Buchcover

Artur Brausewetter

Das Glück

und andere Novellen

Saga

I. Die Adebare.

1.

Der Pfarrer öffnete das Fenster seiner Arbeitsstube. Der weiche Atem der Juninacht umspielte seine Stirn — leise knisterte es in den Blättern des dunklen Ahornbaumes, klang es aus dem Rieseln des Taues, der langsam von Blatt zu Blatt fiel — jenes melodische, geheimnisvolle Klingen, welches wie eine Botschaft aus anderer Welt in stillen Sommernächten durch die schlummernde Erde bebt. — Über ihr brütete dumpfe Schwüle, aber die feiernde Stille, die sich in ihr um so ernster und andächtiger wiedergab, tat dem Manne am Fenster wohl.

Er atmete tief auf, als wolle er neues Leben, neue Andacht aus der schweigenden Einsamkeit trinken; er fühlte seinen Kopf freier, seine Seele ruhiger.

Er war an seinen Schreibtisch getreten, die wiederkehrenden Gedanken auf das Papier zu bannen, die unterbrochene Arbeit mit frischen Kräften aufzunehmen.

Da durchschnitten schrille Töne die andächtige Stille — ein schmetterndes, klapperndes Durcheinander verstimmter Blasinstrumente tobte durch die Nacht — gedämpft zwar, aber laut und aufdringlich genug, die Weihe des Friedens jäh zu durchbrechen.

Dem Pfarrer stieg eine dunkelrote Zorneswelle in das bleiche Angesicht — er schloss das Fenster, aber er kehrte nicht zu seiner Arbeit zurück — in ruheloser Erregung schritt er durch das kleine Zimmer.

„Noch immer finden sie kein Ende — und so geht es fort, bis die Sonne deinem Tage scheint — mit diesem rohen Lärme begrüssen sie deinen Sonntag! — Ich aber — — ich soll Geduld lernen, — und es wird mir so schwer, sie zu üben. Ich soll für sie beten, — und mein empörtes Herz kann dem Wunsche nicht wehren, dass aus jener Wolkenwand da drüben ein Blitz zuckte und sie strafte — sie alle, die nicht hören, sich nicht bekehren wollen zu dem Ernste deines Wortes.“

Er hatte es nicht mehr vor sich hin geflüstert — laut hatte er es in der aufwallenden Leidenschaft seines noch jungen, wenig geprüften Herzens in die Nacht gerufen — aber das letzte Wort erstarb ihm auf der Zunge — — lähmendes Entsetzen legte sich auf seine Glieder.

War er die Antwort auf seine Bitte — jener lange, fahle, grüne Blitz, der die Wolken plötzlich durchschnitt, wie eine glühende Geissel über ihren Rücken dahinzuckte und niederzitterte in den Schoss der Erde, als wollte er ihn zerklüften mit einem kurzen, vibrierenden Schlag, — die Antwort — jener Donner, der mit feierlicher Majestät über den Erdboden rollte, als wolle er bestätigen, was sein flammender Vorläufer gedroht, — die Antwort jenes Meer sich einander verzehrender Feuer, das jetzt am Himmel auf und nieder wogte, bald in flammender Lohe sich emporbäumte, bald mit rasender Geschwindigkeit zur Tiefe fuhr — wie in verzückter Freude über das Toben des Donners und das Heulen des Sturmes, die ihr Kampfspiel mit knatternder Musik begleiteten.

Das alles — so ernst und eindringlich es sprach — die lustige Gesellschaft da drüben in dem Dorfkruge störte es wenig. Die verstimmten Blasinstrumente nahmen den Kampf mit dem Rasen der Elemente auf — nur um so lauter und schriller stiessen sie ihre schnelle Tanzweise in die Nacht hinaus.

Es war eine erschreckende Disharmonie — wie herausfordernder Hohn schien es dem Pfarrer, wenn in das momentane Schweigen der entfesselten Nacht die hohlen, klappernden Töne des Galopps klangen, nach dem sie dort jauchzend, kreischend tanzten.

— — Er hatte die Feder beiseite gelegt, die kaum beendete Predigt von sich geschoben und war in sein Schlafzimmer getreten. — — —

In ruhigem Schlummer auf ihr Bett gestreckt lag ein junges Weib, den linken entblössten Arm unter den Hals gestützt, den rechten schlaff an die Seite gelehnt. Langsam und friedlich hob sich die leise wogende Brust unter dem weissen Nachtgewande.

