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Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage April 2015)

© 2015 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/neuebildanstalt

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-563-2

 

 

Killen McNeill

 

Am Strom

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Inhalt

Vorspann: Kasbärbel 2013

 

Teil 1 – 1968

Kapitel 1: Zigaretten und alte Milch

Kapitel 2: Eine neue Dauerwelle

Kapitel 3: Die Donauinsel, Mai 1968

Kapitel 4: Mehr iffeff net

Kapitel 5: Einnorden

Kapitel 6: Enttäuschungen

Kapitel 7: Wiesbaden

Kapitel 8: Weiß der Geyer

Kapitel 9: 21. August 1968

Kapitel 10: Treiben lassen

Kapitel 11: Jens kommt zurück

 

Teil 2 – 2010

Kapitel 12: Das dritte Glas

Kapitel 13: Marius

Kapitel 14: Wemwasantun

Kapitel 15: Keine Angst vorm Fliegen

Kapitel 16: Experimente mit Vögeln

Kapitel 17: Wikipedia Heinrich Kühlwein (Henry Coolwine)

Kapitel 18: www.weingartshausen.de

Kapitel 19: Die Mauer

Kapitel 20: Wetten, dass?

Kapitel 21: Rettungsset

Kapitel 22: Seiltanzen

Kapitel 23: Zweiundsechzig

Kapitel 24: Glauben

Kapitel 25: Gauß’sche Kurven

Kapitel 26: Ein verstautes Leben

 

Teil 3 – 1980

Kapitel 27: Opa zeigt es allen

Kapitel 28: Anne

Kapitel 29: Eine Lebkuchentruhe

Kapitel 30: Die Waldfee

Kapitel 31: Die Salzteigfamilie

 

Teil 4 – 2010

Kapitel 32: Der König im Quackenschloss

Kapitel 33: Die Weberin

Kapitel 34: Prawda

Kapitel 35: Feedback-Bogen

Kapitel 36: Mein letztes Buch

Kapitel 37: Life is live

Kapitel 38: Erwin kommt zurück

Kapitel 39: Krisenmanagement

Kapitel 40: Ein anderes Leben

 

Teil 5 – 2013

Kapitel 41: Tendenz erkennbar

Kapitel 42: Familie

Kapitel 43: Four Roses

Kapitel 44: Videorekorder

Kapitel 45: Das ganze Jahr Weihnachten

Kapitel 46: Ein neuer Anfang

Kapitel 47: Flüsse

Kapitel 48: Steinehüpfen

Kapitel 49: Der perfekte Wurf

 

Nachspann

Danksagung

Der Autor

 

Vorspann: Kasbärbel 2013

»Mensch, Jelly, pass auf den Franz Josef Strauß auf«, sagt Erwin. »Du bist ja schon in seinem Nasenloch drin.«

»Uups. Habe ich gar nicht gesehen.« Die Spitze des weiß-blauen Schirms, an dessen Klettverschluss ich herumfummele, wackelt tatsächlich gefährlich nah vor einem Franz-Josef-Strauß-Bierkrug. Dieser steht in einem Regal gleich rechts beim Ladeneingang als Teil einer weiß-blauen Devotionalienorgie: ein Rudel Plüschlöwen, eine Phalanx Espressotassen, eine Pyramide Würfel, ein Nadelkissen mit Fähnchen. Daneben liegt ein Stapel Bayernkuriere.

»Was willst du denn überhaupt mit dem Ding?«, fragt Erwin.

»Es regnet draußen, oder hast du das nicht gemerkt?«

Irgendwo in den niederen Regionen des Ladens rauscht eine Klospülung.

»Ja und?«, fragt Erwin. »Ich laufe nicht mit dir, wenn du so was trägst. Höchstens zwanzig Meter voraus oder hinterher.«

»Alles klar. Lieber pitschnass als tiefschwarz.« Ich lege den Schirm wieder ins Regal und hole stattdessen einen Bayernkurier heraus. »Wenigstens den nehme ich mit. Man weiß ja nie.«

»Wegen mir«, sagt Erwin. »Solange du mir nicht daraus vorliest.«

Ich trete einen Schritt zurück. »Da war früher der Holzofen, weißt du noch?«

»Genau. Und im Winter haben wir es nie warm gekriegt.« Erwin nimmt den Bierkrug aus dem Regal, fährt mit dem Daumen über die Knollennase, wippt ihn am Stiernacken hin und her. »Wahnsinn. Stell dir vor. In unserem Laden.«

In der Tür hinter dem Tresen erscheint eine stattliche, blond gesträhnte Dame mit Brille, die sich die Hände trocken schüttelt, mit einer Bewegung, als wollte sie unliebsame Umstehende verscheuchen. Sie erstarrt mit erstauntem Blick, die Handflächen nach außen verdreht. »Grüß Gott«, sagt sie.

»Grüß Gott.«

»Grüß Gott.«

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir schauen uns nur etwas um«, sage ich.

»Weil das früher unser Laden war«, ergänzt Erwin.

»Bitte, gerne.« Sie kommt plötzlich wieder in Bewegung, setzt sich flink hinter den Tresen und beschäftigt sich mit einem PC.

»Schau her, Erwin, wer da hängt.« Ich deute auf das Plakat, das vor der Dame prangt, dort, wo früher auch unsere Plakate hingen, an der Glasfront des Tresens. Vor meinem Zeigefinger grinst Horst Seehofer sein wölfisches Grinsen, hinter ihm ein weiß-blauer Himmel.

»Wahnsinn«, sagt Erwin noch mal.

Die Dame schaut hoch. »Wen haben Sie denn in einem CSU-Büro erwartet? Sigmar Gabriel?«

»Es ist bloß so, dass der Seehofer uns früher nicht über die Türschwelle gekommen wäre«, sage ich.

»War der für oder gegen den Kanal?«, fragt mich Erwin.

»Wahrscheinlich beides.«

»Na, na, na«, sagt die Dame und schüttelt den Kopf.

