Der Autor

Lars Schütz – Foto © Rico Maestro Design

LARS SCHÜTZ wurde 1992 geboren. Er arbeitet als Texter für eine große Düsseldorfer Werbeagentur und schreibt nebenbei die Thriller-Reihe rund um Profiler Jan Grall und Rabea Wyler.
Von Lars Schütz sind in unserem Hause bereits erschienen: Der Alphabetmörder · Rapunzel, mein

Lars Schütz

Rache, auf ewig

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Oktober 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: Arcangel Images / © Hanka Steidle
(Nadel); © FinePic®, München (Hintergrund)
Autorenfoto: Rico Maestro Design
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ISBN 978-3-8437-2280-3

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Motto

»Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.«

1. Mose 2, 15

 

»Die wahren Paradiese sind die Paradiese,
die man verloren hat.«

Marcel Proust

Prolog

SYLT

Die Sonne gleißte durch das Glasdach des Gewächshauses.

Hugo Bellmer blinzelte und wandte den Kopf ab. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und brannte in seinen Augen. Er war rücklings auf einen quietschenden Sprungfederrahmen fixiert, Hand- und Fußgelenke mit Dutzenden Kabelbindern umwickelt. Er trug nichts bis auf seine Schiesser-Unterwäsche, die durchgeschwitzt und verdreckt an seiner Haut klebte. Die Luft war drückend schwer und feucht, jeder Atemzug ein Kraftakt.

Seit er aufgewacht war, hatte er stundenlang mit aller Macht an seinen Fesseln gezerrt, hatte versucht, seine Hände irgendwie aus ihnen herauszuwinden. Ohne Erfolg. Bei jeder Bewegung schnitten sie nur noch tiefer in sein Fleisch. Irgendwann hatte sein linker Fuß angefangen zu kribbeln, als stächen tausend kleine Nadeln in seine Haut. Mittlerweile konnte er ihn gar nicht mehr bewegen, nicht mehr spüren. Er fühlte sich wie abgestorben an.

Gestern Abend hatte er sich noch mit einem Glas Riesling auf die Terrasse seines Strandhauses gesetzt, um den Sylter Sonnenuntergang zu genießen. Eine Schar Möwen hatte nach Wattwürmern gejagt. Das war das Letzte, woran er sich erinnern konnte. Was war dann geschehen?

Natürlich hatte er um Hilfe gerufen. So lange, bis er heiser war und das Echo seiner eigenen, immer verzweifelter klingenden Stimme nicht mehr ertrug.

Er hatte, so gut es in seiner Lage ging, nach Hinweisen gesucht, nach irgendetwas, das Rückschlüsse auf seinen Aufenthaltsort oder seinen Entführer zuließ. Aber bis auf den Federrahmen schien das Treibhaus vollkommen leer. Nichts wuchs hier. Nur jenseits der Glaswände ragten ringsum Apfelbäume in die Höhe. Er meinte sogar, hinter den Baumkronen ein Reetdach zu erkennen. War er immer noch auf Sylt?

Wie lange hielt man ihn schon auf dieser Pritsche fest? Ohne Essen. Ohne etwas zu trinken.

Irgendwann hatte er nicht mehr an sich halten können und in seine Unterhose gepinkelt.

Noch nie in seinem ganzen Leben war er so gedemütigt worden. Nicht im Privatbereich und erst recht nicht in der Geschäftswelt. Er war ein Machtmensch, er war Vorstandschef, einer der zehn reichsten Männer Deutschlands mit einem Privatvermögen von über eins Komma zwei Milliarden Euro – und wer jemals an seiner Stärke gezweifelt hatte, den hatte er bisher schnell vom Gegenteil überzeugt.

Sie würden ihn finden. Würden alle Hebel in Bewegung setzen. Schließlich war er niemand Geringerer als Hugo Bellmer! Sie würden mit Polizeihubschraubern über genau diesen Ausschnitt Himmel fliegen, auf den er seit so langer Zeit starrte, und ihn finden. Sie würden dieses Wäldchen mit Spürhunden durchkämmen. Sylt war nicht groß. Sie würden ihn finden. Ganz sicher. Und dann würden seine Anwälte über den Entführer ein Höllenfeuer niederprasseln lassen, wie es die deutsche Justiz noch nicht gesehen hatte. Jede Stunde, die er in diesem Gewächshaus verbringen musste, würde er ihm in Gefängnisjahren zurückzahlen.

Gerade als Bellmer aus seinem Racheszenario neue Hoffnung schöpfte, erklang hinter ihm ein Quietschen. Die Tür hinter seinem Kopfende öffnete sich. Jemand war gekommen. Sosehr er auch den Kopf verdrehte, er konnte denjenigen nicht sehen. Dann hörte er Schritte. Jemand trat an die Pritsche.

Er wollte schon eine Tirade aus Fragen und Drohungen auf seinen Entführer abfeuern, aber dann sah er, wer es war. Und der Anblick machte ihn sprachlos.

Vor ihm stand ein Mädchen, höchstens dreizehn Jahre alt.

Sie trug ein schlichtes weißes Baumwollkleid, das ihr etwas Reines, Unschuldiges gab. Ihre kastanienbraune Lockenmähne hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Ihr Gesichtsausdruck war gleichgültig.

Aus dem Jutebeutel, den sie sich über die Schulter geschwungen hatte, holte sie zwei Literflaschen Wasser, eine Packung Knäckebrot und einen silbern gerahmten Handspiegel.

Sofort richtete sich Bellmers ganzes Denken auf das Wasser. Seine geschwollene Zunge wand sich in der ausgedörrten Mundhöhle, seine Muskeln spannten sich an.

»Wer bist du, Kleine?«, fragte er. »Wer schickt dich?

Glaub mir, wenn du mir hilfst, dann wird sich das für dich lohnen.«

Sie ignorierte ihn, schaute ihm noch nicht einmal ins Gesicht und schraubte eine der Wasserflaschen auf.

