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NEW YORK TIMES UND USA TODAY BESTSELLER AUTORIN

AURORA ROSE REYNOLDS

UNTIL YOU
HARMONY

Contemporary Romance

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Aus dem Amerikanischen von Friedericke Bruhn

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UNTIL YOU : HARMONY

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Aurora Rose Reynolds

© Die Originalausgabe wurde 2018 unter dem
Titel UNTIL HARMONY von Aurora Rose Reynolds
veröffentlicht.

© 2019 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8712 Niklasdorf, Austria

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildung: Sara Eirew

Korrektorat: Stephanie Bösel

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903130-80-7

ISBN-EPUB: 978-3-903130-81-4

www.romance-edition.com

Kleiner Wolf, ich hoffe, du lebst dein Leben wild und frei.

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Epilog

Die Autorin

Prolog

Lächelnd verlasse ich das Krankenhaus und erblicke Harlen, der gerade sein Bein über den Sitz seiner Harley schwingt. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich ihn vor ein paar Wochen von meiner Cousine June aus nach Hause gefahren habe. Er war von einem Typen namens Jordan angeschossen worden, der zu einem Motorradclub in Nashville gehörte. Jordans Motorradclub wollte den der Broken Eagles infiltrieren und ihn übernehmen, um die Geschäfte auszuweiten. Und mit Geschäften meine ich den Handel mit Frauen, Drogen und Waffen.

Glücklicherweise war die Wunde von Harlen ein sauberer Durchschuss, sodass er bereits am folgenden Tag wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Bis zu dem Tag, als ich ihn im Haus meiner Cousine sah, wo er kaum mit jemandem redete, war ich ihm noch nie begegnet. Ich sah sofort, dass er Schmerzen hatte und schaltete automatisch in den Krankenschwestern-Modus, als ich darauf bestand, mich um ihn zu kümmern. Bestimmt dachte er, ich sei verrückt, aber irgendwie konnte ich ihn dann doch davon überzeugen, sich von mir nach Hause fahren zu lassen.

Nachdem ich ihn zu Hause abgesetzt und ihn mit Schmerztabletten versorgt hatte, war ich gegangen und habe seitdem nichts mehr von ihm gehört. Was jedoch nicht heißt, dass ich nicht einige Male an ihn gedacht hätte. Seither sitzt er in meinem Kopf fest, egal was ich tue.

»Harlen«, rufe ich, während ich auf meinen hochhackigen Schuhen über den Krankenhausparkplatz eile. Dabei beobachte ich, wie er sein Bike startet und seine in Stiefel steckenden Füße auf den Asphalt stellt.

Als er über seine Schulter schaut, begegnen sich unsere Blicke, und genau wie beim ersten Mal, als wir uns in die Augen gesehen haben, zieht sich mein Unterleib zusammen und das Blut beginnt, in meinen Venen zu rauschen.

Gott, er ist der Wahnsinn, wenn auch nicht auf gewöhnliche Art und Weise. Er sieht zu unheimlich aus, um als hübsch durchzugehen. Seine Augen sind zu dunkel und sein Kinn ist zu markant dafür. Die Bartstoppeln lassen ihn fast schon gefährlich wirken. Die Art von Gefahr, von der du wissen willst, ob du sie so weit zähmen kannst, um sie von Nahem zu betrachten; wie ein Löwe oder ein Bär in der Wildnis. Wenn du jemals die Chance hattest, ein solches Tier anzufassen, wirst du niemals den damit verbundenen Nervenkitzel vergessen. Niemals.

»Hey.« Ich lächle, als ich näher zu ihm gehe, und spüre, wie sich meine Haut erwärmt, als er seinen Blick über meinen Körper gleiten lässt und mir zunickt.

Ich deute das als das Hallo eines harten Kerls und grinse. Es erinnert mich an den Abend bei June, als ich ihn nach Hause gebracht habe. Damals sagte er auch nicht viel und knurrte nur ein paar Mal vor sich hin, während er mich die meiste Zeit anstarrte, als wäre ich eine Mischung aus amüsant und verrückt.

»Warst du zur Kontrolle hier?«

»Mir ist nicht ganz klar, warum ich sonst in einem Krankenhaus sein sollte, Darling«, murmelt er.

»Sie nehmen hier auch den ganzen Tag über Spermaproben entgegen«, erwidere ich, woraufhin sich seine Mundwinkel zu einem erheiterten Grinsen nach oben ziehen, was wiederum das Gefühl in meinem Inneren noch verstärkt.

»Was hat der Arzt gesagt?«, frage ich, nachdem ich einen Moment seinen Gesichtsausdruck genossen habe.

»Das alles in Ordnung ist, die Fäden sind raus.«

»Gut«, sage ich leise und berühre seinen muskulösen, tätowierten Arm. Sein Blick wandert zu meiner Hand, ehe er mir wieder in die Augen sieht und sich seine mit einem Ausdruck füllen, der mich ganz durcheinander bringt und mich schwindlig macht. Schnell lasse ich meine Hand sinken und trete einen Schritt zurück. »Freut mich, dass es dir gut geht«, sage ich und er nickt mir noch einmal zu.

»Warum bist du hier?«

»Ich hatte ein Vorstellungsgespräch für eine Stelle als Krankenschwester, die gerade frei geworden ist.«

»Hast du den Job bekommen?«

»Ja, habe ich.« Ich lächle. Ich wollte schon seit einer Weile wieder hierherziehen. Dass ich den Job hier im städtischen Krankenhaus bekommen habe, bedeutet, dass ich das jetzt tun kann, ohne auf die Unterstützung meiner Eltern angewiesen zu sein.

»Ist dir nach Feiern zumute?«, will er wissen.

Angesichts der Vorstellung, meinen neuen Job mit ihm zu feiern, macht mein Magen einen Salto. »Klar«, antworte ich, ohne nachzudenken, und er startet erneut sein Bike.

»Spring rauf.«

»Spring rauf?«, wiederhole ich, als er mir bereits seinen Helm reicht.

»Ja, hüpf rauf.«

»Das sollte ich besser nicht tun.« Ich schüttle den Kopf und versuche, ihm den Helm zurück in die Hand zu drücken, doch er nimmt ihn nicht an. Stattdessen verschränkt er die muskulösen Arme vor seiner breiten Brust, was ihn nur noch einschüchternder wirken lässt.

»Hast du Angst?«

»Nein«, lüge ich. Dabei habe ich Angst; ich habe immer Angst davor, Risiken einzugehen. Jede Entscheidung in meinem Leben ist gründlich durchdacht und durchgeplant. Ich gehe keine Risiken ein. Ich mache nichts überstürzt oder einfach aus einer Laune heraus. Meine Zwillingsschwester Willow ist da anders, ich jedoch nicht. Ich bin vorsichtig, was jede einzelne meiner Entscheidungen angeht. Möglicherweise sogar zu vorsichtig.

»Wo ist dann das Problem?«

»Ich bin mit dem Wagen hier.« Ich deute auf den roten Audi A6 auf der anderen Seite des Parkplatzes. »Er ist mein Baby. Ich kann ihn nicht hierlassen.«

»Also gut, dann fahr mir einfach nach.«

Shit.

