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Nr. 150

 

Drachenland

 

von Paul Wolf

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Die Entscheidungsschlacht zwischen den Heeren des Lichts und der Finsternis wurde abgebrochen. Der Lichtbote griff ein und verhinderte den Sieg der Dunkelmächte, indem er durch sein Erscheinen Vangor ins absolute Chaos stürzte und die Kräfte beider Seiten zersplitterte.

Viele starben bei den Katastrophen, die das Gesicht der Welt veränderten. Doch Mythor, der Sohn des Kometen, rettet sich hinüber in den Morgen einer neuen Zeit. Mythor hat einen Auftrag zu erfüllen. Denn bevor der Lichtbote Vangor verließ und zu anderen Welten weiterzog, forderte er den Sohn des Kometen auf, Ordnung in das herrschende Chaos zu bringen, Inseln des Lichts zu gründen und den Kampf gegen das Böse wiederaufzunehmen.

Aber als Mythor in der veränderten Welt erwacht, ist er seiner Erinnerung beraubt. An der Seite der jungen Ilfa, die ihn aus der Gefangenschaft einer Hexe befreite, findet sich unser Held unversehens in einen Strudel gefahrvoller Abenteuer hineingezogen.

Im Bestreben, seine Erinnerung zurückzugewinnen, schlägt Mythor den Weg eines Lichtkämpfers ein. Nach der Begegnung mit Kalaun und der Beseitigung der Zone des Schreckens zieht Mythor mit seiner Gefährtin Ilfa weiter. Sein nächstes Ziel ist DRACHENLAND ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Mythor – Er folgt einem Traum.

Ilfa – Mythors Gefährtin.

Pleton – Ein Rymborier, der seine Heimat verlor.

Farida – Eine Hexe, die mit Menschen handelt.

Wergot – Ein Sklavenhändler.

Der Ketzer – Ein Wanderprediger.

Kogo – Oberhaupt einer Einsiedlersippe.

1.

 

Es war ein seltsamer, beängstigender Traum. So fremd und doch so eindringlich, als sei er aus der Wirklichkeit gegriffen. Er erschreckte den Träumenden und machte ihn zugleich neugierig.

Und er schlich sich bereits zum zweiten Mal in seinen Schlaf.

Zuerst kam die Lichtflut.

Als sich die Helligkeit legte, kristallisierte sich allmählich ein unbeschreibliches Chaos heraus, ein Chaos, wie es nicht einmal in der Zone des Schreckens während Kalauns Regentschaft geherrscht hatte. Über das elementare Tosen erklang eine Stimme, und sie sprach:

»All die vielen Helden aus ALLUMEDDON werden wiedergeboren und ...«

Der Sprecher war nicht zu sehen; es war eine wesenlose Stimme, die von überall her zu kommen schien. Zudem war sie weder erhoben, noch schrie oder gellte sie, und dennoch war sie in dem Kreischen des Mahlstroms und dem Bersten und Krachen deutlich zu verstehen.

»... wie du ordnend in das Chaos eingreifen und eine neue, bessere Welt schaffen ...«

Und während der Unsichtbare noch zu ihm sprach, sah er einen mächtigen Schatten aus den wirbelnden Wolken auftauchen. Es blitzte und donnerte, hoch stieg die Gischt eines sturmgepeitschten Meeres.

»Du wirst Wegweiser finden. Achte auf Zeichen und Omen ...«

Der fliegende Schatten entpuppte sich als riesiges Tier mit ausgebreiteten Schwingen und einem langgestreckten Körper, der schlangengleich zuckte. Der gewaltige Vogel war so groß, dass der Mensch, der ihm im Nacken saß, so winzig wie ein Insekt anmutete.

»Meine Tiere, das Einhorn, der Schneefalke und der Bitterwolf werden dich führen ...«

Der Träumende war in diesem Moment noch unbeteiligter Zuschauer, der trotz dessen Winzigkeit alle Einzelheiten an dem Reiter des seltsamen Riesenvogels erkennen konnte. Er sah den roten Umhang im Wind wehen, erkannte darauf einen geflügelten Löwen, blickte in ein Gesicht, das seinem sehr ähnlich war ... Und dann schlüpfte er in den Körper des anderen und fand sich im Nacken des fliegenden Ungeheuers wieder.

Und die wesenlose Stimme meldete sich ein letztes Mal.

»Wo meine Tiere dir erscheinen, dort gründe eine Insel des Lichts. Dies soll dein erstes Werk am Morgen einer neuen Zeit sein.«

Damit hatte der Traum das erste Mal geendet.

Aber diesmal ging er weiter. Dem Träumenden wurde fast übel von dem wilden Ritt durch das Orgeln eines Orkans. Der Riesenvogel wollte ihn abwerfen, obwohl er seine menschliche Last kaum spüren konnte.

Mit wild schlagenden Schwingen stieg er hoch in die Lüfte, legte die Flügel an, ließ sich wie ein Stein in die Tiefe fallen und bremste den Sturz ruckartig ab. Der Drache brach nach links aus, dann wieder nach rechts, flog im Zickzack dahin – aber der Reiter hielt sich verbissen in seinem Nacken fest. Er wollte den Drachen bezwingen.

Tief unten brachen durch den Nebel die Spitzen eines löchrig wirkenden Gebirgszugs, als sich der Reiter, in dessen Haut der Träumende geschlüpft war, dazu entschloss, eine Entscheidung herbeizuführen.

Welcherart Entscheidung das war, erfuhr der Träumende jedoch nicht mehr. Denn an dieser Stelle endete der Traum.

 

*

 

Mythor tappte haltsuchend um sich.

Er war wie seekrank von dem wilden Ritt durch die Lüfte.

»Keine Bewegung, Bürschchen!«, drang eine gepresste Stimme zu ihm, die so ganz anders war wie die aus dem Traum. »Oder du spießt dich selbst auf.«

Mythor drehte sich langsam auf den Rücken herum und wollte sich auf die Arme stützen. Aber da drückte sich etwas Spitzes gegen seine Brust.

Er sah das lilienförmige Blatt einer Lanze, ließ seine Augen über den Schaft bis zu den knorrigen, behaarten Händen wandern. Als er die Augen hob, sah er in ein verwittertes Gesicht mit einer scharfrückigen Nase und tief in den Höhlen liegenden Augen. Die untere Gesichtshälfte war hinter einem verwilderten Bart versteckt.

»Wer bist du?«, fragte Mythor, noch völlig im Bann des Traumes. Er wusste, dass dieser wiederkehrende Traum ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte, und darum achtete er die Gefahr nicht, in der er sich offenbar befand.

»Still!«, sagte der Fremde, und der Bart in der Umgebung seines Mundes geriet in Bewegung. »Die Fragen stelle ich. Wie heißt du?«

»Mythor.«

»Woher kommst du?«

»Aus der Zone des Schreckens ...«

»Die gibt es nicht mehr«, fiel ihm der Fremde ins Wort; er bekam einen seltsamen Blick. »Es ist wie ein Wunder, an das keiner mehr geglaubt hat. Aber das von Kalaun entfachte Chaos hat sich aufgelöst. Jetzt werden wir endlich den Weg nach Hause finden ... Woher stammst du? Wohin willst du?«

»Ich folge dem Lauf der Aegyser – oder wohin mich die drei Tiere führen«, antwortete Mythor wahrheitsgetreu.

