Der unbekannte Ausweg

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Wir sind doch unglücklich, daß aus unserem Tale kein Ausweg stattfindet – also jammerten Schafe und Kühe in einer eingeschlossenen Bergweide. Ein Reh, das ihre Klagen hörte, sagte zu ihnen: Es hat freilich Auswege aus eurer Weide, aber Hirt und Metzger werden sie euch nicht zeigen, und um sie selber zu finden, muß man weder Kuh noch Schaf sein. Der Eigentümer des Berges, der die Äußerung des Rehs an seine Kühe und Schafe hörte, sagte darüber: Dieses Reh scheint eine bestimmte Neigung zu haben, eine böse Aufklärung unter mein Vieh zu bringen; meine Kühe und Schafe haben gar kein Recht, einen anderen Ausweg aus ihrer Weide zu suchen, als denjenigen, durch den sie meine Knechte in meinen Stall, oder in meine Metzge zu führen gewohnt sind und Befehl haben.

Der alte Bär auf der Tanne

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Nun, wann willst du uns einst ins Honigland führen? sagte eine Schar junger Bären zu einem alten.

Dieser erwiderte: Das will ich gleich tun, aber vorher sollt ihr noch sehen und erkennen, was ich für ein Bär bin. Seht diese Tanne; so weit sie geschunden ist, haben sie vorher schon andere Bären erklommen, ich aber will ihren obersten Gipfel erklimmen.

Also sprach er und kletterte die hohe Tanne hinan. So weit sie geschunden war, ging es wie nichts, aber da er höher kam, schwankte der Baum mit jedem Schritte mehr auf beide Seiten.

Doch, er strengte sich an und klammerte die wunden Tatzen in den schwankenden Baum. So ging es langsam, doch eine Weile immer höher hinan. Aber jetzt wehte der Sturm; der Bär bohrt seine blutenden Klauen mit äusserster Kraft in den schwankenden Baum. Also überlebt er den Sturm; aber seine Kraft ist dahin; er kann die eingebohrten Klauen nicht mehr aus dem erklimmten Holz herausbringen; er fühlt, daß sein Leben dahin ist und ruft von seiner Höhe hinab den jammernden Jungen: Meine grosse Tat ist mein Tod; ich führe euch nicht ins Honigland, aber das seht ihr und das könnt ihr zeugen, daß ich auf dieser Tanne als der allerhöchste Bär v... bin.

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Ich hätte nicht geglaubt, daß alte Bären solche grossen menschlichen Schwachheiten haben könnten; aber ein wildes, ohne Unglück überstandenes Kraft- und Gewaltleben führt, scheint es, auch alte Bären in ihren letzten Tagen zu Narrheiten, die denen gleich sind, deren sich oft alte Menschen schuldig machen, welche durch ihr Leben mehr scheinen wollten, als sie wirklich waren.

Der Berg und die Ebene

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Der Berg sagte zur Ebene: ich bin höher als du. Kann sein, erwiderte die Ebene; aber ich bin alles, und du bist nur eine Ausnahme von mir.

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Der Teil wäre immer so gerne mehr als das Ganze; das Zufällige erhebt sich so gerne über das Wesentliche; alles Gemeine spricht so gerne die Eigentümlichkeit des Vorzüglichen an; der Dachziegel selber scheint sich in seiner Höhe weit mehr zu fühlen als die Quaderstücke, auf denen die Mauern seines Hauses ruhen. Auch das Menschengeschlecht wirft allgemein auf die Ausnahmen der Dinge eine weit grössere Aufmerksamkeit als auf das, was diese Dinge in der Regel allgemein sind. Das geht so weit, daß man gewöhnlich in den Anstalten für Blinde und Taubstumme einen sehr grossen psychologischen Takt in ihren Unterrichtsweisen angewandt findet und allgemein als notwendig anerkennt, indessen man in gewohnten Volksschulen kaum daran denkt, daß für den Unterricht gemeiner Kinder, die alle fünf Sinne in der Ordnung haben, auch so ein psychologischer Takt in ihrer Unterrichtsweise notwendig wäre.