Ich mache die Tür noch einmal auf und wieder zu. »Aber die Klingel ist noch die alte.«

»Die Klingel haben wir vom Vorgänger übernommen«, sagt die Frau. Sie hat eine Telefonstimme, tief, sympathisch, und spricht Hochdeutsch ohne eine Spur des Niederbayerischen. Sie ist auch eine Telefonschönheit; mit einem kleinen, lächelnden Mund zwischen zwei dicken Backen, die sich zu einem Doppelkinn ausbreiten, das auf einem roten Schal gemütlich wabbelt. Sie ist aber gut geschminkt, hat welliges Haar und funkelnde Augen hinter einer auffallend großen, schwarzen Brille.

»Und der hat sie von uns übernommen«, sagt Erwin.

»Und wir haben sie von der Kasbärbel übernommen. Haben Sie von der Kasbärbel schon gehört?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf, das Doppelkinn folgt den Backen kurz zeitversetzt.

»Sie hat hier einen Milchladen gehabt«, erzählt Erwin. »Die Hoetzls Barbara. Hatte eine Riesenwarze an der Nase. Als wir den Laden übernommen haben, war die Milchpumpe noch da. Da, wo Sie sitzen, hinter dem Tresen.«

Die Dame hebt wieder beide Hände in einer bedauernden, aber verzeihenden, fast papstähnlichen Geste.

»Wir haben versucht, sie zur Bierpumpe umzurüsten«, erkläre ich. »War natürlich eine Pleite. Das heißt, technisch hat’s funktioniert, aber das Bier hat komisch geschmeckt.«

Sie schaut von einem zum anderen, wie bei einem Tennisspiel. »Kann ich mir vorstellen.« Sie lacht plötzlich auf. Wir scheinen eine angenehme Abwechslung an ihrem Nachmittag darzustellen.

Erwin zeigt auf das Plakat. »Wissen Sie, wer zu unserer Zeit dort hing?«

»Kaiser Wilhelm vielleicht?«, fragt die Dame und zwinkert einmal mit den Augen.

Erwin lacht und bedroht sie mit dem Zeigefinger. »Frech«, sagt er. »Aber ganz kalt. Da hing Che Guevara!« Er reckt die geballte rechte Hand.

Sie nickt. »Habe ich schon mal gehört.«

»Und Jimi Hendrix«, sage ich. »Mit einer Riesenafrofrisur.«

»Stimmt«, sagt Erwin. »Hatte ich ganz vergessen. Und Bonnie und Clyde, weißt du noch?«

»Klar. Mit Einschusslöchern. Und noch irgendwas mit Afro­frisuren. Außer dem Jimi Hendrix, meine ich.«

»Hair, natürlich. Und Frank Zappa.«

»Genau. Nackert auf dem Klo.«

Erwin hält die rechte Faust immer noch hoch. »¡Lo importante es la revolución, lo importante es la causa revolucionaria, las ideas revolucionarias, los objetivos revolucionarios, los sentimientos revolucionarios, las virtudes revolucionarias!« Er lässt die Stimme zum Schluss dramatisch anschwellen; Spanisch kann er noch richtig gut, mit rollendem ›r‹ und perfekt artikuliertem ›th‹.

»Das war aber nicht Frank Zappa«, sage ich.

»Es war auch nicht Che«, sagt Erwin. »Das war Castro höchstselbst. Bei der Trauerrede zu Ches Tod.«

Die Dame wirkt gar nicht erschrocken. »Die waren aber alle nicht in der CSU«, sagt sie mit tadelnder Stimme.

»Wir auch nicht«, sage ich.

»Wollten Sie vielleicht heute beitreten?«

Jetzt lachen wir alle drei.

»Waren Sie 1968 schon auf der Welt?«, fragt Erwin.

Sie schüttelt bedauernd den Kopf, so, als wäre es ihr bewusst, ein ganz tolles Konzert verpasst zu haben.

»Wir hatten damals den Laden gemietet«, sagt Erwin.

»Für die Linke Schülerfront«, füge ich hinzu.

Die Dame formt ein ›o‹ mit ihrem Mund und hebt ihre Augenbrauen. Sie spielt ein unschuldiges Mädchen, das sich gleich einen unanständigen Witz von bösen Buben anhören muss. Hinter ihr hängt ein riesiges Luftbild von Kelheim mit dem Donaudurchbruch und Kloster Weltenburg. Darunter steht »Donaudurchbruch – ein starkes Stück Bayern«.

»Schah-Besuch, Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke«, sagt Erwin.

»Ho, Ho, Ho Chi Minh!«, sage ich. »Notstandsgesetze.«

Sie nickt ganz langsam und verständnisvoll, als wollte sie beruhigend auf uns einwirken, bevor wir ganz ausflippen.

»Wir waren vier, die immer abwechselnd auf Ihrem Platz da hinter dem Tresen saßen«, sagt Erwin.

»Und?«, fragt die Dame. »Haben Sie die Welt verändert?«

Erwin schüttelt den Kopf. »Alle gescheitert. Zwei von uns waren ein Paar, haben geheiratet und sich aus der Politik verabschiedet, sind ganz spießig geworden, mit Eigenheim, Kindern und allem. Nach fünfunddreißig Ehejahren haben sie sich getrennt.«

»Er meint Else und mich«, sage ich. »Einer ist durchs Abitur gesaust …«

Erwin lacht. »Absichtlich.«

»… durchs Abitur gesaust, hat die Schule geschmissen, lebt seitdem mehr schlecht als recht von Gelegenheitsjobs.«

»Das bin ich«, sagt Erwin mit etwas Stolz.

»Und der vierte ist damals schon gestorben, 1968, auf der Donauinsel.« Ich laufe hinter die Theke und deute auf das Bild, auf die von Bäumen überwachsene Bucht schräg gegenüber dem Kloster. »Da.«

»Wahnsinn«, sagt die Dame.

»Und da fahren wir heute noch hin«, sagt Erwin. »Mit dem Boot.«

»Das erste Mal seit 1968.«

Mit unseren Rucksäcken stehen wir vor ihr wie zwei Jungs, die Lob bekommen wollen, vor der Lehrerin. Dabei sind wir beide Mitte sechzig, der Erwin ein Naturbursche in kurzer Hose, mit braunen Armen und Beinen knorrig wie alte Weinstöcke, ich glatzköpfig und aus der Form geraten.

»Wahnsinn«, wiederholt sie und macht große Augen.