Immer greller zuckten die Blitze, immer lauter tobte der Donner, — und auch hier die wilden Weisen, die ihm die Herrschaft streitig machten.

„Und sie kann schlafen,“ flüsterte er mehr verstimmt als freudig.

Sie hörte ihn nicht. Ein glückseliges Lächeln spielte um die leise geöffneten Lippen — er verklärte das edle Angesicht; wie der Widerschein eines beglückenden Traumes flog es über die scharf ausgeprägten Züge, aus denen selbst der Schlaf den trübenden Hauch ernsterer Sorge nicht zu tilgen vermochte.

Aber dieses Lächeln verjüngte sie wie ein kurzer Sonnenblick den Herbst; es küsste das nicht regelmässige, für seine Jugend überernste Antlitz mit der Weihe einer eigentümlichen Schönheit. Das Bild des Friedens, der sinnenden Ruhe, träumte sie vom Glück des Lebens, indem sie sein stürmender Kampf, seine rohe Lust umtobten.

Und nur dieses letztere sah der Pfarrer — für die Gestalt des Friedens und des Glücks, die ihm der Himmel zur Seite gelegt, hatte er kein Auge.

„Sie kann schlafen,“ sagte er noch einmal — lauter als das vorige Mal.

Da hoben sich die dunklen Lider; aus dem dichten Schleier, der die braunen Augen umhüllte, traf ihn ein kurzer, erschrockener Blick.

„So spät?“ flüsterten ihre Lippen noch trunken im Schlafe, aber das verklärende Lächeln war verschwunden — es war Herbst geworden auf dem ernsten Antlitze.

Doch der Schlaf gab sein Recht nicht preis; mildernd umfasste sie sein weicher Arm, und mildtätig schloss er ihr die müden Augen. Nur ruhig war er nicht mehr und friedlich. Sie stöhnte oft im Traume — einmal rief sie laut den Namen ihres Mannes und beide Arme wie hilfesuchend nach ihm streckend tastete sie nach seinem Lager wie um sich zu vergewissern, dass er dort sei.

Er war dort ... mit weit geöffneten Augen lag er schlaflos auf seinem Bette. Er sah die Blitze durch die Zimmer tanzen, er hörte es, wie die Störche, die da drüben auf der Pfarrscheune ihr Nest bauten, aus dem Schlaf aufgeschreckt, ängstlich durch die entfesselte Nacht klapperten.

Auch als das Gewitter nachgelassen und das Grauen des Morgens die Gesellschaft im Kruge auseinandertrieb, die johlend und lärmend sich trennte, und es mit dem erwachenden Tage wieder still und friedlich um das Pfarrhaus wurde, schlossen sich seine Augen noch nicht zur Ruhe — die Bitternis seines Herzens gönnte ihm keinen befreienden Schlaf.

2.

Das fest im Dorfkruge und die durch den Regen aufgeweichten Wege hatten das ihre getan. Der Pfarrer hielt seine Predigt vor einer völlig leeren Kirche.

Er kehrte sehr missgestimmt heim.

„Ich wusste es vorher,“ sagte er, „so ist es jeden Sonntag.“

Seine junge Frau legte das Gesangbuch aus den Händen und tat den leichten Umhang von den zart gebauten Schultern.

Ein dunkler Ernst beschattete ihre traurigen Züge — nicht jener Ernst nur der inneren Weihe, der uns so friedlich und versöhnend anmutet, wenn wir ihn auf dem Antlitz eines Menschen sehen, der von einem erhebenden Gottesdienste in das alltägliche Leben zurückkehrt und in das Dunkel seines Kampfes und seiner Prosa einen Schimmer des Überirdischen zu tragen scheint — es war ein Ernst, in seiner Verschlossenheit um so schmerzlicher, der aus den braunen Augen zu dem geliebten Manne sprach.

