Ondragon: Totenernte

Anette Strohmeyer

Originalausgabe

»Band 2«

III. Auflage © 2012-2014

ISBN 978-3-942261-38-8

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: bürosüd, München

© 2012 Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Danksagung

Was wäre ein Autor ohne seine Helfer? Mein erster Dank gilt meinen fleißigen Testlesern. Eure Kritiken und Anregungen machen aus einem Entwurf erst einen richtigen Roman. Genauso wichtig ist die moralische wie auch die schlichte praktische Unterstützung, für die ich meinem Mann und meiner Familie danke. Eine große Hilfe waren mir auch diesmal wieder meine beiden „Sommers“, mit denen ich viele inspirierende Gespräche führen durfte. Ein besonderer Dank gilt Hendrik Buchna, der dem Manuskript durch seine tolle Arbeit erst den letzten Schliff gegeben hat. Ich glaube, Mr. Ondragon muss Rocky Beach demnächst mal einen Besuch abstatten.

Und natürlich will ich auch meinen Verleger Ivar Leon Menger nicht vergessen, der das wunderbare Talent hat, andere mit seinen Ideen und seiner Begeisterung anzustecken. Es macht viel Spaß, mit ihm und allen anderen zusammenzuarbeiten.

Prolog

12. Januar 2010

Süd-Haiti, auf der Route 208 in Richtung Nan Margot

16.25 Uhr

Der Himmel drohte mit Regen. Die Wolken hingen in den Bergen, als wollten sie diese verschlingen. Grau fraß der Dunst sich die steilen Hänge hinab und löschte die Sicht auf Felsen und Bäume.

Christine Dadou beeilte sich. Sie wollte nicht nass werden. Wollte nicht, dass ihre schöne neue Schuluniform, ein rosa Kleid, für das ihre Mutter eisern gespart hatte, mit dem Schmutz der unbefestigten Straße besudelt wurde. Denn bei Regen verwandelte sie sich innerhalb von Sekunden in einen schlammigen Fluss.

Mit eingezogenem Kopf eilte Christine weiter und dachte an ihren Vater. Seit seinem Verschwinden vor drei Monaten war das Leben ihrer kleinen Familie noch beschwerlicher geworden. Sein mageres Einkommen als Blechschmied fehlte hinten und vorne, oft mussten Christine und ihr kleiner Bruder nach der Schule der Mutter bei der Arbeit auf dem Feld helfen. Christine war neun und ihr Bruder sieben. Sie besaßen nicht viel, lebten in einer kleinen Hütte aus Brettern und Wellblech auf einem winzigen Stück Land, auf dem sie Mais, Bananen und Kürbis anbauten. Zum Glück verlief hinter dem Grundstück ein kleiner Bach, so mussten sie das Wasser für den Haushalt wenigstens nicht von weit her schleppen wie einige ihrer Klassenkameradinnen. Das war der einzige Luxus, den sie hatten.

Christine bog auf den schmalen, steilen Pfad ein, der die Serpentinen der Passstraße abkürzte. Er führte durch einen Wald aus Kapok- und Gummibäumen. Christine kannte jeden Stein und jede Biegung, doch heute im Nebel der tiefhängenden Wolken wirkte der Pfad unheimlich und fremd. Wie ein Weg in die Geisterwelt.

In die Welt der Loas.

Dem Mädchen fröstelte, obwohl tropische Schwüle herrschte. Normalerweise wäre Christine jetzt mit den anderen Schulkindern aus dem Dorf unterwegs gewesen. Sie alle hatten denselben Schulweg und gingen immer gemeinsam, doch heute war ihr nicht wohl und die Lehrerin hatte sie früher aus dem Unterricht entlassen. Christine fühlte sich in letzter Zeit immer trauriger und weinte häufig, weil ihr der Vater fehlte.

Unbewusst hob sie die Hand an die Brust und umklammerte das Gris-Gris, das sie um ihren Hals trug. Ihre Mutter hatte das Amulett von der Mambo im Dorf gekauft. Es war ein Abwehrzauber. Auch ihre Mutter und ihr Bruder trugen eins.