»Ich …« Ich sehe hinüber zu meinem Auto, dann wieder zu ihm. »Ich kann nicht«, sage ich leise und bedauernd. Ja, ich möchte mit ihm abhängen. Ja, ich wäre gern eine Frau, die verrückte Sachen macht, wie zum Beispiel zu einem fast völlig fremden Typen aufs Bike zu steigen, um ihren neuen Job zu feiern. Und das vielleicht mit ein paar Shots billigen Alkohols und anschließend einigen – hoffentlich großartigen – Orgasmen. Ich wäre wirklich gern so eine Frau, aber ich bin es nicht. »Ich kann nicht, tut mir leid.« Erneut strecke ich ihm den Helm entgegen und dieses Mal nimmt er ihn, während er mich aufmerksam mustert. »Es war schön, dich zu sehen, Harlen. Es freut mich, dass es dir besser geht.« Ich trete einen Schritt zurück. »Bis demnächst.«

Ich mache auf dem Absatz kehrt, gehe zu meinem Auto und steige ein, ehe ich meine Handtasche auf den Beifahrersitz werfe und den Motor anlasse. In Erwartung, dass Harlen verschwunden ist, sehe ich durch die Windschutzscheibe. Aber das ist er nicht. Er sitzt noch immer auf seinem Bike, doch sein Körper ist jetzt in meine Richtung gewandt und sein Blick liegt unentwegt auf mir. Er hat die Brauen zusammengezogen.

Ich atme einmal tief durch und erinnere mich daran, dass es zu meinem Besten ist, dass ich nicht mit ihm gefahren bin. Dann schnalle ich mich an und fahre los, ohne noch mal in seine Richtung zu sehen – auch wenn ich das nur zu gern tun würde.

Eine Stunde später komme ich zu Hause in Nashville an, parke vor dem Haus, schnappe mir meine Tasche und gehe zu meinem Apartment, das sich im ersten Stock befindet. Ich wohne in einem der älteren Gebäudekomplexe der Stadt. Es ist eine schöne und sichere Gegend, in der vor allem ältere Menschen leben. Ich wohne hier schon einige Jahre, seitdem meine Zwillingsschwester und ich uns entschlossen haben, dass es an der Zeit wäre, wohnungstechnisch getrennte Wege zu gehen. Das war nötig, um uns unser eigenes Leben aufbauen zu können.

Versteht mich nicht falsch, ich liebe meine Schwester. Sie ist meine beste Freundin. Aber manchmal vergessen Menschen – inklusive meiner Familie –, dass ich eine eigenständige Persönlichkeit bin. Es scheint fast so, als ob sie denken, wir seien komplett gleich, nur weil wir gleich aussehen und am selben Tag geboren wurden. Das mag auf manche Zwillinge zutreffen, aber nicht auf mich und Willow. Sie war schon immer wild und ein Freigeist, während ich eher konservativer und zurückhaltender bin.

Auf der anderen Seite der Haustür höre ich Dizzy, meinen fünfjährigen Maltesermix, den ich aus dem Tierheim habe, bellen. Offenbar hat er bemerkt, dass ich wieder zu Hause bin.

Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und öffne die Tür einen Spaltbreit, sodass er keine Chance hat, rauszulaufen. Das macht er gern, wenn ich nicht aufpasse. Ich bücke mich, hebe ihn hoch und drücke ihn an meine Brust, ehe ich hineingehe, meine Tasche auf dem Boden abstelle und nach seiner Leine greife.

»Hey, Dizzy-Boy.« Ich küsse seinen flauschig weißen Kopf und kraule ihn hinter den Ohren. »Hast du mich vermisst?«, frage ich und küsse ihn erneut, woraufhin er mir über das Kinn leckt. Lachend befestige ich die Leine an seinem Halsband, setze ihn wieder runter und folge ihm nach draußen. Er führt uns den Block hinunter, direkt zu seinem Lieblingspark. Ich beobachte, wie er die Bäume und das Gras beschnüffelt, und verspreche uns innerlich, dass meine nächste Bleibe einen eingezäunten Garten haben wird, in dem er jederzeit frei herumlaufen kann.

Angesichts dieses Gedankens fische ich mein Handy aus der Hosentasche und rufe Michelle an – die beste Freundin meiner Cousine Ashlyn und darüber hinaus Immobilienmaklerin. Ich lasse sie wissen, dass ich bereit bin, nach einem neuen Zuhause Ausschau zu halten.

Anschließend wähle ich die Nummer meiner Mom.

»Liebes, warte eine Sekunde«, antwortet Mom. Sie klingt außer Atem und sagt Dad, dass er mit dem aufhören soll, was auch immer er gerade tut. Ich verdrehe die Augen und warte, dass sie wieder ans Telefon kommt. Meine Eltern mögen alt sein, aber sie sind noch immer ekelhaft verliebt ineinander. »Okay, da bin ich wieder. Wie lief das Vorstellungsgespräch?«

»Ich glaube, es lief gut … schließlich habe ich den Job«, berichte ich. Dann halte ich das Handy einen Meter von meinem Ohr weg, weil sie loskreischt, ehe ich meinen Dad nach dem Grund für ihre Euphorie fragen höre und sie ihm von meinen Neuigkeiten erzählt.

»Dein Dad möchte dich sprechen«, meint sie und ich kann an ihrer Stimme hören, dass sie lächelt.

»Herzlichen Glückwunsch, Honey, ich bin stolz auf dich«, sagt Dad und mir wird warm ums Herz.

»Danke, Dad.«

»Hab dich lieb. Komm deinen alten Herrn bald besuchen.«

»Das mache ich und ich hab dich auch lieb«, murmle ich, ehe ich höre, wie die beiden um das Handy rangeln.

»Ich wusste, dass du den Job bekommst!«, jubelt Mom, die schließlich gewinnt.

»Mom«, sage ich lachend, während ich Dizzy, der noch immer am Boden entlangschnüffelt, tiefer in den Park hineinfolge.

»Hör auf. Ich darf mich darüber freuen, denn schließlich ziehst du endlich wieder nach Hause zurück. Wirst du bei uns wohnen, solang du nach einem neuen Zuhause suchst? Bitte sag ja!« Sie stellt eine Frage nach der anderen, ohne auch nur einmal Luft zu holen, und bringt mich damit wieder zum Lachen.

»Ich denke, ich werde hierbleiben, bis ich was gefunden habe.«

»Du könntest dein altes Zimmer wiederhaben.«

»Ich liebe dich und Dad, Mom, aber die Antwort ist ein ganz klares Nein. Jedes Mal, wenn ich zu Hause bin, dreht Dad die Uhr zurück und dann bin ich plötzlich wieder sechszehn, habe ein Ausgehverbot und muss um Erlaubnis fragen, wenn ich etwas mit Freunden unternehmen möchte.«

»Ich könnte mit ihm reden«, beharrt sie und ich schmunzle. Mom redet seit unserem dreizehnten Geburtstag mit Dad darüber, uns unseren Freiraum zu lassen, damit wir uns zu eigenständigen Frauen entwickeln können, aber bisher ohne wirklichen Erfolg.

