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Tom Wolf

Nachtviolett

Viel Mord um nichts

Preußenkrimi

 

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ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:
berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2015
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
post@bebraverlag.de
Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin
Umschlaggestaltung: Hauke Sturm, Berlin, unter Verwendung eines Gemäldes von Johann Elezar Schenau (© akg images)
ISBN 978-3-8393-6150-4 (epub)
ISBN 978-3-89809-516-7 (print)

www.bebraverlag.de

In memoriam
Honoré Langustier
(2001–2015)

Die wichtigsten historischen und fiktiven Hauptakteure

Amalie – Schwester Friedrichs II.

Gerardine von Beeren – Urenkelin Honoré Langustiers, Enkelin von Honorés Tochter Marie von Quandt, Tochter von Maries erstem Sohn Honoré von Beeren

Georg Distel – Polizeikommissar

Friedrich Christian Flemming – Salzhofschreiber

Friedrich II. – König von Preußen

Friedrich Wilhelm – Kronprinz, Neffe und Nachfolger Friedrichs II. (im Volksmund der »dicke Willem« oder der »dicke Lüderjahn«)

Honoré Langustier (Salvary) – ehem. Zweiter Hofküchenmeister

Louis Philippe de La Vallée – Schatullverwalter des Kronprinzen

Johann Albrecht Philippi – Berliner Stadtpräsident und Polizeichef

Marie von Quandt, geb. Langustier – Tochter Honoré Langustiers und seiner ersten Frau Marie; in erster Ehe verheiratet mit Adrian von Beeren

Heinrich Gottlieb von Römer – stellvertretender Salzhofkontrolleur

Jean-François de Saint-Émilion (Der Doktor) – Protegé de La Vallées

Schmucker, Johann Leberecht – Erster Generalchirurgus und Direktor der Charité

»Herr« Schöning – Erster Kammerdiener Friedrichs II.

Alexander Stimming – Sohn des Wirts vom »Neuen Krug« in Wannsee

Johann Christoph Wallner – Rentmeister der Domänenkammer des Prinzen Heinrich von Preußen

Johann Heinrich Wiedebrock – Polizeiinspektor

Die Bande (der feste Jochum, der Sachse, der Pötter, der Schornsteinfeger, die Indianerin, die Hutmacherin, das Frettchen, der rote Christian, die drei Brüder Drillisch)

Der Überfluß pflegt auch den
allerweisesten Verstand zu blenden.

Sie reden mir von Bankerott etc., die ganze Welt macht Bankerott, und was ist endlich der Tod anders, als ein Bankerott am Leben?

Friedrich der Große

Inhalt

Freitag, 26. April 1782

Sonnabend, 27. April 1782

Sonntag, 28. April 1782

Montag, 29. April 1782

Dienstag, 30. April 1782

Mittwoch, 1. Mai 1782

Donnerstag, 2. Mai 1782

Freitag, 3. Mai 1782

Sonntag, 5. Mai 1782

Montag, 6. Mai 1782

Mittwoch, 8. Mai 1782

Historische Stichworte

Freitag, 26. April 1782

Berlin war nass und kühl. Seit Wochen regnete es unaufhörlich, und das Spree-Hochwasser bildete das Tagesgespräch, wo es schon sonst so wenig zu reden gab. Der König besuchte seine Residenzstadt selten – selbst zum Karneval kam er nicht mehr jedes Jahr wie früher. Fast nur noch bei den jährlichen Manövern konnte man sicher sein, ihn zu sehen, oder bei seinen Besuchen der geliebten alten Schwester Amalie. Wenn er kam, wohnte er jedoch lieber in seiner Charlottenburger Schlosswohnung als in der Berliner, denn das Schloss in der nominellen Hauptresidenz liebte er nicht, vielleicht, weil ihm die Erinnerung an den zornigen und geistlosen Vater darin noch immer zu lebendig wurde. Auch seine Brüder Heinrich und Ferdinand brachten kaum Leben in die Stadt. Der Unter den Linden wohnende Heinrich verbrachte die meiste Zeit lieber in seinem Schloss Rheinsberg, und Ferdinand siedelte vor den Toren der Stadt im Schlösschen Friedrichsfelde. Wirtschaft und Handel, die für gewöhnlich eine große Stadt umtreiben und beleben, waren durch eine vom König eingesetzte französische Regieverwaltung mehr behindert als gefördert. Alles, was in die Stadt kam und heraus wollte, wurde mit penibel festgesetzten Abgabebeträgen besteuert, sodass Berlin mehr einer Festung der Verwaltung und Kontrolle glich denn einer lebenslustigen Metropole. Unter Stadtpräsident und Polizeichef Philippi war Berlin das Musterbeispiel an Recht und Ordnung für ganz Preußen, sodass Friedrich Nicolai, Buchhändler und Verfasser der langweiligsten aller Stadtbeschreibungen, frohlocken konnte: Von Diebesbanden hört man selten, von Morden auf der Straße gar nicht, von gewaltsamen Einbrüchen und anderen beträchtlichen Diebstählen, vergleichsweise gegen andere große Städte, nicht viel. Man kann auf den Straßen die ganze Nacht hindurch ebenso sicher gehen als bei Tage – diese Sicherheit hat man teils der Aufmerksamkeit der Polizei auf das Betragen aller verdächtigen Personen zu danken; teils tragen die Patrouillen, welche auf Befehl des Gouverneurs die Wacht habende Garnison die ganze Nacht tut, die Nachtwächter und in allen Straßen von September bis Mai brennenden Laternen nicht wenig dazu bei. Kurz gesagt: Es war viel einfacher, in diesem Berlin an Langeweile oder Herzverfettung zu sterben als an irgendetwas sonst.

Noch machte keiner der achtzehn Nachtwächter seine Runde in den Distrikten. Nur an der königlichen Salzniederlage in der Stralauer Vorstadt, inmitten der Königlichen Holzmärkte, Holzniederlagen, Kalkscheunen und Kalkniederlagen, herrschte trotz der vorgerückten Stunde noch Geschäftigkeit. Am späten Nachmittag war eine Lieferung aus den Schönebecker Salinen im Herzogtum Magdeburg eingetroffen – wegen des Hochwassers viel später als üblich. Das Löschen war nicht ohne Gefahr für die Ladung und das Wohl der Schiffer abgegangen. Drei Mann hatten beim Vertäuen des Kahns Blessuren erlitten, denn er war vom Wasser mit Gewalt an den Anleger gedrückt worden. Nur vier Fuß durfte der Fluss noch steigen, danach würde er bis an die Mauern des Niederlaggebäudes schwappen. Auch das Salzlager des Magazingebäudes an der Friedrichsgracht lief Gefahr, sich in Wasser aufzulösen. Fünftausend Salzfässer wurden aus dem Parterre auf die oberen Stockwerke verteilt.

