Geschütze gegossen. Trotz dieser verzweifelten Maßnahmen hatte der Hunger schließlich zur Kapitulation geführt.

Jakob setzte sich auf einen Stuhl und machte sich bereit für die Rasur.

Catharina befeuchtete sein Gesicht, doch bevor sie das Messer an seine Wange legte, hielt sie einen Moment inne und faßte seine rechte Hand.

»Ihr zittert.«

»Es ist kalt. Ich friere«, sagte Jakob. Er zwang sich zur Ruhe, bemüht, das nervöse Zittern seiner Finger zu unterbinden.

Die Magd schien sich damit zufriedenzugeben. »Vielleicht |20|fürchtet Ihr Euch vor meinem Messer«, scherzte sie und setzte die scharfe Klinge an seinen Hals. Das kühle Eisen kitzelte auf der Haut, als sie das Messer geschickt über seine Bartstoppeln kratzen ließ.

Jakob senkte seinen Blick und lugte verstohlen in Catharinas Dekolleté. Obwohl sie noch keine dreißig Jahre alt war, hatte sie bereits fünf Kinder geboren, von denen drei im Säuglingsalter gestorben waren. Ihr fülliger Körper strahlte eine angenehme mütterliche Wärme aus. Vor allem ihre üppigen Brüste, die ein verlockendes Eigenleben entwickelten, wenn Catharina heftig lachte oder die Arme hob, um ein hohes Regal zu erreichen, erregten Jakobs Aufmerksamkeit. Während der morgendlichen Rasuren hatte er sich oft gefragt, ob Catharina die obersten Schnürbänder ihres Kleides absichtlich lockerte. Gefiel es ihr vielleicht sogar, wenn sie seine Blicke auf sich zog? Jakob wagte es nicht, eingehender über diese Vermutung nachzudenken, schließlich hatte er bereits ein Eheversprechen geleistet. Zudem war es eine Sünde vor Gott, sich in Gedanken der Fleischeslust hinzugeben.

Trotzdem gewann des Nachts oft die Phantasie Macht über ihn, und lüstern malte er sich in diesen Momenten aus, wie es sein würde, diese herrlichen Brüste, die fünf Kinder genährt hatten, zu liebkosen und zu küssen.

»Catharina, ich frage mich, warum du so viel Wert darauf legst, mich rasieren zu dürfen. Du scheinst regelrecht versessen darauf zu sein«, sagte er, um sich von seinen lustvollen Gedanken abzulenken.

»Könnt Ihr Euch nicht denken warum? Wann bekommt eine Magd wie ich schon einmal die Gelegenheit, einem Herrn von Eurem Stande ungestraft ein Messer an die Kehle zu setzen.«

Einen Augenblick lang stutzte er, dann kicherte er so plötzlich, daß Catharina ihn beinahe geschnitten hätte.

Auch Catharina lachte, und ihre Brüste hüpften erneut munter auf und ab.

|21|»Ich hoffe, Ihr nehmt mir diese Worte nicht übel, mein Herr«, meinte sie.

Jakob schüttelte den Kopf. »Wer sollte sich um die Pflege meines Bartes kümmern, wenn ich dich abweisen würde.«

»Wie recht Ihr habt.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Nachdem sie die Rasur beendet hatte, wischte sie mit einem nassen Tuch über sein Gesicht und säuberte das Messer. Anschließend kämmte sie sein Haar.

»Ihr solltet Euch ankleiden, sonst erkältet Ihr euch noch.«

Jakob nickte und forderte Catharina zum Verlassen der Kammer auf, indem er den Nachttopf hervorzog und ihn der Magd in die Hände drückte. Es war eine alltägliche Arbeit für Catharina, die Ausscheidungen der Familie Laurentz und ihrer Gäste auf den Dunghaufen im Hinterhof zu schütten.

Die Magd wandte sich zum Gehen, doch dann sagte sie: »Bevor ich es vergesse, das Fräulein Agnes trug mir auf, Euch zu ihr zu schicken, wenn Ihr aufgewacht seid.«

»Ich werde sie aufsuchen, sobald ich meine Kleider angelegt habe.«

»Sie scheint ein wenig verstimmt zu sein.«

Jakob verzog schuldbewußt das Gesicht. Er ahnte bereits, warum Agnes nicht gut auf ihn zu sprechen war.