Er hatte wieder völlig in die Gegenwart zurückgefunden, und er fürchtete den Fremden dennoch nicht. Mit einem Seitenblick hatte er festgestellt, dass Ilfas Lager zu einem Bündel geschnürt war. Von ihr selbst war nichts zu sehen, auch ihre Waffen fehlten. Vermutlich jagte sie irgendwo mit Pfeil und Bogen.

»Von welchen Tieren sprichst du?«, fragte der Fremde misstrauisch.

»Von einem schwarzen Einhorn.« Mythor machte eine Pause und hörte den Fremden heftig die Luft ausstoßen. »Von einem großen Wolf und von einem weißen Falken.«

»Den Falken habe ich gestern beobachtet«, sagte der Fremde. »Ich bin ihm den ganzen Tag über gefolgt. Er ist immer entlang des Flusses geflogen.«

»Die Tiere weisen mir den Weg«, behauptete Mythor; die Situation begann ihn zu erheitern.

»Dann willst du nach Rymborien?«, sagte der Fremde. »Aber du stammst nicht aus diesem Land. Es ist meine Heimat, ich erkenne einen Rymborier auf einen Blick.«

»Dann haben wir denselben Weg«, meinte Mythor. »Wir könnten uns zusammentun.«

»Rühr dich nicht!«, warnte der Fremde, als Mythor sein Gewicht verlagern wollte, und zuckte drohend mit der Lanze. Durch diese heftige Bewegung entstand ein klirrendes Geräusch wie von Metall auf Metall.

Mythor entdeckte nun, dass der Rymborier unter seinem weiten, zerschlissenen und verfilzten Umhang eine Reihe von metallenen Gehängen trug. Offenbar handelte es sich um Fetische, die ihn vor magischem Einfluss schützen sollten. Auf dem Kopf trug er einen spitzen Lederhelm mit einem über die Schultern herabfallenden Nackenschutz, der mit Eisenplättchen verstärkt war. Alles in allem machte er einen so wunderlichen Eindruck wie die Schrate aus Hinterwald, nur hatte er die Größe eines normalgewachsenen Mannes.

Der Rymborier setzte zum Sprechen an. Er sagte:

»Du siehst mir wie einer aus, der ...«

Weiter kam er nicht. Plötzlich bohrte sich neben seinem linken Fuß ein gefiederter Pfeil in den Boden. Als er in diese Richtung herumwirbelte, ergriff Mythor den Schaft seiner Lanze. Er wollte sie ihm entreißen, aber als der Rymborier nicht losließ, hob er ihn damit hoch und stieß ihn gegen den nächsten Baumstamm. Der Rymborier gab einen rauen Schmerzensschrei von sich. Aber er sammelte sich rasch und wollte auf die Beine springen, um einen neuerlichen Angriff abzuwehren. Da tauchte Ilfa mit gespanntem Bogen vor ihm auf, die Pfeilspitze wies auf sein Herz.

»Ihr habt mich in eine Falle gelockt«, sagte der Rymborier entgeistert. Er blickte an Ilfa vorbei, und seine Augen weiteten sich noch mehr, dabei fuhr er fort: »Ihr könnt mir alles nehmen, was ich am Leibe trage, aber lasst mir das Leben. Ich möchte noch einmal meine Heimat sehen.«

Mythor folgte seinem Blick und sah durch die Büsche das schwarze Einhorn auf die Lichtung traben.

»Bei allen Lichtgöttern!«, entfuhr es dem Fremden.

»Du hast nichts von uns zu befürchten«, beruhigte ihn Mythor und gab Ilfa einen Wink, die Waffe zu senken. »Wir könnten einen wegkundigen Begleiter brauchen. Aber erzähle uns erst einmal etwas über dich.«

 

*

 

Je lichter der Tag wurde, desto leiser schien das Rauschen des nahen Flusses zu werden. Die Stimmen des Waldes erfüllten die Luft und vermischten sich zu einer gleichförmigen Musik, die man bald nur noch wie nebenbei wahrnahm.

Pleton, so hieß der Rymborier, lauschte diesen Geräuschen, und seine Augen bekamen einen eigenen Glanz.

»Es ist fast wieder so wie früher – vor dem Weltuntergang, und bevor Kalaun seine Zone des Schreckens schuf«, sagte er. »Vielleicht wird es wieder so wie einst. Wenn die Welt nicht mehr bebt, der Himmel wieder blau wird, die Nebel sich lichten und es kein Feuer mehr regnet, wenn die Werte nicht mehr verkehrt sind und alles wieder ins Lot kommt, dann könnte das ein neuer Anfang sein, der Morgen einer neuen Zeit. Ich glaube, wir dürfen wieder hoffen.«

Hoch über ihnen war ein Kreischen zu hören. Mythor hob den Kopf und erblickte den großen weißen Falken. Er hatte das Gefühl, dass er sie zum Aufbruch gemahnte.

»Wir haben lange genug gerastet«, sagte Ilfa. Sie hatte im Morgengrauen, während Mythor noch schlief, ein zwei Fuß langes Pelztier erlegt und es kunstgerecht aus der Decke geschlagen. Nachdem sie es auch ausgeweidet hatte, wickelte sie es wieder in das blutige Fell ein und reinigte ihr Messer. Sie wollten das Tier am Abend über dem Lagerfeuer braten.

»Es wird Zeit«, sagte auch Mythor.

»Wollt ihr nicht wissen, wie es mir erging?«, sagte Pleton. »Zum ersten Mal seit ... ich weiß nicht wie lange ... habe ich das Bedürfnis, mich anderen mitzuteilen, und keiner will mich anhören.«

»Du kannst uns alles während des Marsches erzählen«, sagte Mythor, schnürte sein Bündel und schulterte es sich mitsamt dem Beutetier. Er fühlte sich dabei beobachtet, und als er die Büsche mit den Blicken absuchte, entdeckte er den hechelnden Wolf. Mythor fragte sich, ob der Wolf erwartete, dass sie ihm das Beutetier überließen, als Opfergabe an jenen, der ihn zu Mythor geschickt hatte. Aber davon wollte Mythor nichts wissen.

»Wie hast du diesen riesigen Wolf gezähmt?«, erkundigte sich Pleton ehrfurchtsvoll. »Ich habe noch nie einen stattlicheren gesehen.«

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, er weicht mir aus«, sagte Mythor mit leichter Verbitterung. »Manchmal frage ich mich, ob er mich nicht am liebsten reißen würde. Gehen wir.«

Sie brachen auf.

Die Aegyser bahnte sich in dieser Stelle ihren Weg durch eine enge Schlucht aus Felsgestein. In der Luft hing ein Vorhang aus feinsten Wassertröpfchen, die angenehm auf der Haut prickelten. Stromschnellen und Wasserfälle lösten einander ab, das Tosen der weiß schäumenden Wassermassen wurde so laut, dass sie ihr eigenes Wort nicht verstanden.

Ilfa deutete hinunter und machte eine spöttische Bemerkung, die Mythor nicht verstand. Aber er wusste auch so, worauf sie anspielte. Tags zuvor hatte er den Vorschlag gemacht, ein Floß zu bauen, um auf dem Wasserweg rascher vorwärts zu kommen. Dann wäre spätestens hier Endstation für sie gewesen, und zwar für immer. Mythor nahm sich vor, von nun an nur jenen Weg zu gehen, den auch die Tiere benutzten, die ihm den Weg weisen sollten.