»Wissen Sie, was sich, außer der Klingel, nicht verändert hat?«, fragt Erwin. »Nein, natürlich wissen Sie’s nicht. Der Geruch.«

»Genau«, sage ich. »Von alter Milch.«

Die Dame schnuppert vorsichtig. »Ich rieche nichts«, sagt sie.

 

Teil 1 – 1968

 

Kapitel 1: Zigaretten und alte Milch

»Also, wer fällt durchs Abitur?« Jens musterte uns einen nach dem anderen durch seine John-Lennon-Brille. Erwin, Else, mich.

»Wieso? Wird das hier jetzt ein Nachhilfeinstitut, oder was?«, fragte ich.

Wir hatten uns nach der Schule im Kasbärbel getroffen. Vorne die Theke, auf der unsere Ausgaben der Linken Schülerfrontzeitung gestapelt lagen. Wir saßen hinten, umhüllt von Schwaden unserer eigenen Roth-Händle. Erwin, Else und ich auf dem abgewetzten Sofa, Else in unserer Mitte, Jens gegenüber, zwischen uns und Jens ein abgeschlagener, kleiner runder Holztisch mit einem überquellenden Aschenbecher.

Jens setzte die Brille ab und fing an, sie am Saum seines Fidel-Castro-T-Shirts zu putzen. Das war seine Art, uns mitzuteilen, dass meine Frage unter seinem Niveau war, er sich erst mal sammeln musste, Zeit brauchte, um eine Antwort zu formulieren, die auch von jemandem wie mir verstanden werden konnte.

Egal. Elses rechte Hand ruhte derweil auf ihrem Oberschenkel. Ihre Finger waren etwas gespreizt, und der kleine berührte den Saum ihrer Jeans. Ich legte meine linke Hand ebenso auf meinen linken Oberschenkel. Nur ein paar Zentimeter trennten unsere kleinen Finger.

»Jemand von euch muss doch durchs Abitur fallen.« Jens redete nun zu seiner Brille hinunter, und seine näselnde Stimme drang durch einen Vorhang von langen, schwarzen Haaren. »In der zwölften Klasse ist niemand Mitglied bei der Linken Schülerfront. Wenn ihr nach dem Abitur alle von der Schule geht, ist es mit der Front vorbei. Jemand muss die Strukturen aufrechterhalten und nächstes Jahr neue Mitglieder anwerben.« Er hob die Brille hoch, schaute hindurch, schüttelte den Kopf, senkte ihn, der Vorhang fiel wieder zu, Jens hauchte die Brille an und putzte weiter. »Ich kann es nicht machen, ich muss nächstes Jahr an der Uni Regensburg Schriftführer beim KHSV machen.«

»Beim was?«, fragte ich.

Jens schüttelte wieder den Kopf, und seine Haare schwangen wie ein Tanzkleid. »KHSV. Der kommunistische Hochschulverband.«

»Wenn du noch einmal den Kopf schüttelst«, sagte ich, »kannst du die Schülerfrontzeitung selber verteilen. Ich habe deine Runde die letzten zwei Male übernommen, weil du dauernd in Regensburg bist.«

Jens schaute hoch, strich seine Haare nach beiden Seiten weg und zeigte uns sein bleiches Gesicht, das er frei von jeglichem Ausdruck gewischt hatte. Er schüttelte nicht den Kopf. Er schloss die Augen ganz langsam. Vielleicht hoffte er, wo­anders zu sein, wenn er sie wieder aufmachte. Andere Menschen vor sich zu haben. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und öffnete die Augen wieder.

»Wir sind’s noch«, sagte ich. »Und überhaupt, kauf dir deine eigenen Lungenbrötchen.«

Kontakt. Ich spürte das warme, weiche Kissen der rechten Seitenfläche von Elses kleinem Finger auf meinem kleinen Finger. Wir berührten uns. Wer hatte den Finger bewegt? Ich, behauptete Else später immer. Sie, meine ich heute noch. Auf jeden Fall zog keiner von uns den Finger zurück.

»Was?«

»Lungenbrötchen. Kippen. Zi-ga-ret-ten. Dauernd gehen dir die Kippen aus, und du rauchst meine.«

Jens hatte sie auch gesehen, unsere Hände. Sein Blick flackerte kurz verunsichert von Else zu mir und wieder zurück. Er räusperte sich. »Also, wer?«

»Wenn’s darum geht«, sagte ich, »hab ich meinen Teil schon getan. Ich bin letztes Jahr schon durchgefallen.«

Else kicherte. Ja! Dieses Kehlige, das ich liebte.

»Ich habe gar nicht gewusst, dass du dich für die Sache so engagierst, Jelly«, sagte Jens.

»Ja, da kannst du mal sehen. Und noch mal geht nicht. Da bin ich dann draußen.«

»Da kann er höchstens Die Linken Arbeitslosen gründen«, sagte Else. »Und was mich angeht, mir nimmt das eh keiner ab.«

Das stimmte. Else war viel zu gut in der Schule. Lauter Einser und Zweier. Sie konnte gar nicht anders.

»Also Erwin?«

Ich hatte fast vergessen, dass Erwin da war, dass er auf Elses anderer Seite saß. Er hatte bisher nichts gesagt. Das machte er oft. Er war ein kräftiger, untersetzter Kerl mit krausen blonden Haaren und einem offenen Gesichtsausdruck, die Augen hellblau und weit auseinander liegend. Diese Wettkämpfe zwischen Jungs in der Pubertät, bei denen verliert, wer zuerst zwinkert, hatte er immer gewonnen. Meistens trug er Holzfällerhemden. Erwin und ich kamen aus zwei verschiedenen Welten. Mein Vater hatte unten in Kelheim ein gut gehendes Elektrogeschäft, Elektro Jelinek, ehemals Holzapfel. Sein Vater war Landmaschinenmechaniker oben im Arbeiterviertel von Ihrlerstein, und Erwin hatte etwas von einem robusten, verlässlichen Bulldog an sich, einem Bulldog, der, einmal angeworfen, keine Macken hatte und keine besondere Pflege brauchte. Ich kannte Erwin seit der Grundschule, wir hatten in der vierten Klasse die gleichen guten Noten, zu mir hatte der Lehrer gesagt, ich soll aufs Gymnasium gehen, zu ihm, er soll in der Volksschule bleiben. »Was willst du denn auf dem Gymnasium?«, hatte der Lehrer zu ihm gesagt. »Bist ein Arbeiterkind.« Seine Mutter hat’s ein Jahr später doch durchgesetzt.

