Über das Buch

Neapel, Italien: Rosa spricht zu ihrer eben verstorbenen Mutter Vincenzina. Und sie erzählt: Wie Vincenzina, eine Analphabetin vom Land, in die Großstadt flieht und Rafele trifft, den Sprössling einer großbürgerlichen Familie. Mitten in den Kriegstrümmern blüht eine verbotene Liebe auf. Rafeles Mutter bietet ihr Geld an, um sie für den zurückgenommenen Heiratsantrag zu entschädigen — und sie loszuwerden. Doch Vincenzina bleibt an Rafeles Seite, der sie mit seinen Affären zur Verzweiflung treibt. Ist das Liebe? Oder ein Fluch, der über Generationen hinweg bestehen bleibt? Wanda Marascos Familiensaga ist eine literarische Sensation, selten hat man die Seele einer Stadt, in der Schönheit und Hölle nebeneinanderstehen, so zauberhaft erzählt.

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Wanda Marasco

Am Hügel von Capodimonte

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Paul Zsolnay Verlag

Für Elio, Dichter und enger Freund

Für die Poesie mit Wirklichkeitsinsistenz

Sie hieß Vincenzina Umbriello und hatte diesen Namen wie einen Donnerschlag in die Wohnung im Vico Unghiato 53, dritter Stock, gebracht.

»Trink, Ma, trink.«

Meine letzten Worte an sie, während ich mich abgemüht habe, ihr einen Strohhalm in den tauben Mundwinkel zu stecken. Doch jetzt beobachte ich sie verstohlen. Betrachte die Spuren aller abgeschlossenen Handlungen auf dem Körper. Den hart gewordenen Zuckerklumpen, der seit dem letzten Frühstück auf dem Lätzchen klebt, die Zehenspitzen, wie eingezogene Krallen unter die Bettdecke gemeißelt, die Kante der Schlüsselbeinknochen, vielleicht noch lauwarm, das Licht im Zimmer, das ohne rechten Schwung einige Staubteilchen anwerben muss, der verbreitete Einbruch panischen Schreckens über dem Körper, mit dem sie gelebt hat, die Schneidezähne, die mit einem kleinen gelblichen Saum vorstehen, die zu einer vollendeten Stille verstrickten Haare, die mit einem undurchdringlichen Sprühregen gefüllten Augen, die zwischen zwei Hautrinnen eingezwängten Lippen, die im Stillstand versunkenen Hände, eine ausgestreckt, die andere leicht gekrümmt, wie nach einem misslungenen Zugreifen.

»Ma, ich muss dir was sagen.«

Ich bin es nicht, die spricht. Es ist die Angst. Zwischen ihrem und meinem Körper wechselt ein erschreckter Atemzug.

»Eil dich, ich sterb.«

Vielleicht hat sie es nicht bemerkt. Sie hat nicht gespürt, dass sie schon tot ist, dass sie mir aus einem Blätterbett antwortet, dass ihre Stimme unter die Fliesen gleitet und wie ein abgeschnürter Hauch an der Wand wieder aufsteigt.

»Ma ...«

»Hä ...?«

»Ich habe Angst.«

»Ja, und? Red, mach schnell.«

Sie hat es nicht bemerkt. Auch nicht, dass ich mich ans Fenster setze, einen Meter vom Bett entfernt. Dass ich noch immer ihren Körper betrachte, die Ebene der Stirn, das Grau und Blau in den Augen, dann diese andere Art von Weiß, Alabaster und Gips.

Auf dem Körper ist das Muster der Gassen zurückgeblieben, durch die wir gemeinsam gegangen sind, Basso für Basso, ebenerdige Wohnlöcher.

»Ich fange hier an, Ma, bei der Fensterscheibe ...«

Ein alter Herbst auf der Bühne.