Im Verwaltungsgebäude des Salzhofes vollzog sich ungeachtet all dessen die letzte Amtshandlung des Tages. Wie jeden Freitag mussten die Einnahmen der Woche an die Generalsalzkasse auf dem Königlichen Schloss abgeliefert werden. Hauptmann Heinrich Gottlieb von Römer, Stellvertreter des Oberkontrolleurs des Kanal-, Salinen- und Salzwesens, Major Georg Christian von Schumann, welcher sich auf Inspektionsreise im Salzkreis befand, blickte trotz des Unfalls an der Salzniederlage zufrieden auf die Woche zurück. Die Kassentruhe war praller gefüllt als gewöhnlich, denn in den vergangenen Tagen waren Gelder aus Hinterpommern, dem Netzedistrikt und dem Herzogtum Preußen eingetroffen. Nachdem die schwere Eisentruhe in einen Planwagen verfrachtet war, setzten sich die vier Mann des Wachtrupps auf niedrige Bänke zu ihren Seiten. Der Hauptmann nahm auf dem Kutschbock neben dem Kutscher Platz, während sich sein Assistent, Feldwebel und Salzhofschreiber Friedrich Christian Flemming, zu den Soldaten unter die Plane begab. Flemmings militärischer Rang verlieh ihm mehr Autorität über sie, als er sonst gehabt hätte, denn er war für sie ein weibischer, eitler und selbstgefälliger Geck. Ein Assistent des stellvertretenden Kontrolleurs – was war das schon in den Augen eines Soldaten Seiner Majestät? Ein Waibel dagegen stand immer über ihnen, ganz gleich, was sie von ihm als Mensch dachten.

Langsam rollte das Gefährt auf die breite Allee der Holzmarktstraße hinaus. Heftiger Regen rauschte auf die kahlen Äste der Ulmen, Robinien und Maulbeerbäume im ehemaligen Königlichen Lustgarten Belvedere auf der anderen Straßenseite hernieder, von dem ein halbes Jahrhundert zuvor die auswärtigen Gesandten der größeren Mächte ihre Prunkeinzüge nach Berlin und Cölln zum Schloss hin begonnen hatten.

Römer schlug den Kragen seiner Uniformjacke hoch und hielt ihn vorne zusammen, denn er hasste es, wenn ihm das Wasser am Hals schon herab Richtung Bauchnabel lief, wiewohl alles andere noch trocken war. Sie waren in Sichtweite der ehemaligen Bastion VIII, des Stralauer Bollwerks, hinter dessen fast vier Lachter hohem Wall die Schleusenbrücke auf die Insel Berlin lag, als im schwachen Lichtschein weiter vorne auf der Straße ein seltsames Hindernis auftauchte. Römer sah es im Regen nicht deutlich, doch er wies den Kutscher an, langsamer zu fahren, um bei eventueller Notwendigkeit rasch anhalten zu können. Sie passierten das letzte bebaute Grundstück auf der linken Seite, hinter dem ein Streifen Niemandsland zwischen Straße und Spree begann. Flemming unterhielt die Soldaten hinten unter der Plane gerade mit einer galanten Geschichte über ein hübsches Mädchen von der Jungfernbrücke auf dem Friedrichswerder:

»Sie war die absolute Schönheit, die schönste und liebreizendste Frau, die ich jemals sah, und ich ließ mich von ihr, nachdem sie mich an der Brücke angelächelt und angesprochen, wie verzaubert ins Elisium hinter der Stralauer Mauer entführen.«

Bei dem Wort Elisium leuchteten aller Augen, denn es war ohne jeden Zweifel das bekannteste der Berliner Bordelle – inmitten von Kasernen und militärischen Magazingebäuden. Die Mädchen waren liebreizend anzuschauen, sie waren nicht vulgär, sondern hatten Herz und auch Verstand, denn die Betreiberin, Elise Kuckuck, achtete sehr darauf, dass hier stets ein kultivierter normaler Café-Betrieb das Dahinterliegende kaschierte, dem sich auch der achtbare Bürger, vor dem Eintreten vielleicht gerade mal vorsichtig nach allen Seiten sichernd, nicht verschloss …

»Ich durfte sie zu einem Glase Wein einladen, das mich einen halben Wochensold kostete. Aber ich hätte ihr mit Freuden das kümmerliche Salär eines ganzen Monats zu Füßen gelegt.«

Die Zuhörer stellten sich alle ihr ideales Mädchen vor (jeder ein gänzlich anderes, versteht sich). Sie lauschten mit eher gemäßigtem Interesse …

»Doch als wir beim zweiten Glas angekommen waren und ich schon hypnotisiert wie das Kaninchen vor der Schlange saß, stürmte plötzlich ein grober Kerl herein, baute sich wutschnaubend vor mir auf und …«

Weiter kam Flemming nicht, denn der Wagen stoppte abrupt, sodass sie alle Mühe hatten, auf den Bänken sitzen zu bleiben, und sich aneinander festhalten mussten. Laute Stimmen waren zu hören, und es war sofort ausgemacht, dass sie nach draußen mussten. Flemming saß stocksteif da und sah tatenlos zu, wie die vier, zwei und zwei nacheinander, den Abgang machten. Er hörte zweimal das gleiche Handgemenge und ein paar harte Schläge, dann war es still. Zwei Gesichter tauchten in der hinteren Öffnung des Planwagens auf. Die Männer trugen Soldatenuniformen, waren aber alles andere als Soldaten …

»Kiek an, det Kanzlistenjespenst!«, bellte der eine, ein Ochse von Mann, der bei den Seinen der feste Jochum hieß.

»Los, ruff uff den Bock!«, bellte er zu Flemming hin.

Der andere lächelte nur dazu, aber es war ein böses, bitteres Lächeln. Diesen nannten sie den Doktor, eine dürre Figur mit zu großem Kopf. Er hatte in Paris bei berühmten Männern die Medizin studiert, hatte jedoch kein Diplom – irgendetwas war schiefgegangen und er seither auf der schiefen Bahn.

