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Tom Wolf

ROTER SEPTEMBER

Ein Brandenburg-Krimi

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ebook im be.bra verlag, 2016

 

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2016

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-6152-8 (epub)

ISBN 978-3-89809-542-6 (print)

 

www.bebraverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Über Autor

1

Nachts erschütterten Donnerschläge die Gegend. Schon wühlte der Regen im See. Nur kurz hatte er, um hinauszuschauen, den Reißverschluss des Zeltes geöffnet. Schwere, himmelhohe Regenfahnen wehten im Widerschein der Blitze. Als das Unwetter langsam abzog, schlief er wieder ein.

Wie üblich weckten ihn die Vögel. Die ersten Sonnenstrahlen stachen durch die Bäume am Ufer. Sein wertvollster Besitz, das Zelt, das ihm vor einiger Zeit von einem Papierkorb zum Geschenk gemacht worden war, wurde oben schon langsam wieder trocken. Andere hatten es weggeworfen, wahrscheinlich wegen des Risses in der Seite, den er leicht hatte flicken können. Er war früher beruflich viel herumgekommen, konnte stolz behaupten, die Welt gesehen zu haben. Doch jetzt wurden jeder Tag und jede Nacht zu neuen Abenteuern.

An diesem sonnigen Morgen war er ganz allein mit den Fischen, Vögeln, Libellen, Faltern und Mückenschwärmen, die in hohen, länglichen Walzen über dem Wasser des Ruderwischer Sees nördlich von Bad Wiesnack rotierten. Eine Ringelnatter begegnete ihm beim Schwimmen, und er bewunderte die geschmeidige Wellenbewegung ihres Körpers. Die Natter änderte ein wenig ihre Ringelrichtung und verschwand in Richtung aufs verkrautete Ufer.

Erfrischt und völlig wach kehrte er zu seinem Lager zurück und ließ sich in der noch immer erstaunlich heißen Septembersonne braten. Auch seine Kleidung, die er gewaschen und in eine Weide gehängt hatte, war bald wieder so weit, dass sie auf ihm nachtrocknen konnte. Er baute das Zelt ab und legte es einige Zeit mit dem noch feuchten Boden nach oben in die Sonne. An einem kleinen Feuer kochte er Kaffee und rauchte gedankenverloren.

Danach reinigte er den halbwegs abgetrockneten Zeltboden von Sand, Kiefernnadeln, Grashalmen und Erdpartikeln und verstaute seine Behausung im jägergrünen Rucksack. Zusammengerollt war das Zelt kaum größer als ein Kissen. Nur das sperrige Gestänge ragte, auch auf kleinste Länge gebracht, noch wie eine Antenne heraus. Er goss aus dem Topf seiner Feldküche noch einmal Wasser auf die Asche des Feuers, bevor er ihn mit den anderen Teilen zusammensteckte und an den Rucksack hängte. Er schob Sand über den Steinring der Feuerstelle und zog los.

Die alten Sprüche spukten durch sein Hirn, mit denen sie zum Durchhalten animiert, durch die endlose Folge von Projektanbahnungen weitergequält worden waren. Der Weg ist das Ziel … Neo-Zen-Quatsch, zur Beruhigung all derer, die auf dem langen Ausbeutungsweg bis zum Tod irre zu werden drohten. Das Ziel war das Ziel, und wer es nicht mit Überschallgeschwindigkeit erreichte, war draußen und durfte in einem kleinen Verschlag sein weiteres Berufsleben fristen.

Wie hatte er auf die kleinen Bewohner dieser Verschläge herabgeschaut! Befehlsempfangende Vermehrer des Profits anderer. Er hatte sich als einer jener anderen gesehen, denen die Myriaden von Angestellten ein Leben in höheren Sphären ermöglichten. Spät erst hatte er begriffen, dass er Angestellter war wie sie. Schmerzlich hatte er erfahren müssen, dass sich das Verantwortungsbewusstsein der Oberen, von dem man ihm immer erzählt hatte, nur auf ihren eigenen Gewinn bezog.

Das war in jenem finalen Sommer vor fünf Jahren gewesen, der sein Leben veränderte – so nachhaltig (neudummdeutsch ausgedrückt), dass er jetzt täglich mit der bloßen Hand Tannennadeln und Waldbodenpartikel vom fast durchgescheuerten Boden eines im Papierkorb gefundenen Zweimannzelts der untersten Preiskategorie entfernen musste, das sein einzig verbliebenes und daher geliebtes Zuhause geworden war.

An den größeren Badestellen fand er in den Papierkörben ein halbes Dutzend Wasserflaschen aus Plastik und doppelt so viele minderwertige Bierflaschen, die er aber dennoch alle sorgfältig in einer großen (im leeren Zustand stets gefaltet in einer Rucksackaußentasche mitgeführten) Henkeltasche eines Billigmöbelkonzerns verstaute, um sie in einem Versteck nahe der Landstraße zu deponieren. So wenig Geld war jetzt nötig, um zu überleben – während er sich noch vor gar nicht langer Zeit Sorgen gemacht hatte, wenn sein Monatseinkommen unter dreitausend Euro zu fallen drohte.

Einen Platz wollte er noch abgrasen, bevor er einkaufen ging – einen beliebten Ausflugspunkt im sonst touristisch so mauen Ländchen Wiesnack mit dem kleinen verschlafen-versnobten Kurbad gleichen Namens mittendrin: den grooten Bloodsteen, wie er im platten Ländleridiom hieß.

Das Ding erhob sich einen Kilometer weiter südwestlich am äußersten Rand eines Mischwaldes mit reichem Unterholz auf dem letzten Ausläufer einer Endmoräne. Es war ein haushoher, klobiger Block aus einem rötlichen Gestein, das Kieselsinterhornsteinwacke genannt wurde. So hatte er es auf der Erklärungstafel gelesen und sich eingeprägt, weil er sperrige Begriffe mochte. Früher in den Sitzungen hatte er damit immer gepunktet.

Die Ausbeute unten am Stein war gering. Aber vielleicht hatte er wieder das gleiche Glück wie neulich, als eine Gruppe von jungen Vandalen oben mehrere Bierkästen geleert und generös stehen gelassen hatte. Es gab zwei Wege, die hinaufführten: eine steile Stiege aus in den Fels geschlagenen Metallsprossen neben einem fest verankerten Stahltau sowie eine schräge, zerklüftete Rinne, die nur mit einiger Gelenkigkeit und sportlichem Ehrgeiz zu bewältigen war. Natürlich wählte er die zweite Variante, nicht zuletzt auch, weil er so unbemerkt wieder abtauchen konnte, für den Fall, dass oben welche wären, denen er nicht begegnen wollte. Auf dem Blutstein wollte er allein sein.