Der Dunst wurde dichter und kroch zwischen den Stämmen der Bäume hindurch den Berg hinab. Ängstlich hob Christine den Blick hinauf ins Geäst. Sie fürchtete, dass Marinette-bois-chèche auf der Jagd war. Ein bösartiger Loa, der gern Menschenfleisch fraß. Marinette flog als Schleiereule verwandelt durch die Wälder und stürzte sich lautlos auf ihre Opfer, um sie zu verschlingen.

Christines Schritte wurden schneller. Der Wald war voller Geister. Sie wohnten in den Bäumen, in den Tümpeln und unter der Erde. Auch Werwölfe trieben sich hier herum. Eindringlich hatte ihre Mutter sie davor gewarnt, mit fremden Frauen mitzugehen, auch wenn sie noch so nett erschienen und ihr Hilfe anbieten würden. Dahinter verbarg sich meistens ein Loup-Garou, der es auf kleine Kinder abgesehen hatte.

Christine spürte, wie ihr Herz immer härter gegen die Rippen schlug. Ihr schmaler Brustkorb hob und senkte sich mit jedem ängstlichen Atemzug. Ihre Mutter sagte auch, dass ein Bokor in der Gegend sein Unwesen trieb, ein böser Zauberer. Desgleichen erzählten die Leute im Dorf davon. Sie behaupteten, dass die blancs, die sich vor drei Jahren oben in der verlassenen Mine in den Bergen niedergelassen hätten, mit dem Bokor zusammenarbeiteten. Denn seit die Fremden da waren, verschwanden immer wieder Menschen aus den umliegenden Dörfern. So auch Christines Vater, Etienne Dadou. Eines Tages war er nicht mehr aus Jacmel zurückgekehrt, wo er auf dem Markt regelmäßig seine selbstgemachten Blechsachen verkaufte. Für die Dorfleute war sofort klar, dass der Bokor der blancs damit zu tun hatte. Aber keiner unternahm etwas. Alle fürchteten sich. Auch Christines Mutter blieb tatenlos. Gegen einen Schwarzmagier könne man nichts machen, außer sich mit Gegenzauber schützen, sagte sie. Aus diesem Grund hatte sie drei ihrer besten Hühner im Tempel gegen die Gris-Gris-Anhänger getauscht.

Christine wusste nicht, was die blancs dort oben in den Bergen trieben, und es war auch verboten, in die Nähe der Gebäude zu kommen, die sie gebaut hatten. Aber natürlich war sie neugierig gewesen. Sie hatte noch nie einen Menschen mit weißer Haut gesehen und sich deshalb über das Verbot hinweggesetzt. Heimlich war sie in die Berge hinaufgestiegen, um einen blanc zu sehen.

Christine horchte auf. Irgendwo vor ihr im Wald hatte es geknackt. Im Nebel erschienen ihr die Silhouetten der Büsche und Felsen wie unheimliche Wesen, doch sie wusste, dass ihre Fantasie ihr nur einen Streich spielte. Dort war niemand.

Ihre Gedanken schweiften wieder zu den Fremden in den Bergen. Ihnen zu begegnen, war zunächst beängstigend gewesen, doch dann hatte sich ihre Furcht schnell in Enttäuschung gewandelt. Sie war ganz nah an das Lager der blancs herangeschlichen, bis zum beißenden Zaun, der dort gespannt war. Unter einem Busch liegend hatte sie so lange gewartet, bis etwas geschah. Nach einer ganzen Weile waren zwei Gestalten aus einem der Gebäude herausgekommen. Sie hatten sich Zigaretten angezündet und sich in einer fremden Sprache unterhalten. Beängstigend war gewesen, dass sie von Kopf bis Fuß weiß waren. Sie trugen weiße Hosen und Hemden und komische Hauben, und ihre Haut war so blass wie die Knochen, welche die Mambo in ihrem Tempel zum Beschwören der Geister benutzte. Die Gestalten sahen aus wie die beiden leibhaftigen Todesgeister: der Kreuzsammler Ramassent-de-croix und General Fouillé, von dem es hieß, er durchwühle nachts die Gräber auf Friedhöfen.