»Hey, kannst du sprechen?«

Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses zarte Mädchen für seine Entführung verantwortlich sein sollte. Zwang sie jemand dazu? Gab es hier drinnen Kameras? Wurde sie beobachtet?

Erst als sie ihm die Wasserflasche an den Mund hielt, sagte sie ihr erstes Wort: »Trink!«

In gierigen Zügen nuckelte er an der Flasche. Schließlich entriss das Mädchen ihm mit einem heftigen Ruck das Wasser, wobei sich jede Menge Flüssigkeit über seine Brust ergoss.

Er verschluckte sich, hustete. »Mehr!«, forderte er.

Das Mädchen schüttelte nur den Kopf und steckte die Flasche zurück in den Beutel. Sie fütterte ihn mit einer Scheibe Knäckebrot und gewährte ihm erst danach noch einen Schluck Wasser. Nie hatte etwas so gut geschmeckt.

Er sollte am Leben gehalten werden, so viel war sicher. Aber wofür? Ging es um Lösegeld? Wenn ja, wieso hielt man ihn dann in einem Treibhaus fest?

»Der Spiegel«, fragte er. »Wofür hast du mir einen Spiegel gebracht?«

Und damit begann der Albtraum.

Das Mädchen lehnte den Spiegel gegen einen handgroßen Stein, den sie gleich neben den Federrahmen gelegt hatte. So konnte Bellmer zum ersten Mal sehen, was unter ihm war.

Was unter ihm wuchs.

Ein Dutzend angespitzte armdicke Bambussprossen endeten knapp fünf Zentimeter unterhalb des Federrahmens. Unterhalb seines Rückens.

Bellmer zog die Brauen zusammen. »Was soll das werden?«

Das Mädchen schraubte die zweite Wasserflasche auf und goss den Bambus mit großer Sorgfalt.

»Ich soll Ihnen erklären, was geschehen wird«, sagte sie dann mit ruhiger Stimme. Ihre Worte klangen wie auswendig gelernt. »Der Bambus wächst mehrere Zentimeter pro Tag, selbst durch Gestein und festes Erdreich hindurch. Wenn er kein Licht bekommt – so wie jetzt –, wächst er schnurgerade nach oben, auf dem Weg zur Sonne.«

Bellmer schluckte trocken. Erst hatte er es nicht abwarten können, dass das Mädchen endlich redete. Jetzt wünschte er sich nichts mehr, als dass sie aufhörte.

»Der Bambus wird Sie durchbohren, Herr Bellmer. Wenn Sie Glück haben, sterben Sie an den Folgen des Schocks. Wenn nicht, dann werden Sie bei vollem Bewusstsein miterleben, wie die Pflanze durch Sie hindurchwächst. Ich werde kommen und den Bambus und Sie dafür so lange wie nötig am Leben erhalten.«

Der Brei aus Wasser und zerkautem Knäckebrot schoss aus seiner Speiseröhre. Er drehte den Kopf zur Seite und erbrach sich.

Das konnte nicht wahr sein. Das hier geschah nicht wirklich.

»Warum?«, jaulte er tränenerstickt. »Warum? Nehmt mein Geld, ihr könnt alles haben. Bitte! Tu das nicht! Binde mich los!«

Das Mädchen packte stumm den Spiegel zurück in den Jutebeutel und verließ das Gewächshaus, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach ihm umzudrehen.

Er schrie. Kämpfte gegen seine Fesseln. Wand sich auf dem harten Drahtgeflecht hin und her, bis seine Muskeln vor Schmerz pochten.

Warum? Warum folterte man ihn so grausam?

Er musste an sein Handy denken. In seiner Kontaktliste fanden sich die Nummern einiger der einflussreichsten Menschen der Welt. Börsenvorstände, Botschafter, globale Geschäftsführer, Regierungschefs. Noch vor einem Tag hätte ihm das ein Gefühl der Sicherheit gegeben.

Diese konzentrierte Macht. Dieser Einfluss.

Keiner von ihnen würde ihm jetzt helfen können.

Keiner würde verhindern können, dass das Gewächs unter ihm immer weiter in die Höhe wuchs. Bis seine Spitzen irgendwann seinen Rücken kitzeln würden. Der erste Vorbote des Schmerzes.

Ein Kribbeln in seiner Hüftgegend. Fast meinte er, körperlich zu spüren, wie der Bambus teleskopartig unter ihm emporspross. Bildete sich sogar ein zu hören, wie er knackend und ächzend immer weiterwuchs.

Und wuchs.

Und wuchs.

Eins

DÜSSELDORF // 27. August

»Ist Ihnen das Konzept der Dunklen Triade vertraut?«

Jan musterte das Ehepaar, das ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaß.

Die beiden Mittsechziger schüttelten synchron den Kopf. Während die Frau gebannt den Rauhaardackel auf ihrem Schoß streichelte, rührte ihr Gatte mit verdrießlichem Gesicht seinen Kaffee um.

»Also, die Dunkle Triade, oder auch Dunkler Dreiklang, beschreibt die Persönlichkeitsmerkmale Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Wesenszüge, die jeder von uns in sich trägt, deren Ausprägung aber stark variieren kann.«

Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und ließ das Gesagte auf seine Gesprächspartner wirken. Die Kitzmanns waren ein Paradebeispiel für die gut betuchten Kreise Düsseldorfs. Sie im Chanel-Kostüm, er in Pullunder und Hemd. Ihre Eitelkeit stillten sie offensichtlich mit Spray-Tanning, Nasen-OPs und extrovertiertem Schmuck. Normalerweise hätte Jan für sie nur Verachtung übrig gehabt. Aber da sie zahlende Kundschaft waren, ließ er sie gerne an seinem unendlichen Schatz an psychologischen Weisheiten teilhaben. Denn wie so viele reiche Menschen ließen sie sich nur allzu leicht von großen Worten beeindrucken.