Die Brücke und der Weg

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Die Brücke sagte zum Weg: was schönes an dir ist, bin ich. Kann sein, erwiderte der Weg, aber wenn du abgetragen oder weggeschwemmt wirst, bleibe ich, und warte ruhig bis man dich wieder macht. So sagte ein Mann, der in einer Hauptstadt Bürger war: im ganzen Reiche sieht man nicht so viel Schönes und Rares, als in der kleinsten Gasse unserer Stadt. Ihm antwortete ein Mann, der kein Spießbürger dieser Stadt war: aber wenn deine Stadt nicht mehr unsere Hauptstadt ist, so bleibt jeder Winkel im Lande doch wenigstens, was er vorher war, nur deine Stadt allein nicht.

Wieder die Eiche und das Gras

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Gleich morgens sagte die Eiche zu ihrem Bodengras: du bist undankbar, daß du den Segen meiner Herbstblätter, die ich alle Jahre wie ein Winterkleid auf dich lege, nicht anerkennst. Aber das Gras antwortete ihr: du nimmst mir mit Stamm und Gipfel mein Recht an Sonne, Tau und Regen, und mit deinen Wurzeln meinen Anspruch an die Nahrung des Bodens, in welchem ich stehe; laß jetzt das genug sein, und plaudere mir nicht noch von dem Almosen des Winterkleides, das du um deiner Wurzeln willen, auf mein Elend zu legen, genötigt bist. So, so, die Eiche wollte noch Dankbarkeit von dem Grase, das unter ihrem Schatten zu serben gezwungen war. Diese Anmaßung ist fast so stark, als die Anmaßung des Dei von Algier, der von seinen Sklaven noch fordert, sie sollen bei dem Unrecht, das sie in der Sklaverei leiden, ihm dennoch für den Schutz danken, den sie dadurch genießen, daß sie die Luft seines Reiches einatmen und sich an der Sonne seines Reiches wärmen dürfen.

Ein Fuchs und ein Esel

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Ich freue mich allemal, wenn ich einen unserer Feinde, Treiber und Mörder hierher bringen sehe und denke, es liegt wieder einer unserer Feinde bei der Menge derer, die schon tot sind – also sagte ein Esel auf einem Kirchhof zum Fuchs. Aber dieser antwortete ihm: ich hingegen erschrecke immer bei einem Leichenbegräbnis. Es kommt mir bei einem solchen immer kein Sinn an den einzelnen Menschen, den man ins Grab legt, ich denke nur an die Menge derer, die um dasselbe herumstehen.

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Es ist doch gut, daß die Menschengefühle bei einem Begräbnis gewöhnlich weder Fuchs- noch Eselsgefühle sind.

Das Feuer und das Eisen

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Das Feuer sagte zum Eisen: ich bin dein rechtmäßiger Herr. Das Eisen antwortete: ich kenne deine Gewalt über mich; aber ich achte sie nie weniger für rechtmäßig, als wenn du mich schmelzest. Diese Antwort mißfiel der hochfahrenden Flamme; sie kneisterte, rauchte und sprach: der mich schuf, gab mir meine Gewalt über dich. Das Eisen erwiderte: es sind indessen doch nur Menschenhände, die mich in die Esse und in den Tiegel legen. Ein Prachtgeländer von Eisen, das dieses Gespräch hörte, erwiderte: ich lobe mir das Feuer, das mich schmelzt, ich lobe mir die Zange, die mich in die Esse legt und die Menschenhand, die mich schmiedet, sonst wäre ich noch elendes Erz, deren es Berge voll hat, und auf das niemand achtet. So verschieden sind die Ansichten über den nämlichen Gegenstand, wenn sie von verschiedenen Standpunkten ins Aug' gefaßt werden.

Das Schuhmaß der Gleichheit

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Ein Zwerg sagte zum Riesen: ich habe mit dir gleiches Recht. Der Riese erwiderte: Freund! das ist wahr; aber du kannst in meinen Schuhen nicht gehen.