Am liebsten wäre Christine sofort weggelaufen, doch ihre Neugier war stärker gewesen. Und je länger sie den beiden weißhäutigen Wesen dabei zugesehen hatte, wie sie sich unterhielten und miteinander scherzten, desto klarer wurde ihr, dass dies keine Gèdè-Geister waren. Sie sahen zwar aus wie lebendig gewordene Skelette, entpuppten sich aber lediglich als Menschen. Männer aus Fleisch und Sehnen. Enttäuscht hatte Christine den Ort verlassen.

Ein erneutes Geräusch holte sie zurück in die Wirklichkeit.

War da ein Stöhnen zu hören?

Nervös schaute Christine sich um. Der Nebel war inzwischen so dicht geworden, dass sie ihn schmecken konnte. Mit jedem Atemzug floss er über ihre Lippen in ihre Lungen; feucht und mit erdigem Aroma. Wie der Atem des Grabes, dachte sie und erschauerte. Schnell setzte sie sich in Bewegung.

Als der Weg endlich bergab führte, begann sie zu laufen. Das Klatschen der abgetragenen Sohlen ihrer Sandalen auf dem harten Boden vereinte sich mit ihrem hämmernden Herzschlag. Es war nicht mehr weit bis zu der Stelle, an welcher der Pfad wieder auf die Straße führte. Von dort aus konnte man das Dorf schon sehen. Nur noch durch die schmale Schlucht und über den kahlen Buckel und dann …

Plötzlich stand eine Gestalt vor ihr, ragte wie ein Grabstein aus der Erde.

Erschrocken bremste Christine ihren Lauf, um nicht mit ihr zusammenzuprallen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel hintenüber. Sie wollte ihren Sturz abfangen, doch ihre schmalen Handgelenke knickten einfach weg. Ein stechender Schmerz schoss ihre Arme hinauf, und das neue Kleid landete im Schmutz. Tränen traten Christine in die Augen. Mit bebenden Lippen sah sie auf. Sie musste blinzeln, um durch den Tränenschleier etwas erkennen zu können.

Vor ihr stand ein Mann. Ein schwarzer Mann, doch seine Haut wirkte auf merkwürdige Weise weniger schwarz, sondern eher grau. Eine totengleiche Blässe überzog seine Arme und Hände, fast wie bei einem blanc. Er war bis auf die Knochen abgemagert und trug zerschlissene Kleidung, die von seinen Gliedmaßen hing wie zerfetzte Mullbinden. Seine Haltung war gebeugt, sein Gesicht mit Beulen übersät und entstellt.

Leicht schwankend, als hätte er zu viel Clairin getrunken, kam er auf Christine zu. Ein Arm hob sich ihr mechanisch entgegen und ein undefinierbarer Laut drang aus seiner Kehle. Verwesungsgeruch stieg ihr in die Nase.

Hastig rappelte Christine sich auf und wischte sich über die Augen, um besser sehen zu können.

Ihr Atem stockte.

Noch mehr Tränen quollen aus ihren Augen.

„Papa?“, hauchte sie ungläubig, als der feuchte Nebel ihr wieder Luft zum Atmen gab.

Der Mann, in dem sie ihren Vater erkannte, sagte nichts. Seine Augen waren milchig trüb wie bei einem kranken Hund und starrten an ihr vorbei. Aus seinem Mund troff gelblicher Speichel. Er machte einen weiteren schwankenden Schritt auf sie zu. Seine Finger mit den zersplitterten Nägeln bogen sich zu Krallen.

„Papa?”

Plötzlich schoss eine Hand vor und legte sich um Christines Hals.

„Papa! Was machst du?“, brachte sie mit Mühe hervor. Entsetzt starrte sie in das entstellte Gesicht. Brutal presste die Hand ihr die Luft ab. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen.

„Papa, ich bin es!“ Es war ein tonloses Krächzen. Verzweiflung packte Christine. Da fiel ihr das Gris-Gris ein und sie tastete mit einer Hand danach. Sie fühlte ihre Kräfte schwinden. Warum tat ihr Vater das?

Aber sie wusste es längst.

Er war nicht mehr ihr Vater.

Er war ein Zombie Cadavre - ein wiedererweckter Toter!