»Narzissten wollen selbstverständlich Bewunderung«, fuhr er fort. »Machiavellisten sind manipulativ, der Zweck heiligt für sie die Mittel. Und Psychopathen sehen in ihren Mitmenschen bloß Objekte. Empathie ist bei ihnen nur schwach ausgeprägt. Sie sind kaltblütig, weil sie meistens keine Furcht vor Konsequenzen haben. Diese drei Wesenszüge überlappen sich und sind allesamt miteinander verknüpft.«

»Das ist ja wahnsinnig spannend!«, sagte Frau Kitzmann.

»Hm«, brummte ihr Mann wenig begeistert in seine Kaffeetasse.

Ihre Stimmen hallten durch den spartanisch eingerichteten Büroraum. Lediglich der Mahagoni-Schreibtisch, der schon vor dem Umzug hier gewesen war, eine ramponierte Kommode und ein Schlafsofa standen auf dem zerkratzten Hartholzboden. Seine Partnerin Rabea Wyler und er hatten die Räumlichkeiten im ersten Stock des Gründerzeithauses vor knapp einem Jahr bezogen, sich aber nie um die Einrichtung gekümmert. Dafür hatte es schlichtweg genug andere Baustellen in ihrem Leben gegeben.

»Wenn wir diese drei Persönlichkeitsmerkmale jetzt auf Rudolf anwenden, dann lässt sich definitiv festhalten, dass Narzissmus und Machiavellismus bei ihm stark ausgebildet sind. Ich würde sogar …«

»So, das reicht!« Herr Kitzmann donnerte seine Tasse auf den Schreibtisch, seine Gesichtsfarbe puterrot. »Ich kann mir das nicht mehr anhören.«

Der Rauhaardackel auf dem Schoß seiner Frau kläffte erschrocken auf.

»Ulf, ich bitte dich!« Sie tastete nach der Lehne seines Besucherstuhls. »Immer musst du so ein Theater machen. Ich habe doch gesagt, wie wichtig mir das ist.«

»Ich weiß, Schatz, aber ich kann das einfach nicht ernst nehmen. Rudolf ist ein Dackel! Der hat doch nichts mit Machiavismus oder wie das heißt am Hut. Der will nur fressen und kacken und schlafen.«

»Ulf!«, begehrte seine Frau auf, die Stimme schrill, und krallte ihre Finger in das Fell des Hundes. »Er hat eine komplexe Persönlichkeit. Allein die Art, wie er mich beim Gassigehen immer in die Richtung der Jogger lenkt, damit er sie anfallen kann. Unser Hund ist ein Psychopath!«

»So ein Schwachsinn!« Ulf Kitzmann stemmte sich aus seinem Stuhl hoch. »Ich hätte mich niemals hierherschleifen lassen dürfen.«

»Entschuldigen Sie, Herr Grall! Mein Mann hat einfach kein Benehmen.« Frau Kitzmann streckte die Hand in Jans Richtung aus und schenkte ihm ein fragiles Lächeln.

Kitzmann kramte seine Geldbörse hervor. »Wie viel schulde ich Ihnen für die angefangene Stunde?«

»Äh …« Jan war noch völlig überwältigt von dem Drama, das sich vor seinen Augen zutrug.

Ehe er ein Wort hervorbringen konnte, blätterte Kitzmann zwei Zweihunderteuroscheine auf den Schreibtisch.

»Das wird reichen, nehme ich mal an!«

Einer dieser Männer, die so lange Geld auf ihre Probleme werfen, bis sie darunter vergraben sind, dachte Jan. Aber keine noch so hohe Summe konnte eine zerrüttete Ehe retten.

»Sie finden selbst hinaus«, rief er dem Paar noch hinterher, als sie schon auf halbem Weg aus seinem Büro waren. Er atmete tief durch und betrachtete kopfschüttelnd die Geldscheine auf seinem Schreibtisch. Die einzigen Einnahmen dieses Tages, verächtlich vor ihn hingeschmissen.

Erst als Frau Kitzmanns strenge Stimme und das Klimpern von Dackel Rudolfs Halsband im Treppenhaus verklungen waren, wagte Jan aufzustehen. Er nahm seinen Kaffee vom Tisch, stellte sich an eines der hohen Bogenfenster und sah zu, wie die Kitzmanns in ihren Audi stiegen und davonbrausten.

Selbst jetzt, kurz nach fünf, brannte die Sonne noch mit unverminderter Intensität vom Himmel. Ein heißer Spätsommertag. In ihrem Büro gab es keine Klimaanlage, und Jan produzierte wöchentlich gefühlt eine Wannenladung Schweiß.

Er bemerkte eine Bewegung direkt unterhalb des Fensters. Seine Partnerin Rabea Wyler balancierte auf einer Trittleiter und hantierte an den Firmenschildern am Eingang herum.

Was trieb sie da draußen?

Mit gerunzelter Stirn nippte Jan an seiner Tasse. Der Kaffee war längst kalt. Manchmal war er schlichtweg so tief in seine Gedanken versunken, dass er alles um sich herum vergaß, auch den gerade erst frisch eingeschenkten Kaffee.

Er verließ sein Büro, ging durch den verwaisten Empfangsraum und stieg das Treppenhaus hinunter. Mit seinen über zwei Metern Körpergröße geriet er auf den niedrigen ungleichen Holzstufen andauernd ins Stolpern. Schon zweimal hatte er sich auf der Treppe langgelegt. Dieses Haus war in Zeiten erbaut worden, in denen die Menschen noch nicht so groß gewesen waren.

Im Freien umfingen ihn erdrückende Hitze und das Verkehrsrauschen der nahen Haroldstraße. Er blinzelte zu Rabea hoch, die mit ihrem Körper die Firmenschilder verdeckte. Außer ihnen hatten in dem Haus noch ein kleiner Kinderbuch-Verlag, ein Zahnarzt und irgendein Internet-Start-up ihren Sitz. Jan hatte bis heute nicht verstanden, was die Leute dort eigentlich trieben.