Auf halbem Weg hielt er inne, klammerte sich an einen Felsvorsprung und lauschte. Nichts zu hören außer Fliegengesumm und einer sich entfernenden Propellermaschine am Himmel. Langsam kletterte er weiter, wie ein Tier sichernd und stets bereit, umzukehren. Die Luft schien rein zu sein. Nur in der Mitte des Plateaus lag etwas Dunkles, Pelziges. Ein Bündel weggeworfener Kleidung? Es war erstaunlich, was er schon alles gefunden hatte. Sogar die gar nicht mal unstylische Jeans, die er trug und sich selbst enger gemacht hatte mit einem heruntergesetzten Nähset für 99 Cent …

Er sah nicht sofort, was es war. Aber als er näher kam und sein eigener Schatten darauf fiel, geriet das, was er für einen Pelz gehalten hatte, in Bewegung und erhob sich. Eine Wolke von blauen Schmeißfliegen umbrummte ihn. Was danach vor ihm lag, war ein Mann. Mittelgroß, schwergewichtig und gut gekleidet. Das Gesicht drückte Geist aus, aber auch Überraschung und Erstaunen. Die braunen Augen waren weit aufgerissen. Der graue Anzug hatte an Blut aufgesaugt, so viel er konnte, bevor es zu dick und klumpig und zäh geworden war. Der Regen hatte eine Art Aufguss bewirkt, der noch jetzt in den Unebenheiten des Steins herumsuppte. Der erste Schreck wich dem nüchternen Blick des Landstreichers. Zu blöd, dachte er instinktiv. Schade um den Anzug! Aber der hätte ihm ohnehin nicht gepasst, und auch die Schuhe waren, wie er durch einen kurzen Vergleich sah, eine Nummer zu klein.

Er hatte schon ein paar Tote gesehen – meistens Verwandte, die, für die Beerdigung vorbereitet, vor ihm gelegen hatten. Diese Leiche hier war ihm jedoch völlig fremd. Vorsichtig tastete er die Anzugbrust ab und griff, als er die Verdickung spürte, durch die Knopfleiste hinein. Irritierend die Kälte des Körpers. Ein kleiner Schauer lief ihm über den Rücken. Er berührte gerade einen Toten … Ein Medaillon an einem Goldkettchen … Er nahm es ab. Besser als nichts. Das Lederetui, das er aus der Innentasche fischte, war im ersten Moment ein wenig enttäuschend. Eine Brieftasche wäre ihm lieber gewesen. Stück für Stück zog er die Papiere heraus und betrachtete sie. Ausweis, Führerschein, Blutspendeausweis. Aber dann kamen sie: große Scheine, flach und penibel zusammengefaltet! Die Farben dieser Geldscheine – drei Fünfziger, fünf Hunderter und zwei Fünfhunderter (lange her, dass er so einen gesehen hatte) – trübten seinen Blick und machten ihn schwach. Er setzte sich neben der Leiche auf den Felsen, hielt die Scheine wie einen Fächer zwischen sich und die durch Blattlücken stechende Sonne und fragte sich, ob er träume. Er sah und hörte alles und schien doch zugleich meilenweit entrückt zu sein.

Ein Eichelhäher rätschte. Fast hätte er die Stimmen zu spät registriert, die jetzt an sein Ohr drangen. Er stopfte die Geldscheine und die Papiere in die leere Vordertasche seines Rucksacks. Der Führerschein, dachte er siedend heiß … Er betastete hastig die Hosentaschen des Toten. Tatsächlich war da ein Schlüssel. Er holte ihn heraus und verschwand mit einem Sprung in der Rinne, die ihn ungesehen hinabführte. Just in dem Moment, da seine Rucksackantenne auf der einen Seite hinterm Blutsteinhorizont abtauchte, ging am anderen Ende der strahlende Kopf einer Touristin auf. Scheiße, fiel ihm unten ein, ich habe die Tasche mit den Flaschen vergessen! Dann aber lachte er, denn was bedeuteten ihm jetzt noch schlappe drei Euro …

2

Leo Pauluth, ehemaliger Revierpolizist von Karstädt, genoss das dritte Jahr nach seiner Verabschiedung in vollen Zügen. Eins siebzig groß und mäßig gepolstert, dafür reichlich mit Muskeln bepackt, so war er mit gefühlten 45 Jahren aus dem Polizeidienst verabschiedet worden. Jetzt war er noch immer 45. Und er würde auch noch eine ganze Weile 45 bleiben!

Er hatte das Hemd ausgezogen und ließ sich von der Vormittagssonne wärmen. Plötzlich glaubte er an den Klimawandel, den er bislang immer für eines jener Märchen gehalten hatte, mit denen man die Menschen vom Nachdenken über Wichtigeres abhalten konnte. Der Spätsommer hatte durch ungewöhnliche Hitze vergessen lassen, dass man in Brandenburg war. Jetzt machte gar der September genauso weiter, als gäbe es hierzulande gar keine zweite Jahreshälfte mehr.

Auf der Terrasse seines kleinen Siedlungshauses im Dreihundert-Seelen-Nest Krabbe sitzend, spielte Leo verschiedene Möglichkeiten durch, wie er sich weiterhin aktiv ins Gesellschaftsleben einbringen könnte, um nicht einzurosten. Doch noch während er sich verschiedene sogenannte Arbeitsverhältnisse auszumalen versuchte, ließ ihn die Vorstellung von persönlicher Abhängigkeit all das rasch wieder verwerfen. Da würde es besser sein, eine Kneipe aufzumachen oder Bücher zu schreiben wie Markus.

Als sein Blick die Gewächse streifte, die unter ihm am recht steilen Gartenhang wuchsen und gediehen, war ihm plötzlich wieder klar, dass es eigentlich nur eine Zukunftsvision gab, die ihn wirklich begeisterte: den Weinbau. Ein paar Anrufe würden genügen, und er würde Saisonarbeiter an der Mosel. Da wäre ihm sogar die Abhängigkeit von einem Arbeitgeber egal.