»Ich mach’s«, sagte er jetzt und nickte langsam. »Ich fall durch.«

»Mensch, Erwin, überleg’s dir gut«, sagte Else. »Was sollen deine Eltern sagen?«

»Bei mir wundert sich keiner, wenn ich durchfalle. Ein Jahr macht nix aus. Für die Sache. Ich fang sofort damit an. Morgen, mit dem Kunz in Mathe. Ich freu mich schon.«

»Dann ist alles klar«, sagte Jens. »Ich habe zu tun. Ich muss gehen.« Er stand auf.

»Wir räumen hier noch auf«, sagte Else.

»Ich bin mit dem Spülen dran«, sagte Erwin und griff zum überquellenden Aschenbecher.

»Lass bleiben, Erwin«, sagte Else. »Jelly und ich machen das schon.«

»Ich hab eh nix zu tun.«

»Mensch, Erwin! Merkst du nichts? Du hast auch zu tun«, sagte Jens. »Du musst auch gehen.«

Erwin schaute ihn an, dann uns. »Ach so.«

Else und ich fingen an, die herumstehenden Tassen und Aschenbecher einzusammeln, während Jens und Erwin hastig ihre Parkas anzogen und sich auf den Weg machten. Die Glocke an der Ladentür bimmelte einmal. »Pfiat eich«, rief Erwin.

»Tschüss, ihr zwei. Macht nichts, was ich nicht machen würde«, sagte Jens. Bimmel.

Arschloch, dachte ich mir.

Auf einmal war eine Stille da, die nur vom Scheppern des Geschirrs unterbrochen wurde. Else stand an der Spüle, mit dem Rücken zu mir. »Jens hat früher immer gesagt, du wärst nicht mit der richtigen Überzeugung dabei«, sagte sie.

Ich umarmte sie von hinten, so, wie ich es seit Monaten machen wollte, und flüsterte ihrer linken Wange zu. »Jens hat recht. Ich bin nur wegen dir dabei, weißt du denn das nicht?«

Sie drehte sich um.

 

So fing es an mit Else und mir. Ich brauche nur im Tagebuch nachzuschlagen, das ich am selben Abend begann und bis zum Ende jenes Sommers führte, und alles ist wieder da, Geräusche, Gerüche, Gespräche.

Vor dieser Zeit war Else mit Jens zusammen gewesen. Als ich durchs Abitur flog und die dreizehnte Klasse wiederholte, landete ich in ihrer Klasse. Da waren die beiden schon seit zwei Jahren ein Paar. Unzertrennlich. In ganz Kelheim bekannt. Er war hier im Internat, aus reichem Hause in Wiesbaden, sein Vater besaß die Hassoldwerke, eine Auspufffabrik, die BMW, Mercedes und Audi belieferte. Jens hatte immer Geld. Die Linke Schülerfront hatte er aus seiner alten Schule in Frankfurt mitgebracht. Else war von Anfang an dabei. Vom ersten Tag an trug Jens einen langen, ausgefransten Lodenmantel und einen Tirolerhut mit Feder, selbst an den heißesten Tagen. Einmal, bei einer Anti-Vietnam-Demo, war er in ein Fass in der Form einer riesigen Coca-Cola-Dose geschlüpft. Das Fass hing an Schnüren von seinen Schultern, schwang rauf und runter, haute ihm immer wieder rumpelnd auf die Knie, während er lief, und der Schriftzug Coca-Cola war natürlich antiamerikanisch-antiimperialistisch durchgestrichen. Darunter trug er immer noch seinen Lodenmantel, obwohl ihn keiner sehen konnte. Es war ein relativ warmer Septembertag, und er schwitzte wie eine Sau. Typisch Jens. Konnte nicht einfach mit einem Plakat herumrennen wie jeder normale Mensch.

»Warum machst du das?«, fragte ich ihn.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem du es machst. Vermutlich«, antwortete er keuchend aus seinem Fass.

»Ich laufe hier nicht in einem Fass herum, und ich trage auch keinen Lodenmantel.«

»Ach so. Der Lodenmantel ist eine Aussage.«

»Was sagt er aus?«

»Es ist Ironie, verstehste.«

 

Und wo kam auf einmal so was wie Else her?, frage ich mich heute noch. Aus der kuschenden, erzkatholischen, obrigkeitshörigen, rotgesichtigen, rothaarigen, dickleibigen Metzgereidynastie Schönamsgruber, die alle aussahen wie die eigenen Schweine und die jedem Pfarrer eine Extrawurst mitgaben. Wie konnte das sein? So eine schlaue, zierliche, furcht- und respektlose, gerechtigkeitssuchende, hübsche Person mit schwarzen, lockigen Haaren, die kein Blatt vor den Mund nahm. Unerklärlich. Eine Mutation, wie sie solche Zeiten hervorbringen. 1968 eben. Sie himmelte Jens an, das konnte jeder sehen.

Und dann betrog Jens Else Anfang Oktober auf der Klassenfahrt nach Straßburg mit Conny im Schullandheim, und zwar nicht nur einmal, sondern während der ganzen Fahrt. Mit Conny, die nicht in der Front war, auch nicht in der Jungen Union, die, in der Zeit, als alles politisch war, als einige in der Roten Front selbst die Schafkopfregeln ändern wollten (Unter sticht Ober), so politisch war wie eine Metzelsuppe, radikal nur, was die Kürze ihrer Minikleider betraf, und die einen Augenaufschlag wie aus der Stummfilmzeit hatte.

Wochenlang ging Else mit gesenktem Kopf und verheulten Augen in die Schule. Sie nahm ab. Aber sie verpasste kein Treffen der Linken Schülerfront, keine Vietnam-Demo, keine Plakatierungsaktion, keinen Redaktionsschluss der Linken Schülerfrontzeitung. Und langsam arbeitete ich mich an sie heran, anfangs mit einem Artikel über ein Thema, von dem ich wusste, dass es sie interessierte: die Schülermitverwaltung. Dann Schah-Besuch und Benno Ohnesorg. Vietnam. Das alles führte zu diesem Nachmittag im Kasbärbel, der auf dem Sofa endete, um uns herum der Geruch von Zigaretten und alter Milch. Danach waren Else und ich ein Paar. Zweiundvierzig Jahre lang.