»Ich würde lieber nur ein Mal umziehen«, sage ich sanft, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. »Außerdem wärt ihr ganz schnell von mir genervt, wenn ich so viel und so lang bei euch wäre.«

»Das würde niemals passieren.« Sie schnaubt und ich weiß, dass sie verärgert darüber ist, dass das mit dem Umzug nicht nach ihren Vorstellungen laufen wird. »Wann fängst du mit dem neuen Job an?«

»Wahrscheinlich in drei Wochen oder so. Ich muss Dr. Brandsaw ein wenig Zeit geben, um einen Ersatz für mich zu finden.« Ich arbeite in einer kleinen Klinik hier in Nashville und das bereits seitdem ich mit der Ausbildung begonnen habe. Dr. Brandsaw ist mir immer sehr entgegengekommen, was meinen Stundenplan angeht, und hat mir stets all die Zeit frei gegeben, die ich brauchte. Ich habe keine Ahnung, wie er reagieren wird, wenn ich ihm sage, dass ich nicht mehr länger bei ihm arbeiten werde, jetzt, wo ich meinen Abschluss habe. Mein langfristiges Ziel ist es, als Krankenschwester in der Notaufnahme unterzukommen, und das kann ich leider nicht erreichen, wenn ich weiter bei ihm bleibe. Daher ist es an der Zeit, das nächste Kapitel in meinem Leben aufzuschlagen.

»Dann muss ich ja fast einen ganzen Monat oder sogar mehr darauf warten, dass du zurück nach Hause ziehst«, sagt sie und klingt enttäuscht.

»Die Zeit wird im Nu verfliegen und unterdessen kannst du mir helfen, ein neues Zuhause zu finden. Ich habe Michelle gerade eine Nachricht hinterlassen, dass ich bereit bin, mich nach einer neuen Bleibe umzusehen. Ich möchte etwas mit einem Garten, damit ich eine Hundeklappe für Dizzy einbauen kann. Dann muss er in der Zeit, in der ich arbeite, nicht drinnen bleiben.«

»Dabei kann ich dir gern helfen«, antwortet sie und klingt jetzt wieder erfreut. »Es werden gerade ein paar neue Stadthäuser hier bei uns in der Nähe gebaut. Sie sehen hübsch aus. Vielleicht können wir sie uns nächstes Wochenende ja mal ansehen.«

»Das klingt gut«, erwidere ich, auch wenn ich nicht wirklich sicher bin, ob ich in einem Stadthaus leben möchte. Nachdem ich Jahre in einem Apartmentkomplex verbracht habe, wäre es schön, nicht Wand an Wand mit anderen zu wohnen. Es gibt nichts Nervigeres, als Leuten beim Sex zuhören zu müssen, wenn man selbst keinerlei Liebesleben hat, oder sie ständig streiten hört.

»Was genau suchst du denn?«, fragt Mom, als Dizzy endlich den perfekten Platz für sein Geschäft gefunden hat.

»Mein Budget ist nicht allzu groß, aber ich möchte etwas mit mindestens zwei Schlafzimmern, sodass Besuch bei mir übernachten kann. Und ein Garten für Dizzy muss dabei sein.«

»Ich bin mir sicher, dass du das perfekte Zuhause finden wirst, und wenn wir dir etwas Geld leihen sollen, dann …«

»Nein, Mom«, unterbreche ich sie, ehe sie ihren Satz beenden kann. Meine Eltern haben mir meine Ausbildung bezahlt, ich musste mir nie Sorgen darum machen, wie ich etwas finanziere. Das war eine große Erleichterung, aber ich möchte nicht noch länger auf ihre Kosten leben. Ich möchte meinen eigenen Weg gehen. Das ist etwas, was mir sehr wichtig ist.

»Du bist genau wie dein Vater, genauso stur«, grummelt sie und ich lächle, da ich das als Kompliment auffasse. »Was hast du denn für den Rest des Tages geplant?«

»Gerade bin ich mit Dizzy spazieren und nachher werde ich vielleicht Willow fragen, ob sie heute Abend Lust hat, was zu essen zu bestellen und einen Film anzuschauen.«

»Dann viel Spaß euch beiden. Ich erwarte, dass wir dich dieses Wochenende zu Gesicht bekommen. Hab dich lieb.«

»Hab dich auch lieb.« Ich lege auf, dann rufe ich meine Schwester an.

»Hey«, meldet sie sich und klingt dabei ziemlich verschlafen.

»Schläfst du?«, frage ich und wundere mich, wie das sein kann. Eigentlich müsste sie gerade bei der Arbeit sein.

»Ja, ich bin krank. Ich glaube, ich hab mir einen grippalen Infekt eingefangen.«

»Soll ich dir irgendetwas vorbeibringen?«

»Nein, ich möchte einfach nur schlafen«, murmelt sie.

»Ich bringe dir in ein paar Stunden ein bisschen Suppe.«

»Das brauchst du nicht«, erwidert sie leise, ehe sie fortfährt: »Aber wenn du darauf bestehst – kannst du mir dann scharfsaure Suppe von Pot Stickers mitbringen?«

»Klar.« Ich lächle. »Ruh dich aus, ich komm später vorbei.«

»Okay.« Sie hustet und legt auf.

Ich schiebe mein Handy zurück in die Hosentasche, dann folge ich Dizzy eine weitere halbe Stunde durch den Park, ehe wir uns auf den Nachhauseweg machen. Als wir wieder in der Wohnung sind, gehe ich ins Schlafzimmer, kicke mir meine High Heels von den Füßen und schlüpfe in eine bequeme Yoga-Hose und ein Tanktop. Dann ziehe ich mir einen Pullover über und binde meine Haare zu einem Zopf zusammen, bevor ich mich an Alexa wende und darauf warte, dass sie angeht. Ich bitte sie, Songs von Ed Sheeran abzuspielen, damit ich etwas Unterhaltung im Hintergrund habe, während ich die Küche putze und die Wohnung sauge. Ich hasse Putzen, aber gerade deswegen versuche ich, das Apartment gar nicht erst schmutzig werden zu lassen. Meistens gelingt mir das zwischen Arbeit und Schule an den meisten Tagen nicht. Das ist einer der Punkte, die ich am Zusammenleben mit Willow vermisse. Sie war immer besessen davon, alles sauber zu halten, was bedeutete, dass in der Regel alles erledigt war, bevor ich überhaupt irgendwas machen konnte. Und auch das Abendessen war immer fertig, wenn ich etwas essen wollte.

Nachdem ich gesaugt und alles aufgeräumt habe, was sich die Woche überall auf den Oberflächen und freien Plätzen angesammelt hat, mache ich mich auf die Suche nach meinem Handy, um chinesisches Essen zu bestellen. Michelle hat mir geantwortet, dass sie sich auf die Suche nach einem passenden Haus für mich machen wird, sobald sie mein Budget kennt. Also teile ich ihr mein finanzielles Limit mit und suche dann in meiner Krimskramsschublade nach der Speisekarte von Pot Stickers. Ganz hinten, unter all dem Kram, der sich seit meinem Einzug darin angesammelt hat, werde ich schließlich fündig.

Nachdem ich bestellt habe, sehe ich zu Dizzy hinüber, der es sich auf einer der kuschligen Decken, die über dem Couchende hängen, gemütlich gemacht hat. Ich stemme die Hände in die Hüften und mustere ihn. Er sieht mich an und legt den Kopf schief. »Möchtest du Tante Willow besuchen?«, frage ich.