Mit letzter Kraft riss Christine sich das Schutzamulett vom Hals und stopfte es dem Zombie in den Mund, der ihr so nah gekommen war, dass sein fauliger Gestank sie einhüllte.

Mit einem schrillen Schrei ließ der Zombie von ihr ab und versuchte, sich das Gris-Gris aus dem Mund zu holen. In wilder Raserei drehte er sich um sich selbst und schrie dabei mit seltsam verzerrter Stimme. Beißender Qualm drang aus seinem Mund. Es roch nach verkohltem Fleisch.

Nach Atem ringend sah Christine zu, wie der Zombie sich mit Gewalt den Unterkiefer herunterriss. Knochen knackten und das Gelenk gab nach. Aber der Zombie wütete weiter, ohne Schmerz zu verspüren, bis er schließlich das Gris-Gris in der blassen Hand hielt.

In diesem Moment gelang es Christine, ihren Blick von dem Schreckensbild loszureißen. Ohne auf den kleinen Beutel mit den Schulutensilien zu achten, den sie hatte fallen lassen, rannte sie los. In waghalsig großen Sätzen stolperte sie den Weg hinab, bog hastig auf die Straße ein und lief in Richtung Dorf. Hinter ihr herrschte Stille. Dennoch traute sie sich nicht, sich umzuschauen. Sie rannte, bis ihr die Lunge zu zerspringen drohte. Ihre Muskeln brannten wie Feuer. Bald würden ihre Beine sie nicht mehr tragen können.

Die ersten Regentropfen trafen auf ihre Stirn, als sie mit letzter Kraft die Ansammlung von ärmlichen Hütten erreichte. Sie schrie, doch niemand kam ihr zu Hilfe. Das Dorf war wie ausgestorben. Wo waren alle?

In Panik lief sie zu ihrem Haus. „Mama? Mama!“ Doch auch das war leer. Christine warf die Tür zu und verriegelte sie. Schnell verkroch sie sich unter dem Bett. Gegen die Trommelschläge ihres rasenden Herzens anlauschend blickte sie zur Tür.

Stille.

Dann ein Scharren. War das ihre Mutter? Sie wollte gerade nach ihr rufen, da hörte sie das Stöhnen. Der Schweiß gefror ihr auf der Haut. Er war da vor der Tür. Das schreckliche Bild von der aschfahlen Fratze mit dem ausgerenkten Kiefer ließ sie am ganzen Köper zittern. Christine wusste, dass sie nun nichts mehr tun konnte, falls der Zombie zu ihr in die Hütte käme. Ihr Gris-Gris war weg. Sie hatte keinen Schutz mehr.

An der Tür erklang ein Schaben. Zersplitterte Fingernägel auf rauem Holz.

Der Zombie versuchte, sie zu öffnen, schaffte es aber nicht. Er stieß ein frustriertes Röcheln aus. Gurgelnd, unartikuliert.

Dann erneute Stille.

Ein Scharren an der Seitenwand der Hütte.

Christine wagte es kaum zu atmen. Von der wilden Flucht rauschte ihr noch immer das Blut in den Ohren. Ihre Augen suchten im Dunkel der Hütte nach einer Waffe. Regen begann laut auf das Wellblechdach zu trommeln.

Ein weiteres Scharren.

Plötzlich flog die Tür auf. Ein schwarzer Schatten stand im hellen Viereck. Ein Schatten mit verrenktem Kiefer. Christine schrie auf und versuchte, noch weiter unter das Bett zu kriechen. Sie hörte die schweren Schritte des Zombies. Sie näherten sich dem Bett.

Bondieu, dachte sie, bitte beschütze mich. Dann hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Donnern. Etwas Schweres stürzte auf das Bett über ihr, und Staub drang ihr in Mund und Nase.

Die Welt wankte. Der Boden bäumte sich auf, als versuchte er, die Menschheit abzuwerfen. Sämtliche Geister der Erde waren erzürnt aus ihrem Schlaf erwacht.

16.53 Uhr.

In der Hauptstadt Port-au-Prince fiel der Regierungspalast in sich zusammen, mit ihm unzählige weitere Gebäude. Zehntausende von Menschen wurden lebendig unter den Trümmern begraben.