Im Frühjahr des letzten Jahres hatte er seinen grasbestandenen Sand- und Lehmhang, den Rand der Krabber Endmoräne, binnen weniger Wochen eigenhändig in einen waschechten Weinberg verwandelt. Es war eine rechte Plackerei gewesen, aber er hatte es genossen. 99 Löcher hatte er gegraben, zwei Spatenbreiten tief und zwei Spatenbreiten breit, und in jedes fachgerecht eine frostresistente und pilzwiderstandsfähige Pfropfrebe gepflanzt und einen Stecken dazugestellt, um ihr zu zeigen, wo es langgehen sollte. 18 Tonnen Feldsteine waren zur Wärmespeicherung am Hang verteilt, 21 dicke Kiefernpfosten mit Einschlaghülsen in den Boden gebracht, mit einem halben Kilometer Spanndraht spalierartig verbunden worden.

Zu Anfang hatten seine Nachbarn skeptisch geäugt und achselzuckend geäußert, dass es in Krabbe ja leider keinen wirklich guten Psychiater gebe, der ihm in seiner geistigen Verwirrung beistehen könne. Ein wenig gezittert hatte er, denn wer macht sich schon gern zum Narren? Doch als dann Ende Mai an jedem wachsummantelten Pfropfreis eine wollige Knospe erschienen und aufgeplatzt war, konnte er aufatmen. Blutenden Herzens, aber voller frisch gepresster Sachkenntnis hatte er alle sich bald zeigenden Blüten an den tapfer aufschießenden Reisern, vom Fachmann Gescheine genannt, kurz nach ihrem Auftauchen entfernt. Dann ging es munter ans Anbinden.

In knapp einem Vierteljahr waren die saftigen Triebe bis zu dreieinhalb Metern aufgeschossen. Sie wuchsen bis zu drei Zentimeter pro Tag, wie er an einem Kontrollmaßstab (seinem »Rebstandsanzeiger«) hatte ablesen können. Die letzten anderthalb Meter konnte er schon Ende August des vergangenen Jahres um den oberen Draht schlingen und horizontal weiterleiten. So würden die jungen Pflanzen bis zum Ende der Wuchsperiode wichtige Reservestoffe einlagern. Es hatte bereits nach einem Vierteljahr fast so ausgesehen wie an der Mosel. Lehmboden plus Startbewässerung plus Kuhscheiße minus Klugscheißer – das war sein durchschlagendes Erfolgsrezept gewesen.

Längst hatte sich die Einschätzung der notorischen Dorf-Unken ins Gegenteil verkehrt. Plötzlich hatte jeder ja schon immer gewusst: Wein wurde in der Mark seit Menschengedenken angebaut! Und plötzlich fiel ihnen der eine oder andere Weinstock ein, den sie früher alle irgendwo gehabt hatten, bevor die Fassaden bereinigt worden waren und sämtliche Hausgärten aussahen, als wären sie beim gleichen Versandhaus bestellt worden.

Andere Mitglieder der Krabber Autofreunde, der Feuerwehr Krabbe und des Krabber Geschichtsvereins waren seinem Beispiel gefolgt, und so hatten in diesem Frühjahr schon acht Krabber Hobbywinzer (Leo inklusive) unter dem Namen »Prignitzer Weinfreunde« ihr jeweils erlaubtes Rebkontingent von 99 Pflanzen auf 100 Quadratmeter gepflanzt. Auch Leos Freund Markus Nikolai in Putlitz war dabei, denn er hatte im neuen Garten sozusagen Reben geerbt, mit denen in diesem Jahr sogar schon der erste Kelter-, Gär- und Ausbauversuch gestartet werden konnte. Darauf freute Leo sich besonders. Müsste demnächst in Putlitz wieder nach dem Rechten sehen, dachte er. Dieses Wetter würde ein traumhaftes Mostgewicht und moderate Säure bringen.

Wenn man all ihre privat erlaubten Flächen zusammenzählte, waren sie im Besitz von neun Ar Rebfläche, ohne dass der pingelige Weingesetzgeber daran Anstoß nehmen konnte. Sie hatten sogar den Betreiber der größten lokalen Kiesgrube für das Thema anspitzen können. Nun war auch der Feuer und Flamme für die Idee, seine Rekultivierungsfläche in den Dienst des gemeinsamen Weinbaus zu stellen. Dort freilich sollte in größerem Maßstab gewirtschaftet werden.

Leider waren die beantragten fünf Hektar Rebfläche für den neuen Perleberger Weinbau am traditionsreichen Weinbaugebiet Golmer Berg noch nicht bewilligt (wo im 16. Jahrhundert noch die Perleberger Auslese und der legendäre Ehrbare Ratstropfen wuchsen, zu deren Genuss aber – wie eine alte Quelle es ausdrückte – ein ganzer Kerl und ein guter Magen vonnöten gewesen waren), und es sah auch nicht danach aus, als ob dies alsbald geschehen könnte. Absurderweise wurde der gesamtdeutsche Weinbau durch ein West-Gesetz aus Kalten-Kriegs-Zeiten geregelt, genauer gesagt von 1974, demzufolge Betriebserweiterungen nur durch den Hinzuerwerb bereits bestehender Anbauflächen möglich wurden. Und keiner der 27 aktiven Winzer im Land dachte ans Aufgeben.

Die jüngste Novellierung des Gesetzes war ein Witz – ab 2016 waren Pflanzrechte nicht mehr frei handelbar, sondern wurden auf Antrag vom Staat vergeben. Die Rebfläche durfte per EU-Dekret nun theoretisch um fünf Prozent jährlich wachsen, intern hatte man sich in Deutschland jedoch auf maximal ein Prozent geeinigt. Aber das brachte für einen kleinen Betrieb keine Verbesserung, sondern war erst ab Betriebsgrößen von hundert bis zweihundert Hektar von Belang. Die gab es aber in Brandenburg nicht. Hier teilten sich rund dreißig Weinbauern ganze dreißig Hektar erlaubte Gesamtanbaufläche. Das wird noch böse enden, wenn man den Knoten nicht endlich zerschlägt, dachte Leo. Aber da wäre die EU gefordert und das Bundeslandwirtschaftsministerium. Also vergiss es …

Ein Grünspecht lachte, und Leo überlegte, während Mutter zu seinen Füßen lag und schnarchte, was er mit diesem wunderschönen Tag nun weiter anfangen sollte. Er trank einen Schluck eisgekühlte Weißweinschorle aus Werderaner Müller-Thurgau und suchte mit dem Fernglas den Krabber Himmel ab. Störche, Rauch- und Mehlschwalben, ein Rotmilanpärchen, ein eilig und sehr hoch durchziehender Habicht …