Er springt von der Couch, rennt zu mir und dreht sich zu meinen Füßen wie ein Verrückter im Kreis, was wieder einmal beweist, dass ich ihm den perfekten Namen gegeben habe.

»Alles klar, dann komm.« Ich schnappe mir im Flur seine Leine, befestige sie an seinem Halsband und greife nach Schlüssel und Handtasche. Draußen öffne ich die hintere Tür meines Autos, er springt rein und hüpft dann in seinen Hundeautositz.

Kurze Zeit später bin ich unterwegs, hole das Essen beim Restaurant ab und fahre zu Willow. Sie wohnt in einem kleinen Haus an einer mit Bäumen gesäumten Straße kurz hinter der Stadtgrenze. Sie hat das Haus gekauft, nachdem wir unsere gemeinsame Wohnung aufgelöst hatten, weil sie nicht wieder zur Miete wohnen wollte. Etwas, das ich sehr gut verstehen kann. Wäre ich nicht mitten in der Ausbildung gewesen und hätte ich nicht den Wunsch verspürt, wieder näher zu unseren Eltern zu ziehen, hätte ich mir auch ein Apartment oder ein Haus gekauft, anstatt mir wieder eine Wohnung zu nehmen.

Ich parke in der Einfahrt, steige mit unserem Essen aus und öffne die hintere Wagentür, damit Dizzy hinausspringen kann – was er auch prompt tut, ehe er die Umgebung beschnüffelt. Ich schnappe mir seine Leine, ehe er davonlaufen kann und gehe zur Haustür. Mit meinem Schlüssel schließe ich auf und gehe hinein, ohne mir Sorgen darüber machen zu müssen, vielleicht auf einen fremden, nackten Mann zu stoßen.

Genau wie ich ist Willow auch schon eine ganze Weile Single. Was die Liebe angeht, hatten wir beide bisher nicht besonders viel Glück. Keine Ahnung, warum Willow noch niemanden gefunden hat, aber ich bin in Bezug auf Männer, mit denen ich meine Zeit verbringen will, definitiv zu wählerisch. Mir ist auch bewusst, dass ich meine Ansprüche ein wenig herunterschrauben sollte, doch das tue ich nicht. Ich möchte einen Mann wie meinen Vater, einen, der stark ist, der weiß, wer er ist, und dazu steht. Außerdem möchte ich einen Mann, der mich begehrt. Mein Vater verehrt den Boden, auf dem meine Mom geht, und genau das will ich auch. Ich weigere mich, mich mit weniger zufriedenzugeben. Das ist der Grund, warum ich noch Single bin. Die Männer heutzutage – zumindest die, die ich bisher getroffen habe – sind ziemlich unentschlossen, was ihre Gefühle angeht. In der einen Minute können sie nicht genug von dir bekommen und in der nächsten behaupten sie, du würdest sie zu sehr einengen. Ich persönlich bin lieber allein, als mich mit derart gefühlsmäßigem Bullshit zu befassen.

Ich reiße mich aus meiner Gedankenspirale, schließe die Tür hinter mir und lasse Dizzy von der Leine. Nachdem ich die Plastiktüte mit unserem Essen auf die Anrichte gestellt habe, mache ich mich auf den Weg zu Willows Schlafzimmer. Die Tür steht offen und Dizzy versucht gerade, sich einen Weg unter die Decke zu bahnen, um zu meiner Schwester zu gelangen.

»Dizzy, du hast echt Mundgeruch, Kumpel«, grummelt Willow, als sie den Kopf unter der Decke hervorstreckt. Sie setzt sich auf, platziert Dizzy in ihrem Schoß und streichelt ihn. »Du musst mal was für frischeren Atem deines Hundes besorgen«, sagt sie und ich verdrehe die Augen. »Hast du meine Suppe bekommen?«

»Ja. Willst du sie hier essen oder ist dir danach, aufzustehen?«

»Ich sollte wohl mal aufstehen. Ich liege schon den ganzen Tag im Bett. Dieser grippale Infekt knockt mich echt ganz schön aus.« Mit Dizzy auf dem Arm schlägt sie die Decke zurück und rutscht an die Bettkante. »Du solltest dich besser von mir fernhalten, damit ich dich nicht anstecke.«

»Ich werde nie krank«, erinnere ich sie. Wie oft ich in meinem ganzen Leben krank war, kann ich an beiden Händen abzählen. Als ich jünger war, war das ätzend, weil ich nie einen Grund hatte, um nicht zur Schule zu müssen, und immer eifersüchtig war, wenn der Rest meiner Geschwister den ganzen Tag im Bett bleiben durfte und von Mom umsorgt wurde.

»Stimmt, ich vergaß, dass du das gute Immunsystem für dich gepachtet hast«, antwortet sie, lässt Dizzy runter und steht auf.

»Wie auch immer.« Ich lache, während sie langsam Richtung Bad geht.

»Warte.« Sie dreht sich zu mir um, um mich anzusehen. »Hattest du heute nicht dein Vorstellungsgespräch?«

»Ja, das hatte ich.«

»Und?« Sie zieht eine Braue in die Höhe.

»Ich hab den Job bekommen.« Ich grinse, als ich ihr Lächeln sehe.

»Ich wusste, dass du ihn bekommst. Wann startest du?«

»In ein paar Wochen. Ich muss Dr. Brandsaw ein wenig Zeit geben, um einen Ersatz für mich zu finden.«

»Wusste er, dass du dich nach was anderem umgesehen hast?«

»Nein, er weiß zwar, dass es mein langfristiges Ziel ist, in der Notaufnahme zu arbeiten, aber ich habe ihm nicht erzählt, dass ich nach meiner Ausbildung nach einem Job in einem Krankenhaus Ausschau halten würde.«

»Du und deine Ziele«, murmelt sie und geht wieder Richtung Badezimmer. »Ich freue mich für dich!«, ruft sie dann durch die halb geschlossenen Tür hindurch. »Wie glücklich waren Mom und Dad, als du es ihnen erzählt hast?«, will sie wissen, nachdem die Klospülung zu vernehmen war.

»Sehr. Mom hat versucht, mich zu überreden, wieder zu Hause einzuziehen.« Ich gehe hinüber zur Tür und lehne meine Schulter gegen den Türrahmen, während ich Willow dabei zusehe, wie sie sich Hände und Gesicht wäscht.

Ihr Blick aus schreckgeweiteten Augen begegnet meinem im Spiegel. »Wirst du das tun?«

»Sehe ich so aus, als wäre ich verrückt?«

Sie grinst. »Also?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich muss ein Haus finden, damit ich nicht jeden Tag zwei Stunden pendeln muss.«

»Ich liebe so was, ich werde dir helfen.«

»Danke, Hilfe kann ich brauchen.« Ich lächle, als sie sich ihren Bademantel schnappt und ihn anzieht.

»Hast du Michelle gesagt, dass sie ihre Fühler ausstrecken soll?«

»Ja. Sie meinte, dass sie in den nächsten Tagen ein paar Häuser für mich haben wird, die ich mir angucken kann«, antworte ich und folge Willow durchs Haus.

»Toll. Leite mir die E-Mail weiter, wenn du sie bekommst, dann gehen wir die Liste gemeinsam durch und ich helfe dir, die Auswahl einzugrenzen.«

»Das Angebot nehme ich gern an.« Ich reiche ihr die Suppe und einen Löffel.