 

Kapitel 2: Eine neue Dauerwelle

Am nächsten Tag, einem Dienstag, machte uns Erwin klar, wie er durchzufallen gedachte.

Erste Stunde: Mathe mit Kunz. Kunz war ein untersetzter, breitschultriger Kerl, der dauernd grinste, mit dicken roten Backen wie ein Bauer. Es dauerte nicht lange, bis man als Schüler merkte, dass sein Grinsen nichts Freundliches verhieß. Es war mehr ein festgefrorenes Lächeln, wie bei der Puppe eines Bauchredners. Was es ausdrückte, war, dass nichts und niemand um ihn herum ernst zu nehmen war. Nicht deine Person, nicht dein Respekt, nicht deine Angst, nichts an dir. Es hieß, er sei im Zweiten Weltkrieg in einem U-Boot abgesoffen und seitdem Sadist. Das Wort Psychopath kannten wir damals nicht, aber es wäre zutreffender gewesen. Ich glaube, es hat kein U-Boot und keinen Weltkrieg gebraucht, um aus Kunz einen Psychopathen zu machen. Ich glaube, er war schon vorher Psychopath. Ich glaube, er ist als Psychopath auf die Welt gekommen und hat seine Mutter im Wochenbett bereits so angegrinst. Du glaubst wohl, du wirst mit mir Freude haben, wird er sich gedacht haben. Das ist lustig. Da lache ich drüber. Ha ha.

Im Schulhaus hatte er es immer eilig und kam trotzdem jedes Mal zu spät zum Unterricht. Man musste vor Kunz auf der Hut sein, er nahm auf niemanden Rücksicht. Er schaute ständig nach unten, seine linke Hand strich immer wieder die langen, fettigen Haarsträhnen, die nach vorne fielen und seine Glatze freigaben, zurecht. Er lief wie gegen einen Sturm, streckte Kopf und Büchertasche so schwerkraftverachtend voraus, dass man meinte, er müsse vornüberfallen wenn plötzlich eine Windstille einsetzte. Dagegen hätte keiner etwas gehabt. Aber laut gelacht hätte auch keiner. Einmal bin ich als junger Schüler mit ihm zusammengestoßen, weil ich mich mit Freunden unterhielt und ihn nicht kommen sah. Es war, als würde ein mit Pflastersteinen beladener Gabelstapler auf einen auffahren. Danach lag ich schmerzverkrümmt auf dem Gang, und er drehte sich nicht einmal um.

Die Schulleitung ließ ihn normalerweise nur auf die jüngeren Jahrgänge los, für die älteren setzte sie Lehrer ein, die den Schülern tatsächlich etwas beibringen konnten. Nur in unserem letzten Schuljahr tat sich ein Engpass auf, und ich fand mich wieder in der Arena mit Kunz, den ich von den ersten Jahren auf dem Gymnasium noch zu gut kannte.

Mit uns älteren Schülern verband ihn ein eigenartiges Verhältnis. Ihr kennt mich, sagte uns sein Grinsen. Ihr wisst, wozu ich fähig bin. Ich muss es nicht mehr zeigen. Oder? Wozu er fähig war, das waren zielgenau geworfene Schlüsselbunde, die Schüler am Kopf trafen, Schellen, die Schüler von ihren Stühlen schleuderten, Büschel herausgerissener Haare, Zähne im Mund von Fünft- und Sechstklässlern, die vor Angst so klapperten, dass ihre Besitzer kein Wort mehr herausbrachten, und einmal waren es auch Zähne, die eine besonders heftige Schelle vom Kunz aus dem Mund meines Nachbarn herausbrach. Sie huschten über das graue Linoleum wie zwei kleine weiße Mäuse, unterwegs überholte die rechte die linke, und prallten gegen die Holzleiste unten an der Wand. Ich höre das Geräusch heute noch. Klack, klack. Und das stille Heulen meines Nachbarn. Dieses zitternde, rotzige Schluchzen. Wie er versuchte, sein Wimmern zu unterdrücken. Und ich sehe das Blut aus seinem Mund tropfen und auf sein Matheheft fallen. Pflatsch, pflatsch.

Kunz brüllte ihn an, und dabei grinste er immer noch: »Geh doch endlich auf den Abort, du Jammerlappen!«

 

An diesem Tag dachte ich an all das nicht, auch nicht an Erwins Vorhaben. Mir war selbst Kunz egal. Mein Kopf war voll von dem gestrigen Abend, von Else, von Elses Umarmungen, von ihrer Stimme, von ihren Küssen, von ihren Seufzern, von ihrer Wärme. Ich betrachtete sie von hinten. Ich konnte meine Augen gar nicht von ihr abwenden. Sie saß eine Reihe vor mir, schräg links. Ich sah gerade noch ihren Mundwinkel. Sie lächelte. Sie wusste, dass ich sie beobachtete. Und langsam fiel mir etwas auf. Ihre Haare. Ich hatte sie als leicht gewelltes Bündel in Erinnerung, das immer wieder sanft an meinen Händen abgeprallt war, als ich sie gestern auf der Couch gestreichelt hatte. Aber nun war aus dem gewellten Bündel ein krauses geworden. Wie war das möglich?

Irgendwann währenddessen muss Kunz in das Klassenzimmer gestürmt gekommen sein, muss seine Büchertasche auf das Pult geknallt haben, muss »Guten Morgen, meine Herren« gesagt haben, obwohl die Klasse zu einem Drittel aus Mädchen bestand, Mädchen ignorierte Kunz einfach, muss das Kelheimer Tagesblatt aus seiner Tasche geholt, die Sportseite aufgeschlagen und auf seinem Pult ausgebreitet haben. Dann wird er seinen grinsenden Blick über die Klasse haben schweifen lassen. Niemand wird Blickkontakt zu ihm aufgenommen haben, weil er in diesem Moment auf der Suche nach seinem Opfer war, das die Hausaufgabe an der Tafel würde vorrechnen müssen. Es wird absolut still gewesen sein.