Der Traum!

Er war sicher, dass er irgendetwas mit seiner Vergangenheit zu tun hatte, an die er sich nicht erinnern konnte. Hatte er den Flug auf diesem gewaltigen Vogel wirklich erlebt? Auf diesem Riesenvogel, von dem er plötzlich wusste, dass es ein Drache war, ohne dass es ihm jemand gesagt hatte. Der Traum hatte ihm dies eingegeben, das war klar, und vielleicht würde er wieder träumen und noch mehr über sich erfahren.

Und die körperlose Stimme hatte die drei Tiere beim Namen genannt: Einhorn, Bitterwolf und Schneefalke. Sollten sie ihn nach Rymborien führen, auf dass er dort eine Insel des Lichts gründe?

Die Aegyser wurde wieder breiter und war nun längst nicht mehr so reißend, bald floss der Fluss fast träge entlang der lichten Ufer dahin. Ein großes, grüngeschupptes Tier, das sich im Uferschlamm suhlte, floh bei ihrem Anblick.

»Ist das hier bereits Rymborien?«, erkundigte sich Mythor bei Pleton.

»Dies hier war immer schon Niemandsland«, antwortete der Rymborier. »Der Einfluss der Aegyr reichte bis hierher. Sie verstanden es, Ehrfurcht und Angst zu verbreiten, ohne selbst in Erscheinung zu treten, so dass kaum einer es wagte, an ihrer Legende zu kratzen.«

»Und du warst eine der Ausnahmen?«, fragte Mythor.

Pleton nickte. Und dann erzählte er.

Er war – schon vor ALLUMEDDON, noch ehe der Lichtbote die Welt in seinen gleißenden Schein hüllte – mit einer Handvoll anderer Abenteurer ins Aegyr-Land vorgedrungen. Er konnte nicht genau sagen, was er hier eigentlich wollte, ob es ihm darum ging, die Götter herauszufordern, ihnen seine Dienste anzubieten oder sie einfach zu bestehlen. Es war wohl von allem etwas, und Neugierde und Forscherdrang waren wohl auch dabei. Und die Abenteurer träumten von Reichtum und von Heldentaten.

Sie drangen so tief ins Aegyr-Land vor, wie kein anderer vor ihnen – wie keiner, der auch wieder zurückgekehrt wäre. Aber dann kam die Lichtflut und damit der Untergang der Welt – und das Aegyr-Land wurde zu einer Zone des Schreckens.

»Ich überlebte die Katastrophe als einziger, und ich fand mich in einem Albtraum wieder«, sagte Pleton. »Solange ich in diesem Chaos gefangen war, habe ich versucht, einen Ausweg zu finden und nach Rymborien zurückzukehren. Aber es gelang mir nicht, ich bin immer im Kreis gelaufen, bis mir klar war, dass es keinen Weg aus der Zone des Schreckens gab. Dennoch habe ich weiter danach gesucht.«

Er lachte abfällig.

»Ich erlangte einen guten Ruf als Grenzgänger, weil ich die Vorstöße in die Randzonen stets überlebte. Immer mehr Verirrte vertrauten sich mir an, in der Hoffnung, dass ich sie aus dem Chaos führen könne. Und je öfter ich allein zurückkam, desto legendärer wurde mein Ruf. Alle glaubten sie mir, dass ich meine Begleiter hinaus aus dem Chaos gebracht hätte, und ich wagte es nicht, ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich ließ mich weiterhin als Held feiern, mich fürstlich entlohnen und von Heimatsuchenden als Führer durch das Grenzland von Kalauns Irrgarten anheuern. Ich war von dem Gedanken besessen, dass es einen Ausgang geben und dass ich ihn finden müsse, und so führte ich Treck um Treck ins Verderben. Sie ertranken, erfroren, wurden zu Mangoreitern, zur leichten Beute für irgendwelche Untiere ... ich kenne ihre Schicksale nicht. Ich wurde auf diese oder jene Weise von ihnen getrennt, kehrte stets allein zum Ausgangspunkt zurück ... Ich bin ein Ehrloser, Mythor.«

»Nicht, wenn du in gutem Glauben gehandelt hast«, sagte Mythor. »Du hast an deine Sache geglaubt und wolltest anderen helfen, Kalauns Schreckensherrschaft zu entkommen. Das kannst du dir zugute halten, oder?«

Pleton machte eine wegwerfende Handbewegung, er sagte nichts.

»Wie lange ist das alles her?«, fragte Mythor. »Ich meine, wie viel Zeit ist seit ALLUMEDDON vergangen? Ich weiß es nicht, denn ich war ein Gefangener der Yorne. Und Ilfa wurde aus der Schattenzone nach hier verschlagen.«

Pleton senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern und fragte: »Ist das wirklich ein Mädchen? Sie hat so gar nichts an sich, was man an einem richtigen Weib schätzt.« Als er Mythors Blick gewahrte, wechselte er sofort das Thema. »Schon gut. Zeit! In Kalauns Chaoszone war das kein Begriff, den man handhaben konnte. Ich habe in einem Zeitraum, den ich für einen Mond hielt, soviel erlebt wie andere in ihrem ganzen Leben nicht. Und dann wiederum hatte ich das Gefühl, dass ich ein ganzes Menschenalter zum Nichtstun verdammt sei. Du hast dich im Aegyr-Land umgesehen. Manche der Ruinen scheinen viele Menschenalter unberührt gewesen zu sein, und doch kannst du sie tags zuvor als guterhaltene, bewohnbare Gebäude gesehen haben. Kalaun hatte das vollkommene Chaos geschaffen. Niemand, der darin gelebt hat, kann sagen, wie viel Zeit seit dem Untergang der Welt wirklich vergangen ist.«

Pleton zuckte die Achseln. Er hatte es vermutlich längst schon aufgegeben, darüber nachzudenken, wie viel Zeit außerhalb des Aegyr-Lands tatsächlich vergangen war. Es konnte aber auch ebenso gut sein, dass er diese Gedanken verdrängte, weil er Angst vor der Wahrheit hatte.

 

*

 

Sie machten auf einer Landinsel Rast, die sich aus der morastigen Auenlandschaft erhob – der Bitterwolf hatte sie durch sein Heulen dorthin gerufen. Sie sammelten Zunder und Brennholz für ein Lagerfeuer, über dem sie Ilfas Beute braten wollten. Als Ilfa den Feuerstein hervorholte, um damit den Zunder zum Glühen zu bringen, schob Pleton sie zur Seite.

Mit pfiffigem Gesicht schraubte er den Knauf von seinem Dolch und schüttete aus dem hohlen Griff etwas Pulver auf einen Stein. Darüber legte er Zunder und schlug mit einem anderen Stein darauf. Schon beim ersten Schlag zuckte eine Flammenzunge hoch und setzte den Zunder knisternd in Brand. Gleich darauf prasselte ein loderndes Lagerfeuer.

»Ich habe noch allerlei andere Zaubermittel aus der Zone des Schreckens mitgenommen«, sagte er. »Damit kann ich in meiner Heimat reich werden. Was nützen nach dem Untergang der Welt schon Gold und Edelsteine, es sind die praktischen Dinge, die von wirklichem Wert sind.«

Mit fortschreitender Abenddämmerung wurde es immer stiller, die Tiere des Tages begaben sich zur Ruhe, die Nachttiere waren noch nicht aus ihren Unterschlüpfen gekrochen, die Aegyser war an dieser Stelle ein breites, murmelndes Wasserband. Für einen Moment schien es, als würde vollkommene Stille herrschen – und in diese Stille hinein drang ein fernes Rauschen, das deutlicher wurde, je länger man ihm lauschte.

