Informationen zum Buch

»Dieser Roman trifft mitten ins Herz.« Ljudmila Ulitzkaja.

Suleika ist eine tatarische Bäuerin. Eingeschüchtert und rechtlos lebt die Mutter von vier im Säuglingsalter gestorbenen Kindern auf dem Hof ihres viel älteren Mannes. Ihr Weg zu sich selbst führt durch die Hölle, das Sibirien der von Stalin Ausgesiedelten. Ein anrührendes und meisterhaftes Debüt, das in 21 Sprachen übersetzt ist.

Vielfach preisgekrönt, u.a. als Großes Buch 2015 und mit dem Jasnaja Poljana-Preis 2015.

»Für mich bleibt es ein Rätsel, wie es einer so jungen Autorin gelungen ist, ein so eindringliches Werk zu schaffen.« Ljudmila Ulitzkaja.

Gusel Jachina

Suleika öffnet die Augen

Roman

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Mit einem Geleitwort von Ljudmila Ulitzkaja

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Zum Geleit

Erster Teil Ein nasses Huhn

Ein Tag

Es klopft ans Fenster

Die Begegnung

Zweiter Teil Wohin?

Die Reise beginnt

Kaffee

Kasan

Auf Abruf

Der Ausbruch

Der Lastkahn

Dritter Teil Leben

Dreißig

Die Geburt

Der erste Winter

Die Siedlung

Ein guter Mensch

Der Schah der Vögel

Vier Engel

Das schwarze Zelt

Vierter Teil Rückkehr

Krieg

Jusuf und Suleika

Suleikas Weg

Anmerkungen

Über Gusel Jachina

Impressum

Zum Geleit

Dieser Roman ist der Art von Literatur zuzuordnen, die man seit dem Zerfall der UdSSR ganz und gar verloren glaubte. Wir hatten eine ganze Phalanx wunderbarer bikultureller Schriftsteller, die einer der vielen Ethnien des Imperiums angehörten, aber auf Russisch schrieben: Fasil Iskander, Juri Rytchëu, Anatoli Kim, Olshas Suleimenow, Tschingis Aitmatow … Zu den Traditionen dieser Schule gehörten eine profunde Kenntnis des nationalen Materials, die Liebe zum eigenen Volk, ein von Würde und Respekt geprägtes Verhältnis zu Menschen anderer Nationalitäten und ein sensibler Umgang mit der Folklore. Ein Kontinent, der für immer versunken schien. Da geschah etwas Seltenes und Hocherfreuliches: Eine neue Prosaikerin, die junge Tatarin Gusel Jachina, hat sich mit leichtem Schritt der langen Reihe dieser Meister angeschlossen.

Der Roman »Suleika öffnet die Augen« ist ein überaus gelungenes Erstlingswerk. Er besitzt die wichtigste Eigenschaft echter Literatur: Er trifft mitten ins Herz. Der Bericht vom Schicksal der Hauptfigur, einer tatarischen Bäuerin aus der Zeit der Kampagne gegen die Kulaken, ist von einer solchen Authentizität, Glaubhaftigkeit und Faszination, wie es einem in dem gewaltigen Strom der Gegenwartsprosa nicht oft begegnet.

Der etwas kinematographische Stil der Erzählung schärft nur die Dramatik der Handlung und die Konturen der Charaktere. Die publizistischen Einschübe stören nicht, sondern sind eher ein Vorzug des Romans. Die Autorin bietet dem Leser eine Wortkunst voller genauer Beobachtung und psychologischer Empfindsamkeit, die mit einer Liebe gearbeitet ist, ohne die auch die begabtesten Schriftsteller nur zu kalten Registratoren der Übel ihrer Zeit werden.

Der Begriff »Frauenliteratur« hat einen abwertenden Beigeschmack. Der geht wohl darauf zurück, dass Literaturkritik vorwiegend von Männern betrieben wird. Dabei haben die Frauen im zwanzigsten Jahrhundert Berufe erobert, die bis dahin als männlich galten, sind Ärztinnen, Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Schriftstellerinnen geworden. Und es ist kaum zu bestreiten: Seit es das literarische Genre des Romans gibt, haben Männer hundertmal mehr schlechte geschrieben als Frauen.

Gusel Jachinas Roman ist ein weibliches Werk, daran kann es keinerlei Zweifel geben. Es handelt von der Stärke und Schwäche einer Frau, von den Segnungen der Mutterschaft – nicht in einem englischen Kinderzimmer, sondern in einem Arbeitslager, einem Höllenreservat, erdacht von einem der schlimmsten Unholde der Menschheit. Für mich bleibt es ein Rätsel, wie es einer so jungen Autorin gelungen ist, ein so eindringliches Werk zu schaffen, das Liebe und Zärtlichkeit in der Hölle besingt … Von ganzem Herzen beglückwünsche ich sie zu dieser wunderbaren Premiere und die Leser zu großartiger Prosa. Ein glänzender Start.

Ljudmila Ulitzkaja

Erster Teil
Ein nasses Huhn

Ein Tag

Suleika öffnet die Augen. Ringsum ist es dunkel wie in einem Kellerloch. Hinter dem dünnen Vorhang atmen schläfrig die Gänse. Schmatzend sucht das kaum einen Monat alte Fohlen nach dem Euter seiner Mutter. Vor dem Fenster an Suleikas Kopfende heult dumpf der Januarsturm. Aber er pfeift nicht durch die Ritzen, denn Murtasa hat sie vor dem Kälteeinbruch abgedichtet. Murtasa ist ein guter Hausherr. Und ein guter Ehemann. Aus der Männerhälfte des Hauses dringt sein tiefes, rollendes Schnarchen herüber. Schlafe wohl – vor dem Morgengrauen ist der Schlaf am tiefsten.

Es ist Zeit. Allmächtiger Allah, lass gelingen, was ich mir vorgenommen habe, und dass ich dabei keinen aufwecke.

Lautlos setzt Suleika einen nackten Fuß auf den Boden, dann den zweiten, stützt sich am Ofen ab und steht auf. Der ist über Nacht ausgekühlt, hat alle Wärme verloren. Die Kälte des Fußbodens fährt ihr in die nackten Sohlen. In Filzpantoffeln schlüpfen kann sie nicht, darin gelingt ihr kein lautloser Schritt. Ein Dielenbrett knarrt immer. Doch Suleika hält das aus. Mit einer Hand tastet sie sich an der rauen Flanke des Ofens entlang und bewegt sich so von der Frauenhälfte her dem Ausgang zu. Dieser Teil des Hauses ist eng und vollgestellt, doch sie kennt jede Ecke und jeden Vorsprung. Huscht sie hier doch schon ihr halbes Leben wie ein Weberschiffchen den lieben langen Tag hin und her: vom Kessel mit vollen, heißen Schüsseln zur Männerhälfte und mit leeren, kalten wieder zurück.

Wie viele Jahre ist sie jetzt verheiratet? Fünfzehn von ihren dreißig? Ihr kommt es länger als ein halbes Leben vor. Sie wird Murtasa bitten, wenn er bei Laune ist, einmal nachzuzählen.