Da ist eine Imaginationslampe, die ein Band um die Gasse und das Haus windet. Die Atome des Tuffsteins haben den Weg von den Höhlen unter der Stadt bis zum Straßenpflaster zurückgelegt und eine Spirale aus Geistern und Spatzen bewacht. Die Hälfte der Fensterscheibe ist Meer. Wasser, das zwischen dem Vulkan und dem Golf in einem Graben hockt. Man sieht die Handelsschiffe mit ihren schwarzen Flanken, das Heck zum Horizont gewandt, den Bug zu den Marktständen am Kai. Die andere Hälfte der Scheibe malt die erstickte Enge der Palazzi und des Straßenpflasters. Dann steigt der Hügel mit den alten Häusern an, Schritt für Schritt gefolgt von der Himmelskappe. Auch unser Haus ist alt, wie die anderen im Vico. Stadtvillen, von Adeligen und Ärzten, zum Schutz vor der Schwindsucht erbaut, um hier frische Luft zu atmen. Ich habe es immer als imaginäres Haus empfunden, das angestrengt über den Grotten des Miradois-Hügels und der Via dei Cristallini schwebt. Wie die anderen, die mir mitsamt der Treppen und Gärten in den Knochen stecken. Dies ist die richtige Zuweisung, damit meine Mutter zuhört, jetzt, da sie tot ist. Dies Wiedergutmachen eines Schadens von einem Lebewesen am anderen. Bis hin zu ihrem Bett. Das aus Tuffstein besteht, mit Spuren von Schlamm, versteinerter Petersilie, Knoblauch und Zwiebeln, Früchten aus Terrakotta, zu ihren Füßen abgestellt. Hilfsmittel, die zu einer erdachten Form der Nahrungsvorsorge zwischen Lebenden und Toten gehörten.

Sie geht die Stufen der Centoscale hinunter, die Augen auf den Boden geheftet. Da sind Schnecken, die am Mauerwerk kleben, und über ihrem Kopf schwebt eine Säule aus niedrigen Wolken. Ich komme sofort zurück, sorgt euch nicht, hat sie zu mir und meinen Geschwistern gesagt, bevor sie ging. Sie wird nicht sofort zurückkommen. Sie muss auf der Spirale der gewundenen Rampe und über die Gassen gehen, sie muss die barfüßige Frau sein, wenn ihr ein Absatz bricht, die Fässchen vor den Kellern streifen, an den Nischen mit Heiligenbildern stehen bleiben, ins Gesichtsfeld der Esel vor den Obstkarren kommen, an den Ecken verlassener Kreuzgänge abbiegen, unter Körben hindurchgehen, die an Balkonen hängen, ihre Fußsohlen den Serpentinen der Gassen anpassen, viele Kreise um die Gräben in den Leisten der Stadt ziehen. Sie muss den Lockrufen der Marktschreier widerstehen, der Lust, ein Huhn zu stehlen, das aus einem Basso weggelaufen ist, der Versuchung, sich etwas aus den vollen Körben zu schnappen, heftig auf eine Beleidigung oder ein schlüpfriges Kompliment zu reagieren, sich auf den Rand des ausgetrockneten Brunnens zu setzen, um auszuruhen und begehrliche Blicke auf die hauchdünnen Unterröcke zu werfen. Sie muss sich in Hitze reden, wenn sie Rabatt fordert, sich in den Schatten unter dem Bogengang stellen, aus einem Fondaco-Gewölbe herauskommen, das den Weg abkürzt, alles Nötige einkaufen, durch einen obszönen Gesang und eine Prozession qualmender Kerzen im Vico dei Cristallini hindurchgehen, keine Miene vor einem Bettler verziehen, der ihr den Weg versperrt, sagen, ich habe nichts, oder nichts sagen, doch mit zusammengebissenen Zähnen fluchen, »stu muorto ’e famme, iesse a fatica«, soll er doch arbeiten gehen, der Hungerleider, und mit der Last der vollen Taschen wieder hinaufsteigen, Sardinen, Kartoffeln, Obst, Zwiebeln, Knoblauch, alles, was ernährt und ihr von Zeit zu Zeit einen Seufzer entlockt, nach oben, zur Steigung hin, die sie noch zurücklegen muss, bevor sie zu Hause ankommt.