Beim Rausklettern sah Flemming das emsige Treiben auf der Straße: Zweie schlugen die Plane eines seitlich stehenden Wagens zurück – er erkannte den Pötter und den Schornsteinfeger. Zwei weitere, der Sachse und das Frettchen, luden die Wochenkasse dorthin um. Am hier frei zugänglichen Spreeufer, wegen des Hochwassers bis auf zwanzig Lachter an die Holzmarktstraße herangerückt, lag ein Kahn vertäut, zu dem anschließend mit der Hilfe dreier weiterer – der Drillisch-Brüder – die bewusstlosen Körper Römers, des Kutschers und der Wachen geschleift wurden.

Flemming setzte sich neben den festen Jochum, der ihn so derb angeredet hatte und der jetzt den neuen Kutscher gab. Die drei Drillisch-Brüder und der Sachse, eilig vom Ufer zurückgekehrt, kletterten hinten hinein. Ihre Soldatenuniformen saßen genauso schlecht wie die von echten Soldaten. Dies alles hatte sich in Minutenschnelle abgespielt. Schon drehten sich die Räder wieder … Flemming bekam kaum mit, wie sie über die Schleusenbrücke fuhren, im Rechtsschwenk zwischen Großem Friedrichshospital und Provianthaus hindurch in die Stralauer Straße gelangten und sich via Molkenmarkt und Berlinischem Fischmarkt dem Nadelöhr des Mühlendamms mit seinen unzähligen Krämerbuden und Mühlen näherten. Auf Cöllnischer Seite angelangt, bogen sie über den Cöllnischen Fischmarkt rechts in die Breite Straße ein und rappelten am Marstall vorbei dem Schlosse zu.

Regenhuschen versprühten sich auf den Katzenköpfen des Schlossplatzes, als die eisenbeschlagenen Reifen darüberschrammten und die Hufe der Rösser ihre hell klingenden Schläge hören ließen. Die Pflastersteine glänzten im Mondlicht, das in der Dunkelheit immer dann auflebte, wenn der Südwest die Regenwolken zerfranste und die bleiche Scheibe – noch ein Tag bis Vollmond – in den Zwischenräumen auftauchte. Die Wachen am Portal Nummer Zwei interessierten sich nur wenig für den üblichen Geldtransport des königlichen Salzhofes an diesem Abend. Der matte Blick, der in den Wagen fiel – flankiert vom müden Strahl aus dem Schlitz einer Blendlaterne – bemerkte nichts Verdächtiges, nur vier Soldatengesichter, die aus höchst bekannten, über jeden Verdacht erhabenen ungepflegten und schlecht geschnittenen Uniformen herausstachen. Flemming wies seinen Pass vor und erklärte, dass der Vertreter des Kontrolleurs, Hauptmann von Römer, wegen des Unfalls am Graben in der Charité sei. Die Laternen in der Passage flackerten und rußten. Es wurde ungemütlich in diesem Zugwind. Die Männer in der Durchfahrt schlugen die Mantelkrägen hoch und waren bemüht, schnell wieder in ihre rot-weiß angestrichenen Holzhäuschen zu kommen.

»Wünschen jute Verrichtung! Passieren!«

Schon war die Durchfahrt frei. Der Wagen rollte die letzten Meter bis zum Einstieg in die Katakomben. Wegen Ausbesserungsarbeiten war die Fassade des Eosanderbaus fast völlig eingerüstet. Hier schlummerte, in greifbarer Nähe bereits, der große Hauptschatz Preußens. Schon der Soldatenkönig hatte in dieser Höhle, im Kellergewölbe des Schlosses direkt unterm eigenen Schlafzimmer das Geld lagern lassen, seinerzeit noch in plumpen Bierfässern. Heute waren es schwere eiserne Kisten, mit dicken Beschlägen und Schlössern, in denen die Gelder der Generaldomänenkasse, der Kriegskasse, der Chargenkasse, der Salarien- und Extraordinarienkasse, der Hofstaatskasse, der Generalstrafkasse, der Departementskassen, der Generalsalzkasse, der Orangischen Successionskasse, der Haupt-Manufakturkasse, der Haupt-Magazin- und Fouragekasse, der Invalidenkasse sowie der Haupt-Bergwerks- und Hüttenkasse ruhten. Der Gesamtbetrag belief sich zu dieser Stunde auf 52.789.000.341 Taler und 27 Kreuzer, den erwarteten Geldtransport noch nicht mitgerechnet. Diese Gelder wurden – als Sicherheit für die von der mittlerweile existierenden Staatsbank ausgegebenen Pfund-Banco-Scheine – nie bewegt. Nahezu das ganze Schlossfundament auf der Schlossplatzseite bestand aus Silber.

Flemming pochte an eine kupfergrün gestrichene zweiflügelige Tür in der Ecke zwischen Portal Zwei und dem Eosanderportal zur Schlossfreiheit hin. Unter trübe brennenden Unschlittlampen kroch eine kleine livrierte Gestalt aus der preußischen Schatzkammer.

»Ergebenster Diener, Herr Flemming. Ja, wo ist denn der Herr Hauptmann?«

»Ergebenster Diener, Raabe! Es gab einen Unfall beim Löschen der Magdeburger Fracht. Das verdammte Hochwasser! Hauptmann Römer ist noch auf der Neuen Wache, er wird gleich nachkommen. Lassen Sie uns anfangen – es ist doch sehr ungemütlich in diesem verdammten Regen. Hier der Kassenbericht!«

»Na, das ist ja eine schöne Bescherung … Ist denn einer gestorben?«

Der emsige kleine Mann war voll des Mitgefühls, aber auch voll der rabenhaften Neugier.

»Zum Glück nicht. Aber einen hat es schwer erwischt. Der wird hoffentlich seine Beine behalten. Ein Tau hat sie ihm an der Bordwand fast abgeschnürt.«

»Meine Güte, das ist ja ein Elend! Und die anderen?«

»Ein Arm ausgerenkt, ein Matrose fast ertrunken. Als er ins Wasser fiel, riss ihm ein Haken die Hand auf.«

Die vier Uniformierten hatten derweil mit gespielter Kraftanstrengung die leere Wochenkassentruhe in die Kassenkatakomben getragen, wo in der Wachstube zwei gelangweilte Wächter Karten spielten. Am Ort des Überfalls hatten sie das Behältnis mit Römers Schlüssel geöffnet und den Inhalt auf den Kutschenboden geleert.