»Hört ihr den Wasserfall?«, fragte Ilfa und hielt inne.

Mythor nickte, aber Pleton sagte:

»Soweit ich mich erinnere, gibt es in dieser Gegend keinen Wasserfall. Egal, morgen werden wir mehr wissen.«

Er blickte mit gierigen Augen auf den Braten, der, von Ilfas Schwert aufgespießt, an zwei Astgabeln über dem Lagerfeuer brutzelte.

Da der Braten noch dauern würde, zog sich Mythor zurück. Er durchstreifte die Au ohne besonderes Ziel. Aber als er dann die Silhouette eines Pferdes mit einem Horn auf der Stirn vor sich sah, wurde ihm klar, dass er nach dem Einhorn gesucht hatte.

Er hob den Kopf in seine Richtung, und ein Zittern ging über seine linke Flanke. Mythor schnalzte einige Male mit der Zunge, die Lauscher des Einhorns versteiften sich, es hob und bauschte den buschigen Schweif.

»Pandor!«, rief Mythor verhalten, in der plötzlichen Gewissheit, dass dies der Name des Einhorns war. Und er wiederholte ihn, lockender diesmal: »Pandor! Pandor!«

Das Einhorn setzte sich in Bewegung und kam zu ihm getrabt. Vier Schritte vor ihm hielt es an, wandte den Kopf in plötzlicher Scheu und wollte offenbar zurückweichen.

»Pandor!«, rief er streng, befehlend.

Das Einhorn blieb stehen. Mythor näherte sich ihm langsam, gab beruhigende Laute von sich. Das Einhorn bog den Kopf zurück, seine Mähne schien sich zu sträuben.

»Ruhig, ruhig, Pandor ...«

Mythor erreichte die Flanke des Tieres, tätschelte seinen seidigen Hals. Das Einhorn erbebte unter der Berührung, beruhigte sich aber wieder.

Mythor nutzte die Gunst des Augenblicks, ergriff blitzschnell die Mähne und schnellte sich hoch, um sich auf den Rücken des Einhorns zu schwingen.

Er dachte in diesem Moment, dass es ihm gefügig sein würde, und konnte keinerlei Anzeichen von Widerspenstigkeit an dem Tier erkennen, ja, er dachte, seinen Körper bereits unter den Schenkeln zu spüren. Im nächsten Moment fühlte er sich jedoch emporgehoben und wusste gar nicht, wie ihm geschah, als sich alles um ihn zu drehen begann. Erst als er ins Unterholz fiel, wusste er, dass er abgeworfen worden war. Als er sich erhob und sich umblickte, war von dem Einhorn nichts mehr zu sehen.

Missmutig kehrte er zum Lager zurück.

Die Tiere waren ihm zwar als Wegbereiter bestimmt, aber sie ließen ihn nicht an sich herankommen. Was war nur mit ihnen los?

Oder stimmte mit ihm irgendetwas nicht?

Witterten sie, dass ihm etwas fehlte, nämlich die Erinnerung an sein früheres Leben? Man sagte Tieren einen besonderen Instinkt nach, der sie solche Dinge erkennen ließ.

Nachdem sie gegessen hatten, losten sie die Wache für die Nacht. Ilfa bekam die erste Wache, Mythor die letzte.

»Macht nichts«, sagte Pleton, der das ungünstigste Los gezogen hatte. »Ich brauche gar keinen Schlaf. Ich könnte die ganze Nacht durchmarschieren, nur um rascher ans Ziel zu kommen. Rymborien wird euch gefallen, es ist ein schönes Land. Im Vergleich zu Kalauns Chaoszone wird es euch wie das Paradies erscheinen.«

Mythor schwieg dazu. Wenn Rymborien ein solches Paradies war, dann brauchten ihn die drei Tiere gar nicht dorthin zu führen, auf dass er eine Insel des Lichts gründe.

Er bereitete sich sein Lager und legte sich zur Ruhe. Obwohl er sich gar nicht schläfrig fühlte, war er bald darauf doch eingeschlafen.

2.

 

Der Traum kam wieder.

Es war derselbe Traum wie die die beiden vorangegangenen Male, und er lief in der gleichen Abfolge von Bildern und Geräuschen ab. Es gab keine Abweichung, die wesenlose Stimme sprach dieselben Worte mit derselben Betonung, der mächtige Drache blieb auf seinem vorbestimmten Kurs, und Mythor schlüpfte wiederum zum richtigen Zeitpunkt in die Haut des Drachenreiters.

»Wo meine Tiere dir erscheinen, dort gründe eine Insel des Lichts. Dies soll dein erstes Werk am Morgen einer neuen Zeit sein.«

Wieder bereitete ihm der wilde Ritt im Nacken des Drachen durch die sturmgeschüttelten Lüfte Übelkeit. Sein roter Umhang mit dem geflügelten Löwen knatterte wie ein zerfetztes Schiffssegel, die Schließe drückte sich ihm in die Kehle.

Der Drache versuchte ihn durch allerlei Flugmanöver abzuschütteln, warf in unbändiger Wut den Kopf hin und her, um ihn zu fassen zu bekommen, versuchte, mit den Krallen nach ihm zu schlagen.

Aber er hielt sich tapfer.

Der Drache setzte zum Sturzflug an. Tief unten schälten sich aus den wehenden Nebeln die zackigen, durchlöcherten Felsgipfel eines Bergmassivs heraus, kamen näher und näher.

Da fasste der Reiter, in dessen Haut Mythor geschlüpft war, einen Entschluss. Er spürte seine Kräfte erlahmen und wusste, dass er sich nicht mehr lange würde halten können. Aber wenn ihm diese bizarre Felslandschaft schon zum Grab werden würde, dann wollte er den Drachen mit in den Tod nehmen.

Er zog sein Schwert aus der Scheide, packte den Griff mit beiden Händen und richtete die Klinge nach unten. Er würde ...

Mythor wusste plötzlich, dass er den Körper des Drachenreiters verlassen musste. Etwas zog an ihm, und er hatte die Befürchtung, dass er aus diesem Traum gerissen und in die Wirklichkeit zurückgeholt werden sollte. Er wehrte sich verzweifelt gegen die Kraft, die ihm diesen Traum verwehren wollte.

Alle Gegenwehr half ihm jedoch nichts, er musste aus dem Körper des Drachenreiters schlüpfen. Er entschwebte ihm, sah sich aber noch als unbeteiligter Zuschauer gegen den Drachen kämpfen.

So fern das Geschehen auf einmal auch war, Mythor konnte es in allen Einzelheiten beobachten, als besäße er die Augen eines Schneefalken.

Er sah, wie der Rotbemantelte sein Schwert immer wieder hob und es auf den Drachen hinabstieß, wuchtig und mit geballter Kraft. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, aber er packte Mythor, den unbeteiligten Zuschauer, nicht.

Und als der Traum zu Ende war, wusste er nicht einmal, wie der Kampf ausgegangen war. Er erinnerte sich nur einer Nebensächlichkeit, wie es schien: Die Klinge des Schwertes, das der Drachenreiter führte, wirkte zerbrechlich – wie aus Glas –, und doch fügte sie dem Riesentier blutige Wunden zu ...