»Kannst du mir erklären, was du da machst?«, fragte er.

»Oh Jan!«, rief Rabea im leichten Singsang einer Berndeutschen. »Die Leute mit dem Psychopathen-Dackel sind aber wirklich nicht lang geblieben.«

Sie kicherte in sich hinein. Seit Frau Kitzmann vor zwei Tagen einen Termin gemacht und ihre Problematik geschildert hatte, machten sich Rabea und ihre Bürohilfe Miriam ständig darüber lustig.

»Wenigstens haben sie Geld dagelassen«, seufzte Jan.

»Womit wir auch schon beim Thema wären.« Sie kletterte die Leiter herunter und betrachtete ihr Werk, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich wollte es dir eigentlich schon eher sagen …«

Neben ihrem Firmenschild – GRALL & WYLER | Private Fallanalyse, in schnörkelloser Schrift – prangte jetzt der Paketshop-Aufkleber der DHL.

»Ist das dein Ernst?« Jan rang nach Worten. »Wir sind doch kein Kiosk! Wieso hast du mir vorher nichts davon gesagt?«

Sie blies sich den Pony aus dem Gesicht. Im Spätsommerlicht schimmerte er goldblond. »Weil ich wusste, dass du es niemals zulassen würdest.«

»Zu Recht!«, entrüstete er sich. »Wo sollen wir die ganzen Pakete lagern? Und die Leute bedienen, die dann ständig bei uns ein und aus gehen werden?«

»Genau das ist ja das Ding! Es würden zur Abwechslung einmal Leute bei uns reinkommen. Die Kitzmanns sind erst die vierten Kunden diesen Monat. Wir brauchen ein zusätzliches stabiles Einkommen, wenn wir überleben wollen.«

Er grummelte vor sich hin, dabei wusste er natürlich, dass sie recht hatte. Als er das Büro am Rande der Düsseldorfer Altstadt von seinem einstigen Mentor geerbt hatte, hatte er gleich gewusst, was er damit machen würde. Rabea und er waren beide vom LKA suspendiert worden, doch für ihre Fähigkeiten musste es auch außerhalb des Polizeidienstes Bedarf geben. Also hatte er kurzerhand GRALL & WYLER gegründet, das erste Büro für unabhängige psychologische Fallanalyse in Deutschland.

Eine Bauchentscheidung, eine Grall’sche Hauruck-Aktion. Manche nannten es auch eine Schnapsidee – und das, obwohl er strikter Antialkoholiker war.

»Von BWL hast du leider keinen blassen Schimmer«, bemerkte Rabea.

»Touché.«

»Gopferdammi! Ich meine, wie viele Konten hast du jetzt schon überzogen? Wie viele Kredite hast du aufgenommen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bereue es keinen Tag, das hier mit dir gestartet zu haben, aber trotzdem: Wie lange wolltest du das noch so durchziehen?«

Er lehnte sich gegen die Sandsteinfassade. »Keine Ahnung. Pläne sind noch nie meine große Stärke gewesen.«

»Wir müssen Marketing machen, die Website überarbeiten, Flyer verteilen. Was auch immer.« Sie klappte die Trittleiter zusammen. »Ich werde mich zunächst einmal um den Paketkram kümmern. Aber wenn ich alleine darauf sitzen bleibe, dann gnade dir Gott.«

»Oha.« Er hob abwehrend die Hände. »Botschaft angekommen, Frau Wyler.«

Ihr Gespräch war ein weiterer Beweis dafür, dass das Alter absolut nichts mit Reife oder Verantwortungsbewusstsein zu tun hatte. Rabea war vierunddreißig, er einundvierzig. Oft genug kam es ihm so vor, als wäre es genau andersherum.

»Ich mache heute etwas früher Schluss«, sagte sie. »Ich muss noch zum Training. Und es ist ja nicht so, als würde uns die Kundschaft gleich die Tür einrennen.«

Gemeinsam traten sie wieder in die Kühle des Treppenhauses.

»Immer noch dieser indonesische Kampfsport?«, fragte Jan.

»Genau, Pencak Silat. Langsam werde ich richtig gut darin.«

»Deine Drohung, wenn ich dir nicht bei den Paketen helfe, wirkt jetzt noch Furcht einflößender.«

»Quatsch!«, lachte sie und wurde dann mit einem Mal ernst: »Pencak Silat dient der reinen Selbstverteidigung. Ich brauche das. Du weißt, warum.«

»Ich weiß.« Er presste die Lippen aufeinander. Insgeheim freute er sich, dass sie heute früher ging. So musste er sich erst gar keine Ausrede dafür einfallen lassen, warum er selbst vorzeitig verschwinden musste.

Die Begründung, er müsse dringend nach Hause, zog dabei nicht. Denn um sich die Miete zu sparen, war Jan kurzerhand in ihre Büroräume eingezogen. Wusste man das nicht, hätte man es als Besucher überhaupt nicht bemerkt. Jan hatte sich von so vielen seiner Besitztümer getrennt, dass sein verbliebenes Eigentum problemlos in ein halbes Dutzend Umzugskartons passte. Kleidung, ein paar Andenken, elementare Bücher, Dinge des täglichen Gebrauchs – und selbst das war ihm noch zu viel. Nach allem, was geschehen war, erschien es ihm sinnlos, einfach nur toten Besitz anzuhäufen. Ballast, dachte er, mehr ist es nicht. Davon trug er schon genug mit sich herum. Minimalismus war für die einen ein Lebensentwurf. Für ihn war es eine Überlebensstrategie.

Ihre Räumlichkeiten besaßen keine Dusche, weshalb sich Jan entgegen seinem Naturell in einem nahe gelegenen Fitnessstudio angemeldet hatte. Jetzt ging er dort täglich ein und aus, alle Trainer kannten ihn bereits beim Namen, aber die Geräte hatte er bislang nicht einmal eines Blickes gewürdigt.