16.54 Uhr.

Stille.

1. Kapitel

04. Februar 2010

Los Angeles, Kalifornien

7.25 Uhr

Der Morgen war dunstig und die Sicht über L.A. mies. Trotzdem schaute Paul Ondragon durch das armdicke Teleskop. Das lichtstarke Okular erfasste das schattenhafte 28-stöckige Hochhaus am Sunset Boulevard zu Füßen der westlichen Hollywood Hills, und Ondragon stellte es scharf. Die einzelnen Fenster an der Nordfassade des Gebäudes der Golden State Credit Bank waren gut zu erkennen. Hinter einigen davon konnte er schon Menschen bei der Arbeit sehen. Bläulich leuchteten ihre Computermonitore. Das waren die frühen Vögel. Ihnen würde er sich gleich anschließen. Doch vorher same procedure as every morning.

Ondragon schwenkte das Teleskop auf das oberste Stockwerk, auf das letzte Bürofester ganz links. Er blickte auf die Uhr. Kurz vor halb acht. Er ließ eine Minute verstreichen. Dann sah er, wie das Licht in dem Büro angeschaltet wurde, und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Kurz darauf erschien Charlize Tanaka am Fenster des Büros und goss die Yuccapalme auf der Fensterbank mit einer roten Gießkanne. Das war das verabredete Zeichen. Alles in Ordnung. Keine Unregelmäßigkeiten.

Einen Moment lang schaute seine Assistentin aus dem Fester und setzte sich dann an ihren Schreibtisch.

Es war kein Zufall, dass Paul Eckbert Ondragon im obersten Stockwerk jenes Bankgebäudes sein Büro hatte. Das gesamte Hochhaus war so sicher wie Fort Knox gegen Einbrüche geschützt (naja, fast wie Fort Knox) und, was viel wichtiger war, von seiner Villa am Doheny Drive aus gut zu beobachten. Das Gebäude bot ihm den optimalen Arbeitsort – obwohl es sich dabei ironischerweise um eine Bank handelte und seine Prinzipien es ihm verboten, jemals für Banken zu arbeiten. Dennoch sprach nichts dagegen, in einer Bank zu arbeiten. Schließlich wurden Banken durch modernste Überwachungstechnik geschützt, und dieses spezielle Kreditinstitut verfügte gleich über mehrere ausgeklügelte Fluchtwege für ihn und Charlize – falls es mal brenzlig werden sollte. Aber wer brach schon bei einer Bank im obersten Stockwerk ein, wenn sich der Tresor im Keller befand?

Zufrieden wandte sich Ondragon vom Teleskop ab, das vor dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer aufgebaut war, und ging zum Tresen der offenen Küche, wo der dreifache Espresso auf ihn wartete, den er morgens stets zu sich zu nehmen pflegte. Mit einem großen Schluck leerte er die Tasse, griff nach seinem Jackett, das auf der Stuhllehne am Esstisch hing, und fühlte routinemäßig in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Dabei fuhren seine Finger über den Talisman, der an dem Schlüssel hing, ein kitschiger Berliner Bär, der ihm vor einigen Jahren das Leben gerettet hatte.

Alles war an seinem Platz, er konnte sich also beruhigt auf den kurzen Weg zur Arbeit machen. Als er gerade die Haustür öffnen wollte, klingelte sein Handy. Mit gerunzelter Stirn fischte er das iPhone aus dem Jackett, sah auf das Display, und die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer. Die Vorwahl der Nummer war die der Vereinten Arabischen Emirate, jedoch hatte er dort im Moment keinen Auftrag laufen.