»Mythor, aufwachen!«, befahl die körperlose Stimme. »Deine Wache!«

Mythor schreckte hoch und sah im Schein eines glimmenden Astes Pletons bärtiges Gesicht.

»Du hast um dich geschlagen, als führtest du einen Kampf gegen Gespenster«, sagte der Rymborier.

»Es war nur ein Traum«, erklärte Mythor.

 

*

 

Das Rauschen, das offenbar von einem Wasserfall stammte, wurde immer lauter, während sie dem Lauf der Aegyser folgten.

»Es ist alles verändert«, klagte Pleton. »Ich dachte, dass wieder die Sonne scheinen würde, wenn sich Kalauns Zone des Schreckens aufgelöst hätte. Aber viel Unterschied ist nicht.«

Ilfa und Mythor konnten dazu nichts sagen; Helmonds Tochter stammte aus der Schattenzone und wusste nicht, wie die Welt früher ausgesehen hatte, und Mythor hatte keine Erinnerung daran.

Einmal versperrte eine gewaltige Landmasse den Weg, die nicht in die Auenlandschaft passen wollte. Sie machten einen Bogen darum, da das Einhorn und der Bitterwolf ihnen diesen Weg vorschrieben.

»Diese Landinsel stammt bestimmt, wie Schattenparadies, aus der Schattenzone«, sagte Ilfa und blickte wehmütig zu dem dunklen Gebilde, das wie ein riesiges Gespinst wirkte, wie eine Zusammenballung aus allem möglichen Treibgut. »Ich möchte zu gerne diese Insel erforschen.«

»Lass das«, ermahnte Mythor. »Wenn die Tiere dieses Land meiden, dann hat das gewiss seinen Grund.«

Ilfa fügte sich nur widerstrebend. Mythor bemerkte, wie sie immer wieder sehnsüchtig hinüberblickte. Sie behauptete einige Male sogar, bei der Landinsel Bewegungen gesehen zu haben, aber Mythor ging nicht darauf ein. Er ließ sie vor sich gehen und behielt sie im Auge. Bei sich war er entschlossen, sie um jeden Preis zurückzuhalten, wenn sie versuchte, das fremde Gebilde zu erkunden.

»Wir haben es bald geschafft«, sagte Pleton. »Das Niemandsland liegt hinter uns, bestimmt haben wir die Grenze nach Rymborien schon überschritten. Haltet die Augen offen. Wenn wir auf Krieger stoßen, dann lasst mich verhandeln.«

Aber sie trafen auf kein menschliches Wesen, selbst die Tiere schienen sich aus diesem Gebiet zurückgezogen zu haben.

Nachdem sie die Landinsel umrundet hatten, setzten sie ihren Weg entlang des Aegyserufers fort. Pleton blickte mit gerunzelter Stirn auf das bewegte Wasser. Es schien ihm offenbar nicht zu gefallen, dass der Strom nun schneller floss. Und das Rauschen wie von stürzenden Wassern wurde immer lauter.

Plötzlich lichteten sich die Bäume – und das Land vor ihnen war wie abgeschnitten. In der Luft hing eine Wolke aus feinsten Wassertröpfchen und versperrte die Sicht.

Die Aegyser war hier besonders breit, an der Stelle, wo sie über eine Klippe in die Tiefe stürzte, ragten unzählige Felsbrocken aus dem Wasser.

Pleton stieß einen gurgelnden Laut aus und stürzte nach vorne. Ilfa rief irgendetwas, ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen fürchtete sie, dass Pleton eine Verzweiflungstat vorhaben könnte. Mythor folgte ihm, konnte ihn jedoch nicht mehr einholen.

Auf einmal blieb Pleton so abrupt stehen, als sei er gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen. Er taumelte, drohte zu stürzen. Mythor sprang hinzu und fing ihn auf. Pletons Körper fühlte sich schlaff an. Als ihm Mythor ins Gesicht blickte, da erschien er ihm um Jahre gealtert.

Er sah auch den mutmaßlichen Grund für den Schwächeanfall des Rymboriers.

Sie standen an einer hohen, senkrecht abfallenden Klippe. Vor ihnen erstreckte sich scheinbar endlos ein Meer.

 

*

 

»Es ist nicht wahr«, stammelte Pleton, nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte und auf den eigenen Beinen stehen konnte. »Das ist ein Trugbild. Diese endlose Wasserfläche kann nur einem bösen Zauber entsprungen sein. Es gibt dieses Meer nicht. Vor uns, das ist Rymborien. Ich werde den Zauber entlarven!«

Er wollte einen Schritt nach vorne tun, aber Mythor hielt ihn gewaltsam zurück.

»Bleib stehen, du würdest sonst in den Tod stürzen«, sagte Mythor eindringlich. »Dies ist kein Trug, es ist die Wirklichkeit.«

Aber Pleton schüttelte nur den Kopf in grenzenlosem Unglauben.

»Ich kann mich nicht irren«, murmelte er. »Vor uns muss meine Heimat liegen.« Er schüttelte Mythors Hand ab. »Ich kann selbst auf mich achtgeben. Ich muss mich vergewissern.«

Er näherte sich wieder dem Abgrund, ging zu Boden und blickte mit aufgestützten Armen über den Rand. Dann deutete er nach unten.

»Da ist ein Pfad«, sagte er. »Ich werde ihn hinabsteigen und das Wasser prüfen. Ich schwöre es dir, Mythor, es ist nicht echt.«

Mythor ließ ihn gewähren, als er sich erhob und sich an den Abstieg über die Klippe machte. Der Rymborier entschwand seinem Blick, und Mythor hörte nur noch an den Geräuschen, wie er sich in die Tiefe entfernte.

»Mythor!« Ilfa war an seine Seite getreten und drückte seinen Oberarm. »Vielleicht hat Pleton doch recht, und es ist Magie im Spiel. Dieser Ort ist so unwirklich. Wir dürfen Pleton nicht im Stich lassen.«

Mythor nickte. Die drei Tiere fielen ihm ein, und er blickte sich nach ihnen um. Zuerst konnte er sie nirgends entdecken, aber dann sah er sie links hinter sich, am Rand des Wasserfalls.

Der Schneefalke zog dort enge Kreise, tauchte immer wieder in die sprühende Gischt ein. Einhorn und Bitterwolf standen angespannt da, beide hatten den Kopf in ihre Richtung gewandt.

Mythor schien es fast, als wollten sie sich vergewissern, dass er ihnen Beachtung schenkte. Als sich sein Blick mit denen der Tiere kreuzte, wandten sie wie auf Kommando den Kopf nach vorne und setzten sich in Bewegung.

Mythor hielt den Atem an, als sie über den Abgrund ins Nichts sprangen. Er verstand das nicht, und er fragte sich bange, ob er irgendetwas falsch gemacht hatte, dass sie auf diese Weise in den Tod sprangen.

Aber Einhorn und Bitterwolf fielen nicht in die Tiefe. Für sie schien die Luft Balken zu haben. Und sie begannen immer schneller zu laufen und kamen doch kaum vom Fleck. Der Schneefalke schwebte dicht über ihnen und begleitete sie auf diesem gespenstischen Galopp. Ilfa drückte seinen Arm stärker, sie stieß heftig den Atem aus und sagte:

»Vielleicht bewegen sie sich über schwerer Luft aus der Schattenzone ...«

Aber es klang nicht überzeugend. Auch sie wusste, dass es sich um einen unerklärlichen Vorgang handelte, der mit normalen Maßstäben nicht zu messen war.