Die Mundharmonika aus Spiel mir das Lied vom Tod erklang im Haus, bei deren Tönen Mutter unweigerlich ihre flach geklopften Fäustlinge von Ohren hochstellte. Leo stand auf und lief hinein, wo sein kleines Handy auf dem Küchentisch lag und rumorte. Eigentlich diente es nur als Wecker oder Eieruhr, und das Smartphone, das ihm Markus zum Geburtstag geschenkt hatte, lag noch unausgepackt irgendwo auf einem Schrank und veraltete bereits. Er las auf der Anzeige den Namen Markus Nikolai und fragte ungespielt fröhlich, während er in die Sonne zurückkehrte:

»Na, was gibt’s? Ist der Roman fertig? Können wir feiern?«

Das war frech, denn Markus, von Hause aus Schriftsteller, musste sich leider noch immer hauptberuflich von der Prignitzer Allgemeinen Zeitung (PRAZ) ausbeuten lassen, um sein neues Haus in Putlitz, das er seit einem Jahr zu renovieren versuchte, überhaupt halten zu können. Er hatte sein altes Anwesen in Lübzow verkauft und sich stattdessen eine Halbruine in Putlitz angelacht – immerhin die einstige Behausung von Jan-Dirk Fuchs, einem schon beinahe überregional bekannten Autor.

Markus’ Freundin Jenny Storck, in der Redaktion des ARD-Magazins Meinung, Fakten, Charaktere beschäftigt, hatte leider kein großes Interesse daran, ihr hart erkämpftes Gehalt in sein Prignitzhausprojekt zu stecken, und so war er noch immer auf jedes kleine Zubrot aus Lokaljournalismus und Feuilletonbeiträgen angewiesen. Der Roman, den er schreiben wollte, nur einer von vielen, versteht sich, hielt sich nach wie vor in unerreichbarer Ferne und ließ ihn einfach nicht an sich herankommen. Was nun leider auch für Jenny galt. Sie schien zunehmend mit ihrer Arbeit in der Bundeshauptstadt zu verschmelzen – die wie ein irritierender Fremdkörper im Land Brandenburg lag – und ließ sich nur selten noch in der Prignitz blicken.

Markus’ Stimme klang schwach, als er Leo antwortete:

»Du kannst dir deinen Spott sparen! Außerdem liege ich im Krankenhaus.«

»Wie bitte?«

»Ja, blöder kleiner Unfall.«

»Unfall? Mach keine Sachen! Erzähl! Du hast doch nicht etwa allein mit dem Dachdecken angefangen?«

Leo befürchtete Schlimmstes, denn es war seinem jungen Freund durchaus zuzutrauen, dass er gegen alles Zuraten das Unmögliche doch gewagt hatte.

»Nein, das nicht. Ich hab nur etwas aufgeräumt und mich dabei an altem Glas geschnitten.«

»Mensch, nu lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Was ist passiert? Warum liegst du deswegen im Krankenhaus?«

»Na ja, es war offenbar doch ein etwas tieferer Schnitt. Ich hab einfach versucht, es mit ’nem Pflaster hinzukriegen.«

»Ach Gott. Hat sich entzündet, was?«

»Heute Nacht fing’s an, wehzutun und zu klopfen. Bin dann heute Morgen widerwillig zum Arzt. Pockrand in Putlitz … Hat mich sofort nach Pritzwalk eingewiesen.«

»Wo denn, verdammt?«

»Na, in die KMG-Klinik.«

»Das ist mir schon klar, Mann. Ich will wissen, wo du dich geschnitten hast. Am Fuß, am Bein, am Arm, im Gesicht?«

»An der Hand.«

»Hoffentlich an der linken?«

»Die war es nun gerade nicht …«

»Ach, du Scheiße.«

»Das kannste laut sagen.«

Leo brüllte so laut Scheiße, dass das kleine Spatzenbataillon, das sich auf seinen Rebdrähten niedergelassen hatte, erschrocken zeternd aufflatterte und das Weite suchte.

Markus war froh, dass er endlich einem Freund sein Leid klagen konnte:

»Nur ein bisschen aufräumen wollte ich, dabei ist mir einer von den Fuchs’schen alten Weinballons zerbrochen, und beim Wegfegen der Scherben geriet mir eine ins Gelenk vom rechten Ringfinger. Ich hab ein Pflaster draufgeklebt, und das war’s. Wer rennt denn gleich wegen jeder kleinen Schnittwunde zum Arzt?«

»Verstehe. Alte Weinballons, sagst du? Wie viele sind denn noch übrig, und wie groß sind die?«

Markus stöhnte entnervt auf.

»Ich hätt’s mir denken können – das ist das Einzige, was dich interessiert. Sind noch fünf übrig, und es gehen jeweils fünf Liter rein. Ich glaube, das waren seine Versuchsballons …«

»Die Dinger sind teuer für einen, der im ersten Leben bloß ’n kleener Revierpolizist war. Von denen kostet einer bestimmt seine zehn bis fünfzehn Euro!«

»Ach ja? Kannst du mir gerne abkaufen, dann hole ich den Honorarverlust wieder rein. Ich konnte gerade noch so ’ne kleine Meldung über die Blutsteingeschichte tippen, mit schon klopfendem Finger. Die Sache ist wichtig, jeder größere Artikel zahlt sich aus. Und ich bin ja quasi vor Ort. Wäre ja vor Ort … Keinen blassen Dunst, wie es jetzt weitergehen soll. Die wollen mich hier mindestens fünf Tage festhalten, wenn nicht noch länger. Angeblich läuft der Arm sowieso Gefahr abzufallen. Und sie pumpen mich wieder mit diesem Antibiotikum voll, bei dem der Urin nach Hühnersuppe stinkt.«

»Ach, das wird viel schneller gehen. Nur keine Panik. Übermorgen bist du wieder draußen. Die sind doch froh über jedes freie Bett! Jetzt lehn dich zurück. Du bist da gut aufgehoben. Die retten dir deine Hand und deinen Arm und damit deine Karriere. Was deine aktuelle Arbeit angeht … In welchem Zimmer liegst du denn?«

»Station C4, Nummer 408.«

»Ich könnte dir deinen tragbaren Computer vorbeibringen, da hast du doch dieses Spracheingabedingsbums drauf.«

»Du kannst ruhig Laptop dazu sagen, so nennt man das nämlich heutzutage. Ja, und die Spracherkennung ist eine gute Idee. Wahnsinnsidee! Würdest du das denn machen? Hast du nicht im Weinberg zu tun?«

»Natürlich hab ich im Weinberg zu tun«, gab Leo zurück. »Ich hab immer im Weinberg zu tun. Aber für dich mach ich heute mal Pause. Liegt dein Schlüssel immer noch in dem verfaulten Baumstumpf neben dem Holzschuppen? … Alles klar, hab verstanden. Kann aber fünf werden, bis ich da bin. Muss erst mal duschen. Okay, bis nachher … Und was ist das für eine Blutsteingeschichte?«

Aber Markus war schon weg.