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Das sollte man dem Dorfvogt antworten, der eine Stadtpolizei auf seinem Dorf haben möchte, und dem Stadtbürgermeister, der eine Macht vor seinem Rathaus und vor dem Stadttor, auf Kosten der Stadt, in fürstlicher Parade aufziehen zu machen gelüstete.

Der gute Rat

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Haltet nur eure Nester gut in der Ordnung, so seid ihr so glücklich, als es euer Geschlecht nur immer werden kann. Also sprachen einmal die großen Vögel zu der Schar der Kleinen. Diese antworteten ihnen: was ihr sagt, ist wahr; aber es ist für uns kein Nest in der Ordnung, zu dem ihr leicht kommen könnt; denn ihr eßt gerne Eier.

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Große Vögel bekommen allenthalben leicht Zugang zu den Nestern der kleinen. War doch schon zu Davids Zeiten ein Mann, der nur ein einziges Schaf hatte, im Fall, daß ihm so ein großer Vogel dasselbe aus seinem Stall raubte und in den seinigen stellte. Er zog sich dabei freilich eine, in unseren Tagen altmodische Strafpredigt zu.

Das Hahnen-Geschrei

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Meister Erdwust: »Warum kräht der Hahn allemal, ehe du aufstehst?«
Knecht Frohmut: »Damit ich noch einen Augenblick als ein Mensch denken könne, ehe ich als ein Vieh arbeiten muß.«

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Dieser Meister Erdwust sagte auch einmal zu seinem Knecht, es sei mit dem Ruhetag, den man den Sonntag heiße, eine bloße Narrheit, wir haben ja in der Woche sieben Ruhenächte.

Das zerrissene Herz

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Als ein Hahn ein Küchlein aufs Blut pikte, und die Mutter dem Hahn ohne Gegenwehr zusah, entfloh das verwundete Küchlein unter einen Holzstoß, und kam nicht mehr hervor; so sehr auch die Henne ihm lockend rief, blieb es doch unbewegt unter dem Holzstoß, und starb voll gleichen Entsetzens über das Picken des Vaters und über das Zusehen der Mutter.

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Wenn Teilnahme und Hilfe mangeln, wo Natur und Pflicht Hilfe gebieten, dann ergreift Entsetzen das verwahrloste Herz. Das ist bei einem Kinde wahr, dem die Eltern in diesem Grade mangeln. Es kann aber auch bei ganzen Menschenhaufen wahr werden; es kann das Herz eines Volkes ergreifen, das von denen, die es zu versorgen Pflicht und Eid auf sich haben, so auf eine herzzerreißende Weise verwahrlost, hintangesetzt und gedrückt wird.

Hirschenhorn

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Ein Mensch, der noch wenig Tiere gesehen hatte, kam plötzlich in einen Tiergarten, und staunte über die Pracht der zahmen und wilden Geschöpfe; aber das Horn des Hirsches ging ihm über alles. Er sagte zum Wärter: Die Natur hat dieses Tier gewiss zum König der Tiere bestimmt. Warum meinst du das? fragte ihn der Wärter. Der Neuling im Tierreich antwortete: Sein mächtiges Horn zeugt von unermesslicher Kraft. - O nein, erwiderte der Wärter, es ist nur ein schwülstiger Auswuchs seiner mittelmässigen Kraft.

Neuling: Ich hielt es für eine Naturkrone, die alle Tiere als das über sein Haupt emporstrebende Zeichen seiner allgemeinen inneren Kraft anerkennen und respektieren müssen.

Der Wärter erwiderte, die Kraft der Hirsche liege wesentlich in ihren Beinen und diese brauchen sie vorzüglich zum Fliehen, wenn sie auch nur einen kleinen Hund bellen hören.

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Ein alter Soldat, der diese Erzählung über das Hirschenhorn und die Hirschenkraft hörte, sagte darüber: Ich kenne ein Leibregiment, das auf der Parade sich auch in seiner Kleidung, aber auch in der Schlacht im Fliehen auszeichnete, wie der Hirsch mit seinem Horn und mit seinen Beinen.