»Danke.« Sie nimmt beides mit ins Wohnzimmer. Ich folge ihr mit meinem Lo Mein und einer Gabel bewaffnet, streife mir die Flipflops ab und mache es mir zusammen mit ihr auf der Couch gemütlich.

»Was hast du denn so da, was wir uns angucken können?«, frage ich, als sie den Fernseher einschaltet.

»Ich habe ein paar Folgen der neuesten Staffel 90 Day Fiancé aufgenommen. Hättest du Lust, die zu sehen?« Sie klickt sich durch die Aufnahmeliste ihres DVRs.

»Na klar.« Ich lächle und nehme einen Bissen von meinen Nudeln.

Sie drückt auf Play. »Ich liebe diese Show«, sagt sie nach etwa der Hälfte der ersten Folge.

Ich schüttle den Kopf. »Mir tun nur die meisten von ihnen leid«, gebe ich zu, während ich einem armen Typen dabei zusehe, wie er von einer Frau schwärmt, die ganz offensichtlich nicht das kleinste bisschen Interesse an ihm hat.

»Liebe macht dich blind«, murmelt Willow und sie hat recht. Liebe macht dich blind – und manchmal auch blöd. »Immerhin sind sie mutig genug, um einen Versuch zu wagen.«

»Stimmt.« Insgeheim frage ich mich, ob ich jemals so mutig sein werde, der Liebe hinterherzujagen wie die Leute im Fernsehen. Ich bezweifle es. »Ich habe heute Harlen gesehen«, platzt es plötzlich aus mir heraus, woraufhin sie auf Pause drückt und sich zu mir dreht, um mich anzusehen.

»Tatsächlich?«

»Nach meinem Vorstellungsgespräch habe ich ihn auf dem Parkplatz des Krankenhauses getroffen.«

»Was ist passiert? Was hat er gesagt?«

»Nicht viel. Er hat gefragt, was ich dort gemacht hätte, also habe ich ihm von dem Job erzählt. Dann hat er mich gefragt, ob ich das mit ihm feiern wollen würde.«

»Feiern?« Sie wackelt mit den Brauen. »Hast du sein Angebot angenommen?«

»Nein.«

»Warum zur Hölle hast du das nicht getan? Ich dachte, du meintest, du würdest ihn heiß finden.«

»Er ist heiß. Ich … Ich konnte nur einfach nicht«, gestehe ich.

Sie mustert mich und seufzt. »Nicht alle Aspekte deines Lebens können geplant, aufgeschrieben und terminiert werden. Du musst endlich ein wenig leben und Spaß haben.«

»Ich habe eben Ziele und Dinge, die mir wichtig sind«, verteidige ich mich.

»Ja, und die erreichst du auch immer, aber manche Dinge passen halt nicht so einfach auf deine To-do-Liste.«

»Da hast du recht.«

»Das nächste Mal, wenn er dich fragt …«

»Es wird kein nächstes Mal geben«, korrigiere ich sie, da ich mir keine Hoffnungen machen will, dass es doch ein nächstes Mal geben wird. Es war Zufall, dass ich ihn heute getroffen habe.

»Also gut, falls es ein nächstes Mal gibt.« Sie verdreht die Augen. »Jetzt mal im Ernst, willst du wirklich in fünfzehn oder zwanzig Jahren auf dein Leben zurückblicken und über all die Dinge nachdenken, die du dir entgehen lassen hast, weil du zu große Angst hattest, ein Risiko einzugehen?«

»Nein.«

»Na siehst du. Aber damit das nicht passiert, musst du endlich anfangen, ein wenig zu leben«, schimpft sie liebevoll mit mir. »Ehrlich, ich liebe dich, aber manchmal verstehe ich dich nicht«, brummelt sie, ehe sie wieder auf Play drückt.

Ich schnaube verärgert und presse die Lippen zusammen. Ich weiß nicht, ob ich in der Lage sein werde, dass zu tun, was sie mir gesagt hat, aber mir ist klar, dass sie recht hat. Ich möchte nicht auf mein Leben zurückblicken und es bereuen.

1. Kapitel

Harmony

»Das hier ist perfekt«, sage ich, während ich mich im Kreis drehe und alle Eindrücke auf mich wirken lasse.

Das Wohnzimmer ist riesig und hat einen weißen Kamin sowie weiße Bücherregale, die daneben in die Wand eingelassen sind. Die Küche ist zum Wohnzimmer hin offen und mit weißgrauen Schränken und einer cremefarbenen Granitarbeitsplatte mit goldenen und weinfarbenen Sprenkeln darin versehen. Das hebt den hübschen, in zartem Altrosa gehaltenen Tresen mit schwarzer Oberfläche hervor, der die Küche vom Wohnzimmer trennt. Darüber hängen drei gläserne Lampen.

Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe hinauf zur hohen weißen Decke, die von dunklen Stützbalken durchzogen ist. Dort, wo sie sich in der Mitte treffen, ist ein dekorativer Kristall-Kronleuchter angebracht. Dann sehe ich nach unten und betrachte den dunklen Holzfußboden, der sich durchs ganze Haus zu ziehen scheint.

»Du hast leider noch nicht die Schlafzimmer gesehen«, sagt Michelle und ich sehe sie an. »Sie sind klein. Der meiste Platz wird von diesem Raum hier beansprucht.« Sie deutet mit der Hand durch den Bereich, in dem wir stehen.

»Das ist mir egal. Ich liebe es«, antworte ich ehrlich und lasse meinen Blick wieder umherschweifen.

Das hier muss ungefähr das hundertste Haus sein, das ich mir angeguckt habe, seit ich mich nach einem neuen Zuhause umschaue. Ich habe es vier Wochen, nachdem ich mit meinem neuen Job im Krankenhaus angefangen habe, aufgegeben, doch noch etwas Passendes zu finden. Michelle versicherte mir, dass sie ein Haus für mich finden würde, doch ich hatte mich schon auf eine tägliche Stunde Hin- und Rückfahrt zur Arbeit eingerichtet. Als Michelle mich heute Morgen anrief und mir sagte, sie habe ein Haus, das ich mir unbedingt ansehen müsse, habe ich zugestimmt, mich mit ihr vor der Arbeit zu treffen, auch wenn ich eigentlich nicht wirklich wollte. Jetzt bin ich froh, dass ich es gemacht habe.

Mit seinen knapp hundertvierzig Quadratmetern ist es genau das, wonach ich gesucht habe.

»Wenn du dir wirklich sicher bist, was dieses Haus angeht, müssen wir zuschlagen. Die Besitzerin hat mir mit der Besichtigung vor dem offiziellen Verkaufszeitraum einen Gefallen getan. Ich bin sicher, dass sich die Interessenten darum schlagen werden, sobald es offiziell am Markt ist.«

»Ich bezahle den vollen Preis, den sie haben will, und werde nicht einmal nach den Kaufnebenkosten fragen«, sage ich sofort.

Michelle lächelt. »Lass mich die notwendigen Papiere aus dem Wagen holen und sieh dir währenddessen die Schlafzimmer an, damit du wirklich sicher bist, dass das hier das Richtige ist.«

»Klar«, stimme ich zu und sehe ihr nach, ehe ich zur Schiebetür des Wohnzimmers gehe und nach draußen auf die hölzerne Terrasse blicke. Der Garten ist nicht sehr groß, aber er verfügt über einen Zaun, der über einen Meter fünfzig hoch ist, sodass Dizzy nach draußen kann, wann immer er möchte. Alles, was ich noch tun muss, ist, eine Hundeklappe für ihn einzubauen.