Nach einem weiteren Klingeln beschloss er dranzugehen. „Ondragon!“

„Hi, Ecks! Bis du gerade bei einem Job, oder können wir sprechen?“

Ecks – das war eine etwas eigenwillige Abkürzung für Eckbert. Und nur ein Mensch auf der ganzen Welt nannte ihn so. Ondragons Züge erhellten sich. „Rod! Na so was! Schön, von dir zu hören. Nein, ich bin frei, du kannst sprechen. Was gibt es denn? Und warum hast du eine Nummer aus den UAE?“

„Ach, weißt du, ich habe das Mainoffice von DeForce Deliveries vor zwei Monaten von Mombasa nach Dubai verlegt. Hier hat man mir einfach bessere Konditionen angeboten. Und, wo treibst du dich rum?“

„Du wirst es nicht glauben, Rod, aber ich bin zu Hause.“

„Nicht zu fassen. Das ist aber ein seltener Zustand.“

„Kannst du wohl sagen, die Geschäfte laufen nicht schlecht in letzter Zeit. Die Mädels von American Airlines sehe ich öfter als meine Assistentin im Büro. Und wie steht‘s bei DeForce?“

„Ich kann nicht klagen. Die Krisenherde der Welt werden nicht weniger, und überall benötigt man unsere Spezialtransporte. Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich anrufe, Ecks. Ich meine, um mit dir über das Business zu plaudern.“

Vielleicht hatte Ondragon sich das eingebildet, aber sein alter Freund klang beim letzten Satz auf einmal nicht mehr ganz so fröhlich. „Sondern?“, hakte er nach.

„Nun, Ecks, es ist so … ich brauche deine Hilfe!“

Ondragon legte das Jackett beiseite und setzte sich auf den Stuhl am großen Esstisch. Wenn Roderick DeForce seine Hilfe benötigte, dann musste er wirklich tief in der Scheiße stecken. „Schieß los“, sagte er.

„Einer meiner Mailmen ist verschwunden. Du kennst ihn nicht, er ist erst seit vier Jahren bei uns. Aber er ist ein sehr guter Mann. Zuverlässig. Tyler Ellys heißt er und wohnt in Tucson. Er bearbeitet zusammen mit ein paar anderen Kollegen Mittel- und Südamerika.“

„Ich wusste gar nicht, dass du auch auf unseren Kontinent expandiert hast.“

Der Boss von DeForce Deliveries lachte. „Tja, man geht mit der Zeit, obwohl das meiste immer noch in der arabischen Welt und in Afrika zu holen ist. Daran hat sich nichts geändert, seit du uns verlassen hast, Ecks. Was ich im Übrigen immer noch bedauere. Aber du warst schon immer auf einem ganz anderen Zug unterwegs. Einem Expresszug mit defekten Bremsen.“

„Sehr charmant, Rod.“

„Du weißt, wie sehr ich dich schätze, Ecks.“

In der Tat, das wusste Ondragon. Der fünfzehn Jahre ältere Roderick DeForce hatte ihn unter seine Fittiche genommen, als er in der wirren Zeit nach seinem Studium nicht so recht gewusst hatte, wohin mit sich und seinem beinahe krankhaften Zwang, jedes Problem lösen zu wollen, das sich ihm darbot. Der gebürtige Brite hatte Ondragons ungewöhnliches Talent erkannt und ihn zu DeForce geholt. Dabei hatte Rod seinem Schützling nicht nur uneingeschränktes Vertrauen in seine Fähigkeiten geschenkt, er war auch so etwas wie eine Vaterfigur für ihn gewesen.

Mehr Vater, als der Mann, der mich aufgezogen hat, dachte Ondragon bitter. Die Zeit bei DeForce Deliveries war eine verdammt gute gewesen. Dort hatte er viele „nützliche“ Dinge gelernt, die ihm jetzt zugute kamen.

„Und was hat es jetzt mit diesem Tyler Ellys auf sich?“, fragte er seinen ehemaligen Boss.

„Nun, wie ich schon sagte, er ist verschwunden. Den genauen Zeitpunkt kenne ich nicht, aber er ist gestern nicht bei seinem Job aufgetaucht. Er hatte seine Order via Bulletinboard im Internet bekommen wie üblich, aber die anderen Jungs haben vergeblich am Flughafen von Buenos Aires auf ihn gewartet. Ellys war immer zuverlässig. Dass er nicht erschienen ist, sieht ihm nicht ähnlich. Ich habe einen Springer zu ihm nach Tucson geschickt, um nachzusehen, wo er steckt. Sein Haus ist leer, sein Auto steht in der Garage. Keine Spur von Ellys.“