Der Hunde Bescheidenheit

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Als einst der Löwe dem Hund das Zeugnis gab: ich habe ihn immer bescheiden gefunden, antwortete ein armer Esel: er mag wohl bescheiden sein, aber er ist es gewiß nicht gegen einen armen Esel. Als ich dem Schneider Mixli sagte: Junker Großaug sei ein guter Herr – antwortete er mir ebenso: er mag wohl ein guter Herr sein, aber gewiß nicht gegen einen armen Schneider. Es ist ein eigenes Ding mit diesem Zeugnis der Bescheidenheit, das sich ein Hund von einem Löwen geben läßt. Ich denke kaum, daß irgendein Tier mit einer guten Nase einem solchen Zeugnis einen großen Glauben beimessen werde. Einmal unter den Menschen würde man allgemein einem solchen Bescheidenheits-Zeugnis eher glauben, wenn es von einem Schwachen und Armen einem Reichen und Starken, als wenn es von einem Reichen und Starken einem Schwachen und Armen gegeben würde.

Der Hunde Bescheidenheit (Zweite Fassung)

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Ich tue doch vieles, um euch glücklich und eures Lebens froh zu machen. Also sagte Junker Fritz zu seinen Bauern in Kohlhofen. Es ist wahr, es ist wahr, ihr seid ein gütiger Junker: Es geht allemal lustig, wenn ihr um den Weg seid, und wir haben euch vieles zu danken. Also antworteten die Bauern in Kohlhofen fast aus einem Munde.

Nur einer schwieg bei ihrem Danken und sagte: Gnädiger Herr! darf ich euch etwas fragen? Warum das nicht, antwortete Fritz. Darauf sagte der Bauer: Ich habe zwei Äkker, der eine ist stark gemistet, aber schlecht gefahren und voller Unkraut; der andere aber ist weniger gemistet, aber wohl gefahren und rein von Unkraut. Welcher von beiden glauben jetzt Euer Gnaden wird mir mehr abtragen? Natürlich der letzte, sagte der Junker, du hast diesem, so viel als du konntest, sein ganzes Recht widerfahren lassen, den anderen aber nur gemistet.

Lieber Junker! erwiderte der Bauer, auch wir gedeihen besser, wenn Sie uns unser Recht widerfahren lassen, als wenn Sie uns mit Guttaten - übermisten.

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Das Bild dieser zwei so ungleich besorgten Äcker führt weit. So wie der Acker, dem sein ganzes Recht widerfahren ist, gleichsam von selbst gute und reiche Früchte trägt, und hinwieder, so wie der andere, der nur übermistet ist, unmöglich viel abtragen kann, weil ihn eingewurzeltes Unkraut und die Härte der Erde daran hindert, so kommt auch der Mensch, der im ganzen Umfang seines Rechts wohl besorgt und gesichert ist, leicht dahin, sich selber wohl versorgen und ebenso leicht Segen und Wohlstand um sich her verbreiten zu können. Aber der Mensch, der im Wesentlichen seiner Bedürfnisse verwahrlost und im Genuss billiger und lange genossener Rechte gestört, gefährdet und beunruhigt wird, kommt dadurch, daß man ihn zu Zeiten mit Wohltaten übermistet, d.h., daß man ihm zu Zeiten oder noch gar öfter lustige Tage und Sinnlichkeitsgeniessungen verschafft, die für seine Lage nicht passen, auf keine Weise dahin, weder sich selbst und die Seinigen wohl versorgen, noch weit weniger Wohlstand, Segen, Weisheit und Tugend um sich her verbreiten zu können.

Die Flamme und die Kerze

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Ich schäme mich immer, wenn ich mich so nahe bei dir erblicke – also sagte die Flamme zur Kerze. Diese antwortete: ich glaubte bisher, du schämst dich, wenn ich vergehe, indem du dann allemal selber erlöschst. Törichter Schmutz! erwiderte die Flamme: ich glänze freilich nur so lange ich dich fresse, aber ich schäme mich, daß man es sieht.

Ein Klub im Tierreich

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Zwischen Himmel und Erde sind keine verfluchteren Vögel, sprach König Rulph, der stärkste der Geier, da ihn eine Schar von Dohlen durch das ganze Krauchtal verfolgte.