»Danke, Catharina«, meinte er. »Geh jetzt.«

Catharina verließ die Kammer. Jakob klappte eine Truhe auf, aus der er seine Beinkleider, ein Wams sowie eine ärmellose Weste nahm.

Er fand Agnes im Salon, dem einzigen Zimmer des Hauses, das mit verschwenderischer Pracht ausgestattet worden war. Nicht allein die kostbaren Kunstschränke und edlen Gobelins an Wänden und Decke zogen das Augenmerk des Betrachters auf sich, sondern vor allem die beiden großen Fenster, in die vor kurzem teure Scheiben aus kristallenem Glas eingesetzt worden waren, die im Unterschied zu den üblichen braunen Butzenscheiben ein herrlich strahlendes Licht in den Raum fallen ließen. |22|Nur wenige Häuser in Minden konnten die Mittel für eine solch kostspielige Extravaganz aufbringen. Johann Albrecht Laurentz war einer dieser wohlhabenden Männer. Er gehörte seit mehr als sieben Jahren dem Mindener Rat an und galt als anerkannter Rechtsgelehrter. Jakob schätzte sich überaus glücklich, daß seine Eltern ihm den Anschluß an die Familie Laurentz ermöglicht hatten. Sein Vater, selbst ein gut gestellter Beamter, hatte vor sechs Monaten das Eheversprechen mit Laurentz’ jüngster Tochter Agnes arrangiert und Jakob zudem in der Entscheidung bestärkt, ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität von Rinteln aufzunehmen. In wenigen Jahren, wenn er seinen Abschluß erworben hatte, würde er schließlich die erforderliche Stellung besitzen, Agnes zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Als man ihm Agnes vorgestellt hatte, war er von ihr weder angetan noch enttäuscht gewesen. Gewiß besaß er das Recht, ein solches Ehearrangement abzulehnen, doch die Vorteile, die eine Verbindung mit der Familie Laurentz für ihn mit sich brachten, waren zu offensichtlich, um auf den Vorschlag seiner Eltern nicht einzugehen.

Agnes war eine hochaufgeschossene, schlanke, fast schon dürr zu nennende Frau. Sie besaß ein ernstes Wesen, lachte selten und wenn doch, gewann Jakob den Eindruck, als wäre es ihr stets ein wenig peinlich. Im Haushalt war sie pflichtbewußt und tüchtig und zudem von tiefer Gottesfürchtigkeit geprägt. Alles in allem eine Frau, für die Jakob keine flammende Liebe empfinden konnte, der er aber doch genug Respekt und Sympathie entgegenbrachte, um sie als sein künftiges Eheweib zu akzeptieren. Er nahm an, daß Agnes ähnlich über ihn urteilte.

Da seine Studienzeit erst im Januar des nächsten Jahres beginnen würde, hatte Johann Albrecht Laurentz seinem zukünftigen Schwiegersohn angeboten, einige Monate in seinem Haus zu wohnen, um ihm bei seiner juristischen Tätigkeit über die Schulter zu schauen und auch um seine Braut besser kennenzulernen. |23|Jakobs Familie nahm dieses Angebot gerne an, denn er war das älteste von sieben Kindern, und der Platz in ihrem Haus war schon immer knapp bemessen gewesen.

»Hier bist du«, sagte er, als er das Salonzimmer betrat. Agnes hatte vor dem Fenster Platz genommen und war so konzentriert in die Heilige Schrift vertieft, daß man hätte annehmen können, sie wäre zu Stein erstarrt.

Ohne ihm Beachtung zu schenken, saß sie kerzengerade und völlig reglos da, nur ihre Augäpfel bewegten sich, wenn sie den Worten der Psalmen folgten. Jakob zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Er konnte erkennen, daß sie das Zweite Buch Mose aufgeschlagen hatte.