Nur nicht über den Vorleger stolpern. Oder sich den nackten Fuß an dem eisernen Kasten stoßen, der rechts an der Wand steht. Nicht auf das quietschende Brett an der Ecke des Ofens treten. Geräuschlos durch den Kattunvorhang schlüpfen, der die Frauen- von der Männerhälfte trennt … Dann ist sie fast an der Tür.

Murtasas Schnarchen kommt näher. Schlafe, schlafe um Allahs willen. Die Frau darf sich nicht vor dem Mann verbergen, aber was soll’s, manchmal muss es eben sein.

Jetzt kommt es darauf an, keines der Tiere zu wecken. Die schlafen gewöhnlich im Winterstall, aber bei strengem Frost ordnet Murtasa an, Jungvieh und Geflügel ins Haus zu nehmen. Die Gänse regen sich nicht, aber das Fohlen klopft mit einem Huf und wirft den Kopf hoch: Ist aufgewacht, der kleine Teufel. Aus ihm wird einmal ein gutes, ein aufmerksames Pferd. Sie lässt eine Hand durch den Vorhang gleiten und berührt leicht das samtweiche Maul: Beruhige dich, ich bin’s nur. Der Kleine schnauft dankbar in ihre Hand – akzeptiert. Suleika wischt sich die nassen Finger am Nachthemd ab und drückt mit der Schulter sacht die Tür auf. Für den Winter mit Filz beschlagen, lässt sie sich nur schwer öffnen. Durch den Spalt pfeift eine stechende Wolke Frostluft herein. Mit einem großen Schritt steigt sie über die hohe Schwelle. Darauf zu treten und – Allah bewahre – gerade jetzt die bösen Geister zu wecken, das hätte ihr gerade noch gefehlt. Nun steht sie im Vorhaus. Sie schließt die Tür und lehnt sich mit dem Rücken dagegen.

Allah sei gelobt, das wäre geschafft.

Hier ist es kalt, als stehe man im Freien: Der Frost zwickt, und das Nachthemd wärmt nicht. Ströme von Eisluft dringen durch die Ritzen im Fußboden und fahren ihr in die nackten Füße. Aber das ist nicht schlimm.

Das Schlimme lauert hinter der Tür gegenüber. Die Ubyrly kartschyk – eine blutsaugende dämonische alte Hexe, die Upyricha. Diesen Namen hat ihr Suleika gegeben. Dem Allmächtigen sei Dank, die Schwiegermutter lebt nicht mit ihr unter einem Dach. Murtasas Haus ist geräumig, es sind im Grunde zwei Blockhäuser, verbunden durch ein gemeinsames Vorhaus. An dem Tag, als der 45-jährige Murtasa die 15-jährige Suleika in sein Heim holte, schleppte die Upyricha mit der Leidensmiene einer Märtyrerin ganz allein ihre zahlreichen Truhen, Bündel und all ihren Hausrat in das bisherige Haus für Gäste, das sie voll in Beschlag nahm. »Hände weg!«, schrie sie den Sohn böse an, als der versuchte, ihr beim Umzug zu helfen. Zwei Monate lang sprach sie kein Wort mit ihm. Im selben Jahr verlor sie rasch und unwiderruflich ihr Augenlicht und etwas später auch das Gehör. Binnen weniger Jahre war sie blind und taub wie ein Stein. Dafür sprach sie jetzt viel, und keiner konnte ihr ins Wort fallen.

Wie alt sie wirklich war, wusste niemand. Hundert Jahre, behauptete sie. Erst kürzlich hatte Murtasa lange gerechnet und nachgedacht. Das Ergebnis: Die Mutter hatte recht, sie musste in der Tat etwa hundert Jahre alt sein. Sie hatte ihn spät geboren, und jetzt war er selbst fast schon ein Greis.

Gewöhnlich wird die Upyricha morgens als Erste wach und trägt ihren sorgfältig gehüteten Schatz ins Vorhaus hinaus – einen eleganten Nachttopf aus schneeweißer Keramik mit einem wunderlichen Deckel und mit zartblauen Kornblumen bemalt (Murtasa hat ihn ihr aus Kasan als Geschenk mitgebracht). Auf den Ruf der Schwiegermutter muss Suleika aufspringen, das kostbare Gefäß leeren und mit aller Vorsicht spülen. Das ist ihre erste Pflicht am Morgen, noch bevor sie den Ofen heizt, Brotteig ansetzt und die Kuh zur Herde bringt. Wehe ihr, wenn sie den Weckruf verpasst. In den fünfzehn Jahren ist ihr das zweimal passiert, und sie mag gar nicht daran denken, was dann geschah.

Hinter der Tür gegenüber ist es noch still. Also, Suleika, nasses Huhn, beeile dich. Shebegjan tawyk, nasses Huhn, ein nutzloses Ding – so hat die Upyricha sie genannt, als sie ihr zum ersten Mal unter die Augen trat. Ohne es zu merken, benutzt Suleika diesen Namen inzwischen selbst.

Vorsichtig gleitet sie durch das Vorhaus zur Treppe, die auf den Dachboden führt. Sie ertastet das abgegriffene Geländer. Die Stufen sind steil, die froststarren Bretter stöhnen leise. Von oben her riecht es nach eiskaltem Holz und Staub, trockenen Kräutern und – kaum spürbar – nach gepökelter Gans. Mit jeder Stufe kommt Suleika dem Schneesturm näher, der am Dach rüttelt und um die Ecken faucht.

Über den Boden kriecht sie auf allen vieren. Wenn sie aufrecht geht, könnten die Bretter direkt über dem Kopf des schlafenden Murtasa knarren. Kriechend bewegt sie sich geräuschlos, denn sie wiegt fast nichts, Murtasa hebt sie mit einem Arm hoch wie ein Schaf. Sie zieht das Nachthemd bis zur Brust hoch, um es an dem staubigen Boden nicht zu beschmutzen, nimmt den Saum zwischen die Zähne, bewegt sich tastend zwischen Kisten, Körben und allerlei hölzernem Gerät, steigt vorsichtig über Querbalken. Dann berührt ihre Stirn die Wand. Endlich.

Suleika richtet sich auf und schaut durch das winzige Bodenfenster. In der vormorgendlichen Finsternis sind die verschneiten Häuschen ihres Heimatdorfes Julbasch kaum zu erkennen. Als sich Murtasa einmal die Mühe machte zu zählen, kam er auf über einhundert Höfe. Ein großes Dorf, ohne Zweifel. Die Dorfstraße windet sich wie ein Fluss zum Horizont. In ein paar Häusern sind bereits die Lichter angegangen. Beeile dich, Suleika.

Sie steht auf und streckt sich nach oben. Ihre Hand erfasst etwas Schweres, Glattes mit dicken Pickeln – eine gepökelte Gans. Ihr Magen reagiert augenblicklich mit einem fordernden Knurren. Nein, die Gans muss bleiben, wo sie ist. Sie lässt sie los und sucht weiter. Da! Links vom Bodenfenster hängen große, schwere, hart gefrorene Blätter, von denen ein kaum spürbarer fruchtiger Duft ausgeht. Sie bestehen aus Äpfeln, die sorgfältig im Ofen durchgekocht, dann auf einem großen Brett ausgerollt und auf dem Dach getrocknet werden. Sie haben die heiße Augustsonne und die kühlen Septemberwinde in sich aufgenommen. Man kann ein Stückchen davon abbeißen, das raue, säuerliche Etwas über den Gaumen rollen und lange daran lutschen. Man kann sich auch den Mund damit vollstopfen, die elastische Masse kräftig kauen und die Kerne ausspucken, die sich ab und zu darin finden … Sofort läuft Suleika das Wasser im Munde zusammen.