„Und was sagt die Polizei dazu? Du hast sie doch sicher eingeschaltet.“

„Das ließ sich nicht vermeiden. Die Cops haben Ellys‘ Haus oberflächlich untersucht, aber nichts gefunden. Auch die Nachbarn haben nichts gesehen, absolute Fehlanzeige.“

„Und was gedenkt die Polizei zu unternehmen?“

„Ach, du weißt doch, wie die Truppe ist“, schnaubte Rod wütend. „Wenn es keinerlei Hinweise auf eine Gefährdung der Person gibt, kommt der Fall auf den Ablagestapel. Und da liegt er dann zusammen mit sämtlichen Vermisstenfällen, die es in den USA seit Beginn des vorigen Jahrhunderts gegeben hat.“

„Vielleicht ist Tyler Ellys ausgestiegen“, gab Ondragon zu bedenken. „So etwas kommt doch immer mal wieder vor. Die Jungs verkraften nicht, was sie bei den Jobs zu sehen bekommen, und quittieren den Dienst.“

„Nicht Ellys. Der ist ein Ex-Navy-Seal. Ein ganz harter Bursche. Für den lege ich meine Hand ins Feuer. Der hat auch die schmutzigen Sachen erledigt, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Wo war er denn als letztes?“

„In Mexiko, Leichentransport von Monterrey nach Nuevo Laredo an der Grenze.“

Leichentransport. Was das hieß, wusste Ondragon noch zu gut. Eine kritische Ware wurde in einem Sarg und mit einer echten Leiche getarnt durch ungesichertes Gebiet an den Zielort überführt. Schwieriges Terrain, feindliche Kräfte, gefährliche Fracht – kein Problem. Für so etwas gab es DeForce Deliveries. Ein privater Lieferdienst sozusagen. Die Kundenliste war lang und erlaucht. Nicht nur Firmen buchten die Mailmen von DeForce, auch staatliche Behörden, wenn diese mit ihren herkömmlichen Mitteln nicht mehr weiterkamen. Ondragon hatte selbst solche Transporte in Somalia und Afghanistan durchgeführt, als er Anfang der Neunziger bei DeForce unter Vertrag gestanden hatte. Riskante Missionen, die nicht wenige Männer das Leben gekostet hatten. Aber er war damals stolz darauf gewesen, einer dieser knallharten Mailmen zu sein – denn Rod beschäftigte nur die besten und abgebrühtesten Männer.

Gegen alle Vermutungen war DeForce ein legales Unternehmen. Ein Dienstleister wie Fed Ex, nur eben von der extremen Sorte. Und Roderick DeForce war Gründer und Haupteigner der Firma, die er 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer ins Leben gerufen hatte, zunächst mit Sitz in Kairo. Aber auch wenn Rod selbst nicht rausging, hielt er doch wie eine Spinne im Netz alle Fäden in der Hand und überwachte sämtliche Aktionen von seinem Büro aus. Daher lautete sein Deckname innerhalb der Firma auch „Spider“.

Spider hörte alles und sah alles, denn er besaß Zugang zu mehreren privaten wie staatlichen Satelliten. Er wusste immer, welche Aktion wo stattfand und mit welcher Crew. Ondragon hegte den Verdacht, dass das Verschwinden von Tyler Ellys seinen Freund gerade aus diesem Grund wurmte. Rod hatte einen Mitarbeiter aus den Augen verloren und das bedeutete, er hatte keine Kontrolle mehr über ihn. Ondragon wusste, wie sehr Rod es hasste, wenn sich jemand oder etwas seinem Einfluss entzog.

„Und was genau willst du jetzt von mir?“, fragte er seinen alten Tutor.

Roderick DeForce zögerte, als fiele es ihm schwer, seinen ehemaligen Mitarbeiter um einen Gefallen zu bitten. Ondragon fragte sich, was seinen Freund bewogen hatte, ausgerechnet ihn zu kontaktieren. Hatte Rod doch jede Menge fähiger Leute in seinen eigenen Reihen.

Vielleicht ist es etwas Internes, dachte er. Etwas, das nur ein Außenstehender erledigen kann. Jemand, der sein absolutes Vertrauen genießt.