Zurück im Büro, packte Rabea gleich ihren Rucksack und schnappte sich ihre Sporttasche. »Schönes Wochenende! Hier ist noch etwas Lektüre.« Damit drückte sie ihm eine dicke Info-Broschüre des Paketanbieters in die Hand, was er nur mit einem Augenverdrehen quittierte.

»Dir auch, dir auch …«

Wenn Rabea erfuhr, mit wem er eine Verabredung hatte, würde sie ihn mit diesem typischen bedauernden Kopfschütteln strafen, das sie manchmal für ihn übrig hatte. Und diesen Moment wollte er noch so lange wie möglich hinauszögern.


»Noch einmal! Ihr müsst die jurus in einer einzigen fließenden Bewegung ausführen.«

Bima Sutioso lief zwischen den Reihen der Übenden umher, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er war der Pendekar, der Meister des kleinen Pencak-Silat-Kurses. Sie trainierten in der Turnhalle eines Gymnasiums im Düsseldorfer Stadtteil Pempelfort. Aus einer Lautsprecherbox ließ Bima bei jeder Stunde traditionelle indonesische Musik laufen, mit Trommeln und Flöten, um die sterile Schulatmosphäre zumindest etwas zu vertreiben.

Pendekar Bima stammte aus Bandung, einer Zwei-Millionen-Stadt im Westen der Hauptinsel Java. Er besaß das breiteste und strahlendste Lächeln, das Rabea je gesehen hatte. Sein leicht untersetzter Körperbau und sein Watschelgang verliehen ihm etwas Gemütliches. Ein wenig trügerisch, wenn man bedachte, dass Bima einem innerhalb von Sekundenbruchteilen die Knochen brechen oder noch viel Schlimmeres antun könnte, wenn er nur wollte – und das, ohne dabei auch nur ins Schwitzen zu kommen.

Rabea kontrollierte ihren Zopf und band noch einmal die Kordel ihrer knielangen Shorts neu. Sie trug ihr altes Basketball-Shirt, natürlich mit der Nummer 24, und Ellenbogenschoner.

»Okay, bereit?«, fragte sie Sergej, ihren Trainingspartner.

Der Deutschrusse hob nur die Augenbrauen.

Beide standen barfuß auf einer der blauen Turnmatten, in leicht gebeugter Haltung und die Hände ausgestreckt – in sikap pasang, einer der Grundpositionen des Silat.

Sergej wog bestimmt über hundert Kilo. Er war ein Koloss von einem Mann, mit raspelkurzen schwarzen Haaren und stets glatt rasiertem Babyface. Er arbeitete bei der Berufsfeuerwehr, hatte schon vorher Muay Thai und Karate gelernt und war dementsprechend durchtrainiert. Trotzdem erlaubten es Rabea die Grifftechniken des Pencak Silat, ihn ab und an auf die Matte zu werfen.

»Na, komm schon, Beeh!«, sagte Sergej.

So nannte er sie immer. Nicht Rabea. Nicht Bea. Einfach nur Beeh.

Das Training stand kurz vor seinem Ende. Dicke Schweißperlen glänzten auf Sergejs Stirn. Auch Rabea musste ordentlich keuchen. Sie nahm wahr, wie ihre Instinkte sich schärften, und spürte die Hitze, die sich jedes Mal ab einem bestimmten Punkt in ihrem Körper ausbreitete.

Seit sie vor einem halben Jahr hier angefangen hatte, machte sie alle Partnerübungen zusammen mit Sergej. Sie mochte ihn, weil er ein grundfriedliches Gemüt und eine offene Art besaß. Während ihrer Ausbildung am Berner ViCLAS-Centre und ihrer Zeit beim LKA hatte sie sich nur mit manipulativen, komplexen Persönlichkeiten beschäftigt. Jetzt genoss sie die Gegenwart jedes Menschen, der einfach nur offen sagte, was er dachte.

In langkhas, den bis ins Kleinste einstudierten Schrittfolgen, näherten sich Rabea und Sergej an. Die Techniken des Pencak Silat imitierten Raubtiere oder Schlingpflanzen und Dornengewächse, so hatte es Bima ihnen einmal erklärt.

Rabea musste kurz daran denken, als sie zu ihrer juru ansetzte, einem der vielen komplizierten Bewegungsabläufe.

Wenn sich zwei erfahrene Pesilat einen Kampf lieferten, erinnerte es mehr an einen anmutigen Tanz, der allerdings jederzeit innerhalb von Sekunden auf brutalste Art beendet werden konnte. Diese Eleganz, verbunden mit der erbarmungslosen Effektivität, war es gewesen, die Rabea für Pencak Silat eingenommen hatte.

Sie stieß Sergejs Arme mit gezielten Rückhandschlägen weg, wand sich wie eine Kletterpflanze um seinen Körper, stemmte ein Bein hinter seine Ferse und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht.

Der Hüne knallte auf die Matte. Die Erschütterung musste auch bis in den letzten Winkel der baufälligen Turnhalle spürbar sein. Sie warf sich auf ihn. Er riss die Arme hoch in dem Versuch, sie abzuwehren. Aber die Schläge prasselten nur so auf ihn ein. Sergej schnaufte heftig.

Der Laut löste etwas in Rabea aus, rief flüchtige Eindrücke und Erinnerungen hervor. Das schwere Atmen von Männern hatte sie schon oft gehört. Ihr Unterbewusstsein verband es sofort mit denjenigen, die sie gefoltert hatten. Die sie hatten töten wollen. Plötzlich sah sie nicht mehr Sergejs hochrotes Gesicht vor sich, sondern die Fratzen dieser Psychopathen.

Sie biss die Zähne aufeinander, bis ihre Kiefer schmerzten. Es pochte heftig in ihrem Schädel. Sie bestand nur noch aus Gewalt, aus Wut. Ihr Denken setzte völlig aus. Sie war degradiert zur Zuschauerin ihrer eigenen Handlungen.