Sie nimmt mehrere der Blätter von der Leine, rollt sie fest zusammen und klemmt sie sich unter den Arm. Mit der freien Hand fährt sie über die anderen – es sind noch sehr viele da. Murtasa wird nichts merken.

Jetzt wieder zurück.

Wieder lässt sie sich auf die Knie nieder und kriecht zur Treppe. Die Rolle unter dem Arm verlangsamt ihre Bewegungen. Sie ist wirklich zu nichts nutze, nicht einmal an einen Beutel hat sie gedacht. Die Treppe muss sie sehr langsam hinabsteigen, denn sie spürt ihre Füße nicht mehr. Die sind völlig erstarrt; sie muss sie seitlich aufsetzen. Als sie die letzte Stufe erreicht hat, springt die Tür zum Haus der Upyricha mit Getöse auf, und auf der Schwelle erscheint kaum sichtbar eine helle Gestalt. Eine schwere Krücke donnert auf den Fußboden.

»Ist da jemand?«, fragt die Upyricha mit tiefer Männerstimme in die Dunkelheit hinein.

Suleika erstarrt zur Salzsäure. Ihr Herz rast, der Magen ist ein einziger Eisklumpen. Sie ist zu spät … Die Rolle unter dem Arm beginnt zu tauen und wird langsam weicher.

Die Upyricha tritt einen Schritt vor. Seit fünfzehn Jahren blind, kennt sie jeden Winkel ihres Hauses und bewegt sich frei und sicher darin.

Suleika flüchtet ein paar Stufen höher und presst die langsam tauende Fruchtrolle fester an sich.

Die Alte dreht ihren Kopf von einer Seite zur anderen. Sie hört und sieht nichts mehr, aber sie spürt etwas. Eine echte Hexe. Das Stampfen der Krücke kommt näher und näher. O je, gleich wird sie Murtasa aufwecken …

Suleika klettert noch ein paar Stufen höher, presst sich ans Geländer und fährt mit der Zunge über die trockenen Lippen.

Die weiße Gestalt steht jetzt am Fuße der Treppe. Man hört, wie sie Witterung nimmt, wie sie geräuschvoll die Luft einsaugt. Suleika hält eine Hand vor ihr Gesicht. Die riecht tatsächlich nach Gänsefleisch und Äpfeln. Unvermittelt beugt sich die Upyricha nach vorn, holt aus und lässt ihre Krücke mit aller Macht auf die Treppenstufen niedersausen, als wollte sie sie mit einem Schwert durchschlagen. Sie pfeift ganz nahe an Suleika vorbei und landet kaum einen Fingerbreit neben ihrem nackten Fuß auf dem Holz. Die Knie werden ihr weich, sie sackt in sich zusammen. Wenn die alte Hexe noch einmal zuschlägt … Doch die Upyricha murmelt etwas vor sich hin und zieht die Krücke zurück. Mit einem dumpfen Laut stößt sie gegen den Nachttopf.

»Suleika!«, ruft die Upyricha gellend in Richtung der Haushälfte des Sohnes.

So beginnt ein Tag in diesem Haus.

Suleika würgt einen Klumpen dicken Speichels die völlig trockene Kehle hinunter. War es das wirklich schon? Mit größter Vorsicht einen Fuß vor den anderen setzend, gleitet sie die Treppe hinunter. Wartet ein paar Augenblicke ab.

»Suleika-a-a!«

Jetzt ist es so weit. Ein drittes Mal rufen mag die Schwiegermutter überhaupt nicht. Suleika springt der Upyricha entgegen. »Ich komme, ich fliege, Mama!«, stößt sie hervor und nimmt aus deren Händen den schweren, warm und klebrig beschlagenen Nachttopf entgegen, wie sie es jeden Morgen tut.

»Da bist du ja endlich, nasses Huhn«, knurrt die. »Nur im Schlafen bist du gut, Faulenzerin …«

Bestimmt hat der Lärm Murtasa geweckt; gleich wird er im Vorhaus erscheinen. Suleika drückt die Apfelblätter fester an sich, um sie ja nicht fallen zu lassen, ertastet mit den Füßen die erstbesten Filzstiefel und läuft auf den Hof hinaus. Der Sturm schlägt ihr gegen die Brust und packt sie, als wollte er sie zu Boden werfen. Er bläht das Nachthemd auf wie eine Glocke. Aus der Vortreppe ist über Nacht eine einzige Schneewehe geworden. Suleika kann mit den Füßen kaum noch die Stufen ertasten. Bis zu den Knien im Schnee kämpft sie sich zum Klohäuschen durch. Gegen den starken Wind bekommt sie die Tür kaum auf. Sie kippt den Inhalt des Topfes in das vereiste Loch. Als sie wieder im Haus ist, hat sich die Upyricha bereits in ihre Hälfte zurückgezogen.

Auf der Schwelle empfängt sie der verschlafene Murtasa, eine Petroleumlampe in der Hand. Die buschigen Brauen sind über der Nasenwurzel zusammengezogen, die tiefen Falten in den vom Schlaf zerdrückten Wangen wirken wie mit einem Messer geschnitten.

»Bist du wahnsinnig, Frau? Bei dem Schneetreiben nackt hinauszulaufen!«

»Ich war doch nur Mamas Nachttopf auskippen …«

»Willst du wieder den halben Winter krank herumliegen? Und die ganze Hausarbeit mir aufhalsen?«

»Wo denkst du hin, Murtasa! Mir ist überhaupt nicht kalt. Schau!« Suleika hält ihm ihre rot gefrorenen Hände hin. Dabei presst sie die Ellenbogen fest an die Taille, denn unter dem Arm trägt sie immer noch die kostbare Last. Sie wird doch unter dem Nachthemd nicht zu sehen sein? Das ist vom Schnee durchnässt und klebt ihr am ganzen Körper.

Aber Murtasa ist ärgerlich und würdigt sie keines Blickes. Er spuckt aus, fährt sich mit der flachen Hand über den glatt rasierten Schädel und mit den Fingern durch den zottigen Bart.

»Gib mir was zu essen. Dann fegst du den Hof und bereitest alles vor. Wir fahren Holz schlagen.«

Suleika nickt gehorsam und verschwindet hinter dem Vorhang.

Es hat geklappt! Es ist ihr gelungen! Suleika, dem nassen Huhn! Ihre Beute: zwei zerdrückte, zusammengerollte, aneinander klebende Blätter feinster gepresster Äpfel. Ob sie sie heute auch noch hinbringen kann? Und wo soll sie den Schatz so lange verstecken? Auf keinen Fall im Haus: Die Upyricha wühlt in ihren Sachen, wenn sie fort sind. Sie muss ihn mitnehmen. Das ist gefährlich. Aber heute scheint Allah auf ihrer Seite zu sein. Es müsste also gelingen.