Er sprach sie bei ihrem Namen an, doch sie reagierte nicht darauf. Agnes schien wirklich verstimmt zu sein. Eine gewisse Sturheit hatte Jakob in den letzten Wochen zur Genüge an ihr kennengelernt. Im Grunde war ihr Verhalten anstrengend, doch auf eine seltsame Weise reizte es ihn auch. Viele Männer bevorzugten Frauen schlichteren Gemütes, die sich ihnen bereitwillig hingaben und ihnen nach dem Mund redeten. War es nicht eine ungleich größere Herausforderung, einer strengen Frau ein Lächeln oder ein nettes Wort zu entlocken?

»Bist du verstimmt?« fragte Jakob vorsichtig.

Ihre Augen wandten sich nicht von der Bibel ab.

»Ich nehme an, du mißbilligst es, daß ich deinen Vater nach Osnabrück begleiten werde.«

Agnes wandte den Kopf, so daß sie ihn mit einem herablassenden Blick aus kühlen, hellblauen Augen strafen konnte, der keinen Zweifel daran ließ, daß sie sich aufs Tiefste gekränkt fühlte.

Herrje, das Eheleben mit dieser Frau wird zu keinem Vergnügen werden, überlegte er ernüchtert.

Vielleicht ärgerte es sie aber auch nur, daß er nicht mit ihr über diese Angelegenheit gesprochen hatte. Jakob fragte sich, warum er es eigentlich nicht übers Herz gebracht hatte, Agnes |24|sein Vorhaben mitzuteilen. Wahrscheinlich lag es an ihrer ausgeprägten Abneigung gegen alles, was nur den leisesten Verdacht der Hexerei mit sich führte. Ihr Vater war von dem Osnabrücker Bürgermeister Wilhelm Peltzer geladen worden, um ein Gutachten über einen nicht alltäglichen Hexenprozeß zu erstellen, und er hatte Jakob das Angebot unterbreitet, sich ihm auf dieser Reise anzuschließen. Jakob hatte, ohne zu zögern, zugesagt, aber gleichzeitig davor gescheut, mit Agnes über die Reise zu sprechen. Er wußte, daß schon die geringste Andeutung von Hexenwerk ihre Laune für mehrere Tage verderben konnte.

»Natürlich ist es nicht ungefährlich, eine solche Reise zu unternehmen«, redete er weiter auf sie ein. »Aber man spricht davon, daß die Wälder seit dem Rückzug der kaiserlichen Truppen sicherer geworden sind.«

Agnes ließ die Heilige Schrift mit einem lauten Knall zusammenklappen. »Red nicht so einen Unsinn! Es ist nicht die Wegstrecke, die mir Sorgen macht. Vater hat mir erzählt, daß Osnabrück von der Zauberei befallen ist. Dieser Fluch schwebt wie die Pest über der Stadt. Und Vater und du – ihr könntet davon berührt werden.«

Jakob umfaßte ihre Hand. Sie war kalt. »Sorge dich nicht.«

»Wie willst du dich dagegen wehren, wenn man dir durch einen Zauber Schaden zufügt?«

»Agnes, du weißt, daß es mein Ziel ist, Rechtswissenschaften zu studieren. Ich will mein Leben dem Kampf gegen eben diese Geißel der Menschheit widmen. In Osnabrück bietet sich mir zum ersten Mal die Gelegenheit, an einem Hexenprozeß teilzunehmen.« Er seufzte und hoffte, daß sie Verständnis für ihn aufbrachte. »Um die Dämonen zu vernichten, muß ich ihnen zunächst ins Auge blicken.«

Vielleicht sollte ich bei mir selbst beginnen, flüsterte ihm eine Stimme voller Häme zu.

»Ich halte es trotzdem für keine gute Idee.« Agnes entzog ihm |25|rüde ihre Hand. Wie so oft gewann er den Eindruck, als mißfielen ihr seine vorsichtigen Berührungen. »Doch eines verspreche ich dir: Solltest du je in den Bann einer dieser Hexen geraten, werde ich um deine Seele kämpfen.«

»Ich weiß«, sagte er.