Ich gehe hinter ihr her und entdecke nach und nach das Mitleid. Mit mir und mit ihr. Mit diesen Mauern längs der Treppengassen, die Flanken der Berge waren, mit den Rissen, den Gärten, den Nattern, den Felswänden, den Grotten. Meine Mutter geht mit einem geheimnisvollen Schritt. Sie weiß, dass unter den Pflastersteinen die antike Stadt liegt. Den Eingang hat sie mal gesehen, im Basso von Sisina, der Schmugglerin, die im Vico dei Cristallini Nummer 133 wohnt. Ich war auch dabei. Sisina öffnete eine hinter dem Kopfende des Bettes versteckte Tür.

»Schaut, Vincenzì, da ist eine Treppe ... Mir macht die Angst. Nur der Hausbesitzer und die von der Stadtverwaltung sind runtergestiegen. Er sagt, irgendwann fangen sie an zu graben, denn hier unten gibt’s viele Höhlen, die reichen bis nach Capodimonte ... Da sind Tote, Vincenzì ...«

Es war ein Loch, bedeckt mit tausendjährigem Staub. An den Wänden im Eingang hielt Sisina alte Nachttöpfe und Besenstiele bereit. Meine Mutter spähte energisch ins Dunkel, aber sie sah keine Knochen und traurige Gräber. Nachdenklich flüsterte sie: »Macht die Tür zu, Donna Sisì, hier kommen die Ratten hoch.«

Doch auf dem Heimweg sprach sie nicht und hielt die Augen öfter als sonst am Boden, auf jeden Lichtschimmer achtend, der durch die Risse zwischen den Pflastersteinen dringen mochte.

Ich malte mir aus, dass Fensterchen, Haustüren, Straßenpflaster, Bögen, Balkone, Marktstände, Waren, Menschenmengen, Dreck, Diebe, Händler, Bassi und Palazzi zusammen mit unseren Fußsohlen das Dach einer unter der Erde versteckten Stadt bildeten.

Das Feuer. Jetzt beobachte ich meine Mutter, die inmitten von Flammen zum Markt hinuntergeht. Die Morgensonne hat sie mit diesem Ring aus Feuer umgeben, und sie ist zu einem Schatten geworden, den ein starkes Licht umrahmt. Vielleicht ist es nicht mal ein irdisches Licht. So sehe ich sie und folge ihr bis zu den Töpfen und Tellern des letzten Marktstandes.

Im Untergrund der Stadt bin ich als kleines Mädchen gewesen, in der vierten Grundschulklasse. Unser Lehrer Nunziata war einer, der gerne den Führer auf Schulausflügen machte. Damals gingen wir in die Hypogäen an der Via Cristallini. Eine Reihe Mädchen, die andere Reihe Jungen. Annarella, meine Banknachbarin, hüpfte fröhlich, als ginge sie über eine ganz normale Straße. Die beiden Cerasuolo, der Abschaum des Vico und der Schule, spuckten auf den Boden und hoben den Mädchen die Röcke. Nunziata, lang und dürr, ging allen voran und spielte uns das große Abenteuer vor. Er fuchtelte mit den Armen, damit das Drama, das er erzählen musste, über unseren Köpfen erhaben und frevelhaft geriet. Ein verzückter Mann mit hagerem Körper, den schlotternden Kleidern des einsamen, schrulligen Lehrers und einem Bauerngesicht, das die dramatischen Züge eines irren Zauberers annahm, wenn er erklärte. Seine kurzen, dünnen Haare waren nach deutscher Art geschoren. Jede Unterrichtsstunde endete mit einer Phantasterei, die den Verdacht weckte, er hätte bis zu diesem Moment bei allem, was er vortrug, gelogen. Als wir zu den Löchern kamen, die er Zimmer nannte, sagte er, wir sollten vorsichtig sein und nichts anfassen.