Obwohl die drei Tiere kaum vom Fleck zu kommen schienen, wurden sie immer ferner – und durchscheinender. Mythor konnte sie kaum mehr ausmachen.

Eine Bewegung in der Tiefe lenkte ihn ab, und er blickte hinunter. Dort war nun Pleton am Meeresufer aufgetaucht. Er hielt die Hände zu einem Trichter geformt an den Mund und dann deutete er heftig in Richtung der drei sich entfernenden Tiere.

Obwohl Mythor nicht verstehen konnte, was er rief, wusste er, was der Rymborier meinte. Da die Tiere sich offenbar über ein Land bewegten, das nicht zu sehen war, sah Pleton dadurch seine Vermutung bestätigt, dass das Meer nur ein Trugbild sei. Er winkte zu ihnen herauf und watete ins Wasser hinein. Er versank immer weiter darin, und bald ging es ihm bis zum Hals.

»Wir müssen Pleton beistehen«, verlangte Ilfa drängend. »In seinem Wahn wird er glauben, sich über festes Land zu bewegen, bis er ertrunken ist.«

Mythor gab sich einen Ruck und begann den Abstieg über die Steilküste. Noch einmal blickte er den Tieren nach. Er musste seine Augen anstrengen, um sie am dunstigen Horizont ausmachen zu können. Für einen Moment war ihm, als lichteten sich die Nebel, und er glaubte einen grauen Streifen zu erkennen.

Land!

Und er erinnerte sich in diesem Augenblick der wesenlosen Stimme aus seinem Traum: »... Meine Tiere, das Einhorn, der Schneefalke und der Bitterwolf werden dich führen!«

Da war ihm klar, dass sie ihm die Richtung zeigten, in die er sich zu wenden hatte. Er musste dieses Gewässer überwinden und das dahinterliegende Land erreichen. Die drei Tiere zeigten ihm den Weg.

»Rascher«, drängte Ilfa.

Der Abstieg war beschwerlich. Sie traten immer wieder auf loses Gestein, das polternd in die Tiefe fiel. Zweimal wäre Mythor fast ausgerutscht, konnte aber gerade noch im letzten Augenblick Halt finden und einen Sturz verhindern. Einmal fing er Ilfa auf, als sie einen Felsbrocken lostrat und abzurutschen drohte.

Dann hatten sie den Steilhang endlich überwunden und das von Felsbrocken und Erdanhäufungen unwegsam gemachte Meeresufer erreicht.

Von Pleton war nichts mehr zu sehen. Mythor rief einige Male seinen Namen, bekam jedoch keine Antwort. Ilfa blickte von einem erhöhten Standplatz aufs Meer hinaus und zu den schäumenden Strudeln des Wasserfalls. Aber sie schüttelte nur resignierend den Kopf. Sie entdeckte nichts, was an einen treibenden menschlichen Körper erinnerte.

»Da!«, rief sie dann und deutete in die dem Wasserfall entgegengesetzte Richtung.

Ohne lange zu überlegen, begab sich Mythor in die gewiesene Richtung. Er dachte, dass Ilfa Pleton entdeckt hatte, entweder ohne Bewusstsein im Wasser treibend oder an Land gespült. Darum war die Überraschung doppelt groß, als er zu der von Ilfa bezeichneten Stelle kam und vor dem Kadaver eines riesigen Tieres stand.

Ein Schwarm von Aasvögeln erhob sich kreischend in die Lüfte, als Mythor sie in ihrem schaurigen Mahl störte. Nur die Krebse und schlangenähnlichen Fische, die sich an dem halb im Wasser liegenden Aas gütlich taten, ließen sich nicht verjagen.

In der Luft hing der Gestank von Verwesung.

»Was ist das für ein Tier?«, fragte Ilfa, als sie Mythor erreichte.

Das Tier war gut zehn Schritte lang, hatte vier Beine, einen kurzen stumpfen Schwanz, und der Echsenschädel saß an einem langen kräftigen Hals. Obwohl die Aasfresser den Kadaver übel zugerichtet hatten, konnte Mythor noch die Stummel von zwei Flügeln erkennen.

»Das ist ein Drache – wie aus meinem Traum«, sagte Mythor und blickte wieder in die Richtung, in die die drei Tiere entschwunden waren. Aber nun war von dem Eiland, das er als dunklen Streifen am Horizont entdeckt hatte, nichts mehr zu sehen.

»Aus welchem Traum?«, fragte Ilfa.

»Ich erzähle dir bei Gelegenheit davon«, sagte Mythor. »Der Traum handelte von einem Drachen wie diesem, nur war er gut siebenmal so groß. Ich bin nun sicher, dass es einen Zusammenhang gibt. Ich muss zu diesem Eiland gelangen!«

Ilfa blickte ihn verwundert an, sagte aber nichts.

»Komm, lass uns weitersuchen«, sagte Mythor. Als sie sich von dem toten Tier entfernten, blickte er noch einmal zurück. Es gab sie also wirklich, die Drachen, der Kadaver war der eindeutige Beweis dafür. Aber gab es auch Drachen von der Größe wie in seinem Traum, oder hatte dieser Drache nur symbolische Bedeutung gehabt?

 

*

 

Für Ilfa stand es schon seit ihrer ersten Begegnung fest, dass Mythor ein bedeutungsvoller Mann war, der für Größeres auserwählt war. Sie hatte immer daran geglaubt, obwohl Mythor selbst es in Abrede stellte. Darüber hinaus hatte er für sie persönlich eine besondere Bedeutung. Er war der Mann, den sie liebte, der sie hatte erkennen lassen, dass sie eine Frau war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich immer als Mann gefühlt; ihr Vater, Helmond, hatte ihr das eingeredet, um sie vor Nachstellungen zu schützen.

In letzter Zeit glaubte Ilfa jedoch, um Mythors Zuneigung bangen zu müssen. Er war von dem Gedanken besessen, seine verlorene Erinnerung zurückgewinnen zu müssen. Sie konnte das verstehen, auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, wenn er so blieb, wie er war. Sie hatte Angst, ihn zu verlieren, wenn er sich seiner Bestimmung gewahr wurde.

Es lag schon einige Tage zurück, dass Mythor zuletzt zärtlich zu ihr gewesen war. Und mit jedem Tag kümmerte er sich weniger um sie. Sie zählte kaum noch als Frau für ihn, war für ihn ein guter Freund, ein Kampfgefährte wie jeder andere.

Und jetzt noch dieser Traum, den Mythor ihr verheimlicht hatte, vermutlich weil er ihn bedeutungsvoll für seine weitere Zukunft hielt. Wenn sich dieser Traum erfüllte, das spürte Ilfa, würde sich Mythor ihr nur noch mehr entfremden.

»Ich wünschte, du würdest dich nie an dein früheres Leben erinnern, Myth!«, sagte sie sich, und nicht zum ersten Mal. »Ich möchte dich nicht verlieren.«

Aber besessen, wie er einmal war, würde Mythor sein Ziel erreichen. Letztlich hatte er die Herrschaft Kalauns nur gebrochen, weil er auf der Suche nach seiner Erinnerung war. Doch der Herr des Chaos konnte sie ihm nicht geben.