Aber an diesem Vormittag sagte jemand von hinten: »Herr Kunz, nehmen Sie mich dran.« Das war das Erste, das ich, außer Else, von der Schulstunde überhaupt wahrnahm. Das hatte es noch nie gegeben, nicht mal von unseren besten Matheschülern. Das weckte mich aus meinen Träumereien. Ich drehte mich um, wie alle anderen auch.

Erwin saß da mit erhobener Hand.

»Was fällt Ihnen ein, Stadelbauer?« Kunz grinste. »Meinen Sie, wenn Sie einmal die Hausaufgabe gemacht haben, kommen Sie auch noch dran?«

»Das ist es ja, Herr Kunz. Ich hab sie eben nicht gemacht. Ich hab gemeint, jetzt hab ich die Hausaufgabe dreimal hintereinander gemacht, nix hat’s genutzt, nie hat er mich aufgerufen, nicht mal angeschaut hat er sie, jetzt mach ich sie nicht und melde mich und schau, was passiert.«

Den Bruchteil einer Sekunde schien Kunz zu zögern, dann sagte er: »Können wir gleich haben. Kommen Sie raus.«

 

Ich war nicht gut in Mathe. Mathe war für mich wie eine Fremdsprache, die ich nicht verstand, so in etwa wie Latein. Ich kannte ein paar Floskeln, die mir weiterhalfen, aber ich hätte mich niemals richtig unterhalten können. Eine Fremdsprache, die sich einfach weiterentwickelte und veränderte, sobald man sich einbildete, etwas davon begriffen zu haben. Die Torpfosten hatten sich verschoben. Hatte ich unechte Brüche kapiert, kamen schon Flächenformeln. Blickte ich da halbwegs durch, waren wieder geltende Ziffern angesagt. Und bei Funktionen war ich sowieso ganz verloren. Gar keine Torpfosten mehr. Tor, Spielfeld, alles verwischt, Feindesland, in dem es galt, nicht aufzufallen, möglichst auf dem Bauch zu kriechen, damit man nicht angeschossen werden konnte. Und wenn Kunz einen an die Tafel holte, dann war man allen Geschützen ausgeliefert.

Jetzt stand aber Erwin an der Tafel, seitlich zur Klasse. Sein breites Kreuz in einem Holzfällerhemd, seine stämmigen ­O-Beine und sein strammes Gesäß in einer Jeans. Ich fühlte das, was ich immer fühlte, wenn ein anderer an der Tafel stand und nicht ich und man ziemlich sicher sein konnte, dass sein Auftritt die ganze Stunde ausfüllen würde, nämlich eine Riesenerleichterung. Ich hatte zwar die Hausaufgabe von Else abgeschrieben, hatte aber keinen blassen Schimmer, worum es darin ging.

Kunz saß an seinem Pult links vor der Tafel, auf dem Podest, auf dem die Tafel auch stand, er und Erwin wie auf einer Bühne. Solange Kunz noch saß, war alles in Ordnung. Solange er von seinem Stuhl aus nur gehässige Bemerkungen von sich gab (»Ach, Jelinek, an Ihnen ist ein Maurer verloren gegangen«), konnte es dem armen Wurm an der Tafel egal sein. Gefährlich wurde es, wenn er aufstand. An das Gefühl kann ich mich heute noch erinnern: wenn man das Rascheln seiner Zeitung hörte, wie er sie zusammenfaltete, dann das Schaben seines Stuhles, als er ihn zurückschob, und dann seine Schritte, die sich von hinten näherten, bis er direkt hinter einem stand. Und man wartete auf seine Stimme. »Weiter, Jelinek.« Dann war es schlimm. Dann wartete man auf den Schlag auf den Hinterkopf, der die Stirn gegen die Tafel prallen ließ. Diese zwei aufeinanderfolgenden Laute: latsch, bumm.

Aber Erwin stand ganz anders da als die anderen Schüler, auffordernd schaute er zu Kunz, fast neugierig. »Also?«, sagte er dann. »Packen wir’s, Herr Kunz!«

Kunz lehnte sich zurück, holte ein zusammengeknülltes Zigarettenpapier aus seiner Jackentasche hervor, strich es auf dem Pult glatt und las: »Gegeben ist die Funktion f: x y = 2e2x – 2 mit maximaler Definitionsmenge D.«

Erwin schrieb es an die Tafel.

»Geben Sie D an und bestimmen Sie das Verhalten von f an den Rändern von D.«

»Ja, das f, ja wie wird sich das f verhalten?«, sinnierte Erwin. Er legte die Arme übereinander und ging einen Schritt zurück. »Mmmmm. Da an den Rändern. Vielleicht fühlt sich das f ausgegrenzt. Das will bestimmt nicht so draußen sein. Da würd es mir auch nicht gefallen. Ich glaub, ich tu das f da hinein, da fühlt es sich nimmer so alleine.« Und er schritt wieder nach vorne und setzte das f vor 2e.

Ein Raunen ging durch die Klasse.

Kunz betrachtete ihn eine Weile. Dann faltete er seine Hände hinter dem Kopf. »Wollen Sie mich verarschen, Stadelbauer? Was ist überhaupt das e für eine Funktion?«

»Das e, das e, ja, das ist eine gute Frage, Herr Kunz. Das frage ich mich schon die ganze Zeit.«

Kunz machte eine abwertende Bewegung mit seiner Hand. »Ach, wissen Sie, Stadelbauer, das hat doch alles keinen Sinn. Das wäre die mündliche Note Sechs. Aber, sehen Sie, Stadelbauer, ich bin doch gar nicht so … Machen Sie doch einen Kopfstand, dann kriegen Sie wenigstens eine Vier.«

Das kannten wir. Das war die letzte Stufe der Erniedrigung eines Schülers. Da machte Kunz Komplizen aus uns, die zuschauten. Wenn der Schüler dann da stand, mit hochrotem Kopf nach unten, wenn seine Schlüssel und sein Geld aus der Hosentasche fielen, wenn sein Hemd sich aus dem Hosenbund löste und seinen zitternden weißen Bauch freigab, sodass er aussah wie ein Schwein, das gleich geschlachtet wird, dann lachte die Klasse. Ich nahm mir vor, es nicht zu tun, aber ich wusste, andere würden es machen.