»Was denn anfassen, Maestro, hier gibt’s doch nur Staub!«

»Cerasuò, das ist die Geschichte, verstehst du? Die Geschichte!«

Angiulillo Cerasuolo verstummte, weil der Lehrer den Drohfinger um seine Nase kreisen ließ, und weil er eine besondere Begabung dafür hatte, nach jedem Tadel wieder in ein Schattendasein zurückzukehren. Angiulillo konnte alles Erdenkliche tun, ohne sich erwischen zu lassen. Nunziata blieb vor den in den Tuffstein gehauenen Betten stehen und fing an zu erklären. Er sagte, dass wir hier elf, zwölf Meter unter der Stadt standen, auf einem anderen Boden, und dass alles nach einer großen Überschwemmung begonnen hatte. Der Schlamm war über die Bogengänge, in die Zisternen und Tempel geflossen. Weil alles verschüttet worden war und eines Tages wieder ausgegraben werde, sei eine Art übernatürliches Schicksal entstanden. Wir steckten mittendrin. Man müsse dieses Schicksal akzeptieren und ihm zuhören, als öffnete die Erde das Bewusstsein.

Die heiligen Gegenstände hatten sie in die Wiegen gelegt, die mit Stofffetzen und Strohschichten ausgekleidet waren. Das Dröhnen war von oben gekommen, wie eine Aktivität der Erde, die versinkt. Nunziata kalkulierte ungerührt: Es hatte genug Zeit gegeben. Um den Leichnam des Mädchens im Trauerzug bis zum Grab zu tragen. Der Erdrutsch, der bei jedem Gewitter vom Berghang bei Capodimonte herunterkam, verhielt sich so wie jedes Jahr, wurde langsamer zwischen zwei Felswänden und grollte heftiger, wo er nicht auf Hindernisse und Ebenen stieß.

Nunziata war verrückt. Wir mussten uns das tote Mädchen vorstellen, den Esel, der mit geschlossenen Augen den Weg fand, und die Erde, die Bäume und Tiere mit sich gerissen hatte. Er sagte, der Erdrutsch habe beim Hinabstürzen unermesslich große Schatten auf dem Hang geworfen und sei im Tal der Toten, das jetzt Piazza dei Vergini heißt, zum Stillstand gekommen. Auf dieser Ebene in Form einer Sonne mit einem Strahlenkranz aus Gassen habe er Nekropolen und Märkte unter sich begraben, dann die in Scharen aus den Tempeln fliehenden Femminielli, die »keusche Männer« genannt wurden. Alles verschüttet unter dem Schlamm, der innerhalb weniger Tage hart wurde, weil niemand die in die Zisternen und in jede Senke eingedrungenen Schlammmassen rechtzeitig wegschaufeln konnte. Doch der Trauerzug hatte es geschafft, den Leichnam und die Grabbeigaben an ihren Platz zu bringen. Er zog in Richtung der Cristallini, auf einer Straße, die damals sicherer Boden war. Zum Glück floss der Schlamm langsam in zwei Abwasserrinnen. Der Zug folgte dem Esel. Wenn das mit Efeu und Rosen geschmückte Tier vorüberging, reihten sich die Klageweiber ein und riefen die Vokale des Leidens aaah, uuuh, oooh. Dann schlugen sie mit den Händen auf den Polster mit den Götterbildern, und ihre Wehklagen liefen wie die Betonungen eines Gedichts von den hellblauen Bordüren bis zum großen Zeh des Mädchens. Der Lehrer übersetzte eine Inschrift, die in eine Kalkschicht an der Wand graviert war. Auf seine Weise, denn es waren viele Buchstaben, aber er reduzierte sie auf wenige Wörter. Ein Vater hat sie geschrieben. Er verflucht alle, die versuchen werden, seiner Tochter das Grab zu rauben. Die Cerasuolo flüsterten: »Gagliù, hier stinkt’s nach Pisse!« Annarella kniff die Augen zu zwei Schlitzen zusammen. Das Zeichen, dass sie eine Teufelei im Sinne hatte. Kaum hatte Nunziata sich wieder an die Spitze der Schülerreihe gesetzt, legte sie sich auf das steinerne Bett, um es ordentlich zu schänden, und warf mir die erste Frage dieser Geschichte an den Kopf.