Suleika schlägt die Blätter fest in ein großes Tuch ein, das sie sich um die Taille schnürt. Darüber streift sie das Unterhemd und schlüpft in die Pluderhose. Dann folgt das Kulmek, das tatarische Kleid. Sie flicht sich die Zöpfe und bindet ein Kopftuch darüber.

Die finstere Nacht hinter dem Fenster am Kopfende ihrer Lagerstätte lichtet sich ein wenig und weicht nach und nach dem kümmerlichen Schein eines trüben Wintermorgens. Suleika schiebt den Fenstervorhang zur Seite – alles ist besser, als im Dunkeln arbeiten zu müssen. Die Petroleumlampe, die auf der Ecke des Ofens steht, spendet auch der Frauenhälfte ein paar schräge Strahlen, aber der sparsame Murtasa hat den Docht so weit heruntergedreht, dass kaum noch eine Flamme zu erkennen ist. Das ist nicht weiter schlimm, sie fände sich auch mit verbundenen Augen zurecht.

Ein neuer Tag beginnt.

Das morgendliche Schneetreiben legt sich im Laufe des Vormittags, und am klaren blauen Himmel zeigt sich die Sonne. Sie fahren ins Holz.

Suleika, die im hinteren Teil des Schlittens sitzt, den Rücken Murtasa zugewandt, schaut auf die zurückbleibenden Häuser von Julbasch. Mit ihren grünen, gelben und blauen Mauern lugen sie wie bunte Pilze aus den Schneewehen hervor. Die kerzengerade aufsteigenden weißen Rauchsäulen lösen sich im Blau des Himmels auf. Laut und kräftig knirscht der Schnee unter den Kufen. Die Stute Sandugatsch, die in der kalten Luft munter ausschreitet, schnaubt ab und zu und schüttelt die Mähne. Das alte Schaffell wärmt Suleika von unten. Auch das kostbare Päckchen auf ihrem Bauch gibt Wärme ab. Wenn sie es doch heute an den ersehnten Ort bringen könnte …

Arme und Rücken schmerzen. Über Nacht wurde sehr viel Schnee angeweht, und Suleika musste mit der Schaufel lange gegen die Schneewehen ankämpfen, um auf dem Hof mehrere breite Wege zu bahnen – von der Haustür zu Scheune und Schuppen, zum Klohäuschen, zum Winterstall und zum Hinterhof. Wie angenehm ist es doch, nach der schweren Arbeit eine Weile müßig auf dem gleichmäßig schaukelnden Schlitten zu hocken, es sich bequem zu machen, sich tief in den stark riechenden Tulup, den langen und weiten Schaffellmantel, zu kuscheln, die klammen Hände in die Ärmel zurückzuziehen, das Kinn auf die Brust sinken zu lassen und die Augen zu schließen …

»Aufwachen, Frau, wir sind da.«

Zwischen riesigen Bäumen ist der Schlitten zum Stehen gekommen. Dicke Schneepolster auf den Ästen und ausladenden Wipfeln der Kiefern. Raureif auf den Zweigen der Birken, die lang und dünn herabhängen wie Frauenhaar. Mächtige Schneewehen. Und viele Werst weit kein Laut.

Murtasa bindet sich geflochtene Schneeschuhe über die Stiefel, springt vom Schlitten, schwingt sich das Gewehr auf den Rücken und steckt sich eine große Axt in den Gürtel. Er packt sich zwei Stöcke und beginnt, ohne sich umzuschauen, einen Pfad durch das Dickicht zu treten. Suleika immer hinter ihm her.

Der Wald bei Julbasch ist gut und voller Schätze. Im Sommer bietet er den Dorfbewohnern dicke Walderdbeeren und pralle, süße Himbeeren, im Herbst duftende Pilze. Wild gibt es reichlich. Aus der Tiefe des Waldes fließt die Tschischme, fast während des ganzen Jahres ein liebliches Flüsschen voller flinker Fische und träger Krebse. Nur die Schneeschmelze im Frühjahr lässt sie zu einem trüben, stürmisch dahinschießenden Wasserlauf anschwellen. Während der Großen Hungersnot waren Wald und Fluss die einzige Rettung. Und natürlich Allahs Gnade.

Heute ist Murtasa weit in den Wald hineingefahren – fast bis zum Ende des Waldwegs. Der wurde vor langer Zeit angelegt und führt bis an den Rand des lichten Teils des Waldes. An einer Lichtung, die neun krumme Kiefern umstehen, endet der Weg. Hier geht es nicht weiter. Was dann kommt, ist kein Wald, sondern der finstere Urman, ein undurchdringliches Dickicht, die Heimstätte von wilden Tieren, Waldgeistern und anderen teuflischen Kreaturen. Jahrhundertealte dunkle Tannen mit Wipfeln, scharf wie Speerspitzen, stehen dort so dicht, dass kein Pferd durchkommt. Lichteren Wald mit rotbraunen Kiefern, gesprenkelten Birken und grauen Eichen gibt es dort überhaupt nicht.

Es heißt, dass man ins Land der Mari gelangt, wenn man sich viele Tage lang, die Sonne im Rücken, durch den Urman schlägt. Aber welcher Mann, der noch seine fünf Sinne beisammenhat, wird sich auf so etwas einlassen?! Selbst in der Großen Hungersnot wagten sich die Dorfbewohner nicht über den Rand der Lichtung hinaus. Sie aßen alle Rinde von den Bäumen, mahlten Eicheln, gruben Mäuselöcher auf, um Getreide zu finden, aber den Urman betraten sie nicht. Und wer es doch tat, der wurde nie mehr gesehen.

Suleika bleibt einen Moment stehen und setzt den großen Korb für das Reisig ab. Ängstlich blickt sie sich um. Musste Murtasa denn bis hierher fahren?

»Gehst du noch weit, Murtasa? Ich kann Sandugatsch gar nicht mehr sehen.«

Der Mann antwortet nicht. Er bewegt sich vorwärts, oft bis zur Hüfte im Schnee, fährt mit seinen langen Stöcken in die Schneewehen und tritt sie mit den breiten Schneeschuhen knirschend nieder. Manchmal sind nur noch Wölkchen gefrorenen Atems von ihm zu sehen. An einer hohen, geraden, stark von Schwamm bewachsenen Birke bleibt er endlich stehen, klopft zufrieden an den Stamm und sagt: »Der ist es.«

Zunächst treten sie rundherum den Schnee nieder. Dann wirft Murtasa den Tulup ab, packt die Axt fester, weist damit auf eine Lücke zwischen den Bäumen, wohin die Birke fallen soll, und beginnt zu hauen.

Die Klinge blitzt in der Sonne auf und dringt mit einem dumpfen Laut, der als mehrfaches Echo widerhallt, in das Holz ein. Zuerst durchtrennt sie die dicke, mit merkwürdigen schwarzen Beulen bewachsene Rinde, dann schneidet sie tief in das weiche zartrosa Holz ein. Späne fliegen umher wie Tränen. Das Echo der Schläge tönt durch den ganzen Wald.

Das ist auch im Urman zu hören, denkt Suleika voller Furcht. Sie steht ein paar Schritte entfernt bis zum Gürtel im tiefen Schnee, den Korb vor der Brust, und schaut zu, wie Murtasa auf den Baum einschlägt. Beim Ausholen beugt er sich weit zurück, dann lässt er den gespannten Oberkörper nach vorn schnellen, und die Axt landet genau auf dem splittrigen Spalt, der bereits in dem Stamm klafft. Ein großer, starker Mann, das ist er. Und arbeiten kann er auch. Einen guten Ehemann hat sie bekommen. Sich zu beklagen wäre Sünde. Sie selbst ist klein, reicht Murtasa kaum bis zur Schulter.