„Du solltest nicht undankbar sein, Hermann,“ sagte sie beschwichtigend, aber sehr bestimmt, „deine Gemeinde ist kirchlich und wohl empfänglich.“

„Aber sie wird verdorben — systematisch verdorben!“ gab jener, durch ihren Widerspruch gereizt, zurück, und in seinen lebensvollen Augen blitzte es. „Wie oft habe ich den Amtsvorsteher gebeten, diese rohen Vergnügungen wenigstens am Sonnabendabend zu untersagen, wie mir nicht nur ihn, nein auch diesen tückischen Krugwirt und das halbe Dorf durch meine Beschwerden bei dem Landrat auf den Hals gehetzt, und nichts erreicht! Wir armen evangelischen Pfarrer! Man tritt uns mit Füssen, wo man nur kann. Wir mögen nur der Sache dienen und das Beste im Auge haben, man stellt unser Interesse und das unserer Kirche jedem anderen hintenan.“

„Aber du dienst nicht nur der Sache,“ sagte sie mit sanfter, aber fester Stimme.

„Elisabeth!“

Über seine bleichen Züge flog ein Schatten heissen Unwillens. Das Blut stieg ihm bis unter die durchsichtigen Haare. Er schien nicht minder betroffen als erzürnt. — Sie nahm seine Hand und liess sie auch nicht, als er sie ihr mit einer raschen Bewegung zu entziehen suchte. Ihr Auge ah bittend, besänftigend in das seine. Aus ihrem Blicke sprach die Tiefe einer besorgten, aber unerschütterlichen Liebe.

„Weisst du noch?“ sagte sie leise begütigend — „was wir uns vor vier Jahren in die Hand gelobten, als wir vom Altare in das elterliche Haus zurückkehrten? Offenheit, — unbedingte, unbegrenzte Offenheit in allen Lagen des Lebens — sei sie auch schmerzend — und kränkend, wenn wahre Liebe überhaupt kränken kann. — Nein, Hermann, du dienst der Sache nicht, suchst nicht ihre Förderung. Deine eigene erstrebst du nur, und weil du sie in dem bescheidenen Berufe eines Landpastors nicht findest, haderst du mit ihm und bist nicht glücklich.“

Er konnte sich der überzeugenden Wahrheit ihrer Worte nicht entziehen — das aber machte ihn nicht milder.

„Ich hätte ihn vielleicht nie wählen dürfen,“ gab er kurz zur Antwort.

Durch die dunklen Augen zuckte ein schmerzliches Erschrecken — die Hand der jungen Frau bebte in der ihres Mannes, aber sie liess sie nicht.

„Wie durftest du es denn jemals tun — jeden anderen Beruf, aber gerade diesen —?“

„Weshalb ich es tat — wer wüsste es besser als du?“

Er hatte es schärfer gesagt, als es in seiner Absicht lag. Elisabeth trat einen Schritt zurück — aus ihrem linken Mundwinkel sprang eine harte Falte hervor — ihre Hand hatte sich aus der seinen gelöst.

„Mir zum Opfer — ja, ich verstehe dich ... Mich zu heiraten — wurdest du Landprediger. Du hast es mir nie gesagt .. aber ich wusste es längst. Dass du es mir einmal so kalt, so knapp gestehen würdest ... ich habe es lange erwartet, mich lange darauf vorbereitet, aber ... nun, — nun trifft es mich mehr, als ich gedacht. Vergib mir, Hermann. Du hast ganz recht. Ich trage die Schuld. Weshalb liess ich es zu?“

„Weil du mich liebtest — wie ich dich, Elisabeth,“ antwortete er rasch und wärmer als bisher.

„Weil ich dich liebte — gerade deshalb hätte ich es nie leiden dürfen. Ich sah es dir an — aus jedem deiner Blicke las ich es, wie wenig es dir zusagte in dem kleinen bescheidenen Predigerheim der Eltern, wie du den Vater in seiner anspruchslosen Einfachheit, seiner schlichten Weise nie verstehen konntest, so ehrliche Mühe du dir auch gabst. — Du wolltest Dozent werden; deine Gaben unterstützten einflussreiche Verbindungen. Und ich — ich — —“

Aus ihren Augen stürzten die Tränen, so sehr sie ihnen wehrte. Sie hob keine Hand, sie zu trocknen. Ihre Zähne gruben sich in die Unterlippe — sie schämte sich, ihren aufgelösten Schmerz vor seinen Augen zu zeigen.