»Lauter neue Jesichter! Wo hamse euch denn uffjegabelt?«

Als Antwort kamen sattsam geübte Schläge des festen Jochums und des Sachsen gegen den Hals und vor die Brust. Bewusstlos und gefesselt lagen die beiden am Boden, als Kassenschreiber Raabe eintrat. Offenen Mundes stand er da, als er bemerkte, was geschehen war. Der längste der vermeintlichen Begleitsoldaten des Transports hatte sich hinter ihn gestellt, legte ihm jetzt den Arm um den Hals und fasste ihn beim Kinn. Ohne dass man sah, was der Doktor tat, sank Raabe mit einem Mal zu Boden. In des Doktors Augen stand ein merkwürdiges Leuchten. Flemming, der ihm gefolgt war, sagte mit käseweißem Gesicht:

»Seid ihr toll? Raabe hat uns doch gar nichts getan …«

»Noch vor dem Morgengrauen hätte er uns verpfiffen«, sagte der Doktor.

Der feste Jochum war ebenfalls bleich geworden, gab sich jedoch so, als wäre dies alles längst bekannter Bestandteil ihres Planes gewesen, und ergänzte:

»Und du Neunmalkluger solltest jetzt besser den Mund halten. Wir hätten auch dich kaltmachen können. In der Wirkung wäre es aufs Gleiche rausgekommen.«

»Aber die Wachen am Tor … Für die braucht ihr mich noch«, sagte Flemming, der mit zitternden Knien auf einen Stuhl sank und vor sich hin starrte, während die Geldkisten der Generalsalzkasse eine nach der anderen nach draußen wanderten. Über den Verlauf dieser verfluchten Chose war er alles andere als glücklich.

»Noch …«, hauchte der Doktor, und das fürchterliche Leuchten in seinen Augen war wieder da, während er Flemming beim Kinn packte und dieses zärtlich hin und her bewegte. »Noch, mein Lieber. Das hast du gut gesagt …«

Im ehemals Krumbholz’schen Haus am Neuen Markt in Potsdam ging es an diesem Abend äußerst geheimnisvoll zu. Kronprinzessin Friederike Luise brachte gerade ihre fünf Kinder zu Bett, als Kronprinz Friedrich Wilhelm ihrer beider Abendgesellschaft willkommen hieß und in den hinteren Gebäudeteil geleitete. Dort, im Haus in der Schwerdfegerstraße, wo normalerweise rauschende Bälle stattfanden, flackerten an diesem Abend nur einige Kerzen in der Mitte des großen Saales. Ein Halbkreis aus goldenen, mit roter Seide bezogenen Stühlen war aufgestellt. Hier nahmen wenig später Platz: das Kronprinzenpaar, die prinzlichen Adjutanten von Prittwitz und von Oertzen, der Amtsrat Karl Ahasverus Neuhof – Großarchivar der Großen National-Mutterloge in den preußischen Staaten –, Johann Christoph Wallner – Rentmeister der Domänenkammer des Prinzen Heinrich von Preußen – sowie Louis Philippe de La Vallée – Schatullverwalter und Finanzberater des Kronprinzen. Alle fassten einander auf einen Wink seiner Hoheit hin an den Händen und saßen fünf Minuten schweigend da. Dann gab der Kronprinz das Zeichen zum Beginn, worauf sich de La Vallée erhob, aus dem Saal ging und mit dem Medium wieder hereinkam. Die kleine Frau mit seltsam gelblich gefärbter Haut und schwarzem Haar setzte sich im Schneidersitz in den Brennpunkt des Halbkreises, mit dem Gesicht von den Sitzenden abgewendet. Der Kronprinz, den die Berliner wegen seiner enormen, immer noch wachsenden Leibesfülle den dicken Willem nannten, wegen seiner vermeintlichen Unfähigkeit, das Leben zu meistern, den dicken Lüderjahn und wegen der Fülle an Liebschaften den Vielgeliebten, instruierte seinen Adjutanten von Prittwitz, das Medium zu fragen, wer aus der Runde während der Sitzung sein Ansprechpartner sein solle. Das Medium erhob sich, drehte sich mit ausgestreckter rechter Hand dreimal um die eigene Achse und verharrte dann abrupt. Der Zeigefinger deutete auf de La Vallée, der einen schwachen Versuch machte, dieses Amt abzuwehren, was aber fehlschlug. Dem Befehl des Kronprinzen, seines Brotherrn, konnte er sich schwerlich widersetzen, und so fügte er sich schließlich mit Seufzen in sein Schicksal.

Als Erstes fragte das Medium, das wieder zu Boden gesunken war, nun jedoch das Gesicht den Sitzenden zuwandte, nach dem Geburtsort, dem Geburtstag und der genauen Geburtsstunde des Kronprinzen. De La Vallées Augen blickten irritiert zum künftigen König, der jedoch alle Bedenken wegwischte und lächelnd Auskunft erteilte:

»Berlin, 25. September 1744, 1.30 Uhr in der Nacht.«

Nachdem sie dies in der Wiederholung aus de La Vallées Mund erfahren hatte, verkündete die Gelbhäutige:

»Sonne in der Waage … Königliche Hoheit wägen oft die Vor- und Nachteile einer Situation genau ab, ehe Sie eine Entscheidung treffen. Hoheit können mitunter sehr unentschlossen sein. Sie haben einen angeborenen Sinn für Gerechtigkeit, sind diplomatisch, hilfsbereit, idealistisch, gesellig, manchmal aber auch abhängig, unaufrichtig, müßiggehend und zügellos.«

Hier war ein deutliches Glucksen zu hören, doch in der Dunkelheit war schlecht zu entscheiden, von wem es kam.

»Am glücklichsten sind Sie in Gemeinschaft oder in Situationen, in denen ein starker Wert auf menschliches Miteinander gelegt wird. Hoheit lieben ein angenehmes Ambiente. Da Hoheit die menschliche Gesellschaft das höchste Vergnügen bereitet, sind Sie nur ungern allein und haben eine starke Tendenz zum Verliebt-Sein-in-die-Liebe. Die Venus ist in Hoheits Horoskop äußerst wichtig.«

Hier schluchzte die Kronprinzessin tief auf, nur ein einziges Mal, um danach in Katatonie zu sinken.