Die Birke beginnt bald stärker zu zittern und hörbarer zu ächzen. Die Wunde, die die Axt dem Stamm geschlagen hat, erinnert an einen im Schrei aufgerissenen Mund. Murtasa lässt die Axt fallen, schüttelt Späne und Zweige ab und gibt Suleika ein Zeichen, sie möge ihm helfen. Beide stemmen sich mit den Schultern gegen den rauen Stamm und drücken, so stark sie können. Ein Knacken und Bersten, bis die Birke mit einem letzten Aufstöhnen zu Boden kracht und dabei Wolken von Schneekristallen aufwirbelt.

Der Mann setzt sich rittlings auf den bezwungenen Baum und schlägt die dicken Äste ab. Die Frau bricht die dünneren ab und legt sie zusammen mit dem Reisig in den Korb. Lange arbeiten sie schweigend. Das Kreuz schmerzt, die Schultern werden müde. Die Hände beginnen selbst in den Handschuhen zu frieren.

»Murtasa, ist es wahr, dass deine Mutter in ihrer Jugend mehrere Tage lang im Urman war und heil und ganz wieder herausgekommen ist?« Suleika richtet sich auf und streckt den Rücken. »Das hat mir die Abystai, die Frau des Mullahs, erzählt, und die weiß es von ihrer Großmutter.«

Der Mann antwortet nicht, er zielt mit der Axt auf einen krummen, knotigen Zweig, der aus dem Stamm herauswächst.

»Ich wäre vor Angst gestorben, wenn es mich dorthin verschlagen hätte. Sicher hätten mir die Beine den Dienst versagt. Ich hätte nur dagelegen, die Augen zugekniffen und gebetet, solange ich noch konnte.«

Murtasa schlägt kräftig zu, und der Zweig fliegt pfeifend zur Seite.

»Aber es heißt, dass im Urman Gebete nicht helfen. Ob man betet oder nicht, man ist dem Untergang geweiht … Was meinst du …?« Leise fügt Suleika hinzu: »… Gibt es vielleicht auf der Welt Orte, wo Allahs Blick nicht hinkommt?«

Murtasa holt weit aus und haut die Axt in den vom Frost klingenden Stamm. Er nimmt die Pelzmütze ab, wischt sich mit der Hand über den erhitzten, tiefroten, kahlen Schädel und spuckt kräftig aus.

Sie arbeiten weiter.

Bald ist der Korb so mit Reisig vollgestopft, dass Suleika ihn nicht mehr anheben kann. Sie muss ihn hinter sich herziehen. Der Birkenstamm ist inzwischen von den Ästen befreit und in mehrere Stücke zerhauen. Die großen Äste liegen, akkurat zusammengebunden, ringsum in den Schneewehen.

Sie haben nicht bemerkt, wie sich der Himmel verfinstert hat. Als Suleika zu ihm aufschaut, ist die Sonne bereits hinter dicken Wolkenbergen verschwunden. Starker Wind setzt ein und wirbelt den Schnee auf.

»Lass uns nach Hause fahren, Murtasa, es wird wieder Schneetreiben geben.«

Der Mann antwortet nicht und schnürt weiter Holzbündel zusammen. Als das letzte fertig ist, heult der Wind bereits langgezogen und böse wie ein Wolf zwischen den Bäumen.

Murtasa weist mit dem Pelzhandschuh auf die Teile des Stammes: Zuerst nehmen wir die. Es sind vier Rundhölzer, aus denen noch die Stümpfe der abgeschlagenen Äste ragen, jeder größer als Suleika. Ächzend hebt Murtasa das Ende des dicksten Stücks an. Suleika packt das andere. Ihr gelingt es nicht sofort, es hochzuheben. Lange quält sie sich mit dem dicken, rauen Ding herum.

»Na, was ist denn nun?!«, ruft Murtasa ungeduldig. »Diese Weiber!«

Schließlich gelingt es Suleika, ihr Ende anzuheben. Sie umfängt es mit beiden Armen und drückt ihre Brust gegen die weiß-rosa Fläche des frisch geschnittenen Holzes, aus der lange, scharfe Splitter ragen. Langsam gehen sie in Richtung Schlitten. Ihre Arme zittern. Nur nicht fallen lassen, Allmächtiger, nur nicht fallen lassen. Wenn ihr das Stück auf den Fuß fällt, ist sie fürs ganze Leben ein Krüppel. Ihr wird heiß, Ströme von Schweiß rinnen über Bauch und Rücken. Das kostbare Päckchen unterhalb ihrer Brust weicht völlig durch, die Apfelmasse wird salzig schmecken. Aber das macht nichts, wenn sie sie nur noch heute an den ersehnten Ort bringen kann …

Sandugatsch steht ruhig an ihrem Fleck, tritt nur ab und zu träge von einem Bein aufs andere. Wölfe gibt es diesen Winter wenig, subhan Allah. Daher hat Murtasa auch keine Bedenken, das Pferd lange allein zu lassen.

Als das Rundholz endlich auf dem Schlitten liegt, lässt sich Suleika daneben fallen, zieht die Handschuhe aus und lockert ihr Halstuch. Das Atmen schmerzt so sehr, als wäre sie in einem Lauf durch das ganze Dorf gerannt.

Murtasa stapft ohne ein Wort in den Wald zurück. Suleika gleitet vom Schlitten und trottet hinterher. Sie schleppen auch die restlichen Rundhölzer bis zu ihrem Gefährt. Dann die Bündel mit den dicken Ästen, schließlich die mit den dünnen.

Als das Holz auf den Schlitten geladen ist, versinkt der Wald bereits in dichter Winterdämmerung. Nur Suleikas Korb steht noch neben dem Stumpf der frisch gefällten Birke.

»Das Reisig schaffst du allein«, wirft ihr Murtasa hin und geht daran, das Holz auf dem Schlitten festzuzurren.

Der Wind hat gefährlich an Stärke zugenommen. Er wirbelt dicke Schneewolken auf, die die von den Menschen ausgetretenen Pfade verwehen. Suleika drückt die Fäustlinge gegen die Brust und stürzt längs der kaum noch sichtbaren Spur in den dunklen Wald hinein.

Bis sie den Baumstumpf erreicht hat, ist ihr Korb bereits verweht. Von einem Strauch bricht sie einen Zweig ab und stochert damit im Schnee, um den Korb zu finden. Wenn er verloren ist, geht es ihr schlecht. Murtasa wird schimpfen und sich wieder beruhigen, aber die Upyricha wird toben und geifern. Und ihr diesen Korb bis zu ihrer letzten Stunde vorhalten.

Da ist er, der Gute! Suleika zerrt den schweren Korb unter einer dicken Schneewehe hervor und atmet erleichtert auf. Jetzt kann sie sich auf den Rückweg machen. Aber wohin? Um sie herum herrscht heftiges Schneetreiben. Dichte Schneeschleier tanzen auf und ab und hüllen Suleika ein. Der Himmel hat sich wie ein riesiger grauer Watteberg über die spitzen Wipfel der Fichten gelegt. Bei der Finsternis sind die Bäume nur noch graue Schatten, die einander aufs Haar gleichen.