Ihr werdet mir nicht mehr wehtun, hämmerte es in ihrem Kopf. Ihr werdet mich nie mehr verletzen.

Ihre Faust schraubte sich mitten in Sergejs Gesicht. Schmerzerfüllt schrie er auf. Ehe er reagieren konnte, drehte sie sich um die eigene Achse, schlang die Unterschenkel um seinen Hals und überkreuzte ihre Knöchel gleich vor seinem Kehlkopf. Sie verstärkte den Druck, bis ihre Wadenmuskeln zitterten. Verzweifelt zerrte Sergej an ihren Beinen. Aber sie gab nicht nach.

Ich lasse mich nicht mehr festhalten. Ihr könnt mir nichts mehr anhaben.

»Beeh!« Sergej klopfte auf die Matte.

Erst als Bima sie an den Schultern packte und mit einer kräftigen Bewegung von ihrem Gegner losriss, erwachte sie wie aus einem Rausch. Sie schüttelte sich. Schaute hinab auf Sergej.

Ein blutiges Rinnsal sickerte aus seinen Nasenlöchern bis zur Oberlippe. Er rieb sich den Nacken und erwiderte ihren Blick. In seinen Augen glomm ein Ausdruck, den sie noch nie zuvor in ihnen wahrgenommen hatte: Angst.

Auch alle anderen Pensilat hatten ihre Übungen unterbrochen und sahen Rabea an. Nur die Trommellaute aus den Lautsprechern erfüllten noch die Sporthalle.

»Anjir!«, stieß Bima aus – ein indonesischer Fluch. »Rabea, was sollte das? Das ist nicht Pencak! Dein Gegner war schon am Boden. Er hat auf die Matte geklopft.«

Er blies die Wangen auf, was sein rundes Gesicht noch fülliger erschienen ließ.

»Schon gut, ist ja nichts passiert. Nur ein Kratzer«, lenkte Sergej ein. »In der Hitze des Gefechts kann das schon mal vorkommen.«

»Nichts ist gut«, sagte Rabea erschüttert. »Ich habe die Kontrolle verloren. Als wäre in meinem Kopf ein Schalter umgelegt worden. Es … es tut mir leid. So etwas darf einfach nicht passieren.«

Sie streckte Sergej die Hand entgegen und half ihm wieder auf die Beine.

»Hätte nicht gedacht, dass du so einen rechten Haken hast, Beeh«, bemerkte er.

Einer der anderen Kursteilnehmer reichte ihm ein Taschentuch, und er tupfte sich das Blut ab.

Bima wandte sich an die Runde: »Es ist sowieso kurz vor Schluss. Für heute beenden wir den Unterricht. Bis nächste Woche! Selamat tinggal!«

»Selamat tinggal!«, erwiderten sie im Chor.

Während die anderen die Matten forttrugen und ihre Trinkflaschen einsammelten, nahm Bima Rabea zur Seite.

»Alles in Ordnung?«, fragte er mit gesenkter Stimme. »Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Aggression in dir stecken könnte. Da war eine Panik in deinem Blick, als hättest du Angst vor deinem eigenen Schatten.«

Wenn du wüsstest, was in meinem Schatten lauert, dann hättest du sie auch, dachte Rabea. Sie fühlte sich plötzlich unfassbar müde und wollte nur noch nach Hause. »Mir geht’s gut, ich hatte nur einen anstrengenden Tag. Ich kriege das in den Griff«, sagte sie.

»Sicher?« Bima lächelte warm. »Ich könnte dir Meditationstechniken beibringen. Vielleicht würde das helfen.«

»Das ist wirklich nett, aber lass gut sein.« Sie klopfte ihm auf die massige Schulter. Schnell packte sie ihre Sportflasche und ihr Handtuch und machte sich auf den Weg Richtung Ausgang.

»Bis nächste Woche!«, rief sie.

Sie spürte den forschenden Blick des Meisters in ihrem Rücken. Es war nicht angemessen, ihn mit ihren Ängsten zu belasten. Er war Kampfsportlehrer, kein Psychotherapeut.

Aber wie hatte ihr so etwas passieren können?

Das Böse musste sich in ihr eingenistet haben.

Das Böse – ein Gift, dem sie viel zu lange Zeit ausgesetzt gewesen war.


»Ich gebe dir ein Beispiel für ein Kōan.« Anita Ichigawa stützte sich mit dem Ellenbogen auf dem ausgezogenen Bettsofa auf. »Ein Mönch fragte Tozan: Was ist Buddha? Tozan antwortete: drei Pfund Flachs.«

Das warme Licht der Gaslaternen fiel durch die Bogenfenster. Düsseldorf war eine der wenigen Städte, in denen sie noch vereinzelte Straßenzüge beleuchteten. In ihrem Schein zeichneten sich deutlich die Umrisse von Anitas nackter Silhouette ab.

Die zerwühlte Bettdecke roch nach Sex, noch immer glänzte der Schweiß auf Jans Brust. Wenn seine Klienten wüssten, was hin und wieder nachts in seinem Büro vorging, würden sie den Raum wahrscheinlich mit völlig anderen Augen sehen.

Er nippte an seiner bereits abgestandenen Cola Zero – der Koffeingehalt machte ihm längst nichts mehr aus, auch nicht so spät am Abend – und bettete seinen Kopf auf Anitas flachen Bauch, spürte, wie ihre Muskeln sich bei jedem Atemzug zusammenzogen.

»Ich verstehe kein Wort«, sagte er. »Wer ist Meister Tozan? Warum Flachs?«

»Das ist alles nicht wichtig.« Ihre Finger wanderten über sein kurz geschorenes Haar. »Der Name des Zen-Meisters ist egal. Über den Flachs musst du nur wissen, dass er völlig wertlos und profan ist.«

»Und über so etwas zerbrichst du dir den ganzen Tag den Kopf? Ich wusste nicht, dass ein Job beim BKA so entspannt ist.«

»Ach, Jan!« Sie schmunzelte.