Ich drehe mich um und gehe an der Küche vorbei zu den anderen Zimmern des Hauses. Hinter der ersten Tür, die ich öffne, befindet sich ein kleines Badezimmer mit einem Standwaschbecken, einer Badewannen-Dusch-Kombination und einer Toilette. Hinter der nächsten Tür ist ein Schlafzimmer. Es ist nicht wirklich groß, aber wenn ich ein Gästebett hineinstelle, sollte es passen. Der Raum daneben hat genau die gleiche Größe und ist perfekt für ein Büro geeignet. Dann öffne ich die letzte Tür am Ende des Flurs und trete ein.

Helles Licht flutet durch zwei Erkerfenster mit Ausblick auf das Nachbargrundstück. Dieses Zimmer ist groß genug für mein Queen-Size-Bett und verfügt über ein angrenzendes Bad mit grauen holzähnlichen Fliesen auf dem Boden und cremefarbenen Fliesen in der mit Glas eingefassten Dusche. Zwei Standwaschbecken mit ovalen Spiegeln runden das Ganze ab und lassen mich glücklich und erleichtert aufseufzen.

»Also, wie lautet dein Urteil?«, fragt Michelle.

Ich drehe mich zu ihr um. »Gekauft.« Ich grinse. »Wo muss ich unterschreiben?«

Eine Stunde und einen Anruf später wurde mein Kaufangebot akzeptiert. Gott sei Dank. Die Noch-Besitzerin des Hauses hat sogar zugestimmt, dass ich sofort einziehen kann. Ich zahle einfach so lang Miete, bis der Kauf und alles damit Verbundene über die Bühne gegangen ist. Sie lebt bereits in Florida, daher stünde das Haus leer und sie würde – um es mit ihren eigenen Worten zu sagen – jeden Tag Geld verlieren.

Lächelnd lasse ich Michelle zurück, um abzuschließen, und steige ins Auto. Ein letztes Mal betrachte ich das Haus durch die Windschutzscheibe meines Wagens, nachdem ich den Gurt angelegt und den Schlüssel ins Schloss gesteckt habe.

Das Haus ist niedlich mit seiner blauen Verkleidung und den schwarzen Fensterläden. Die Haustür befindet sich genau in der Mitte der Veranda, daneben ist genug Platz, um an jeder Seite Blumentöpfe hinzustellen. Die Gartengestaltung ums Haus herum lässt zu wünschen übrig, aber das kann ich an meinen freien Tagen selbst in die Hand nehmen, indem ich noch ein paar Blumen oder Bäume pflanze.

Ich nehme mein Handy und mache ein Foto, ehe ich eine Rundnachricht an meine Mom und meine Schwestern verschicke, damit sie sich einen ersten Eindruck davon verschaffen können. Meine Schwester, Nalia, die nach Denver gezogen ist, ist die Erste, die mir mit einem lächelnden Smiley mit Herzchen-Augen antwortet. Willow antwortet mit dem gleichen Emoji. Gleich im Anschluss klingelt mein Mobiltelefon. Ich nehme den Anruf an und fahre rückwärts aus der Einfahrt.

»Du hast endlich ein Haus gefunden«, sagt Mom und klingt dabei erleichtert. Ich weiß, dass sie sich Sorgen darüber gemacht hat, dass ich jeden Tag eine Stunde zur Arbeit hin und eine wieder zurück nach Hause fahren musste, besonders wenn ich Doppelschichten im Krankenhaus schob.

»Mom, warte, bis du es gesehen hast. Es ist perfekt«, erzähle ich ihr und halte an einer roten Ampel. »Die Besitzerin hat sogar zugestimmt, dass ich schon einziehen kann und so lang Miete zahle, bis der Verkauf über die Bühne gegangen ist.«

»Ich erzähle es deinem Dad, du deinen Cousinen. Ich bin mir sicher, dass wir auf diese Weise genug Leute zusammenkriegen, um deinen Umzug kommendes Wochenende zu meistern«, meint Mom.

Ich lache. »Ich hab noch nicht alles zusammengepackt. Ich brauche noch ein paar Tage, um alles zu sortieren.«

»Ach, sei still. Ich schnappe mir alle, derer ich morgen habhaft werden kann, und dann kriegen wir deine Sachen in kürzester Zeit zusammengepackt.«

»Wenn du meinst, dass du alle zusammentrommeln kannst, werde ich dich nicht aufhalten.« Gedanklich mache ich mir eine Notiz, zumindest den Kram aus meinem Badezimmer und die Sachen aus meinen Nachttischschubladen zusammenzupacken, damit meine Mom und Tanten nicht versehentlich über irgendwas von meinem Sexspielzeug stolpern. Das wäre mega peinlich.

»Ich rufe sie gleich an. Wann hast du wieder frei?«

»Ab übermorgen, von Dienstag bis Freitag.«

»Perfekt, dann versuchen wir, so viel wie möglich zu schaffen, während du morgen bei der Arbeit bist, und erledigen den Rest, wenn du frei hast, sodass wir am Wochenende den Umzug machen können.«

Lächelnd biege ich auf dem Parkplatz des Krankenhauses ein. »Danke, Mom.«

»Dank mir nicht. Du weißt, dass ich dir gern helfe«, sagt sie, während ich den Motor abstelle.

»Ich bin gerade bei der Arbeit angekommen und schicke den Mädels gleich eine Nachricht mit den Neuigkeiten.«

»Lass mich wissen, was sie dazu sagen.«

»Werde ich. Hab dich lieb.«

»Hab dich auch lieb.« Sie legt auf.

Ich steige aus dem Auto, nehme meine Handtasche und mein Mittagessen und betrete das Krankenhaus. Statt des Fahrstuhls nehme ich die Treppen. Meine Liebe für bestelltes Essen und Kohlenhydrate bedeutet, dass ich jede Chance nutzen muss, um mich sportlich zu betätigen; ansonsten würde sich die Größe meines Hinterns verdoppeln. Ich mag meinen Po, aber noch mehr davon brauche ich nicht.

Ich erreiche die Metalltür, die in die zweite Etage führt, drücke sie auf und gehe den Flur entlang zur Krankenstation, wo Latoya und Maya, zwei der Krankenschwestern, in eine Unterhaltung vertieft sind. Ich gehe an ihnen vorbei und erblicke Fiona, die in der Nachtschicht arbeitet. Sie ist die Oberkrankenschwester auf dieser Station – eine ältere Frau mit einer fülligen Figur und mitfühlenden Augen. Sie steht vor ihrem Medikamentenwagen in der Nähe eines Patientenzimmers.

»Hey, Harmony«, begrüßt sie mich mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. »Wenn du deine Taschen abgestellt und dich eingestempelt hast, komm wieder hierher zu mir.«

»Bin gleich zurück«, antworte ich und gehe an ihr vorbei.