3

Leo stand auf, warf Mutter einige Knochen in die Schale, stellte frisches Wasser daneben, zog sich das Hemd wieder über und schlenderte zum Hoftor.

Vergeblich versuchte er, die Zeitungen aus dem Postrohr zu ziehen. Wie es der Briefträgerin gelungen war, auch die heutige Ausgabe noch in die gestopfte Metallwurst hineinzudrehen, war ihm ein Rätsel. Da die Röhre ohnehin nur noch locker mit zwei durchgerosteten Schrauben am ebenfalls schon baufälligen Gartentürchen befestigt war, riss er sie kurzerhand ab und trug die Fracht nach hinten, um sich in Ruhe der nachrichtendienstlichen Hauptfrage zu widmen: Was zur Hölle war da auf dem Wiesnacker Blutstein passiert?

Es wird immer schwieriger, an wirklich gute, interessante Nachrichten heranzukommen, dachte er, während er mit seiner alten Rohrzange eine Zeitung nach der anderen aus der Röhre zerrte, die er in den Schraubstock auf der Holzbank vor seinem Schuppen gespannt hatte.

Mit allen befreiten Ausgaben der PRAZ auf die Terrasse zurückgekehrt, suchte er die Ausgabe vom amtierenden Montag heraus, füllte die halbe Schorle mit Wein auf und blätterte sich zum Lokalteil vor. Ein Phantombild war zu sehen, darunter die Frage: Wer kennt diesen Mann? Daneben stand Markus’ Artikel.

 

Vermutlich Raubmord

Toter bei Bad Wiesnack gibt Polizei Rätsel auf

(manik) Ein Touristenpaar, das am vergangenen Wochenende den Blutstein, einen beliebten Aussichtspunkt in der Nähe des Kurstädtchens Bad Wiesnack besuchte, fand dort am Sonntagmorgen die Leiche eines Mannes, der offenbar Opfer einer schweren Straftat wurde. Über die Identität des Toten herrscht bislang Unklarheit, wie Karl Ernst, Polizeihauptmeister bei der Polizeidirektion Nord in Perleberg, erklärte. Man geht von einem Raubmord aus.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat die Ermittlungen aufgenommen, und der Tote wurde ins Potsdamer Institut für Rechtsmedizin überführt. Inzwischen sind überall in Bad Wiesnack und Umgebung Flugblätter mit dem Bild und der Personenbeschreibung des Mannes verteilt worden. Polizeihauptmeister Ernst hofft so zu erfahren, ob sich das Opfer bereits vor dem Tag der Tat in der Gegend aufgehalten hat.

Wer den Mann anhand der nebenstehenden Abbildung identifizieren und etwas über seinen Aufenthalt am Ort mitteilen kann, ist hiermit aufgerufen, sich mit der Polizeidirektion Nord in Perleberg oder einer anderen Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen. Für Hinweise, die zur Aufklärung des Verbrechens führen, wurde eine Belohnung von 5.000 Euro ausgesetzt.

 

Leo besah sich die Computerzeichnung noch einmal. Er hielt sie in einiger Entfernung vor sich, stand dann auf und ging ein paar Schritte. Er wurde das merkwürdige Gefühl nicht los, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Sicher, man täuschte sich leicht, vor allem wenn man der irrigen Ansicht war, als Polizist von vornherein ein besseres Personengedächtnis zu haben als der Rest der Menschheit. Aber das seine war tatsächlich seit jeher gut trainiert. Wenn er jemanden einmal gesehen hatte, so konnte er auf sein Gefühl vertrauen, wenn es ihm sagte: Den hast du doch schon mal gesehen!

Manchmal half es, wenn man den Geist etwas ablenkte, und so blätterte er, eher lustlos, denn von bestimmtem Interesse getrieben, diese Ausgabe der PRAZ von vorne bis hinten durch, las mit gelinder Enttäuschung, dass Energie Cottbus weiter im Absteigen begriffen war, bis er plötzlich, aus reinem Zufall, an einer Richtigstellung hängen blieb. Vielleicht war es der Instinkt, geboren aus seiner Tätigkeit, bei der er immer die kleinsten Notizen in den Ermittlungsakten mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen hatte, der ihn dort landen ließ, wahrscheinlicher aber eher das Wort »Wein«, welches ein inzwischen extrem überentwickelter Nerv in seinem Gehirn durch die Augensensorik selbst beim flüchtigen Darüberstreichen aus dem vorbeirauschenden Text mühelos herausgefiltert und sofort Halt! gebrüllt hatte.

 

Wir bitten um Entschuldigung!

In unserem Hinweis auf das diesjährige Weinfest in Hitzacker, wo das 35-jährige Bestehen des Weinbergs be gangen wurde, unterlief uns ein Fehler.

»Nachweislich wurde hier erstmalig im Jahr 1521 unter Ernst, dem Bekenner, Wein angebaut. Ein verheerender Hagelsturm im Jahr 1713 vernichtete sämtliche Reben. Seither lag der Weinberg brach, doch seit 1980 wird von einigen Unentwegten dort wieder Wein angebaut und das Hidesaker Weinbergströpfchen auf traditionelle Weise im Holzfass ausgebaut.«

Im Folgenden war fälschlicherweise von »999 Reben« die Rede. 99 Weinstöcke sind es jedoch immerhin, die aus einer alten schwäbischen Rebschule stammen, in Lauffen am Neckar, deren Betreiber aus Anlass des Jubiläums auch anwesend war, gemeinsam mit einem weiteren seiner Kunden, dem rechtselbischen Weinbauern Wenkstern-Eldenburg.