»Traust du dich hier reinlegen?«

Nein, so mutig war ich nicht. Aber zu Hause ging mir das bis zum Sonnenuntergang nicht aus dem Sinn.

Bei jedem Sonnenuntergang sagte meine Mutter: »In die Heia, es ist Nacht.« Und schickte uns wie Kleinkinder ins Bett. Ich legte mich hin und musste glauben, dass es Nacht war, weil sie die Zeit und das Atom der Schöpfung lenkte. Sie schloss die Fensterläden und ging. In jener Nacht träumte ich von dem geheimen Durchgang, in dem das Dunkel und meine Mutter ein und dasselbe waren.

Ich ging unter den gewölbten Decken der Nekropole. Vor mir war Nunziata, der zu einer unsichtbaren Kinderschar sagte: »Verlauft euch nicht, bleibt beieinander!« Aber nur ich war da. Plötzlich verschwand Nunziata in einem kleinen Stollen. Den porösen Schatten erkannte ich sofort. Sie war winzig, mit gewellten Haaren. Sie ging mit ihren Einkaufstaschen an der Mauer entlang.

»Ma, was machst du hier unten?«

»Einkaufen.«

»Lass uns gehen.«

»Nein. Ich brauche Tomaten, Mandarinen und Kartoffeln.«

»Aber die gibt es hier nicht.«

»Doch, doch, die gibt’s hier ...«

Meine Mutter drehte sich zu einem verschütteten Marktstand um, den der Staub umhüllt hatte, bis er zu Stein geworden war. Die Öllampe flackerte munter, Granatäpfel, Weintrauben und Quitten lagen ordentlich aufgeschichtet in den Körben.

»Rühr dich nicht vom Fleck, ich komm dich gleich holen.«

Dort unten habe ich den geheimen Durchgang vom Leben zum Tod genau gesehen. Es war Vincenzina Umbriello auf der Suche nach Lebensmitteln und Licht.

Vreau să-mi spui,

frumoasă Zaraza,

cine te-a iubít.

Câti au plâns nebuni

după tine

si câti au murít ...

Carmen ist ihre rumänische Pflegekraft. Sie hat ihre Hand gehalten und ihr dieses Lied in Draculas Sprache zugeflüstert. Nach dem gespenstischen Gesumme setzte meine Mutter ein unpassendes Lächeln auf. Die Augen machten sich selbständig, ein schiefer Blick von mir zur Pflegerin. Als sie starb, lag noch Aktivität am Grund ihrer Augen. Vielleicht hat sie versucht, Draculas Sprache zu imitieren, mit Vokalen als schleifendem Umhang und stockenden Heulern. Auch sie murmelte das Lied und hinterließ einen Nachahmungsatem in der Luft.

Vreau să-mi dai gura,

dulce Zaraza,

să-ma imbeti mereu.

De a te sarutare, Zaraza,

vreau să mor si eu ...

Ich weiß, wohin ihr Atem geht. Zurück, in das verirrte Wasser der ländlichen Gegend, wo sie geboren ist, und dann auf die gepeinigten Stellen ihres Körpers.

»Signora versteht nicht meine Sprache. Ich erkläre. Lied ist von betrunkenem Mann. Geht so: Ich will, dass du mir sagst, schöne Zaraza, wer dich geliebt hat, wie viele für dich geweint haben und wie viele gestorben sind. Ich will, dass du mir deinen Mund gibst, süße Zaraza, um mich immer zu berauschen. Von deinem Kuss, Zaraza, will auch ich sterben. Schön, nicht? Signora ...«

Sie hört sie nicht, das weiß Carmen, aber sie spricht mit dem Tod.

»Signora gut zu mir. Ich nie vergesse. Sie hatte Schmerz, besser so ...«

Die Worte, die ein wenig Erbarmen aussenden. Sobald ein Gespenst das Mitleid eines anderen erkennt, ernährt es sich davon.