Der Pfad ist verschwunden.

»Murtasa!«, schreit Suleika, und ihr Mund füllt sich mit Schnee. »Murtasa-a-a!« …

Aber als Antwort singt, klingt und pfeift nur der Wind.

Ihr Körper erschlafft, die Beine knicken ihr ein, als seien auch sie nur aus Schnee. Suleika lässt sich mit dem Rücken zum Wind auf einem Baumstumpf nieder, die eine Hand am Korb, die andere am Kragen des Schafpelzes. Wenn sie die Stelle verlässt, verirrt sie sich. Lieber hier abwarten. Ob Murtasa es fertigbringt, sie allein im Wald zurückzulassen? Die Upyricha würde frohlocken … Aber was wird dann aus den erbeuteten Apfelblättern? Soll ihre Mühe wirklich umsonst gewesen sein?

»Murtasa-a-a!«

Aus einer Schneewolke taucht eine hohe, dunkle Gestalt in Pelzmütze auf. Murtasa packt seine Frau fest am Ärmel und zerrt sie durch den Schneesturm hinter sich her.

Auf den Schlitten darf sie sich nicht setzen. Sie haben viel Holz geschlagen, das Pferd bewältigt es kaum. So gehen sie – vorn Murtasa, der Sandugatsch am Zügel führt. Hinterdrein stolpert Suleika, die sich am Schlitten festhält und kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen kann. Ihre Filzstiefel sind voller Schnee, aber zum Ausschütten reicht die Kraft nicht mehr. Jetzt muss sie nur noch den Weg hinter sich bringen. Einen Fuß vor den anderen setzen – rechts, links, rechts, links … Mach schon, Suleika, nasses Huhn. Du weißt, wenn du den Schlitten loslässt, ist das dein Ende. Murtasa bemerkt es nicht einmal. Dann erfrierst du im Wald.

Aber was für ein guter Mensch er doch ist: Er hat sie aus dem Wald geholt. Er hätte sie auch im Dickicht sitzen lassen können. Wen interessiert es schon, ob sie am Leben ist oder nicht. Er hätte sagen können: Sie hat sich im Wald verirrt, und ich habe sie nicht gefunden. Einen Tag später hätte keiner mehr an sie gedacht …

Man kann auch mit geschlossenen Augen gehen. Das ist sogar besser – die Beine bewegen sich, aber die Augen haben ein wenig Ruhe. Hauptsache, den Schlitten festhalten und die Finger nicht locker lassen …

Der Schnee fährt ihr schmerzhaft ins Gesicht, dringt in Nase und Mund. Suleika hebt den Kopf und schüttelt ihn ab. Da liegt sie am Boden, sieht das Schlittenende davonfahren und das Schneegestöber ringsum immer dichter werden. Sie kommt wieder auf die Beine, holt den Schlitten ein und packt ihn fester. Die Augen darf sie auf keinen Fall wieder schließen, bis sie zu Hause sind.

Als sie den Hof erreichen, ist es bereits stockdunkel. Sie entladen den Schlitten am Holzstapel (hacken wird Murtasa das Holz am nächsten Tag), spannen Sandugatsch aus und decken den Schlitten ab.

Die dick bereiften Fenster auf der Hausseite der Upyricha sind dunkel, aber Suleika weiß: Die Schwiegermutter spürt, dass sie zurückgekommen sind. Sie steht jetzt am Fenster und achtet darauf, wie die Dielenbretter sich bewegen: Ob sie beim Zufallen der Eingangstür erzittern und dann unter den schweren Tritten des Hausherrn federn. Murtasa wird den Pelz abwerfen, sich nach dem langen Tag waschen und dann in den Räumen der Mutter erscheinen. Zum Abendgespräch, wie er es nennt. Doch worüber kann man mit einer tauben alten Frau reden? Das versteht Suleika nicht. Die Gespräche sind lang, manchmal dauern sie mehrere Stunden. Danach ist Murtasa ruhig und friedlich, manchmal lächelt er sogar und scherzt mit ihr.

Heute kommt das Abendgespräch Suleika gerade recht. Kaum hat der Mann ein frisches Hemd angezogen und ist bei der Upyricha eingetreten, schlüpft Suleika in den noch feuchten Tulup und läuft aus dem Haus.

Der Schneesturm hat eine dicke, feste Schneedecke über Julbasch gebreitet. Beim Gehen muss sich Suleika gegen den Wind stemmen. Sie beugt sich tief hinab wie im Gebet. Die Fensterchen der Häuser, erleuchtet vom warmen Licht der Petroleumlampen, sind kaum noch zu erkennen.

Jetzt hat sie das Ende des Dorfes erreicht. Hier, am Zaun des letzten Hauses, die Nase dem freien Feld und den Schwanz Julbasch zugewandt, lebt Basu kapka ijase, der Geist des Dorfrandes. Suleika ist er noch nicht erschienen, aber es heißt, er sei bärbeißig und brummig. Wie denn sonst? Das kommt von seiner Pflicht, böse Geister vom Dorf fernzuhalten, sie nicht hereinzulassen. Und wenn ein Dorfbewohner an die Waldgeister ein Anliegen hat – zu helfen, als Vermittler zu wirken. Eine schwere Aufgabe, da ist einem nicht nach Scherzen zumute.

Suleika schlägt den Tulup auf, nestelt lange unter dem Kleid herum, um das feuchte Tuch zu lösen, das sie um die Taille trägt.

»Verzeih, dass ich dich so häufig störe«, spricht sie in den Sturm. »Hilf mir bitte auch dieses Mal, schlag es mir nicht ab.«

Es dem Geist recht zu machen ist nicht einfach. Man muss wissen, was welcher Geist mag. Der Hausgeist Bitschura zum Beispiel, der in ihrem Vorhaus lebt, ist nicht anspruchsvoll. Dem kann man ein paar ungewaschene Teller mit Resten von Grütze oder Suppe hinstellen, er schleckt sie nachts aus und ist zufrieden. Der Geist des Badehauses verlangt da schon mehr – Nüsse oder Sonnenblumenkerne. Der Stallgeist mag Mehlspeisen, der Torgeist zerstoßene Eierschalen. Doch der Geist des Dorfrandes mag Süßes. Das hat die Mutter sie gelehrt.

Als Suleika den Basu kapka ijase zum ersten Mal um einen Gefallen bat – mit dem Sirat ijase, dem Geist des Friedhofs, zu sprechen, damit der sich um die Gräber ihrer Töchterchen kümmern, sie warm mit Schnee zudecken und die Schurale, die bösen Waldgeister, vertreiben sollte –, hat sie ihm Konfekt mitgebracht. Später in Honig eingelegte Nüsse, bröseliges süßes Gebäck oder getrocknete Beeren. Die Blätter von gepressten und getrockneten Äpfeln bietet sie ihm zum ersten Mal an. Ob sie ihm schmecken werden?

Sie zieht die zusammengeklebten Scheiben auseinander und wirft sie einzeln in den Wind. Der packt sie, wirbelt sie herum und trägt sie ins Feld hinaus. So gelangen sie zur Höhle des Basu kapka ijase.