 

Leo atmete tief durch. Lothar Brändle – der Tote auf dem Blutstein war Lothar Brändle! Von dem stammten auch seine eigenen 99 Regent-Reben … Es dauerte eine Schrecksekunde, bis die Erkenntnis in seinen Gehirnwindungen die Runde gemacht hatte. Und da Brändle seinen Betrieb in vierter Generation ohne Nachkommen allein führte, wie Leo durch die Lektüre des fünfzigseitigen Brändle-Katalogs mit reicher Bebilderung und Erläuterung der Arbeit in Lauffen wusste, war mit Brändles Tod auch die günstigste Bezugsquelle für Pfropfreben gestorben …

Er warf einen Blick auf die Handyanzeige. Es war kurz vor drei, die obersten Reben warfen ihren Schatten genau bis an die Hauswand. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Er fühlte wieder dasselbe Kribbeln wie im vergangenen Jahr. Und wieder begehrte der Ruheständler in ihm auf und riet ihm, doch endlich zu resignieren und die mörderische Welt da draußen sich selbst zu überlassen. Doch sein Herzschlag beschleunigte sich, und er wusste, dass es jetzt nur drei Dinge zu tun gab: Weinschorle austrinken, duschen, was Vernünftiges anziehen und den Mustang aus dem Stall holen.

Mutter, die weibliche Promenadenmischung unbekannten Alters, die ihm vor fünf Jahren zugelaufen und die bei ihm geblieben war – was sie von allen seinen unehelichen Frauen rühmlich unterschied, die über kurz oder lang wieder das Weite gesucht hatten –, war in die Senkrechte gegangen und gähnte herzhaft, sich dehnend und streckend, während Leo barfuß ins Haus rannte, um schon wenig später mit todschicker, mittig zu teilender, ovaler bernsteinfarbener Sonnenbrille, hellblauen Jeans und schwarzem T-Shirt wieder herauszukommen. Das kurze Jahr, das er mit Thea zusammen gewesen war, hatte seine Garderobe ohnehin grundlegend verändert. Keine Hemden mit Geschirrhandtuchkaro mehr, keine braunen Cordjacken, dagegen eine italienische kleine, schwarze Herrentasche für Portemonnaie, Papiere und Schlüssel. Verschwunden war außerdem der Tüff-Rasierwasser-Geruch. Dagegen waren erfreulicherweise die Blue-Jeans zurückgekehrt, die er zuletzt 1975 getragen hatte, wenn auch nie die echten amerikanischen, wie jetzt.

Er öffnete die hellgrün lackierten Türen des durch Moos und Hopfenranken gut getarnten Unterstandes, in dem sein dunkelbrauner Ford Mustang Coupé Baujahr 1971 bereits sehnsüchtig auf den Einsatz wartete. Er warf die Herrentasche aufs karamellbraune Sitzleder, ließ den Motor an und wirbelte wie üblich, bevor er losfuhr, mit Lederpflege einmal quer durch den Innenraum. So hatte der treue Motor Zeit genug, sich zu erwärmen. Auch die Walnusshölzer des Armaturenbretts wurden poliert und zuletzt noch mit Glasreiniger Tachometer, Drehzahlmesser, Tankanzeige und Uhr spiegelblank gewienert.

Endlich rollte Leo mit dem Gefährt auf die Straße hinaus. Hier stoppte er noch einmal, stieg aus und schloss die Türen der Garage und das Gartentor. Er winkte dem 98-jährigen Nachbarn von gegenüber, der mit Unkrautjäten beschäftigt war und jetzt mit angewinkeltem rechtem Unterarm und zur Faust geballter Hand zurückgrüßte. Leo drückte auf die Hupe, während er sich aufs heiße, unebene Pflaster der Krabber Dorfstraße wagte. Vorsichtig rollte der Mustang über die ersten Krater und Schluchten bis zum Ortsschild »Krabbe« und erklomm erfreut das anschließende flachere Asphaltfahrwasser, wo er von Leo endlich grünes Licht erhielt, rasant davonzugaloppieren.

4

Wie würde er wohl jemals ohne diesen Wagen auskommen? Gar nicht, er ginge ein wie eine Primel. Leo dachte kurz darüber nach, wie Primeln eigentlich eingehen, danach dachte er eine Zeit lang gar nichts. Tief atmete er den Geruch des Indianersommers ein, der von den Mais- und Getreidefeldern beidseits der Kastanienallee zwischen Krabbe und Dallmin zu ihm hinströmte. Die Sonne spülte die Kastanienblätter mit Lichtwasser, während bruchstückhaft Vogelstimmen vorbeiflogen. Eine Goldammer schlug, und es waren auch immer noch Schwalben da.

Vor Dallmin bog er links ab und erreichte über einen Agrarweg, bestehend aus zwei Streifen von Betonplatten, zwischen denen üppig das Gras wuchs, schon nach wenigen Minuten das einsam in der sommerlichen Ebene liegende Reetz. An der Hauptkreuzung, wo sich die Landstraße zwischen Putlitz und Karstädt und die von Berge nach Perleberg kreuzten, musste er lange anhalten, weil eine endlose Kolonne polnischer Lkw aus Richtung Putlitz durchfuhr, sodass er aus alter Gewohnheit die Nummernschilder der Autos studierte, die in langer Reihe vor dem weithin bekannten und für seine rustikale ländliche Küche geschätzten Gasthof Moos standen.

PR, PR, PR, HH, PCH, PR, HN, HH, PR … Er verfluchte die Sitte der Fuhrunternehmen, seien sie niederländisch, polnisch oder deutsch, die Land- und Kreisstraßen zu benutzen, um die Lkw-Maut auf der Autobahn zwischen Hamburg und Berlin zu sparen. Auf diese Weise würde man den Fernverkehr niemals aus den Dörfern holen. So viele Ortsumgehungen könnte keiner bauen.

HN? Das war nicht Hannover, Hannover war H! HN war … Heilbronn. Soviel wusste er inzwischen, denn seine zweite Westdeutschlandreise (nach der Moseltour) hatte ihn ins Württembergische geführt. Ohne zu wissen, dass er wenige Monate später bei Reben-Brändle telefonisch einkaufen würde, hatte er die großen Pflanzungen im Vorbeifahren gesehen und auch das Schild, an das er sich später erinnerte. Lauffen am Neckar hatte als Kennzeichen HN!