Ihre Finger glitten über seine Stirn und ertasteten schließlich die Narbe, die sich quer über seinen Nasenrücken bis zur Wange zog – ein Andenken an seinen letzten Fall. Sie zog ihre Hand nicht weg, sondern strich sanft über die Erhebung, fühlte ihr nach.

»Kōan sind Rätsel, die Zen-Meister ihren Schülern stellen. Sie sind absichtlich unlogisch oder paradox. Man unterteilt sie sogar in unterschiedliche Klassen. Es gibt ganze Sammlungen von ihnen. Teilweise sind sie mehr als tausend Jahre alt. ›Was weißt du sicher?‹, ist so eines von ihnen. Oder: ›Was sieht ein Käfer, was fühlt er? Und ein Adler? Und ein Staubkorn?‹«

»Ich fühle mich auf jeden Fall jetzt schon überfordert.«

Jan ließ die Fingerkuppen über die Innenseite ihres Oberschenkels gleiten. Blitzschnell klemmte sie seine Hand zwischen ihnen ein und hielt sie dort fest.

»Hey!«, stieß er aus.

Sie kicherte, was sie nur selten tat.

»Ein Kōan lässt sich nicht mit rationalem Denken oder Intellekt entschlüsseln. Er ist ein unlösbares Rätsel. Stattdessen muss man seiner Intuition vertrauen, sich in die Frage hineinfühlen. Erkenntnis findet nur derjenige, der die Ebene des Verstands verlässt.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte er.

»Als ich das erste Mal von der Bedeutung dieser Kōan gehört habe, musste ich an dich denken. Die Mörder, die ihr gejagt habt. Diese Psychopathen …«

»… ihnen kann man auch nicht mit Rationalität beikommen«, beendete er ihren Satz. »Sie sind Rätsel jenseits des gesunden Menschenverstandes.«

»Ganz genau.« Sie richtete ihren Oberkörper auf und küsste ihn auf den Kopf.

Er hing dem Gedanken einen Augenblick nach. Thrill Killing, komplexe Mordfantasien, Taten mit unspezifischem Motiv – lange Zeit war es sein Beruf gewesen, den Sinn in scheinbar sinnloser Gewalt zu finden. Seine persönliche Sammlung an blutigen Rätseln. Aber anders als die Zen-Meditationen hatten sie ihn nie zu einer tiefer gehenden Erkenntnis geführt. Homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Die einzige Wahrheit, die er während seiner Ermittlungen zutage gefördert hatte.

»Könnte ich jetzt meine Hand wiederhaben?«, fragte er schmunzelnd. »Langsam wird sie taub.«

Sie lachte, öffnete ihre Schenkel und gab seine Hand frei. Spielerisch übertrieben schüttelte Jan seine Finger aus.

»Es fühlt sich fast so an wie damals«, sagte sie.

»Besser sogar.«

»Nach unserer Trennung habe ich dich gehasst. Ich habe dich als dauerkiffenden, mit sich selbst überforderten Versager abgestempelt. Ein Genie, ja, aber gleichzeitig auch ein Versager.«

»Zumindest das mit dem Kiffen kannst du streichen.« Seit er nach Düsseldorf gezogen war, hatte er keine Tüte mehr angerührt. Es war noch nicht einmal eine bewusste Entscheidung gewesen, sondern einfach so geschehen. Er grinste. »Damals wolltest du es mir immer austreiben. Ärgert es dich ein wenig, dass ich jetzt einfach von selbst aufgehört habe?«

Das Kiffen war das einzige wirksame Mittel gegen seine Hypersensibilität gewesen. Ohne einen gelegentlichen Joint sog er alle Informationen und Reize ungefiltert auf, eine ungeheure Anstrengung für seinen Körper und Geist. Die Welt stürzte jeden Tag über ihn ein, war einfach zu grell, zu laut, zu stinkend, zu intensiv. Das Cannabis dämpfte das Dauerfeuer der Eindrücke, es war wie ein Schleier zwischen ihm und seiner Umgebung. Aber es hatte ihn auch fahrig gemacht, vergesslich. Und das hatte er nicht gemocht.

Jetzt versuchte er es ohne psychotrope Substanzen und lebte in ständiger Reizüberflutung. Oft musste er sich Ruhephasen nehmen, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Aber er war selbstbestimmter.

Plötzlich zog Anita ihren Körper unter seinem Kopf weg und schwang sich rittlings auf ihn. Ihre porzellanweiße Haut schimmerte jetzt noch heller im Laternenlicht. Ihre filigranen Gesichtszüge, umrahmt von kinnlangen schwarzen Strähnen, waren unmöglich zu deuten. »Das hier zwischen uns beiden, was ist das?«

Ja, dachte Jan. Was sind wir?

Am späten Nachmittag war Anita aus Wiesbaden gekommen, wo sie als Hauptkommissarin in der BKA-Zentrale arbeitete. Auch sie war nach ihrem gemeinsamen vorschriftswidrigen Vorgehen im Alphabetmörder-Fall beurlaubt worden, allerdings hatte das ihrer Karriere weit weniger geschadet als der von Jan. Ganz im Gegenteil: Ihr Handeln hatte ihr die nötigen Ecken und Kanten gegeben, die man vielleicht vorher noch an ihr vermisst hatte. Ihr kometenhafter Aufstieg hatte sich weiter fortgesetzt, und jetzt war sie mit Mitte dreißig bereits in leitender Position beim BKA.

Nach ihrer Ankunft in Düsseldorf waren sie bei Takumi 2nd Tonkotsu essen gewesen – einem Ableger des berühmten japanischen Restaurants Takumi auf der Immermannstraße. Hier gab es Ramen-Suppen, Gyoza und Edamame. Im Gegensatz zur Hauptfiliale musste man in der Regel auch nicht Schlange stehen, um einen Tisch zu ergattern.