Carmen geht zur Kommode und holt die Totenkleidung aus der obersten Schublade: ein Nachthemd, ein Paar Strümpfe und eine weite Unterhose. Alles im reinsten Weiß. Das Weiß, das nötig ist, damit die Schatten sich scharf abzeichnen. Manchmal holte meine Mutter die Sachen hervor. Wusch und bügelte sie, um sie dann zum Abwarten an denselben Platz zurückzulegen. Carmen beginnt, sie auszuziehen. Ihre Gesten sind flink und sicher wie das eilige Ankleiden vor dem Auftritt auf der Bühne. »Ich helfe dir«, sage ich. Und stürze mich mit gezügeltem Entsetzen auf die Kleider. Da ist sie. Die wirkliche Mutter. Die sich selbst misshandelte, indem sie ihre Kinder aus Hysterie und Angst schlug. Ich frage mich, ob diese chronischen Zustände meiner Mutter jetzt zu der Demütigung zurückgekehrt sind, die sie hervorgerufen hat, und ob sie mir jetzt aus einem ausgedienten Kummer zuhören werden.

»Ich hebe Kopf und Schultern und Ihr Füße.«

Das Nachthemd muss bis zu den Schienbeinen glatt herabfallen, ohne Falten im Rücken und Knitter im Spitzenbesatz.

Es riecht nach Talkumpuder. Sie und die Spitzen. Carmen pudert ihre Achseln, Leisten und Füße. Sie tut es hastig, drückt den Puder in die Vertiefungen des Körpers, wie beim Füllen einer Roulade. Der Geruch fällt zu Boden, und das Gebärdenspiel bricht ab, weil ein anderes beginnen muss.

»Ich bereite Mutter vor, nehme Kamm und Puder für Gesicht.«

Carmen färbt ihre Augenhöhlen rosa. Sie toupiert die Haare und presst sie zu einer Wattemasse zusammen. Das Weiß des Nachthemds ist zur Distanz geworden. Ich sehe mir Vincenzina Umbriello genau an. Jetzt hat sie das Gesicht einer alten Geisha. Ich kann sie in einzelne Teile teilen, sie kräftig schütteln oder mich neben sie legen, um ihr von meinem Schrecken zu erzählen. Ich habe Angst, sage ich zu ihr. Mich ängstigt und fasziniert das Porträt, das ihr Körper malt: die altmodische Brust, liliengleich durch eine blasse Stelle zwischen den Brüsten, der Mund ohne den leisesten Atemhauch, der Bauch zwiebelfarben, die Füße weit weg und die Hand mit der Lebenslinie wie ein langer Kratzer.

»Jetzt gehe ich Zimmer saubermachen für Schwestern und Bruder. Sie haben telefoniert, kommen morgen an. Signora will ein bisschen allein sein?«

»Ja, Carmen, danke.«

Das Zimmer nimmt die Zeichen ihres Vorübergehens an. Meine Mutter steht auf und durchquert die Fensterscheibe wie ein schüchterner Mensch, der an seinen Platz zurückkehrt. Wolken am Himmel und ein Spatz auf einer Wäscheleine, der den Hals verdreht, um sie zu beobachten. Meine Mutter hat aufgehört, ein regloser Körper zu sein, und presst eine Art Energie in den Himmel von Capodimonte. Ich bin es, die sie drängt, die ihre Schritte auf der abschüssigen Gasse und auf den Treppen zählt.