Ilfa hatte Mythor schon einige Male vorschlagen wollen, im Aegyr-Land zu bleiben. Die Worte lagen ihr auf den Lippen, sie hatte sich die Rede vorbereitet, mit der sie ihn überzeugen wollte, aber dann hatte sie davor zurückgescheut, sie auch auszusprechen. Sie wusste, dass nichts, was sie sagte, so überzeugend sein konnte, wie das Erscheinen der drei Tiere, denen Mythor blindlings folgte.

Diese Gedanken bewegten sie die ganze Zeit über, und sie kam von ihnen auch nicht los, während sie nach Pleton suchten. Sie entdeckten zwar verschiedentlich Spuren von Menschen, die noch gar nicht so alt waren, aber den Rymborier fanden sie nicht.

Ilfa war innerlich sogar darüber erleichtert. Vielleicht würde Mythor doch noch mit ihr ins Aegyr-Land zurückkehren, wenn er keine Möglichkeit fand, das Meer zu übersetzen.

Als der Tag seinem Ende zuging, beschlossen sie, unter einem überhängenden Felsen das Lager aufzuschlagen. Mythor erbot sich, im seichten Ufer Fische oder Krebse zu fangen, Ilfa fiel es zu, brennbares Strandgut zu suchen.

Dabei machte sie einen überraschenden Fund. Ihr Fuß stieß gegen etwas Metallenes, sie bückte sich und hob es auf. Es war ein handtellergroßes Amulett, das einen siebenzackigen Stern mit einer geheimnisvollen Inschrift zeigte. Sie erkannte es sofort als einen von Pletons Fetischen.

Ilfa wollte schon nach Mythor rufen, um ihn von ihrem Fund zu benachrichtigen, überlegte es sich dann aber anders. Sie suchte weiter und fand noch einen Gegenstand aus Pletons Besitz, einen fingerlangen Zahn irgendeines Raubtiers. Ilfa war nun vom Entdeckungsfieber gepackt.

Als sie über eine Geröllhalde kletterte, machte sie eine weitere Entdeckung, die ihre bisherigen Funde in den Schatten stellte.

Vor ihr lag eine Bucht mit einem schmalen Steg, der ins Meer hinausführte. Auf dem breiten, flachen Strand blühten einige Sträucher und etliche junge Bäume. Der Boden war mit dichtem Gras bewachsen, eine Steinmauer aus übereinandergehäuften Findlingen grenzte diesen Garten ein. Ganz im Hintergrund, von den Pflanzen fast verdeckt, entdeckte sie eine recht wacklige Behausung. Sie lehnte sich an die steile Felswand und war aus krummen Stämmen junger Bäume gezimmert. Die Lücken waren mit Steinen und getrocknetem Schilf ausgefüllt.

Ilfa spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie beobachtete die dürftige Behausung eine ganze Weile, ohne deren Bewohner zu Gesicht zu bekommen. Die Hütte schien verlassen, und doch wusste Ilfa, dass sie bewohnt war.

Auf einmal bekamen ihre scheinbar zufälligen Funde eine besondere Bedeutung. Ihr erschien es nun so, als hätte irgendjemand die Gegenstände als Köder ausgelegt, um den Weg zu dieser Bucht zu weisen.

Sie war nahe daran, ihr Versteck zu verlassen, sich in den Garten zu schleichen und einen Blick in die Hütte zu werfen. Aber dann überlegte sie es sich anders. Sie entschloss sich, Mythor nichts von ihrer Entdeckung zu sagen und erst wieder hierher zurückzukehren, wenn er schlief. Vielleicht konnte sie ihn sogar dazu bewegen, die Steilküste zu verlassen und sich mit ihr ins Landesinnere zurückzuziehen. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie diese Dinge von Mythor fernhalten musste, wollte sie ihn nicht verlieren.

Darum kehrte sie unverrichteter Dinge zum Lagerplatz zurück.

Aber Mythor war nicht da. Er hatte keinen einzigen Fisch gefangen. Sie rief nach ihm, bekam jedoch keine Antwort. Offenbar war sie zu lange weggeblieben, und er hatte sich nun auf die Suche nach ihr gemacht.

In plötzlicher Panik ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie ihr Versteck erreichte, von dem aus sie die Bucht mit der ärmlichen Behausung beobachtet hatte, war es bereits so dunkel, dass sie kaum mehr Einzelheiten erkennen konnte. Die Sträucher und Bäume erschienen ihr plötzlich wie die Schemen von bedrohlichen Lebewesen, die mit unzähligen Armen nach ihren Opfern griffen.

Die Hütte lag völlig im Dunkeln. Aber sie bildete sich ein, dass von dort das Geräusch von Schritten kam. Für einen Moment flammte im Eingang der Widerschein eines Feuers auf. Davor erhob sich deutlich die Gestalt eines Mannes ab, der unverkennbar die Statur Mythors hatte.

»Mythor, nicht ...!«

Aber die Warnung kam so leise über ihre Lippen, dass er sie unmöglich hören konnte. Sie wäre in jedem Fall zu spät gekommen, denn Mythor verschwand in der Hütte, und der Widerschein des Feuers erlosch.

Ilfa befühlte Pletons Fetische. Wenn sie als Köder für eine Falle ausgelegt worden waren, dann war es gewiss besser, wenn sie sich nicht zu erkennen gab.

Wer immer in dieser Bucht hauste und ahnungslose Strandläufer anlockte, der würde mit seinem jüngsten Opfer kein leichtes Spiel haben. Denn Ilfa war entschlossen, ihre Freiheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen und Mythor seinem Schicksal nicht zu überlassen.

3.

 

Mythor trat mit gezücktem Schwert in die Hütte.

»Ilfa!«, rief er verhalten.

Aus der Dunkelheit vor ihm drang ein abgehackter, krächzender Laut, der ein Kichern sein konnte.

Völlig unerwartet zuckte irgendwo vor Mythor Feuerschein auf und ließ einen Stollen erkennen, der etwa zehn Schritt gerade in die Tiefe führte und dann einen Knick machte. Die Lichtquelle selbst konnte er nicht sehen. Das flackernde Licht erlosch sofort wieder, aber es wurde nicht völlig dunkel. Mythor konnte jedenfalls genug erkennen, um seinen Weg zu finden.

Mit vorgehaltenem Schwert drang er in den Stollen vor. Als er die Abzweigung erreichte, sah er eine geräumige Höhle vor sich. In einer Ecke, unter der Öffnung eines Kamins stand ein Dreibein mit einem großen Kessel über glosender Glut. Davor saß eine massige, gekrümmte Gestalt. Sie machte irgendeine Bewegung, und dann flammte das Feuer wieder auf. Diesmal erlosch es nicht wieder.

»Komm nur weiter, Fremder«, sagte eine krächzende Stimme. Die vor der Kochstelle kauernde Gestalt drehte sich nicht einmal nach ihm um. »Ich lade dich ein, mein Gast zu sein. Ich lebe hier ganz allein und freue mich über jeden Besuch. Komm nur, komm, setz dich zu mir.«

»Ich suche jemanden.«

Mythor kam vorsichtig näher, das Schwert fest umklammert. Er blickte sich in der Höhle um, aber außer der Gestalt am Feuer sah er niemanden. Es mochte aber durchaus sein, dass sich in einem der dunklen Winkel jemand versteckt hielt.