»Aha«, sagte aber Erwin. »Sind Sie wohl auch Sportlehrer, Herr Oberstudienrat? Machen Sie’s doch bitte schön mal vor.«

Niemand lachte, aber ein Zischen ging durch das Klassenzimmer, das Geräusch von dreißig Schülern, die gleichzeitig einatmeten. Dann Totenstille. So hatte noch niemand mit Kunz gesprochen. Dann ging alles ganz rasch. Ein Scheppern, als Kunz’ Stuhl nach hinten umfiel, weil er so überstürzt aufstand und auf Erwin losstürmte. Von seinem Pult zur Tafelmitte, vielleicht sechs Schritte, und so schnell, dass sein Oberkörper ganz nach vorne gebeugt war und seine Arme pumpten wie ein aufgezogenes Uhrenmännchen.

Erwin aber streckte seinen linken Arm aus, die Handfläche in Richtung Kunz geöffnet wie ein Polizist, der den Verkehr anhielt. Kunz musste, wenn er nicht in Erwins Hand laufen wollte, sofort stehen bleiben. Dabei flogen seine Haare nach vorne und hingen über sein Gesicht. Erwin sagte dann ganz ruhig, und dabei hielt er immer noch seinen Arm ausgestreckt: »Anbrüllen können S’ mich, Herr Oberstudienrat, einen Deppen nennen, aber wenn Sie mich anfassen, schlage ich zurück. Merken Sie sich das.«

Kunz holte mit seiner rechten Hand aus, um Erwins Hand wegzufegen. Aber als er zuschlug, zog Erwin seine Hand blitzschnell zurück, und Kunz’ Hand knallte mit einem laut vernehmbaren Knacks gegen die Tafel. Es klang wie damals bei uns im Garten, als wir beim Grillen saßen und ein Ast vom alten Apfelbaum abbrach und herunterfiel.

»Ahhhhh«, schrie Kunz, ging in die Knie und drehte sein schmerzverzerrtes Gesicht zur Klasse. Dann, leiser, »Oooooo«. Er hielt sein rechtes Handgelenk fest. Die Finger waren unnatürlich weit gespreizt, die ganze Hand war rot angelaufen und nach hinten gedreht. Unter der Haut am Gelenk schob sich eine runde Wölbung empor. Klarer Fall. Genauso wie das Foto im Erste-Hilfe-Kurs. Ein offener Bruch.

Kunz ging zur Tür, blieb davor stehen, offenbar, weil er seine Hand nicht loslassen wollte. »Macht mir hier keiner die Tür auf?«, schrie er.

Das war das letzte Mal, dass ich ihn brüllen hörte. Danach wollte keiner derjenige gewesen sein, der Kunz die Tür aufmachte, aber irgendjemand ist aufgestanden und hat es getan, ich bin mir fast sicher, es war Jens.

»Das ist eine mündliche Sechs«, sagte Kunz.

»Genau, Herr Oberstudienrat, das ist es«, sagte Erwin. »Aber keine Schelle und kein Kopfstand. Soll ich nun weiterrechnen, Herr Oberstudienrat?« Er bekam keine Antwort mehr. »Dann halt nicht«, sagte Erwin und legte die Kreide in die Ablage unter der Tafel.

Es ist so viel dazugedichtet worden seitdem, dass ich nicht mehr weiß, was genau danach passierte. In manchen Versionen gab es Applaus von der Klasse, in manchen sogar stehende Ovationen. Manche erzählen von einem regelrechten Boxkampf, bei dem Erwin Kunz k. o. schlug. Das stimmt alles nicht. Ich glaube, wir hatten alle Angst, dass Kunz wiederkommen würde und dass seine Rache furchtbar sein würde. Ich glaube, wir saßen alle einfach weiter im Klassenzimmer bis zum Gong. Ich glaube, erst dann war uns klar, dass Kunz nicht mehr zurückkommen würde, dass Erwin der Held der Stunde war. Wir alle standen auf und umringten Erwin an seinem Platz. Das weiß ich genau, weil ich hinter Erwin stand und Else vor ihm, also mir gegenüber, und ich sah, wie sie ihn mit großen Augen anschaute, und ich war das erste Mal in meinem Leben auf Erwin eifersüchtig.

»Du warst toll, Erwin«, sagte sie.

»Ach was«, sagte er. »Es muss einem auch mal was wurscht sein können.«

Ich weiß noch, wie ich nach etwas suchte, das ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken würde. Ich weiß noch, dass ich die Seite wechselte, mich hinter Else stellte und meine Hand auf ihre Haare im Nacken legte.

»Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?«, fragte ich. »Das geht mir schon die ganze Zeit durch den Kopf.«

Sie drehte sich um. Sie strahlte mich an. »Die neue Dauerwelle«, sagte sie. »Wenn man sie wäscht und in der Luft trocknen lässt, schaut sie so aus.«

 

Kapitel 3: Die Donauinsel, Mai 1968

Das Schiffshorn ertönte. Dann das Rauschen und Schwappen von Wellen auf Metall. Das letzte Schiff von Kloster Weltenburg nach Kelheim legte in der Abenddämmerung ab. Das mahlende Geräusch der Schiffsschrauben wurde stärker, schrumm, schrumm, schrumm. Langsam schob sich das beleuchtete Schiff ins Bild, in diese Kulisse aus Kiesstrand, Lagerfeuer, schwarzem, sich windendem Tau der Donau und der Felswand gegenüber. Man schaute vom Ufer aus zu, blickte wie auf eine Bühne, die sich langsam bewegte. Es wurde ein Stück gegeben, in dem gerade nichts los war, die Schauspieler wanderten unentschlossen hin und her, warteten auf Anweisungen, ein paar winkten dem Publikum zu, und das Ganze driftete nach links ab, das Mahlen wurde leiser. Das Gefühl, das mich jetzt überkam, war mir vertraut. Es war wie früher. Wie beim ersten Mal auf der Insel. Die Erwachsenenwelt verlässt einen, und man kann sie nicht zurückholen. Man ist jetzt alleine auf der Insel, den ganzen Abend und die ganze Nacht. Kurz ist es einem bange vor diesem herausfordernden Ungewissen, vor dem anwachsenden Dunkel, bis sich die Augen und der Kopf daran gewöhnen.

Was nun? Der Abend und die Nacht warten, groß und voller Abenteuer.