»Königliche Hoheit haben eine romantische und sentimentale Natur und lieben es nicht, wenn um sie herum gestritten wird. Frieden ist für Sie sehr wichtig, und ebenfalls, von anderen gemocht zu werden. Da Sie häufig unentschlossen sind, entgehen Ihnen gute Chancen. Hoheit haben jedoch auch die Fähigkeit, die Dinge von mehreren Seiten zu betrachten, und sind somit ein wertvoller Ratgeber. Nein zu sagen fällt Ihnen sehr schwer. Daher ist es anderen oft leicht, die Meinung von Hoheit zu beeinflussen. Eine starke Persönlichkeit vermag Hoheit leicht zu dominieren. Sie müssen daher daran arbeiten, selbstständiger zu denken und sich für Ihre eigenen Überzeugungen und Prinzipien einzusetzen.«

Der Kronprinz klatschte, da hier ein Ende erreicht schien, in die Hände. Seinem dicken Lächeln war zu entnehmen, dass dieses Horoskop nicht ganz falsch sein konnte. Auch die Übrigen fielen nun in den Applaus ein und waren nahezu einhellig von der Treffsicherheit dieser Sprüche frappiert.

Das Medium wartete, bis alle sich wieder beruhigt hatten, um de La Vallée den Kronprinzen anschließend fragen zu lassen, ob es ihm aus der Hand lesen dürfe, um ihm eventuell in augenblicklichen Fragen oder Sorgen Auskunft und Entlastung geben zu können. Die Adjutanten erhoben sogleich Einspruch, fürchteten sie doch immer, dass die übergroße Nähe des Kronprinzen zu unbekannten Personen in ein Attentat, eine Behexung oder etwas anderes Schlimmes münden könnte. Doch der Kronprinz zerstreute ihre Bedenken. De La Vallée musste einen weiteren Stuhl für das Medium holen, das sich vis-à-vis vom Kronprinzen hinsetzte, geduldig wartete, bis der hohe, wohlgerundete Herr sich seines rechten Handschuhs entledigt und die Hand mit der Fläche nach oben vorgestreckt hatte. Die Gelbhäutige besah sich die fleischige, weiße, große Hand – auf der sich nur wenige schwach ausgeprägte Linien zeigten –, nickte dann, quasi zum Dank für diese Einblicke, und begab sich wieder in ihre vorige Position in den Schneidersitz.

De La Vallée entfernte den Stuhl und fragte, was sie gesehen habe. Hierauf blickte das Medium den Kronprinzen ernst an und sagte:

»Sie werden Berlin zu einer Schönheit machen, nach kurzem Krieg Frieden mit Frankreich schließen, wo der Pöbel die Macht an sich reißt. Sie werden ein weiteres Stück von Polen erhalten und am Ende Preußen um ein Drittel vergrößert haben. Aber wenn Ihre Zeit dem Ende zugeht, wird der Staatsschatz verschwunden sein und an seiner Stelle ein ebenso großes Loch klaffen.«

Alle saßen stumm nach diesem Wahrspruch. Der Kronprinz fragte direkt:

»Es wird viel spekuliert. Wann werde ich König?«

Nun verschleierte sich das Gesicht des Mediums, und es sagte: »Hierauf eine Antwort zu geben bedarf der Hilfe eines Geistes, der der überzeitlichen Ebene angehört! Denn nur diese Geister können über die Zukunft genaue Angaben machen. Ich dagegen kann nur Tendenzen aufzeigen und summarische Ergebnisse. Gibt es einen Geist, der mit Ihrer Familie in engstem Zusammenhang steht?«

Die Kronprinzessin, aus ihrer Lähmung erwacht, verfiel in heftiges Schluchzen, tupfte sich mit dem Taschentuch Nase und Augen, nickte und sagte mit scheuen, ängstlichen Blicken zu ihrem Gatten und zu der Gelbhäutigen:

»Christine! Ei, mei Christinsche doch …«

Die Gelbhäutige streckte den Rücken durch. Sie bat de La Vallée, ihr eine kleine Trommel zu geben, die nebst anderem Zubehör in einem hölzernen Koffer hinter der Stuhlreihe verborgen war. Nachdem dies geschehen, schlug sie die Trommel rhythmisch und ohne Unterlass, etwa fünf Minuten lang, dann plötzlich hörte das Trommeln auf. Sie schien nichts anderes mehr wahrzunehmen als das eigene Innere. Auf schauerliche Weise hatte sie plötzlich die Augen umgekehrt, sodass den Sitzenden aus den Höhlen in ihrem gelblichen Gesicht zwei alabasterweiße Flächen entgegenblickten. Den Eingeweihten war dies das Zeichen der vollendeten Trance. Plötzlich fragte die solcherart Entrückte mit Grabesstimme:

»Ist jemand hier?«

Dieses wiederholte sich noch zweimal:

»Ist jemand hier?«

»Ist jemand hier?«

Sie wendete den Kopf, und dort, wo hinter ihr bisher nur Dunkelheit gewesen war, sah man eine Nebelbank, in der, zum allgemeinen Entsetzen, eine hell leuchtende kleine Gestalt auftauchte.

»Mei Christiiinsche!«, rief die Kronprinzessin außer sich.

Ohne den Blick auf etwas Bestimmtes zu richten, sagte das Medium:

»Wie lautet dein Name?«

»Christine!«, kam es mit leiser, fast fiepender Stimme.

Die Kronprinzessin sackte auf ihrem Stuhl zusammen und kam erst wieder zu sich, nachdem der Kronprinz ihr etwas Riechsalz unter die Nase gehalten hatte.

Es folgten einige Fragen, welche die Lauterkeit des Geistes und seine Vertrautheit mit der kronprinzlichen Familie unter Beweis stellen sollten. Nachdem dies zur Zufriedenheit geschehen war, instruierte das Medium den Geist des kleinen Mädchens folgendermaßen:

»Wir möchten von dir einige Auskünfte über die Zukunft. Bist du bereit, diese Auskünfte zu geben?«

»Ja!«

»So sage mir: Wann wird der jetzige König zum letzten Mal König sein?«

Das Bild wurde matter, verschwand zur Gänze, um dann überhell wieder zu erscheinen. Die Kinderstimme verkündete:

»Am 17. August 1786.«

Eine allgemeine Welle der Enttäuschung lief durch den Halbkreis der Stühle. Dieses Datum lag viel ferner in der Zukunft, als alle Anwesenden gehofft hatten.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, entfuhr es Wallner, der de La Vallée ansah, als brächen die Säulen zusammen, die den Himmel trugen.