Kein einziges Blatt ist zu Suleika zurückgekehrt. Der Geist des Dorfrandes hat die Gabe also angenommen. Er wird ihre Bitte erfüllen und unter Brüdern mit dem Geist des Friedhofs sprechen. Ihre Töchterchen werden bis zum Frühjahr warm und in Frieden ruhen. Den Friedhofsgeist direkt anzusprechen, wagt Suleika nicht: Sie ist eine einfache Frau, kein Oschkerutsche, gehört keinem Clan von Geistlichen an.

Mit einer tiefen Verbeugung dankt sie dem Basu kapka ijase und eilt nach Hause. Sie muss dort sein, bevor Murtasa von der Upyricha zurück ist. Als sie das Vorhaus erreicht, sitzt der Mann noch bei seiner Mutter. Sie fächelt sich mit den Händen Luft zu und dankt dem Allmächtigen – ja, heute ist er wirklich auf ihrer Seite.

Als sie ins Warme kommt, spürt sie erst, wie erschöpft sie ist. Arme und Beine sind schwer wie Blei, der Kopf scheint mit Watte gefüllt zu sein. Ihr Körper fordert nur noch das eine – Ruhe. Rasch heizt sie den seit dem Morgen ausgekühlten Ofen an. Auf den Sjake, den erhöhten Teil der Männerhälfte des Hauses, der auch als Schlafstatt dient, stellt sie den Taban, den niedrigen Tisch, für Murtasa und wirft rasch etwas Essbares darauf. Dann eilt sie in den Winterstall und heizt auch dort den Ofen. Sie füttert das Vieh und mistet aus. Sie führt Sandugatsch ihr Fohlen zu, damit es sich für die Nacht satt trinken kann. Sie melkt die Kuh, die auf den Namen Kjubelek – Schmetterling – hört, und seiht die Milch durch. Aus dem hohen Kischte, dem unter der Zimmerdecke angebrachten Regal für das Bettzeug, holt sie mehrere dicke Kissen herunter, die sie sorgfältig aufschüttelt, denn Murtasa liebt es, erhöht zu schlafen. Dann kann sie sich endlich hinter den Ofen in ihren Teil des Hauses zurückziehen.

Auf einer Kiste oder Truhe schlafen gewöhnlich die Kinder. Den erwachsenen Frauen wird ein kleines Stück des Sjake zugestanden, das von der Männerseite durch den Tschybyldyk, einen dichten Vorhang, abgetrennt ist. Aber mit fünfzehn Jahren war Suleika von so kleinem Wuchs, dass die Upyricha, als man die Schwiegertochter in Murtasas Haus brachte, ihre damals noch klaren gelblich-grauen Augen in sie bohrte und erklärte: »Das mickrige Ding fällt nicht von der Truhe.« Fortan musste Suleika auf einer großen alten Truhe schlafen, die mit Blechbändern und großen glänzenden Nägeln beschlagen war. Da sie danach nicht mehr wuchs, hielt man es nicht für nötig, ihr einen anderen Schlafplatz zuzuweisen. Und den Sjake hat Murtasa ganz für sich allein.

Suleika legt ihre Matratze und Bettdecke auf die Truhe, zieht das Kulmek über den Kopf und beginnt ihre Zöpfe zu lösen. Die Finger gehorchen ihr kaum, der Kopf sinkt ihr auf die Brust. Im Halbschlaf hört sie die Tür klappen: Murtasa ist zurück.

»Bist du da, Frau?«, fragt er von der Männerhälfte her. »Heize das Badehaus. Mama will baden.«

Suleika vergräbt das Gesicht in den Händen. Für das Bad braucht man viel Zeit. Und dann auch noch die Upyricha waschen … Woher soll sie die Kraft nehmen? Wenn sie doch nur ein paar Augenblicke so sitzen bleiben könnte, ohne sich zu rühren. Dann hätte sie wieder Kraft, … könnte aufstehen, … heizen …

»Wolltest wohl schon schlafen gehen?! Schläfst auf dem Schlitten, schläfst zu Hause. Mama hat schon recht: Eine Faulenzerin bist du!«

Suleika springt auf.

Vor ihrer Truhe steht Murtasa, die Petroleumlampe mit dem flackernden Flämmchen in der Hand, das breite Kinn mit der tiefen Furche in der Mitte zornig vorgestreckt. Der zitternde Schatten des Mannes bedeckt den halben Ofen.

»Ich renne ja schon, Murtasa, ich laufe«, sagt sie mit belegter Stimme.

Und sie läuft.

Als Erstes muss sie durch den Schnee einen Weg zum Badehaus schaufeln (was sie am Morgen nicht getan hat, denn sie wusste nicht, dass es benutzt werden soll). Dann Wasser vom Brunnen holen – zwanzig Eimer, die Upyricha mag es, ordentlich zu planschen. Den Ofen heizen. Für den Hausgeist Bitschura Nüsse hinter die Bank streuen, damit der Ofen nicht ausgeht und kein Rauch ins Badehaus dringt, der beim Schwitzen stört. Dann den Fußboden wischen. Die Rutenbündel einweichen. Vom Dachboden getrocknete Kräuter holen – Zweizahnkraut zum Waschen der Intimbereiche von Mann und Frau, Minze, damit der Dampf gut riecht. Die Kräuter aufbrühen. Den Vorraum mit einem sauberen Läufer auslegen. Schließlich frische Wäsche für die Upyricha, für Murtasa und für sie selbst bereithalten. Ein Kissen und einen Krug mit kaltem Wasser zum Trinken nicht vergessen.

Das Badehäuschen hat Murtasa in einer Ecke des Hofes hinter Scheune und Stall aufgestellt. Den Ofen hat er nach einer modernen Methode selbst gebaut. Lange hat er die Zeichnungen in der Zeitschrift aus Kasan studiert, ist mit seinem breiten Fingernagel über jede einzelne Zeile der gelben Seiten gefahren und hat dabei stumm die Lippen bewegt. Mehrere Tage lang hat er sich die Steine zurechtgelegt und immer wieder mit der Vorlage verglichen. In der Fabrik des preußischen Fabrikanten Diese in Kasan hat er sich einen Kessel mit den vorgeschriebenen Maßen bestellt, ihn exakt auf den hohen Unterbau gesetzt und alle Fugen zwischen den Steinen sorgfältig mit Lehm verschmiert. Dieser Ofen heizt das Badehaus und spendet im Nu heißes Wasser, kaum dass das Feuer ein Weilchen brennt. Mit einem Wort, die reine Augenweide. Der Mullah-Chasret ist persönlich gekommen, um ihn sich anzuschauen. Danach hat er sich auch so einen bestellt.

Solange Suleika beschäftigt ist, hat sich die Müdigkeit in sie zurückgezogen und sitzt jetzt als fester Knoten irgendwo im Hinterkopf oder im Rückgrat. Bald wird sie wieder hervorkriechen, sie wie eine Flutwelle überrollen, zu Boden werfen und ertränken. Aber nicht sofort. Denn jetzt ist das Badehäuschen heiß, und sie kann die Upyricha holen.