Im Pausenraum packe ich mein Mittagessen in den Kühlschrank und verstaue meine Sachen in meinem Spind, ehe ich meinen Arbeitsbeginn einstemple. Ich klemme mir mein Namensschildchen ans Revers meines Kittels und mache mich dann auf die Suche nach Fiona, deren Wagen jetzt weiter den Flur runter vor einem anderen Patientenzimmer steht. Ich klopfe an die Tür und warte darauf, dass sie mich hereinruft. Im Raum ist es ruhig, als ich eintrete und Fiona neben einem Bett stehen sehe, in dem ein Mann liegt, der nicht viel älter ist als ich. Das Rückenteil seines Bettes ist aufgestellt und sein Bein, das in einem Gips steckt, ist etwas hochgelagert.

»Harmony, das hier ist Mr Russell«, stellt Fiona uns einander vor und ich lächle, als er mich ansieht. »Er hatte vor zwei Tagen einen Autounfall und wurde heute Morgen am Bein operiert. Er wird bis morgen Früh hier sein und ist heute dein erster Patient.«

Angesichts ihrer Worte weiten sich Mr Russells Augen, mit denen er jetzt Fiona anblickt.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Harmony wird sich sehr gut um Sie kümmern.« Sie schenkt ihm ein beruhigendes Lächeln und ich folge ihrem Beispiel und tue es ihr gleich.

Seit ich begonnen habe, hier zu arbeiten, hatte ich noch keinen Patienten, den ich eigenverantwortlich versorgt habe. Mir war klar, dass das jedoch irgendwann kommen würde. Mir war nur nicht klar, dass es heute sein würde.

»Sobald wir mit der Übergabe fertig sind, wird sie Ihnen Ihre Medikamente bringen und Ihnen beim Gang ins Badezimmer behilflich sein.«

»Okay«, sagt er und mustert mich prüfend.

Ich lächle ihn weiterhin an. Ich kann es nicht gebrauchen, dass er ausflippt oder denkt, ich sei nicht in der Lage, mich um ihn zu kümmern. Oder dass Fiona denkt, ich sei noch nicht bereit dafür.

»Wenn Sie vorher etwas brauchen, klingeln Sie einfach.« Sie deutet auf den Knopf an der Seite des Betts und er nickt.

»Ich bin gleich zurück«, sage ich zu ihm und folge Fiona aus dem Raum.

»Bist du bereit, auf dich allein gestellt zu sein?«, fragt sie, sobald wir auf den Gang hinaustreten.

Ich lache kurz auf. Scheinbar würde es keinen großen Unterschied machen, ob ich es bin oder nicht, schließlich hat sie mir gerade mitgeteilt, dass ich heute mindestens einen Patienten haben werde. »Ich bin bereit«, versichere ich ihr und drücke ihren Oberarm.

»Das wusste ich.« Sie lächelt sanft. »Der Tag und der Abend heute sollten recht ruhig verlaufen. Wir haben nur fünf Patienten auf der Station und bisher wird heute Abend nur ein Neuzugang erwartet.«

»Ich bin gespannt.«

»Gut, dann lass uns die Besprechung hinter uns bringen, damit die anderen Feierabend machen können«, sagt sie.

Ich folge ihr ins Schwesternzimmer, wo Latoya und Maya uns ein Update über alle Patienten auf der Station geben und uns mitteilen, welche Ärzte heute Dienst haben. Als wir mit der Besprechung fertig sind, gehe ich die Medikamente durch und melde Maya ab, für die ich jetzt übernehme. Dann eile ich mit meinem Krankenhauswagen zurück zu Mr Russells Zimmer. Ich bestücke einen Medikamentenspender mit seinen Schmerztabletten und betrete den Raum. Der Fernseher läuft jetzt, doch er sieht nicht hin, sondern auf sein Telefon.

»Hi, ich habe hier Ihre Schmerztabletten«, sage ich und er richtet seine Aufmerksamkeit auf mich. »Das Mittagessen sollte ebenfalls bald kommen.« Ich gehe zu seinem Bett.

»Krankenhausessen.« Er verzieht das Gesicht, und ich lächle, als er sein Handy neben sich aufs Bett legt.

»Es ist gar nicht so schlimm.«

»Wenn man keine Geschmacksnerven mehr hat, ist es nicht so schlimm, aber meine funktionieren leider noch.«

Lachend reiche ich ihm seine Tabletten und den pinken Standardkrankenhausbecher. »Wenn Sie morgen entlassen werden, können Sie essen gehen und sich gönnen, was auch immer Sie wollen«, murmle ich.

Er nimmt die Tabletten und spült sie mit einem Schluck Wasser aus dem Becher hinunter. Dann gibt er mir den Becher zurück und richtet seinen Blick auf mein Namensschildchen. »Also, Harmony Mayson, bieten Sie mir damit an, mit mir auszugehen?«

Seine Frage löst ein unbehagliches Gefühl in mir aus. Er ist kein schlecht aussehender Typ. Er ist süß – auf diese Netter-Junge-von-nebenan-Weise –, mit seinem kurz geschnittenen dunkelblonden Haaren und seinen blauen Augen, die einen interessanten Kontrast zu seiner gebräunten Haut bilden. Nur schade, dass meine Gedanken seit einer Weile von jemand Wildem und Unbezähmbarem bestimmt werden.

Ich lache unbeholfen und schüttle den Kopf. »Nein, tut mir leid, aber dafür werde ich Ihnen auf Ihrem Weg ins Badezimmer behilflich sein«, antworte ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Ich nehme, was ich kriegen kann.«

Schmunzelnd helfe ich ihm aus dem Bett und in seinen Rollstuhl, ehe ich ihn ins Bad schiebe. Anschließend bringe ich ihn wieder ins Bett und lasse ihn allein, damit er etwas schlafen kann. Die Aufnahme des neuen Patienten, Medikamentenausgabe, Papierkram – der Rest der Schicht vergeht schnell. Als ich schließlich Feierabend habe, bin ich erschöpft und froh darüber, dass ich nur noch ein paar Tage eine Stunde nach der Arbeit nach Hause fahren muss.

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Umgeben von Umzugskartons, stehe ich in meinem neuen Wohnzimmer, puste mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und verstaue weiter meine Bücher und meinen Krimskrams in den weißen Regalen neben dem Kamin. Dank meiner Familie nimmt mein Zuhause rasch Formen an. Meine Mom hat nicht gelogen, als sie sagte, dass wir bis zum Wochenende alles zusammengepackt und den Umzug über die Bühne gebracht hätten. Sie hat es sogar in nur zwei Tagen geschafft. Als ich vorgestern von der Arbeit nach Hause kam, hatten sie, meine Tanten, Schwester und Cousinen bereits alles in meinem Apartment zusammengepackt. Sie hatten sogar meinen Kühl- und Gefrierschrank ausgeräumt und das Badezimmer sowie alles um die Umzugskartons herum geputzt, sodass ich auch das nicht mehr machen musste.

Gestern, an meinem ersten freien Tag, haben mein Dad, meine Brüder und Onkel meine ganzen Sachen in einen Umzugswagen verladen und zu meinem neuen Haus geschafft. Die letzte Nacht habe ich bei meinen Eltern verbracht und heute kam ein ganzer Schwung Familienmitglieder, um mir beim Ausräumen des LKWs, dem Aufbau meiner Möbel und allem anderen zu helfen. Vor etwa zwei Stunden haben sich meine Eltern schließlich auf den Weg gemacht, um den Umzugswagen zurückzubringen und was essen zu gehen, und auch alle anderen außer June und July sind kurz darauf gegangen, um mir morgen in alter Frische beim Aufbau der noch verbliebenen Möbel unter die Arme zu greifen.