Der Geist verschwand, und das Medium, aus seiner Trance erwacht, sagte mit ärgerlicher Stimme:

»Die Konnexion ist unterbrochen! Die Unruhe hat den Geist vertrieben! Ich muss Sie alle bitten, absolute Stille einzuhalten, denn nur so lässt sich vernehmen, was der Geist uns sagen kann. Allein in völliger Ruhe kann er noch einmal gerufen werden, und auch dieses nur, wenn wir Glück haben und das Schicksal es gut mit uns meint.«

Wieder begann das Trommeln, wieder begann das Fragen:

»Ist jemand hier?«

»Ist jemand hier?«

»Ist jemand hier?«

Dieses Mal schien das nicht auszureichen. Sie wiederholte es. Erst nach drei mal drei Fragen flackerte das Bild des Geistes auf der erneut im Raume stehenden Nebelbank wieder auf.

De La Vallée bat den Kronprinzen, als folgte er einer plötzlichen Eingebung, selbst eine Frage stellen zu dürfen. Der Kronprinz erlaubte es und versicherte dem Medium, dass die folgende Frage quasi von ihm gestellt sei. Das Medium gestattete dieses Vorgehen nun seinerseits, und so fragte de La Vallée: »Ist es wahr, dass die kronprinzliche Schatulle dann bis zur Neige geleert sein wird und im Folgenden auch alle Kassen des Staates vollständig ausgeschöpft werden?«

Das Medium gab die Frage weiter, und der Geist antwortete:

»Ja, vollständig und darüber hinaus. Was vorher da war, wird später nicht mehr da sein, und so viel, wie da war, wird fehlen.« Ein allgemeines Aufseufzen durchwehte den hohen Raum. Von den meisten unbemerkt, hatte ein Diener sich de La Vallée von hinten genähert und ihm einen Zettel gereicht, um sofort wieder zu verschwinden. De La Vallée entfaltete den Zettel, und seine Augen glommen mit einem Mal in einem überirdischen Feuer.

Er fixierte das Medium und hob dreimal in rascher Folge die Augenbrauen. Ohne den Kronprinzen um Erlaubnis zu bitten, fragte er:

»Besteht Hoffnung, den Bankerott, welcher der kronprinzlichen Schatulle droht, in irgendeiner Weise abzuwenden?«

Hier wand sich der Kronprinz mit deutlichem Unbehagen auf seinem Stuhl wie ein dicker, in blauen Uniformstoff eingenähter Wurm. Die Kronprinzessin hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf war auf die Brust gesunken. Sie schien eingeschlafen zu sein.

»Ja, es kann geschehen. Es besteht durchaus Hoffnung, dass Sie Ihre Verluste ausgleichen und sich einen dauerhaften, außerordentlichen Wohlstand erhalten können, sofern Sie fähige Berater für sich wirken lassen.«

Das Geisterbild flackerte, dann erstarb es. Das Medium sank bewusstlos zu Boden. Alle Teilnehmer der Sitzung sprachen aufgeregt durcheinander. De La Vallée ging zum Medium, half der Gelbhäutigen behutsam auf die Beine, die sich gegen das Prinzenpaar verneigte, die Augen wieder geöffnet, doch scheinbar ohne Erinnerung an das gerade Vorgefallene, und führte sie aus dem Saal.

»Das war perfekt!«, flüsterte er. »Deine Bauchrednerei hat große Fortschritte gemacht!«

»Dann ist es also gut gegangen? In Berlin?«, fragte sie.

Er nickte und wachte, nachdem er sie in die Kutsche gesetzt, später auch persönlich darüber, dass die Laterna Magica, mit der das Geisterbild auf die künstliche Nebelbank projiziert worden war, das Palais verließ.

Sonnabend, 27. April 1782

Honoré Langustier saß auf der Terrasse seiner Villa am Heiligensee in der Sonne. Der Winter war zwar mild gewesen, hatte aber dennoch an den Nerven gezerrt. Klirrende Kälte wäre ihm viel lieber gewesen als dieser lange Zustand der kühlen In-differenz. Jetzt schien urplötzlich mit großer Heftigkeit der Frühling ausgebrochen. Er blickte über seinen Garten, in dem fast über Nacht ein Blütenteppich aus Krokussen, Winterlingen, Schneeglöckchen, Buschwindröschen, Scharbockskraut und Zweiblättrigen Blausternen ausgerollt worden war, hinaus aufs Wasser, das in der Sonne blinkte wie gehämmertes Silber. Seit fünf Jahren war er nun schon in Rente, aber dies war ein Zustand, der recht eigentlich nur auf dem Papier Bestand hatte. Im tiefsten Innern seines Herzens blieb er weiterhin der Zweite Hofküchenmeister Seiner Königlichen Majestät, wachte jeden Morgen gegen vier Uhr auf und entwarf im Geiste einen imaginären Küchenzettel, den er gegen fünf dem König vorlegte. Dann erst konnte er wieder einschlafen. Es gab diese Zettel wirklich, er schrieb sie tatsächlich und legte sie in eine kleine, kunstvoll aus hellem Rosenholz gearbeitete Schatulle.

In Sorge, seine knapp bemessene Zeit mit aufkeimenden Erinnerungen oder Sentimentalitäten zu verplempern, widmete er sich lieber der Post, die ihn nach wenigen Tagen der Abwesenheit erreicht hatte – er war in Begleitung seiner geliebten Frau Rahel in Bad Pyrmont gewesen, um den Brunnen zu trinken wie jedes Frühjahr nach des Königs früherer Manier. Der konnte sich allerdings schon seit Jahren diesen Luxus nicht mehr leisten – ein entspanntes öffentliches Flanieren ließen seine Beine nicht mehr zu.

Erfreut zog Langustier einen Brief aus Königsberg, der schon durch die akkurate Kupferstichschrift des Absenders hervortrat, aus dem Stapel, brach das Siegel und entfaltete die beiden Blätter.