Er kannte ihre Stärke — um so heftiger griff ihn ihre Fassungslosigkeit an.

„Ich suchte das Glück,“ sagte er weich — „und ich habe es gefunden.“

„Du suchtest das Glück — so sagtest du mir am ersten Tage, als wir uns fanden. In der Befriedigung des Ehrgeizes, der dich durchglühte, aus jedem deiner Worte, jeder deiner Taten sprach, suchtest du es. Ich wusste das bald. — Aber ich war ein Kind — und ein sehr törichtes. Was glaubt man nicht alles, wenn man liebt — was träumt man ... von der Umgestaltung eines anderen zum eigenen Ich — von Aufhebung schwerer Opfer durch tausendfache Liebe ... von — ja, ich war ein Kind, als ich deinem Stürmen nachgab, dir erlaubte, das angebotene Dozentenstipendium zu deiner Ausbildung und belehrenden Reisen auszuschlagen, um des Vaters einsame, abgelegene Pfarre anzunehmen. — Und nun — —“

Eine Tränenflut erstickte ihre Worte. Er aber ergriff ihre beiden Hände, zog sie sanft neben sich auf die Lehne des Sessels nieder, auf dem er sass, und sah ihr eine Zeit lang stumm, — wie sich sammelnd, in das erregte Antlitz.

Dann sagte er langsam, wie jedes Wort bedenkend: „Du hast recht, Elisabeth. Deinem ernsten, tiefen Schmerze gegenüber wäre Unehrlichkeit unverzeihliche Sünde. Ich habe das Glück gesucht, habe es hier in diesem stillen Wirken, an deiner Seite zu finden gehofft, und — habe es nicht gefunden. Vier lange Jahre habe ich es jeden Tag, jede Stunde unter Zagen und Zittern aufs neue versucht — vergeblich! Dieses einfache, tatenlose Wirken, in dem dein Vater einst mit seinem ganzen Leben aufging, — es ist nichts für mich! — Ich habe nicht eine der drei Tugenden, die einem evangelischen Pfarrer in ihrer Gesamtheit festester Herzensbesitz sein müssen, — habe keine Geduld, keine Demut, keine Selbstlosigkeit. Unterbrich mich nicht — ich habe sie nicht in dem Masse, als sie der schlechteste Prediger braucht. ‚Das eigene Glück nur darin suchen, dass wir es den andern erringen‘ — das sagte mir dein seliger Vater, als ich ihm mein Vorhaben kund tat. Ich aber suche ein anderes Glück — ja, ich leugne es nicht! brennender denn je, durch das lange Harren riesengross gewachsen, durchloht mich die Sehnsucht nach seinem Besitze. Fort von dieser Einsamkeit möchte ich hinaus ins Leben, auf einer Universität meine Gedanken, die ich hier gewonnen und gesammelt, denen künden, die empfänglicher, gereifter für sie sind als diese kleinen Bauern und Tagelöhner. Sie würden einen besseren Hirten, ich ein angemesseneres Feld zum Wirken und Ausbreiten meiner Kräfte fühlen. Das wäre das Glück! — Und glücklich mit mir solltest du sein, Elisabeth!“

„Dass du es fändest,“ sagte sie leise, und leiser setzte sie hinzu: „Für mich hat es bis heute hier geruht — in diesem stillen Hause, diesem einsamen Dorfe. — Nun aber will ich’s mit dir suchen, wo du’s zu finden meinst.“

3.

Er hatte ihre letzten Worte, mit seinen eigenen Gedanken beschästigt, nicht gehört.

„Ich werde es finden,“ sagte er voller Zuversicht. „Du weisst, warum ich Tag und Nacht so fieberhaft gearbeitet mir keine Ruhe und Erholung mehr gegönnt habe.