Agnes schlug die Bibel wieder auf und las weiter. »Laß mich jetzt allein«, forderte sie ihn unmißverständlich auf. Jakob blieb noch einen Moment lang still neben ihr sitzen und betrachtete ihre Lippen, die stumm die heiligen Worte formten, dann stand er auf und schaute im Vorbeigehen aus dem Fenster. Er konnte von hier aus den Hinterhof einsehen und bemerkte ein Kind, das sich mit einem Weidenkorb auf dem Rücken zu einem in der Nähe aufgeschichteten Stapel Brennholz aufmachte.

Er verließ den Salon und begab sich in den Hinterhof zu Maria, der Tochter der Köchin, die ihren Korb vor dem Holz abgestellt hatte und Blätter von einem Kirschenbaum pflückte. Direkt neben den Holzscheiten befand sich ein Kaninchenstall; wahrscheinlich hatte das Mädchen beschlossen, daß es dringlicher sei, den Tieren etwas Gutes zu tun, als den Korb mit Holz zu füllen.

Wie alt mochte sie sein? Marias letzter Geburtstag lag erst einen Monat zurück. Vielleicht war es ihr achter oder neunter gewesen, aber ganz sicher nicht der glücklichste in ihrem kurzen Leben.

»Maria«, rief Jakob. Sie wandte sich langsam um, und obwohl er an ihren Anblick gewöhnt war, ließ ihn ihr Äußeres bei jeder Begegnung schaudern. Marias Kopf war von tiefen Narben entstellt, das rechte Auge nicht mehr vorhanden, statt dessen prangte eine häßliche verschorfte Höhle in ihrem Gesicht. Ihre rechte Hand war in Stoff gewickelt – ein nutzloser Stumpf, denn außer dem Daumen fehlten an ihr alle anderen Finger.

Er erinnerte sich daran, in welch erbärmlichen Zustand sie sich befunden hatte, als er vor sieben Wochen in das Haus der Laurentz’ gezogen war. Das Unglück, das Maria ereilt hatte, |26|hatte damals erst fünf Wochen zurückgelegen. Zu der Zeit hatte sie noch einen engen Kopfverband getragen, der ihr gerade genug Platz zum Atmen gelassen hatte.

In manchen Nächten hatte Jakob sich gefragt, welche Qualen dieses liebe Kind erfahren hatte. Heute nacht nun, in seiner Vision hatte er auf diese Frage eine grausame Antwort erhalten.

»Laß mich dir helfen«, bot er sich an. »Sollst du Holz holen, damit deine Mutter den Herd anfeuern kann?«

Maria nickte. Jakob hatte das Mädchen selten sprechen gehört. Er wußte, daß es ihr schwer fiel, denn der Hund hatte ihr auch einen Teil der Oberlippe abgerissen. Wenn sie etwas sagte, entstand dabei häufig ein Zischen, durch das ihre Worte unverständlich klangen.

Jakob packte die Scheite in den Korb, während Maria sich nach den Blättern streckte und sie den Kaninchen zu fressen gab.

»So, fertig«, sagte er und reichte ihr den Korb. Wie leid ihm dieses Kind tat. Wegen ihrer verkrüppelten Hand würde sie niemals eine vollwertige Arbeit leisten können, und da ihr Gesicht auf das ärgste entstellt war, konnte sie zudem kaum auf eine Ehebindung, selbst mit einem Mann aus den niedersten Ständen, hoffen.

Sie nahm den Korb wortlos entgegen und wollte schon ins Haus gehen, als auf der Straße ein lautes Hundegebell ertönte. Maria stieß ein erschrockenes Wimmern aus, und auch Jakob fuhr zusammen und zitterte am ganzen Körper, obwohl beiden klar war, daß dies nicht der schwarze Streuner sein konnte, denn das boshafte Tier war nach seinem Angriff auf Maria von den Knechten erschlagen worden.

Jakob beruhigte sich wieder, doch er bemerkte, daß Maria ihn zweifelnd anstarrte. Konnte sie ihm sein Wissen ansehen? Erahnte sie, daß er um die Schmerzen wußte, die sie ertragen hatte?

War es Angst, die Maria veranlaßte, sich von ihm abzuwenden |27|und ohne ein Wort des Dankes ins Haus zu laufen? Und dabei verspürte doch er selbst die größte Angst. Angst vor dem schlimmen Spiel, das die teuflischen Mächte mit ihm trieben.