Verehrtester Freund,

ich bin Ihnen für Ihre selbstlosen Bemühungen um meine professorale Wenigkeit zu größtem Dank verpflichtet! Da ist der Umstand, dass sie bislang fruchtlos blieben, und so, wie ich die Lage einschätze, auch bleiben werden, nur von sekundärer Bedeutung. Wenn sich Seine Majestät nun auch partout dagegen sträuben, eine öffentliche Widmung von einem für verschroben und fischig geltenden alternden Kollegen (soll heißen: Philosophen …) zu akzeptieren, so mag es mir recht sein, und ich will es hinnehmen wie einen unergründlich Spruch der Gottheit oder auch eine Emanation des Dinges an sich. Hätte er das Vergnügen gehabt, einmal leibhaftig in der Welt der Erscheinungen mit mir zu philosophieren, so wäre vielleicht alles anders gekommen. Statt des unseligen Kakadus (=Voltaire) wäre ich an seiner Seite gewesen, und wir hätten gemeinsam die Welt »einmal über den Kamin balbiert«, wie man hier in Königsberg so vieldeutig und die bekannte Redewendung verballhornend sagt. Ich trage indessen Seiner Majestät rein gar nichts nach und würde den Teufel tun, jemals die Stadt zu verlassen, die sozusagen seinen angeborenen, gottbegnadeten Titel im Namen führt. Damit Sie einmal sehen, wie hoch der gemeine Mann hierzulande vom König denkt, schließe ich den Brief eines Hirschberger Studenten ein, in dem mir dieser schilderte, wie der König vor einigen Monaten durch seine Heimatstadt fuhr:

Die Reise des Königs ist das allgemeine Gespräch. Am 18. August reiste er hier durch. Sie hätten das frohe Gewühl vieler Tausende, die aus der ganzen Gegend zusammengekommen waren, sehen sollen. Schon etliche Stunden vor seiner Ankunft ging’s an, und man las auf allen Gesichtern, dass man etwas Großes mit Freuden erwarte. Die voranreitenden Kuriere spannten diese Erwartung aufs Höchste. Endlich kam Er, der Einzige, und aller Augen waren mit dem sprechendsten Ausdruck von Ehrfurcht und Liebe auf einen Punkt gerichtet. Da Er im Wagen saß, so können Sie sich die mannigfaltigen Stellungen und Wendungen denken, die jeder machte, um sich die beste Richtung zu geben. Jeder vergaß sich und den drängenden Nachbarn und dachte jetzt nur an Ihn.

Ich kann die Empfindungen nicht beschreiben, die sich meiner, und gewiss eines jeden, bemächtigten, als ich Ihn sah, den Greis – in der schwachen Hand den Hut, im großen Auge freundlichen Vaterblick auf die unzählige Menge, die seinen Wagen umgab und stromweise begleitete. Als er vorbei war und ich mich wieder umsah, glänzte hin und wieder eine Träne im Auge; und das auch bei eifrigen Katholiken, die sonst immer in Verdacht sind (wohl zu Unrecht), als ob sie nicht gut preußisch wären. Alle, die das Glück traf, Ihn zu sprechen, waren über die väterliche Milde des großen Königs außerordentlich gerührt. Als Er sich eine lange Zeit über verschiedene Gegenstände mit den Ihm aufwartenden Kaufleuten aus dem Gebirge unterhalten hatte, fragte Er sie zuletzt, ob jemand noch etwas zu sagen habe. Der Kaufmannsälteste Lachmann aus Greiffenberg trat vor und sagte: die abgebrannten Bürger zu Greiffenberg statteten nochmals ihren untertänigsten Dank für das Königliche Gnadengeschenk zum Wiederaufbau ihrer Häuser ab; zwar sei ihr Dank von keinem Gewicht, sie bäten aber täglich Gott, diese Königliche Huld zu belohnen. Der König war sichtlich gerührt und antwortete: »Sie haben nicht Ursach, sich deswegen bei mir zu bedanken, es ist meine Schuldigkeit, dass ich meinen verunglückten Untertanen wieder aufhelfe, dafür bin ich da.« Worte, würdig eines Friedrichs. So spricht Er nicht nur, so handelt Er auch. Der ganze Tag war für die Stadt ein Festtag, und man sprach von nichts, als dass der König so freundlich gewesen wäre und auf die Menge so mit Wohlgefallen gesehen hätte. Als er wieder wegfuhr, war alles eine Stimme: Lange noch lebe unser Vater! Und ein großer Strom begleitete Ihn. Abends wurde ein Feuerwerk veranstaltet, wobei die Worte brannten: Es lebe Friedrich der beste König!

Dem ist nun rein gar nichts von meiner Seite hinzuzufügen! Zum Beschluss möchte ich es aber nicht versäumen, Ihnen noch mit ein paar dürftigen Worten die Hauptfragen meiner Philosophie zu umschreiben, worum Sie mich baten. Meiner Ansicht nach muss jede engagierte Philosophie die folgenden vier Fragen beantworten: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Und 4. Was ist der Mensch? Mit andern Worten, mein lieber Freund: genau die vier Fragen, die sich auch ein jeder seiner Verantwortung bewusste Küchenmeister stellen muss, bevor er sich daranmacht, für die Großen und Mächtigen unserer Welt zu kochen. In der Hoffnung auf weitere erquickliche Nachrichten von Ihnen, werter Herr, verbleibe ich als Ihnen treulich ergebener

I. Kant, Königsberg.

1755 hatte Langustier Kants erstes Buch über die Sterne gelesen und seither versucht, dem König durch gelegentlich eingestreute Bemerkungen eine bessere Meinung von dem gelehrten Mann zu verschaffen. Behutsam, als handelte es sich um eine Rindenschrift aus den Gräbern der alten Babylonier, faltete Langustier den Brief wieder, legte ihn auf die Seite und nahm ein zweites Schreiben aus dem Stapel, bei welchem er ebenfalls sofort den Absender erkannte.