„Mein alter Gönner, der Professor G ... in B ..., der meine kleinen pädagogischen Aufsätze bei ihrer Veröffentlichung so warm lobte, hat mich nicht vergeblich angespornt. Aus dem Vorstudium, das ich aus ihrer Bearbeitung gewonnen, ist das umfangreiche Manuskript zu einem grösseren pädagogischen Werke entstanden, das ich ihm vor kurzem eingeschickt habe. Täglich erwarte ich seine Antwort. — Und ich darf dir’s gestehen, Elisabeth, — ich hoffe viel von ihr. Lobt er es so wie damals jene Aufsätze, so wird es mir nicht nur leicht fallen, einen Verleger für dasselbe zu finden — noch mehr —“

Er machte eine kurze Pause, als erwartete er eine Frage von ihr. Als sie stumm blieb, fuhr er fort: „Ja noch mehr. In der philosophischen Fakultät in B ... wird voraussichtlich in Jahresfrist eine Professur neu zu besetzen sein. Ich kenne G ...’s Einfluss. Ich weiss auch, wie aufrichtig er es seit meinen ersten Studentenjahren mit mir meint. — Elisabeth, wie glücklich wäre ich!“ — —

Der leise Hoffnungsstrahl berauschte den Pfarrer. Je unglücklicher wir uns in einer Lebenslage fühlen, um so geneigter sind wir, der schwächsten Aussicht, die sich zeigt, uns aus ihr zu erlösen, rosige Verheissung abzugewinnen.

So ging es auch ihm. Er war mit einemmal wie verändert — seine Rechte fuhr über das weiche, wellige Haar seiner Frau, das hier und dort schon mit einigen silbernen Fäden durchwirkt war, und wie Vergebung bittend küsste er ihr die feingeformten, aber durch die tägliche Arbeit hart gewordenen Hände.

Da lächelte auch Elisabeth unter ihren Tränen ... so matt, als wenn durch den dunkelsten Wolkenhimmel ein kleiner Strahl der Sonne sich für eine Sekunde hindurchzwängt, aber dann, der Übermacht ängstlich weichend, stirbt. — Sie wusste zu genau, dass diese Stimmung bei ihrem Manne nicht lange anhielt, so innig sie es auch gewünscht hätte.

„Wie zuversichtlich du mit einemmal geworden bist,“ sagte sie dennoch erfreut. „Fast kenne ich dich nicht wieder.“

— — „Das hat seine eigene Bewandtnis,“ erwiderte er geheimnisvoll, fast scherzend. — „Ach Herz, liebstes Herz, ... es wird sich alles wenden ... zum Guten wenden. Ich hoffe wieder. Und weisst du, warum? — Sieh dort!“ Er hatte sie sanft beim Arm genommen und an das Fenster geführt, das er öffnete.

Sie blickte ihn verwundert an. „Ich sehe nichts Neues auf dem Hofe,“ sagte sie endlich.

„Aber dort, siehst du denn nicht?“ Und er wies mit der erhobenen Hand zum First der alten Pfarrscheune.

4.

An dem äussersten Ende des alten, auf seinem Giebel längst durchlöcherten Strohdaches schwankte, vom leisen Winde des Junitages rastlos hin und her geworfen, eine verborgene, verrostete Wetterfahne. Hoch oben über der knarrenden Stange, die sie trug, war eine Taube von Eisenblech befestigt — der lange Schnabel war abgebrochen, der Flügel hing klappernd an dem plumpen, siechen Leibe. Hilflos dem lauen Winde preisgegeben, schien sie sehnsüchtig des Sturmes zu harren, der ihrem qualvollen Dasein ein schnelleres Ende bereitete.

Aber unter ihren Fittichen rings um die schwankende Fahnenstange begannen zwei Störche ihr Nest zu bauen.

Noch war es in den ersten Anfängen, aber um so eifriger arbeitete das Pärchen an ihm.

Eben flog das Männchen mit einem langen Reisig im Schnabel der alten Wetterfahne zu, brachte seine Beute vorsorglich unter ihr in Sicherheit und näherte sich nun gemessenen Schrittes seiner harrenden Gattin, küsste ihr gravitätisch den roten Mund und liess sich dann nach einigen flüchtigen Worten am entgegengesetzten Ende des Scheunendaches nieder.

Und nun warfen sie beide die dünnen Hälse gegenüber in den Nacken ... unaufhörlich, immer schneller wie zwei Kautschukmänner im Zirkus, und dabei klapperten sie wie närrisch vor Freude mit den Schnäbeln um die Wette ... so laut und betäubend, dass sich Elisabeth die beiden Hände an die Ohren hielt und ihren Mann ganz voll Erstaunen ansah, der wie verzückt diesem tollen Treiben zusah.