„Ecks, das klingt jetzt womöglich etwas banal, aber ich möchte dich damit beauftragen, Tyler Ellys zu finden“, sagte Rod schließlich. „Meine Leute sind dafür nicht ausgebildet. Das sind keine Detektive.“

„Das bin ich auch nicht.“

„Ich weiß, Ecks, Vermisstenfälle sind viel zu trivial für dich, du brauchst anspruchsvollere Nüsse zum Knacken.“

„Rod, bei aller Liebe, ich …“

„Ich bitte dich als Freund. Und selbstverständlich erhältst du ein Honorar zu deinen üblichen Konditionen. Außerdem sollte der Fall trotz allem eine gewisse Herausforderung für dich darstellen, wenn ich dir erzähle, was mein Springer im Haus von Ellys gefunden hat, bevor die Polizei es finden konnte.“

Ondragon seufzte. Konnte er seinem alten Freund diesen Gefallen abschlagen? Natürlich nicht. Außerdem siegte wie immer seine Neugier. „Einverstanden, Rod. Dann mal los. Was hat er gefunden?“

„Vielen Dank, Ecks. Ich stehe tief in deiner Schuld.“

„Schon gut, lad‘ mich einfach mal in dein neues Büro nach Dubai ein.“

„Das Ticket ist schon gebucht!“ Rod lachte kurz auf. Er schien erleichtert zu sein. Dann wurde er wieder ernst. „Also, mein Springer verschaffte sich Zutritt zum Haus. Die Räume sahen aus, als hätte Ellys sie eben erst verlassen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher und drei leere Bierdosen standen neben einem Dutzend vollen. Sonst war nichts Ungewöhnliches zu entdecken, trotzdem durchsuchte der Springer sorgfältig das Haus, wie ich es ihm aufgetragen habe. In der Mülltonne fand er schließlich einen zerknüllten Brief. Es war ein weißer Umschlag mit nur einem Bogen Papier darin. Darauf stand – und das ist seltsam – auf Französisch: Tyler Ellys, dein Körper soll eine leere Flasche sein. Darunter war ein Sarg gemalt.“

„Und was soll das bedeuten? Ist das eine Morddrohung?“ Ondragon war nicht sonderlich beeindruckt von dieser Enthüllung. Seine Motivation für diesen Fall wollte nicht so richtig in Gang kommen.

„Ich weiß es nicht. Der Springer hat den Brief. Du solltest dich mit ihm in Tucson in Verbindung setzen, ich schicke dir seine Nummer per SMS. Er kann dir alles erzählen, was er weiß.“

Ondragon überlegte. Ein verschwundener Mailman, ein Brief auf Französisch, keine Spuren. Das klang nicht gerade spannend. Jedoch bat Roderick DeForce persönlich um seine Mithilfe und das allein machte den Fall interessant. „Nun gut“, lenkte Ondragon ein, „mein Mustang müsste sowieso mal wieder bewegt werden. Ich mache mich so bald als möglich auf den Weg. Ich melde mich, wenn ich in Tucson bin.“

Am anderen Ende erklang ein erleichtertes Seufzen. „Vielen Dank, Ecks.“

„Nichts zu danken.“

„Und pass auf dich auf!“

Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Ondragon das Telefon an. In all der Zeit, die er für Roderick DeForce gearbeitet hatte, hatte dieser niemals Pass auf dich auf! gesagt. Merkwürdig, dass er es ausgerechnet jetzt tat. Aber vielleicht war sein Freund auch einfach alt geworden. Und das Alter brachte bekanntlich nicht nur körperliche Gebrechen mit sich, sondern auch das Gespenst der Angst. Und war es erst einmal erschienen, haftete es an einem wie eine Krankheit.

Je länger Ondragon darüber nachsann, desto stärker überkam ihn das Gefühl, dass mehr hinter dem Verschwinden von Tyler Ellys stecken könnte, als er zunächst angenommen hatte. Und auch mehr, als Rod am Telefon hatte zugeben wollen.

Er drückte auf die Wahltaste und rief Charlize an. Heute würde er nicht ins Büro kommen.