Das erste Mal, als ich hier übernachtete, war ich zehn, das war vor neun Jahren. Damals haben Erwin und ich hier ein Zelt aufgeschlagen, oder vielmehr unsere Väter für uns. Mit zwei Kanus sind wir von Kloster Weltenburg hierhergekommen. Dann haben Erwins Vater und meiner ein Feuer gemacht und gegrillt. Sie schienen sich gut zu verstehen, mit der selbstverständlichen, stummen Kameraderie von Männern, die sich gelegentlich bei irgendwelchen Arbeiten gegenseitig geholfen haben. Zwei ­Arbeiter eben, die ohne viele Worte zupackten. Erwins Vater sah aus wie Erwin, nur älter, und sein Blick war milder.

Es war ein Einweihungsritual in eine geheime Welt, eine Welt außerhalb der normalen mit ihren ganzen Gesetzen. Auf der Donauinsel hatten Generationen von Buben ihre Jugend verbracht. Sie ist keine richtige Insel, mehr ein Ufer, aber das Hinterland ist von steilen Felswänden abgeschirmt, sodass man hierher leichter mit dem Boot kommen oder, besser noch, schwimmen kann. Vom Kloster Weltenburg ist sie am leichtesten zu erreichen, und es geht flussabwärts. Da lässt man sich im Boot oder auf dem Rücken treiben. Es war klar, dass keine Eltern hier sein durften, dass die Buben unter sich blieben, dass man fernab von den Regeln der Erwachsenenwelt agierte. Es war ebenso klar, dass man irgendwann, so mit Mitte zwanzig, zu alt für die Donauinsel war und sie nicht mehr betreten durfte. Mein Vater hatte, im Gegensatz zu Erwins Vater, die Sommer seiner Kindheit und Jugend nicht hier verbracht, aber er wusste von der Tradition. So wie Väter ihren Kindern das Fahrradfahren und Schlittschuhlaufen beibringen, begleiten sie ihre Buben das erste Mal auf die Insel. Sie lassen sich mit ihren Söhnen von der Donauinsel nach Kelheim im Fluss treiben und hangeln sich an der Langen Wand wieder mit ihnen zur Donauinsel zurück. Dann schlagen sie das Zelt auf, machen ein Feuer und grillen. Wenn alle mit dem Essen fertig sind, gehen die Väter und lassen die Buben alleine.

Als wir gegessen hatten, richtete sich mein Vater dann vom Sitzen in die Hocke auf, federte, schaute sich um und fragte: »Bist du sicher, dass ich dich dalassen soll?« Da klang Sorge um mich mit, aber auch Neid, dass ich dableiben durfte und er nicht. Unsere Väter verließen uns in einem der Kanus. Später sahen wir die beiden auf dem letzten Schiff vorbeifahren. Sie standen am Heck und schauten zu uns herunter, sie winkten und verschwanden. Das war der erste von vielen Abschieden von meinem Vater.

Aber jetzt war es anders. Jetzt saß ich da unter einer Decke mit Else. Unsere Gesichter spiegelten die rote Glut des Lagerfeuers wider. Ein Feuer braucht man hier immer, tagsüber kann die Sonne herunterbrennen, wie sie mag, am Abend aber verlässt sie bald das Tal, es wird kalt hier zwischen den steilen Felswänden an der Donau, im Mai sowieso. Unseren Eltern hatten wir erzählt, dass alle von der Klasse hier übernachten, aber Else und ich waren alleine auf der Insel. Die anderen hatten noch gar nicht mitgekriegt, dass der Sommer sich schon angekündigt hatte, dass es schon warm genug war, um hier zu übernachten.

Ich hielt Else im Arm, unter der Decke. Rechts hinter uns, unter der Castellwand, hatten wir unser Zelt aufgeschlagen. Darin hatten wir die zwei gleichen Schlafsäcke, die wir im Kaufhof gekauft hatten, am Reißverschluss zu einem ganz großen verbunden.

Wir waren seit sechs Wochen zusammen.

»Mit wem warst du das erste Mal auf der Insel?«, fragte Else.

»Mit meinem Vater.«

»Ich meine, mit welchem Mädchen.«

»Du bist das erste Mädchen, mit dem ich auf der Donauinsel zusammen bin.«

»Echt?«

»Echt. Na ja, gut, du bist nicht das erste Mädchen, mit dem ich auf der Donauinsel zusammen war, aber du bist das erste Mädchen, mit dem ich auf die Insel gekommen bin.«

»Wie meinst du denn das?«

»Das erste Mädchen war schon da.«

»Das Mädchen war zuerst da, und dann hast du mit ihr geschlafen.« Sie stupste mich in die Seite.

»Genau. Es war Sommer, wir haben praktisch hier gewohnt.«

Sie kuschelte sich näher ran. »Wer war das?«

»Die Elli.«

»Die Elli? Vom Friseurladen?«

»Ja.«

»Die ist aber hübsch.«

»Und mit wem warst du das erste Mal hier?«

»Mit Jens.«

Mein Arm um sie erstarrte. Wie sie seinen Namen sagte. So – zärtlich. Ich wusste, wo sie ihr Zelt letzten Sommer aufgestellt hatten, das war genau am anderen Ende der Donauinsel, in der Nähe der Langen Wand. Ich wusste, wie sie eng umschlungen am Lagerfeuer saßen. Sie brauchte doch nur zu sagen, dass sie mich mehr liebte, als sie Jens jemals geliebt hat. Sie brauchte doch nur zu sagen, dass sie noch nie jemanden so geliebt hat, wie sie mich liebte, und es auch nie tun würde. So wie ich halt umgekehrt. Mehr wollte ich gar nicht. Aber sie sagte es nicht.

Ich spürte, sie hing dem Jens immer noch nach. Ich zog meinen Arm zurück und griff nach einer Zigarette.

»Warum bist du denn jetzt so still, Jelly?«

»Gell, du hängst dem Jens immer noch nach?«

»Ach, komm. Er war halt der Erste, mit dem ich zusammen war.« Sie legte ihren Arm um mich und drückte mich. »Komm, Jelly. Erzähl mir von deinem ersten Mal.«

 

Kapitel 4: Mehr iffeff net

Appreff Ffoleill

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