Ich packe eine meiner Schneekugeln aus und schüttle sie, ehe ich sie ins Regal stelle und dabei zusehe, wie sich die weißen Flocken über der Skyline von New York niederlassen. Mein Dad hat sie mir gekauft, als er mit mir zu meinem achtzehnten Geburtstag in New York war – und sie ist nur eine von vielen. Meine Sammlung habe ich mit vierzehn begonnen, als ich mit meinen Großeltern auf die Bahamas fliegen wollte, aber mir stattdessen meine Mandeln entfernen lassen musste. Meine Grandma brachte damals den Strand in einer mit Sand und Muscheln gefüllten Glaskugel zu mir. Seitdem habe ich Dutzende – von den unterschiedlichsten Orten – gesammelt. Ich packe noch eine aus, diesmal eine mit einem Foto meiner Familie darin, schüttle sie und stelle sie schließlich ins Regal.

Als ich ein Bike und ein Auto vor dem Haus halten höre, blicke ich zur Tür.

»Ich glaube, Evan und Wes sind da, um euch abzuholen«, sage ich laut genug, um von July und June über die laufende Musik gehört zu werden.

Die zwei sehen von den Umzugskartons auf. »Sind echt schon drei Stunden vergangen?«, fragt June.

Ich blicke zur Uhr. Es ist schon nach neunzehn Uhr und fast vier Stunden her, seit die Männer gegangen sind. »Scheint so.« Ich bedecke meinen Bauch mit der Hand, als dieser grummelt und mich daran erinnert, dass ich heute nur Kaffee getrunken und ein paar Donuts in mich hineingeschlungen habe.

»Ich komme morgen nach der Arbeit wieder vorbei, um dir mit dem Rest zu helfen«, sagt July und verstaut einen Stapel Teller in einem der Küchenschränke, ehe sie zu mir kommt und mich umarmt.

»Das brauchst du nicht. Ich denke, ich schaffe den Rest auch allein.«

»Ich komme nach der Arbeit vorbei«, wiederholt sie lächelnd.

Ich nehme Dizzy hoch und folge ihr zur Tür.

»Ich komm morgen nach dem Unterricht ebenfalls vorbei«, meint June und umarmt mich auch.

»Den Rest schaffe ich wirklich allein. Du solltest zu Hause sein und die Füße hochlegen«, erwidere ich sanft und sehe hinunter zu ihrem Bauch, der sich inzwischen deutlich sichtbar wölbt. Ich könnte mich nicht mehr für sie und Evan freuen.

»Fang gar nicht erst an. Du klingst genau wie Evan.« Sie verdreht die Augen und bringt mich damit zum Lachen. Gemeinsam betreten wir die Veranda. »Bis morgen.« Sie winkt mir über die Schulter hinweg zu, dann geht sie die Treppe hinunter zu Evan, der sie mit einem Kuss begrüßt.

Ich winke Wes und July nach, als sie auf seinem Bike davonfahren. Dasselbe mache ich bei Evan und June, als sie rückwärts aus der Einfahrt fahren. Dann gehe ich wieder hinein, schließe die Tür hinter mir, atme durch und seufze, als ich meinen Blick durchs Haus schweifen lasse. Auch wenn wir heute echt viel geschafft haben, ist noch eine Menge zu tun.

»Jetzt sind’s nur noch du und ich«, sage ich zu Dizzy und lasse ihn runter. Er düst davon, ohne mich anzusehen, um weiter sein neues Zuhause zu erkunden, was er bereits tut, seit ich ihn aus seiner Hundebox gelassen habe. Als mein Magen erneut knurrt, gehe ich ins Schlafzimmer und tausche mein Tanktop gegen ein T-Shirt und meine Flipflops gegen meine Sneaker. Nachdem ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden habe, schnappe ich mir meine Schlüssel und mache mich auf den Weg, mir etwas zu essen zu holen.

Auf meinem fünfminütigen Weg in die Stadt überlege ich, ob ich lieber Pizza oder Chinesisch essen möchte. Pizza ist die örtlich gesehen näher gelegene Option, daher biege ich auf den Parkplatz des Restaurants ein, stelle meinen Wagen ab und steige aus. Wie bereits in meinen Kindheitstagen ist das Marco’s rappelvoll. Einige Leute spielen Billard an den zwei Billardtischen im hinteren Teil des Restaurants. Kinder kämpfen an den Videospielautomaten gegeneinander, die eine der Wände säumen, und Familien sitzen um die Tische im Restaurant herum. Ich gehe zum Tresen und bestelle eine mittelgroße Hungry Man’s Pizza, die aus allen möglichen Fleischsorten und jedem Belag besteht, den man sich auf einer Pizza nur wünschen kann. Dazu bestelle ich noch eine kleine Dessertpizza, die mit Zimt und Zucker, frischen Apfelspalten und cremiger Karamellsoße bestreut ist.

Nachdem ich bezahlt habe, nehme ich mein Getränk und mein Ticket und setze mich an einen der Tische, um auf meine Bestellung zu warten. Ich hole mein Handy hervor und sende jedem in meiner Familie eine rasche Dankesnachricht, ehe ich mich gelangweilt durch Facebook scrolle.

»Harmony.«

Als ich meinen Namen höre, ausgesprochen von dieser mir nur allzu bekannten tiefen Stimme, fahre ich zusammen und lasse meinen Blick von schwarzen schweren Stiefeln hoch zu ausgewaschenen und ausgefransten Jeans und weiter zu einem verblichenen blauen Shirt unter einer schwarzen Lederweste wandern, das jeden einzelnen seiner Muskeln betont.

Harlen.

»Baby, geht’s dir gut?«, fragt er.

Ich lege meinen Kopf in den Nacken, um zu ihm hochzublinzeln. »Sorry, ja.« Ich lächle peinlich berührt. Der lange Umzugstag und die Tatsache, dass ich bisher nicht wirklich was gegessen habe, haben scheinbar meine noch vorhandenen Hirnzellen vernichtet.

Er zieht den Stuhl neben meinem hervor und setzt sich. »Evan hat erzählt, dass du hier ein neues Zuhause gefunden hast und deine Leute dir heute beim Umzug geholfen haben«, sagt er, streckt seine langen Beine aus und überkreuzt sie an den Knöcheln, was mich sehr effektiv auf meinem Stuhl festhält.

»Ja, sie mussten alle zusammen daran glauben.« Ich nehme einen Schluck von meinem Getränk und mustere Harlen, während ich versuche, nicht so zu wirken, als würde ich genau das tun.

Sein Haar und sein Bart sind seit unserer letzten Begegnung länger geworden, und ich bin mir nicht sicher, ob er dadurch heißer oder noch furchteinflößender wirkt. Einer Sache bin ich mir jedoch sicher: Der längere Bart lässt seine Lippen noch einladender wirken.

»Was machst du hier?«, fragt er und unterbricht damit meine Gedanken an seinen Mund und wie es sich möglicherweise anfühlen würde, ihn auf mir zu spüren.