»Wie klischeehaft, mit einer Deutsch-Japanerin beim Japaner«, hatte Anita gesagt und dann genüsslich ihre Ramen-Nudeln eingesogen.

Nach London und Paris besaß Düsseldorf die drittgrößte japanische Gemeinde Europas, was sich vor allem an den vielen Läden und Restaurants rund um die Immermannstraße zeigte. Warum sollten sie sich das entgehen lassen? An den drei Wochenenden, an denen Anita jetzt schon hier gewesen war, hatten sie jedes Mal ein anderes Lokal angesteuert und sich Sushi, Bento Boxen oder Teriyaki schmecken lassen.

Jan besaß inzwischen keinen Wagen mehr. Seinen schrottreifen Peugeot hatte er schweren Herzens in die ewigen Auto-Jagdgründe überführt. Anita hasste es wiederum, mit ihrem dicken Audi in die Innenstadt zu fahren. Also mieteten sie sich meist einen Elektroroller – Anita am Steuer, Jan an ihren Rücken geklammert –, um in der Landeshauptstadt von A nach B zu kommen.

Die Ereignisse rund um den Fall des Alphabetmörders hatten Anita jedoch verändert – sie ließ mehr Gefühle zu, war unverkrampfter geworden. Sie hatte wohl eingesehen, dass man in diesem Job nicht überleben konnte, wenn man nicht ab und an von ihm losließ.

Vor ein paar Wochen hatten sie sich das erste Mal wiedergesehen. Es war ein Abend gewesen, an dem sie viel gelacht, aber auch ernste Themen gestreift hatten. Anita hatte eine ganze Flasche Rotwein getrunken, er war berauscht gewesen von ihrer Schönheit. Dass sie im Bett – oder besser: im Bettsofa – gelandet waren, war nur die logische Konsequenz gewesen. Wie die einzig richtige Lösung einer Gleichung.

»Ein Paar auf jeden Fall nicht, so viel steht fest. Aber auch mehr als nur Freunde.«

»Brauchen wir überhaupt ein Label, eine Bezeichnung für uns?« Sie neigte den Kopf zur Seite und massierte seine Brust. Direkt spürte er, wie er wieder hart wurde. In der Dunkelheit tastete er nach der Kondompackung.

Ehe er seinen Satz vollenden konnte, hob sie ihr Becken an. Er spürte alles. Den sanften Druck ihrer Finger auf seiner Brust. Den halb geöffneten Mund. Das Schnellerwerden ihres Atems. Die Empfindungen stürmten auf ihn ein. Er ließ es zu. Und einen Herzschlag lang nahm er nichts wahr außer ihr.

»Hast du es nicht auf stumm geschaltet?«, stöhnte er.

»Das habe ich ja. Alles ist auf lautlos gestellt.« Ihre Stimme wurde tonlos. »Bis auf eine einzige Nummer.«

Während sie im Wechsel »Ja« und »Ich verstehe« sagte, verkrampfte sich ihre Haltung. Jan wollte ihr über den Rücken streicheln, aber sie rutschte von ihm weg. »Und warum sollen wir das übernehmen?«, fragte sie schließlich, erhielt wohl eine schnelle, klare Antwort und machte nur: »Hm.«

Mit den Worten »Ich mache mich sofort auf den Weg!« legte sie auf, vergrub die Hände im Gesicht und atmete tief durch.

»Es tut mir leid.« Sie angelte ihren BH vom Boden. »Das hier kann nicht warten.«

»Nach Sylt.«

»Der Chef.«

»Nein.« Sie stand auf und schlüpfte in ihren Slip. »Der Chef des BKA selbst.«

»Ein Albtraum.«

»Letztlich ist Umweltschutz nichts anderes als Selbstschutz.« Sofia nahm einen Schluck von ihrem Alt. »Wir reden hier davon, unsere Erde für uns zu erhalten. Frische Luft, sauberes Wasser. Wer will das nicht? Deshalb sollte man eigentlich auch nicht sagen, man tut etwas für die Natur. Man tut etwas für sich selbst. Reiner Egoismus.«

Dennoch hatte sie Sofias Einladung, in der Altstadt etwas trinken zu gehen, nicht ausgeschlagen, als sie nach dem Training in die Dreizimmerwohnung in Bilk gekommen war. Sie hatte gespürt, dass es genau das Falsche gewesen wäre, jetzt allein im Bett zu sitzen und über ihren seltsamen Anfall nachzugrübeln.

Die sechsundzwanzigjährige Halbspanierin Sofia studierte Biologie im Master und bildete den sozialen Fixpunkt dieser Familie. Sie engagierte sich in einem Umweltverein und schmiss öfter Partys bei ihnen in der Küche, bei denen am offenen Fenster gekifft und am Tisch über die Rettung des Planeten philosophiert wurde. Gereon, der dritte Mitbewohner, arbeitete laut Sofia bei der Stadtplanung. Ansonsten war er ein Phantom. Hätte Rabea ihn nicht einmal zufällig frühmorgens durch die Küche huschen sehen, würde sie seine Existenz bezweifeln.

Kürzer

»Ich werde auch niemals Kinder in die Welt setzen, solange sich nichts ändert«, fuhr Sofia fort. »Die sollen doch nicht in irgendwelchen Kriegen um die letzten Rohstoffe und Wasserquellen kämpfen. Oder an dreckiger Luft verrecken.«

In Sofias kastanienbraunen Augen flammte Enttäuschung auf. Sie zog einen Schmollmund. »Increíble! Rabea-bea-bea, das kann doch nicht dein Ernst sein! Aber gut …«

Rabea verdrehte die Augen. Am liebsten hätte sie dem Typen gleich eine Ohrfeige gegeben, aber sie hielt sich zurück. Für heute hatte sie schon genug ausgeteilt.

Rabea schüttelte nur den Kopf. »Ich muss aufs Klo.«

Kürzer»Schau dir diesen Mordfall an. Gerade auf Sylt entdeckt worden.«