„Siehst du es jetzt?“ fragte er endlich. „Du wirst mich schelten ... aber es hilft nichts. Ich bin nie abergläubisch gewesen ... es schickt sich auch wenig für einen Prediger. — Aber dies, Elisabeth, dies nehme ich doch für ein wunderbares Zeichen. Solange dieses Haus und die alte Scheune stehen ... niemals haben Störche auf ihr gebaut ... es ist das erste Mal. Der alte Schulze sagte es mir eben noch, und allen Leuten, die heute vorübergingen, fiel es auf.“

„Auf dem Bauernhof drüben brechen sie die alte Scheune ab, und die vertriebenen Störche ziehen auf die unsere, weil sie ihnen die nächste ist,“ warf Elisabeth ein.

„Was es auch sein mag ... es ist ein Zeichen vom Himmel, Elisabeth! Ich nehme es an. Es bringt mir — es bringt uns beiden — das Glück.“

Ein seltsames Lächeln umzuckte den Mund Elisabeths — — eine kleine Weile nur, dann schwand es. Ernster als zuvor pressten sich die bleichen Lippen aufeinander.

„Das Glück,“ erwiderte sie tonlos.

„Ja, das Glück!“ wiederholte er fest und bestimmt. — „Siehst du — da kommt der Alte. Vielleicht trägt er es schon in seiner Tasche.“ —

Durch den kleinen Gemüsegarten, der vor dem Pfarrhofe lag, schaukelte eine blaue Mütze. Langsam und schwerfällig humpelte der alte Briefträger dem Hause zu. Auf seinem faltendunklen Gesichte, das unter einer platten, leicht gebogenen Nase einen martialischen, weissen Schnurrbart wies, leuchtete die Erkenntnis seiner innersten Würde. Er schien es zu wissen, dass er die bedeutsamste Person für das ganze Dorf, sein Kommen diesem das grösste, oft das einzige Ereignis des Tages war ... nicht zum mindesten dem Pfarrer.

Dieser war ihm in zügelloser Ungeduld auf den kleinen Vorschlag des Hauses entgegengetreten.

„Haben Sie Briefe?“

Er begrüsste ihn Tag für Tag mit dieser stereotypen Redensart.

„Einen, Herr Prediger,“ antwortete der Alte langsam und gelassen — „oder vielmehr ein Paketchen.“

„Von wo?“

„Aus B ... und eingeschrieben.“

„So geben Sie doch ... geben Sie schnell!“

Der Alte hatte es überreicht. Eilig setzte der Pfarrer seine Unterschrift unter den Schein, den er ihm bot, und trug dann das kleine Paket an seinen Schreibtisch. „Es ist’s, Elisabeth,“ sagte er mit einer Stimme, die vor freudiger Erregung zitterte.

Er sah es nicht, dass seine Frau nicht minder erregt war als er selber. In ihren Augen hatte es hell aufgeleuchtet, sowie ihr Gatte mit dem verhängnisvollen Pakete in die Stube getreten war. Jetzt bog sie sich in ängstlicher Spannung über die Lehne des Stuhles, auf dem er sass, in nervöser Hast die Fäden des Paketes zerschnitt und aus diesem mit zitternder Hand einen Brief hervorlangte. Kaum aber hatte er seine Umhüllung zerrissen und einen kurzen Blick auf die Zeilen geworfen — da sank sein Haupt mit einem jähen Zucken auf die Platte seines Schreibtisches nieder, er legte die Hände unter die brennende Stirn ... sein ganzer Körper flog.

„Das ist es ... das Glück!“ stöhnte er in abgebrochenen Worten vor sich hin ... „und alles ... alles umsonst wie immer!“

Elisabeth achtete des eigenen Schmerzes nicht. Sie hob den Brief auf, der zur Erde geglitten war, um aus ihm Trost für ihren gebrochenen Mann, der seinen Inhalt vielleicht zu schwarz nach seiner Gewohnheit angesehen, zu lesen. Aber freilich — wenig Trost war in ihm enthalten.

Der Professor schrieb:

Lieber Freund!

Herzlichen Dank für Ihre Sendung.