»Ich habe dein Rufen gehört. Ilfa!« Wieder erklang das krächzende Kichern. »Ist Ilfa ein Tier? Ein Kind? Oder ein Kampfgefährte von dir?«

»Meine Gefährtin – eine Frau«, sagte Mythor. »Sie ist in diese Richtung verschwunden. Sie muss hier gewesen sein.«

»Sieh dich nur um, hier ist niemand außer mir. Aber vielleicht kommt deine Ilfa noch. Mach es dir inzwischen gemütlich.« Die Gestalt drehte den Kopf zur Seite, so dass Mythor ein großflächiges, runzeliges Gesicht sehen konnte, das von zerzaustem Haar umgeben war. Er wurde unwillkürlich an die Krause Tildi, die Schirmherrin der Bewohner von Hinterwald, erinnert.

»Ich heiße Farida. Und wer bist du?«

»Mein Name ist Mythor.«

»Mythor!«, wiederholte Farida, es klang spöttisch. »Was für ein geheimnisvoller, inhaltsschwerer Name. Mythor!« Die Alte, deren mächtiger Schädel aus einem Berg von grobem Stoff herausragte, klopfte ungeduldig auf den Boden. »Setz dich schon. Ich beiße nicht. Über das Alter, wo ich nach Jünglingen wie dir gelechzt habe, bin ich längst schon hinaus. Mach schon, nimm Platz.«

Sie langte nach einem tönernen Napf und schöpfte damit aus dem Kessel eine dampfende Brühe. Sie hielt Mythor den Napf hin und herrschte ihn an:

»Nimm! Das wird dich wärmen und stärken. Du siehst müde aus. Hast wohl einen langen Weg hinter dir?«

»Ich – wir kommen aus dem Aegyr-Land«, antwortete Mythor fast widerwillig, während er sich mit überkreuzten Beinen und dem Rücken zur Wand neben der Feuerstelle niederließ. Das Schwert legte er sich quer über die Oberschenkel und nahm den Napf an sich. Er zögerte jedoch, etwas von der heißen Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

»Fischtransuppe«, sagte Farida. »Ungiftig. Sehr kräftigend. Macht müde Krieger munter. Mach dir keine Sorgen um deine Ilfa. Hier kann ihr nichts passieren. Hier herrsche ich.«

»Und wenn ein Drache auftaucht?«, wandte Mythor ein und beobachtete das derbe und doch so ausdrucksstarke Gesicht der Alten.

Sie lachte schallend und schlug sich auf die Schenkel.

»Damit hast du zu erkennen gegeben, dass du nichts von Drachen verstehst. Die jagen nämlich nicht in der Dunkelheit, obwohl sie nachtsichtig sind.«

»Und du weißt alles über Drachen?«

»Genug, Mythor, genug«, sagte die Alte. »Ich weiß über viele Dinge Bescheid, auch wenn ich sie nicht dauernd im Kopf habe. Aber du kannst mich fragen, was du willst, ich kann dir auf alles antworten.«

»Kennst du einen Rymborier, der Pleton heißt?«, fragte Mythor. Als Farida nicht sogleich antwortete, fuhr er fort: »Pleton hat behauptet, dass früher anstelle des Meeres hier das Land Rymborien gelegen hat.«

»Ja, ja, Rymborien«, sagte die Alte. »Aber das war vor ALLUMEDDON. Damals versank Rymborien zusammen mit vielen anderen Ländern im Meer. Nur noch das Drachenland ist übriggeblieben und erhebt sich als Insel aus der See. Willst du mehr darüber wissen, Mythor? Mythor – was für ein Name!«

»Hast du ihn schon einmal gehört?«, fragte Mythor schnell.

»Vielleicht, vielleicht nicht. Er klingt mir jedenfalls vertraut, und ich weiß, was er bedeutet. Aber es ist noch nicht an der Zeit, dich damit zu belasten.«

»Ich habe den Kadaver eines großen, geflügelten Tieres gesehen«, sagte Mythor. »Ist das ein Drache von der Insel?«

Er entschloss sich endlich, von der Brühe zu nippen. Kaum hatte er einen kleinen Schluck zu sich genommen, durchfuhr es seinen Körper siedend heiß. Er schleuderte den Napf von sich, ergriff sein Schwert und sprang auf. Er musste sich an der Wand abstützen, weil ihm durch die heftige Bewegung auf einmal schwindelig wurde.

Die Alte hatte sich ebenfalls erhoben. Und nun stand sie wie ein Monument da, überragte ihn um Haupteslänge. Mythor kam sich neben ihr winzig vor.

»Lege das Schwert weg!«, sagte sie streng. »Wenn ich gewollt hätte, hätte ich dich mit meiner Magie längst schon bezwingen können, noch ehe du in meine Höhle kamst. Ich will dir nichts Böses, also missbrauche nicht meine Gastfreundschaft. Willst du nun mehr über die Dracheninsel erfahren?«

Farida hatte sich noch während des Sprechens wieder hingesetzt, und Mythor folgte ihrem Beispiel. Das Schwert entfiel seiner Hand, die auf einmal wie taub war.

»Ich spüre, dass es dich zur Dracheninsel zieht«, sagte Farida. »Und wenn du willst, bringe ich dich hin. Aber sei gewarnt. Das ist kein Land, wo Milch und Honig fließt. Und Fremden gegenüber ist man besonders misstrauisch, man hasst sie geradezu. Man versklavt sie oder wirft sie den Drachen zum Fraß vor. Der Drache gilt als heiliges Tier, wehe dem, der einen Drachen tötet. Ein Menschenleben gilt weniger als das eines Drachen, obwohl es der Drachen inzwischen längst so viele gibt, dass sie zu einer wahren Plage geworden sind. Und es werden immer mehr, bis eines Tages die Drachen die Menschen verdrängt haben. Dazu tragen die Bewohner von Drachenland noch ihr Scherflein bei, indem sie sich gegenseitig dezimieren. Die verschiedenen Clans stehen untereinander in gnadenlosem Kampf um die Vorherrschaft, aber letztlich wird der Drachenkult als Sieger hervorgehen. Willst du immer noch zur Dracheninsel?«

»Ich muss. Ich ...«, setzte Mythor zum Sprechen an, verstummte aber sofort wieder. Er erinnerte sich plötzlich wieder Ilfas und Pletons. Er machte Anstalten, sich zu erheben, fühlte sich aber zu müde dazu. Er sagte: »Ich muss mich um meine Gefährten kümmern.«

»Ich sagte dir, dass das nicht nötig sei«, meinte die Alte. »Pleton ist bereits mein Gast, er schläft in meiner gemütlichen Herberge.« Farida kicherte in sich hinein. »Und deine Ilfa wird früher oder später auch den Weg zu mir finden. Sie kommen alle, an mir führt kein Weg vorbei. Und sie finden hier Asyl. Aber du bist mein erster herrschaftlicher Gast. Ich erkenne Männer deines Schlages sofort, Mythor. Du bist ein Heroe, nicht irgendein Schwertträger, sondern ein waschechter Sohn des Kriegers Gorgan. Hast du zu ALLUMEDDON gekämpft? Gewiss hast du das. Wer Mythor heißt, ist zum Heerführer geboren.«

»Ich erinnere mich nicht.« Mythor erzählte Farida von seiner Gefangenschaft bei der Hexe Yorne, von seiner Befreiung und dem wechselvollen Kampf gegen Kalaun und seine Mangoreiter. »Alles, was davor gewesen ist, das habe ich vergessen.«