Leo stoppte so abrupt, dass hinter ihm ein wildes Gehupe losging. Der Nachfahrende hatte nur gerade eben so zum Stehen kommen können.

»Selber Arschloch! Fahr halt nicht so dicht auf!«, brüllte er, während einer dieser unglaublich dicken Brummer von Blechkiste mit aufheulendem Motor an ihm vorbeizog.

Eine wütende Mami drohte Leo durchs Seitenfenster mit der Faust. Fährt wahrscheinlich mit ihrem bulligen Monstertruck einen Drei-Kilo-Einkauf spazieren, dachte er.

Leo spürte, dass er ein bisschen zu viel Weinschorle getrunken hatte, doch das war bereits im nächsten Moment vergessen. Mit quietschenden Reifen drehte er um und sprintete zur Kreuzung, wo er den Mustang am Ende der kleinen Reihe parkender Wagen abstellte, fast schon an der Ecke des Gehöfts, am Beginn der Wiese mit der großen Trödelscheune. Er stieg aus, schlenderte an den Autos entlang, bis er das mit dem Heilbronner Kennzeichen erreichte. Es war ein weißer BMW 730i, Baujahr 1994 schätzte er, aber erstaunlich gut gepflegt. Eine Oberklasselimousine, damals das Nonplusultra, V8-Motor, Katalysator … aber noch Türknöpfe mit Wulst.

Der geübte Blick des Revierpolizisten scannte den Innenraum. Ein Nickdackel im Heck. Fehlte bloß die umhäkelte Klorolle … Alles sauber, alles gesaugt, kein Schmutz, kein Fussel, allerdings änderte sich das Bild vorne auf der Ablage. Da lag ein Taschentuch, da war eine Getränkedose (Holsten) neben die Handbremse gerutscht, entweder ausgelaufen oder ausgetrunken, und da lag ein aufgefledderter Katalog von Reben-Brändle!

Leo enterte die Wirtsstube und verkündete mit sonorer Stimme:

»Tachschön! Hab gerade beim Einparken den weißen Heilbronner BMW zusammengeschoben. Tut mir wirklich leid! Wem gehört der denn?«

Funkstille. Elf Augenpaare glotzten ihn dämlich an. Hie und da Achselzucken. Dann kam Frau Moos, die Wirtin, herangeschlappt.

»Nanu, der Herr Pauluth? Wieder im Dienst? Mit solchen Scherzen haben Sie doch auch früher Ihre Kandidaten gefunden, oder?«

»Wieso Scherze?«, fragte Leo, sich keiner Schuld bewusst.

»Na, ich hab Sie doch ganz vorsichtig einparken sehen! Dann haben Sie sich diese weiße Kiste angeguckt, die hier schon seit gestern steht, ohne dass ich wüsste, von wem die ist. Morgen sollte ich wohl die Polizei rufen, oder? Was meinen Sie?«

Leo war plötzlich wieder ganz nüchtern.

»Seit gestern? Haben Sie den Fahrer gesehen?«

Frau Moos schüttelte den Kopf.

»Dann wüsste ich ja, wem er gehört, oder?«, sagte sie und schien ihn zu bedauern, dass er darauf nicht selbst gekommen war. »Denke mal, das wird irgend so ein Pensionsgast sein. Warum er dann gerade vor unserem Gasthof parken muss, das weiß ich auch nicht. Schließlich nimmt er hier den zahlenden Gästen den Platz weg. Sehr ärgerlich.«

»Es gibt da noch eine andere Möglichkeit«, orakelte er.

»Wat denn für eene?«, fragte Frau Moos, deren immense Leibesfülle bei dieser Frage schlagartig in sich zusammenfiel wie das anstrengende Hochdeutsch in den Teig des Prignitzberlinerisch.

»Sie müssen die Polizei nicht alarmieren, ich bin ohnehin auf dem Weg nach Perleberg. Ich werde die Kollegen vorbeischicken, der Wagen wird wahrscheinlich noch heute Nachmittag sichergestellt. Sie haben doch sicher das Bild von dem Wiesnacker Toten in der Zeitung gesehen?«

Ihre Hand war vor ihrem Mund, kaum, dass Leos Frage verklungen war.

»Bitte sprechen Sie nicht darüber, damit nicht alle dran rumgrabbeln – könnten die Fingerabdrücke des Täters drauf sein! Haben Sie mich verstanden, Frau Moos?«

Auf dem Weg nach draußen überlegte er einen kurzen Moment. Doch nur einen Moment … Er langte in den Kofferraum seines Mustangs, wo noch immer eine Rolle Spanndraht lag. Natürlich hatte er eine Zange im Auto. Jeder auf dem Land hat eine Rolle Spanndraht und eine Zange im Auto. Ebenso eine Motorsäge und einen Spalthammer.

Rasch war ein Stück Draht abgeknipst und zu einem Spezialwerkzeug gebogen. Er zog sich seine ledernen Handschuhe an und ging zurück. Flugs rutschte der lange, gerade Draht mit der kleinen Schlinge am Ende durch die obere Gummidichtung des rechten Seitenfensters. Die Schlinge legte sich um den Türknopf, und Leo zog diesen vorsichtig nach oben.

Er öffnete die rechte Seitentür des BMW und durchsuchte mit raschem Griff das Handschuhfach, wo er sofort die Bestätigung für seine Vermutung fand. Wie hineingeschleudert lagen dort der Personalausweis, der Führerschein und noch einige andere amtliche Papiere, die auf Lothar Brändle ausgestellt waren. Im Fahrtenbuch sah er penibel eingetragen die letzten Tankstopps: Kassel und Hitzacker. Im Katalog waren zwei lose Blätter eingelegt, die herausgerutscht waren. Leo nahm sie an sich und griff instinktiv unter jeden der beiden Sitze, denn das waren Stellen, an denen sich für gewöhnlich Dinge fanden, mit denen man nicht rechnete. Unversehens hielt Leo eine Papierkugel in der Hand. Schon waren die glatten Papiere gefaltet in seiner Jacken- und die Kugel in der Hosentasche verschwunden.

»Dit is denn doch nicht rechtens, oder?«, fragte Frau Moos, die rausgekommen war und sich unbemerkt neben ihm aufgebaut hatte, die Arme angewinkelt und die fleischigen Hände anklagend aufs Hüftpolster gestützt.