Murtasa tritt stets ohne anzuklopfen bei seiner Mutter ein. Suleika hingegen muss lange und laut auf den Bodenbrettern vor der Tür trapsen, bis die Alte bereit ist, sie einzulassen. Wenn sie wach ist, spürt sie das Schwingen der Dielen und empfängt die Schwiegertochter mit einem strengen Blick aus ihren blinden Augen. Wenn sie schläft, hat Suleika sich sofort zurückzuziehen und später noch einmal zu erscheinen.

Vielleicht ist sie eingeschlafen?, hofft Suleika und tritt vor der Tür der Schwiegermutter noch ein paarmal fest auf den Fußboden. Dann öffnet sie und steckt den Kopf durch den Spalt.

Drei große Petroleumlampen auf durchbrochenen Metallgestellen tauchen das geräumige Zimmer in helles Licht (die Upyricha entzündet sie stets am Abend, wenn Murtasa sie aufsucht). Die Fußbodenbretter sind mit einem feinen Messer abgehobelt und mit Flusssand gescheuert worden, bis das Holz honigfarben erstrahlte (Suleika hat sich damit im Sommer die Finger wund gerieben). An den Fenstern schneeweiße Spitzengardinen, die so steif gestärkt sind, dass man sich daran schneiden kann; zwischen den Fenstern hängen die Tastymal, reich bestickte rot-grüne Wandbehänge, und ein ovaler Spiegel, so groß, dass sich Suleika darin von Kopf bis Fuß sehen kann. Eine Standuhr mit bernsteinfarbener Lackierung zählt mit ihrem Messingpendel langsam und unerbittlich die Stunden. Leise knacken die Scheite in dem hohen Kachelofen (den heizt Murtasa selbst, für Suleika ist er tabu). Die Kaschaga unter der Decke, ein Volant aus Seide, zart wie Spinnweben, umschließt wie ein kostbarer Rahmen das ganze Zimmer.

Auf dem Ehrenplatz, einem gewaltigen Metallbett mit Schmucklehne, thront auf Bergen von Kissen die Alte. Ihre Füße in milchweißen Kota, mit farbiger Borte verzierten Hausstiefelchen, ruhen auf dem Boden. Ihr Kopf mit einem weißen Tuch, das sie, wie es sich für alte Frauen gehört, bis auf die buschigen Brauen heruntergezogen hat, sitzt fest und gerade auf dem faltigen Hals. Über hohen, breiten Backenknochen die schmalen Augenschlitze, denen die schlaff herabhängenden Lider eine dreieckige Form geben.

»Bis du das Bad geheizt hast, kann man ja tot sein«, lässt die Schwiegermutter in gleichmütigem Ton hören.

Ihr Mund ist runzlig und eingefallen wie ein alter Gänsebürzel. Obwohl sie kaum noch einen Zahn im Mund hat, spricht sie klar und deutlich.

Wann du wohl stirbst, denkt Suleika bei sich, während sie sich in das Zimmer wagt. Du wirst noch bei meinem Begräbnis über mich herziehen.

»Aber mach dir keine Hoffnungen, ich habe vor, noch lange zu leben«, fährt die Alte fort. Sie legt die Jaspis-Gebetskette beiseite und tastet nach der vom Alter gedunkelten Krücke. »Murtasa und ich überleben euch alle, wir haben starke Wurzeln und sind aus gutem Holz.«

Gleich wird sie wieder von meiner faulen Wurzel anfangen, denkt Suleika mit einem leisen Seufzer, während sie der Alten die Jaga, den langen Hausmantel aus Hundefell, eine Pelzmütze und Stiefel reicht.

»Nicht so wie du dünnblütiges Ding.« Sie streckt ein knochiges Bein vor, Suleika zieht vorsichtig das leichte, flaumweiche Hausstiefelchen ab und streift ihr einen hohen, harten Filzstiefel über. »Weder die Figur noch das Gesicht sind geraten. Vielleicht hat man dir ja in der Jugend Honig zwischen die Beine geschmiert, aber auch dort bist du nicht gerade gesund, was? Hast nur Mädchen auf die Welt gebracht, und auch davon hat nicht eines überlebt.«

Jetzt zieht Suleika etwas zu heftig an dem zweiten Stiefelchen, so dass die Alte vor Schmerz aufschreit.

»Zerre nicht so, ungeschicktes Ding! Ich spreche die Wahrheit, das weißt du genau. Mit deiner Sippe geht es zu Ende, du klappriges Gerippe. So gehört es sich: Die faule Wurzel soll abfaulen, die gesunde soll leben.«

Als die Upyricha, auf die Krücke gestützt, aufsteht, überragt sie Suleika um Haupteslänge. Sie streckt das Kinn, breit wie ein Huf, nach vorn und richtet ihre blassen Augen zur Decke. »Der Allmächtige hat mir heute einen Traum geschickt.«

Suleika legt der Upyricha die Jaga um die Schultern, setzt ihr die Pelzmütze auf und bindet ihr einen weichen Schal um den Hals.

Großer Allah, wieder ein Traum! Die Schwiegermutter hat selten Träume, aber was sie träumte, ging bisher in Erfüllung. Es waren seltsame, zuweilen unheimliche Visionen voller Andeutungen und Fingerzeige, in denen die Zukunft verschwommen und entstellt erschien wie in einem trüben Zerrspiegel. Selbst der Upyricha gelang es nicht immer, ihren Sinn zu ergründen. Ein paar Wochen oder Monate später aber wurde das Geheimnis stets offenbar. Es passierte etwas, meist Schlechtes, seltener Gutes, aber immer Bedeutsames, das zu den Geschehnissen in dem meist schon halb vergessenen Traum zu passen schien.

Die alte Hexe irrte sich nie. 1915, unmittelbar nach der Heirat des Sohnes, erschien ihr Murtasa, wie er inmitten von roten Blumen umherging. Der Traum konnte zunächst nicht gedeutet werden. Aber bald darauf wurde ihr Hof von einem Feuer heimgesucht, bei dem die Scheune und das alte Badehaus bis auf die Grundmauern niederbrannten. Das Rätsel war gelöst. Ein paar Monate später erschien der Alten nachts ein großer Haufen gelber Schädel mit riesigen Hörnern. Sie sagte einen Ausbruch der Maul- und Klauenseuche voraus, die das gesamte Vieh des Dorfes Julbasch hinwegraffte. Die Träume der folgenden zehn Jahre waren allesamt traurig und furchterregend: Kinderhemdchen, die einsam im Fluss trieben, zerbrochene Kinderwiegen, Küken, die in ihrem Blut lagen … Während dieser Zeit brachte Suleika vier Mädchen zur Welt, die sie alle kurz nach der Geburt begraben musste. Schrecklich war auch der Traum über die Große Hungersnot im Jahre 1921: Die Schwiegermutter hatte im Traum Luft, schwarz wie Ruß, gesehen, in der die Menschen schwammen wie in einem Gewässer und sich langsam auflösten, Arme, Beine und Köpfe verloren.

»Soll ich hier noch lange schwitzen?«, fragt die Alte, stößt die Krücke ungeduldig auf den Boden und geht als Erste zur Tür. »Willst du, dass ich mich überhitze und draußen erkälte?!«

Rasch dreht Suleika die Dochte der Petroleumlampen herunter und läuft ihr nach.