In der Hoffnung, Ihnen, wertester Herr, bei Gelegenheit einer freudigen Nachricht schreiben zu können, hielt ich die ganze Zeit mit einem Briefe zurück. Nunmehr, da für uns nach Lessings Tod hier ein Jahr lang alle Hoffnung in Trauer sich verwandelt und mich des Königs Schrift über die deutsche Literatur mit seiner Abkanzelung meines Götzen in eine arge Schlucht der dunklen Gefühle gestürzt hat, muss ich mich förmlich am eigenen Schopfe packen und aus dem Sumpfe der Lethargie ziehen, um Ihnen endlich meinen schuldigen Dank zu sagen für die extraordinäre Sendung märkischer Geschiebe und Petrefakten! Besonders die Knochen der eiszeitlichen Pferde, die Sie geruhten, mir selbstlos zu überstellen, sind mir mehr als begehrt und werden demnächst in die hiesigen herzoglichen Sammlungen einziehen. Falls Sie einen Schädel finden, so senden Sie ihn doch auch! Seit ich das neue, große Haus am Frauenplan bezogen habe, tun sich auch für meine häuslichen Studien immer mehr Möglichkeiten der Expansion vor mir auf, und ich gedenke wohl, das kleine Garten-Häusgen zu einem geognostischen oder osteologischen oder auch botanischen Laboratorium und Privat-Kabinett zu machen. Am allerliebsten alles zusammen! Ich wünsche Ihnen von Herzen Gesundheit (was mir angesichts des schrecklichen Schnuppens, mit dem der Herzog hier sein ganzes Geheimes Konsilium inklusive meinerselbst infiziert hat, nur umso aufrichtiger von der Seele geht) und lege als kleine erheiternde Gegengabe eine winzige Entgegnung auf des Königs Schrift über die deutsche Literatur bei. Sie mögen sie lesen und anschließend verbrennen oder aber auf irgendeinem, nur Ihnen möglichen Wege (vielleicht als Bittsteller verkleidet?), Seiner Majestät in die knochige Hand drücken. Seine Schrift hat vor der drögen und langweiligen Mendelssohn’schen Deutschen Litteratur immerhin den Vorzug der absoluten Ignoranz, dito Ungerechtigkeit, veritablen Maßlosigkeit und fulminanten Absurdität. Man sollte ihm eine Karte für Schillers eben vom Stapel gelassene Räuber und eine Expresskalesche ins Mannheimer Theatrum Maximum spendieren, damit er einmal begriffe, dass es in deutschen Landen sehr wohl eine Literatur gibt, die sich einen feuchten Kehricht um die Plümos der Paläste und um den parfümierten Wortausstoß der Franzosen schert, es sei denn, man könnte damit ein Feuer machen und am Spieße eines preußischen Nachtwächters einen Verfasser ungerechter Deutscher Litteraturen darüber braten.

Weimar, den 3. April … JWG.

Langustier hatte das Glück gehabt, den Weimarer 1778 in Berlin kennenzulernen, und erinnerte sich lebhaft an den seinerzeit etwas verstockten, auf sein Inkognito bedachten Gast des Langustier’schen Familientreffens. Er hatte die rapide Entwicklung des Dichters und umtriebigen Hobbywissenschaftlers seither mit Interesse verfolgt und lachte aus vollem Herzen über die erhaltenen Zeilen, sodass einige Gänsesäger und Löffelenten, die unweit reglos wie Rettungsringe aus Kork auf dem Wasser vor sich hin gebrütet hatten, mit lautem Geschnatter aufflogen. Er griff begierig nach dem erwähnten Zettel, als ihn der Ruf seiner Gattin Rahel aufhorchen ließ, der von einem Fenster der Villa über die ersten grünen Spitzen der Sträucher zu ihm herklang wie zartes Vogelgezwitscher:

»Honoré? Honoré-é! Da sind so ein paar Soldaten! Die wollen mir dich an diesem herrlichen Tag entführen. Ich glaube, es ist dringlich. Sie lassen sich nicht abwimmeln.«

Er erhob sich seufzend, die heiligen Briefe nur ungern auf dem Gartentisch im Pavillon zurücklassend. Daher legte er sie in eine Mappe aus dickem Wachspapier, die er im abschließbaren Schrank verwahrte. Den Landmäusen war nicht zu trauen. Die würden aus Neugier glatt ein unersetzliches Goethemanuskript zernagen …

Ein Lieutenant in der Halle übergab ihm mit großer Geste ein Billett, dessen Anblick ihn allein schon zusammenzucken ließ. Wie straffte sich seine Gestalt erst, als er es mit seiner vor die Augen gehaltenen Brille entziffert hatte. Die Schrift war selbst für einen Kenner des königlichen Gekrakels nur noch rudimentär zu erahnen. Besonders im zweiten Teil, der offenbar an die deutsche Sprache erinnern sollte …

Mon très cher maître – voulez-vous venir a mon cabinet, s’il vous plaît? Es seindt was Krudes forgevalln à Börlengn!

F.

Langustier hatte sich in aller Eile seinen alten betressten Küchenmeisterrock übergeworfen, den er hegte und pflegte wie ein Kalmückenpriester seinen Gebetsmantel, und zitterte innerlich vor Freude und vor Furcht, während er mit seinem Begleitoffizier in der Kutsche am ägyptischen Obelisken vorbei- und anschließend den Hügel von Sanssouci hinauffuhr. Wann hatte er zum letzten Mal etwas für Ihn gekocht? Was für Spezialaufgaben waren es gewesen, die ihn vor Jahren noch einmal mit Ihm hatten zusammentreffen lassen? Die Kutsche nahm die steile Schwelle zum Ehrenhof vor dem königlichen Weinbergs-Schloss, von dessen Wänden die letzten Reste des einst gelb gestrichenen Verputzes abblätterten, denn der König war der Ansicht, dass es ohnehin mit ihm in die Grube fahre. Er war diesmal früher als sonst aus der Stadt in sein geliebtes Hauptdomizil übergesiedelt.

Langustiers Gehirn fühlte sich weich und leer an, als ihn der Offizier an den Kommandeur der nur Truppstärke besitzenden Schlosswache übergab, der ihn an Kammerlakai Schöning weiterreichte, welcher am Portal bereits auf ihn wartete. Langustier versuchte sich auf Schönings Vornamen zu besinnen, doch er kam nicht drauf. Alle Welt nannte ihn Herr Schöning, vielleicht war ja Herr sein wirklicher Vorname? Herr Schöning brachte ihn bis vor das Bibliotheks- und Arbeitszimmer des Königs. Er hieß ihn zu warten und schlüpfte lautlos zum König hinein.

Langustiers Blick fiel auf eine kleine, fürchterlich urzeitliche und hässliche Kommode im längst untergangenen Stil dieses Schlosses, unter einem ebenso sintflutartig alten Spiegel, wo – wie er sich jetzt plötzlich erinnerte – bei seinem letzten Besuch 1778 ein kleines Bildnis Kaiser Josephs gestanden hatte. Und tatsächlich, es stand noch so dort wie vor vier Jahren. Er konnte es sich nicht verkneifen und hob es leicht an: Ein dunkler Streifen zeigte, wie herrlich Rosenholz unter einer dicken Staubschicht herausleuchten konnte … Langustiers Herzschlag begann den Standuhren des Schlosses Konkurrenz zu machen. Es war Viertel vor zwölf. Warum hörte man nichts von den Vorbereitungen zur Mittagstafel? Was war mit den königlichen Beitafeln? Im Eintreten hatte er instinktiv zu den Küchentüren am rechten Flügel neben dem Pferdestall gelinst, sie jedoch geschlossen vorgefunden. Auch an den Kaminen war kein Rauchwölkchen zu sehen gewesen.