Er reagierte nach außen hin gelassen und blitzschnell:

»Der Wagen steht ja auch nicht rechtens hier, oder?«

Instinktiv hatte er das nachgestellte »oder?« der Wirtin verschwörerisch aufgegriffen. Bevor sie dahinterkam, dass diese Gegenfrage absurd war, hatte er den Knopf wieder runtergedrückt und die Tür zugeschlagen. Nur an der kleinen Druckstelle am Türgummi hätte man den Einbruch bemerken können. Aber die wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer.

»Keine Sorge, das bringe ich jetzt direkt zum Kollegen Ernst nach Perleberg. Nicht dass einer in der Zwischenzeit den herrenlosen Wagen stibitzt.«

Ich darf mir dieses nachgestellte »oder?« nicht angewöhnen, dachte er, als er selbstbeschwichtigend pfeifend zum Mustang schlenderte. Während er hupend losfuhr, konnte er Frau Moos beobachten, wie sie mit vorgehaltener Hand in den weißen BMW spähte. In fünf Minuten würde ganz Reetz dort stehen und sich die Nase an den Scheiben platt drücken, das war sicher.

5

Kurz nach vier fuhr Leos Mustang ein Stück die Berliner Straße entlang, bog in die Ritterstraße ein und rollte auf dem Parkplatz hinter dem Perleberger Polizeipräsidium aus. Leo blickte sich um. Einige der Autos erkannte er als die von Kollegen, andere nicht mehr. Zwei der vier Figuren, die jetzt nach ihrer Normalschicht in den Feierabend drifteten, hatte er noch vom letzten Grillfest in Erinnerung. Die beiden anderen waren ihm neu. Er wartete, bis sich die Türen ihrer Autos geschlossen hatten, dann stieg er aus und ging ins Präsidium. Diese heutigen Autos, dachte er angewidert, aufgeblähte Turnschuhe aus Blech; überdimensioniert, unförmig, hässlich, stillos. Man konnte die Marken nicht mehr auseinanderhalten, alle glichen einander.

Erwartungsgemäß wurde er vom Pförtner gestoppt, als er versuchte, ohne weitere Erklärung in den ersten Stock zu gelangen.

»Äh, hallo! Wohin wollen wir denn?«

Es war nicht der linientreue, übereifrige Pförtner, der ihn zuletzt auf ähnliche Weise empfangen hatte.

»Tschuldigung, Macht der Gewohnheit! Bin einer von hier, nur schon seit einigen Jahren außer Dienst. Möchte die Exkollegen zu einem Grillabend einladen. Sie sind auch herzlich willkommen! Könnten Sie mal bei Ernst durchklingeln?«

»Wie ist Ihr Name?«

Leo lächelte, denn in der Pförtnerloge hing, riesenhaft und wie ein Fahndungsfoto gestaltet, sein eigenes. Nach der letztjährigen Preuß-Geschichte hatten sich Ernst und Konsorten diesen kleinen Scherz erlaubt.

»Leo Pauluth, ehemaliger Revierpolizist von Karstädt«, antwortete er geduldig, was eine abrupte Veränderung in der Haltung seines Gegenübers hervorrief.

Witzigerweise drehte der Pförtner sich um und schaute sich genau dieses gefakte Fahndungsplakat an, bevor er auflegte und zu Leo sagte:

»Sorry, jetzt sitze ich hier schon monatelang und erkenne doch nicht den Staatsfeind Nummer eins, wenn er hereinkommt!«

Der Junge hatte Humor, das gefiel Leo.

»Sie werden oben erwartet, Herr Pauluth. Tschuldigung noch mal. Kommt nicht wieder vor.«

Leo tippte an seine nicht vorhandene Hutkrempe und eilte die Treppe hinauf.

Oben war das Hallo nicht weniger groß als bei seinem letzten Besuch. Fast schien es Leo, als wäre es diesmal echte Freude, die ihm entgegenschlug.

»Leo Pauluth, der märkische Mister Marple!«

Diese Eröffnung, die Karl Ernst zu verantworten hatte, der Ein-Meter-neunzig-Mann mit dem Ballongesicht des Hochdruck-Patienten, dämpfte Leos Hochstimmung jedoch sofort wieder.

»Also ich bitte dich, wenn ich diese Beleidigung noch einmal höre, raste ich aus! Da wollte ich meinen Exkollegen und auch den Kollegen meiner Exkollegen einen Freundschaftsbesuch abstatten, und schon werde ich wieder mit Hohn und Spott empfangen …«

»Nein, nein, nein!«, sagte Ernst mit Bedauern. »So war das überhaupt nicht gemeint! Ich sag’s nie mehr, großes Indianerehrenwort! Freut mich, dass du mal wieder vorbeischaust. Wie geht’s?«

»Nun, also, ich kann nicht klagen«, sagte Leo. »Fände es schön, wenn ihr mal wieder zu mir in den Garten kämt. Es ist zwar jetzt ein bisschen eng geworden, seit ich meinen Weinberg habe, aber ein Eckchen für den Grill wird sich schon finden. Oder wir machen es bei der Weinlese in Putlitz …«

»Weinberg?«, fragte einer, den Leo nicht kannte. »Soll das heißen, es gibt nur Wein?«

»Natürlich gibt es auch Bier! Tannenzäpfle!«

Nachdem alle begeistert zugestimmte hatten und sich auch in der Terminfrage schnell der Sonnabend in drei Wochen herauskristallisiert hatte, machte Leo schon Anstalten, wieder zu gehen, drehte sich jedoch, bereits beinahe am Ausgang des Großraumbüros, wieder um und sagte:

»Ach, übrigens, fast hätte ich’s vergessen – der Tote vom Blutstein heißt Lothar Brändle und betrieb eine Rebschule in Lauffen am Neckar. Wer immer ihn am Blutstein zuletzt gesehen und ausgeraubt hat, sei es tot, sei es zuerst noch lebendig, hat seinen Wagen benutzt, um wegzukommen. Es ist ein weißer BMW 730i mit dem Kennzeichen HN–LB 3000. Er steht seit gestern herrenlos vor dem Gasthof Moos in Reetz.«

Das schlug stärker ein, als wenn er gesagt hätte: Übrigens habe ich sechs Richtige im Lotto! Die Os der Münder hielten sich sekundenlang, während verschiedene Exkollegengesichter mit hochgezogenen Brauen im Wechsel zueinander Front machten. Ernst war der Erste, der sich wieder fasste.

»Woher weißt du das alles? Und wie kommst du drauf, dass du sein Auto gefunden hast?«