Aber ehrliches Streben verdient ehrliche Offenheit. Sie fordern sie ja auch. Lassen Sie deshalb die Flügel nicht sinken, wenn ich Ihnen heute bei aller Anerkennung des Fleisses Ihrer Arbeit sagen muss: es ist nichts. Jene Frische und Originalität, die ich in meiner Kritik über Ihre pädagogischen Aufsätze so rühmen durfte, — diesem umfangreichen Werke fehlt sie. Man wird bei seinem Studium — und ich habe es langsam, gewissenhaft durchgearbeitet —, den Gedanken nicht los, als hätten Sie mit einer gewissen Gewaltsamkeit etwas Grosses schreiben wollen. Trösten Sie sich mit uns allen, die wir es täglich erfahren: Wenn man den Bogen zu straff spannt, zerreisst er. Die Schlüsse, die Sie als etwas Neues mit Prätension aufstellen, sind zum grösseren Teil bereits lange Gemeingut unserer Wissenschaft ... auch manche Irrtümer laufen unter.

Aber noch einmal, lieber Freund, nicht den Mut sinken lassen. Wer die Hand gleich nach den Sternen ausstreckt, hat immer schweren Kampf. Es fallen viele Blüten nutzlos zur Erde, bis eine zur Frucht reift. Aber sie wird reifen ... Auch bei Ihnen! Denn aufrichtiges Streben siegt immer. Nur nichts erzwingen wollen! Sie sind noch jung. Ihrer nächsten Arbeit wird ein besseres Glück blühen.

Leben Sie wohl! Herzlichen Gruss.

Ihr treuer, stets für Sie interessierter
G ...

„Ein besseres Glück ... aber freilich: er hat ganz recht, erzwingen lässt es sich nicht,“ sagte Elisabeth und liess das Blatt sinken.

Da erhob sich ihr Gatte, ergriff das fallende, knillte es in der bebenden Hand zusammen und warf es in den Papierkorb. Dann nahm er seine Arbeit aus ihrer Umhüllung ... ein unsäglich bitteres Lächeln umspielte seinen Mund. Ehe Elisabeth es hindern konnte, hatte er das umfangreiche, mit präzisester Sauberkeit geschriebene Manuskript mit einer hastigen Bewegung mitten durcheinandergerissen. In tausend Fetzen flog er jetzt zur Erde.

„Um Gottes willen,“ rief Elisabeth voller Entsetzen, „was tust du?“

Vergeblich versuchte sie, ihn an seinem zerstörenden Tun zu hindern.

„Er meint es am besten mit mir von allen, und — — sein Urteil ist nur zu gerecht!“

„Ich vernichte das Alte, um etwas Neues zu schaffen. Und ich werde es ... etwas Besseres, Wertvolleres! Verlasse dich darauf — dies spornt mehr als das wärmste Lob.“

Und mit mutig erhobenem Haupte schritt er in schnellem Gange durch das Zimmer. Durch seine verschleierte Stimme aber flackerte ein unruhiges Feuer.

Elisabeth war es unheimlicher als sein verzweifelter Schmerz. Sie verliess das Zimmer. Dunkle Besorgtheit lag auf ihrer Stirn.

„Wenn der gütige Himmel meinen Traum der letzten Nacht erfüllen wollte. Er war so schön, und ... es wäre vielleicht das einzige Mittel ihm zu helfen,“ flüsterte sie, als sie an ihre Hausarbeit ging. — —

Mit vereinten Kräften hatte das Storchpaar seine Arbeit vollendet. Der erste Grundriss zu dem neuen Heim war gelegt. Sie klapperten nicht mehr so ungestüm mit den Schnäbeln — sie ruhten aus von der schweren Arbeit. In überlegsames Schweigen gehüllt, das eine der rotbestrumpften Beine dicht unter den Bauch gezogen und mit ihm das andere umklammernd, standen sie da in schweigender Gravität. In gemessenem Pendelschlag nickten sie dazu mit dem Kopfe nach dem Pfarrhause herüber, in dem ehrbaren, braunen Auge einen Anflug überlegener, schalkhafter Schlauheit, als wollten sie dem bleichen Manne, der, ans Fenster das müde Haupt lehnend, mit höhnisch bitterem Lächeln zu ihnen hinüberstarrte, zurufen: „Sei ruhig ... wir bringen es dir doch ... dar Glück ... das Glück.“