»Ma, es tut mir leid, es tut mir leid ...«

Die Geschichten werden den Körper verlassen, weil sie von einem zum anderen Lebewesen vordringen müssen wie eine Rückgabe und ein Hinterhalt. Wenn Vincenzina Umbriello sie mir erzählte, hatten sie einen ideologischen Ansatz, denn sie stand immer aufseiten derer, die über die Sorgen und das Schicksal eines Hauses entschieden. In ihren Märchen gab es runzelige alte Weiber und Tiere, die mitten auf dem Land oder in einem ärmlichen, dunklen Haus menschliches Sprechen und Denken nachahmten. Wenn sie gekommen wären, hätten sie unser Essen gegessen und unseren Schlaf geschlafen. Jeder Figur verpasste meine Mutter einen Mut und eine Angst. Tödliche Wesen waren es nicht. Drachen mit sieben Köpfen, Hunde mit Löwenschwanz, gigantische oder millimeterkleine Mäuse, Ziegenböcke, Tauben und Ochsen. Sie tauchten hungrig am Rand unserer Kochtöpfe auf, nachts konnten sie kommen, um an unseren Füßen zu nagen oder uns an den Haaren zu ziehen. Manchmal erschien auch sie in den Märchen. Dann sah ich sie den wildesten Tieren den Kopf abschlagen und den schwächsten Geschöpfen einen kleinen Käfig mit Trinknapf und Schlafplatz bereiten. Doch jetzt ist sie tot, und diese Tiere sind verschwunden wie die Tage, an denen sie unglücklich war.

Ich gehe zum Sekretär. Das geheimnisvolle Möbelstück der Wohnung. Meine Mutter hat mir immer verboten, ihn zu öffnen, weil er wichtige Papiere enthält und das Kästchen mit dem Gold. Trotzdem habe ich es in meiner Kindheit drei oder vier Mal getan, wenn sie einkaufen ging. Mir klopft das Herz bis zum Hals, als ich den Sekretär öffne. Schwarzbemaltes Nussbaumholz mit intarsierten Akanthusblättern und geschnitzten Löwenköpfen. Im Inneren gibt es Geheimtürchen ohne Griff, sie öffnen sich, wenn man auf den Boden der darüber liegenden Schublade drückt. Das erste Aufschnappen, das zweite. Notarielle Urkunden, alte Röntgenaufnahmen, ärztliche Befunde, wenige Fotos. Kein Gruppenfoto der Familie, auf jedem Bild nur eine Person. Lisa, Nando und Giulietta, meine Geschwister. In den Rahmen sind wir alle erdig, mit staubigen Sandalen, auf die Pflastersteine des Vico oder die Teerpappen einer Dachterrasse gestellt. Die Gesichter dagegen laufen auf einen abstrakten, eingeschüchterten Ausdruck hinaus. Ein paar Kratzer auf der Oberfläche. Das Schwarzweiß der kurzen Hosen, gezwungen das Lächeln, weil der Fotograf es befahl und es widerwillig herauskam. Lisa mit den Perlenzähnen, Nando, bevor er die dicke Nase der Maiorana bekam, der Familie meines Vaters, Giulia mit Zöpfen und blätterförmigen Augen. Ich im Rohzustand eines schmollenden kleinen Mädchens. Die Brieftasche meines Vaters. Braunes, an mehreren Stellen gerissenes Leder. Das kleine Porträtfoto fällt wie ein welkes Blatt zu Boden. Auf der Rückseite steht geschrieben: Für Rafele, Oktober 1947.

Zu der Zeit war sie noch nicht meine Mutter. Sie war achtzehn, am Finger einen glatten Ring, die Hand drückt Zweige eines Pfirsichbaums beiseite, damit sie den Rahmen bilden, in den sie sich stellt. Diese Natur tat ihr noch nichts zuleide. Sie malte die schmale Gestalt zwischen die Bäume, die welligen Haare, den Glockenrock und die Bluse aus Kunstseide. Meine Mutter lächelte. Das Frauenlächeln vor einem sprechenden Spiegel. Ich habe es einmal auf dem Gesicht einer blinden Pianistin gesehen, ein bisschen schief, die Mundwinkel nach oben gezogen, als nötigte sie ein ferngesteuerter Draht, alle Härten der Welt zu verscheuchen.

Der Spiegel, für den das kleine Porträt bestimmt war, hieß Rafele, Rafele Maiorana, der Vater, der mich zeugen würde, indem er über ihr buckelte.

Es ist ein Schwarzweißfoto, aber meine Mutter kommt aus der Körnung des Fotopapiers heraus und nimmt Farbe an. Die Augen blaugrau mit grünen Spänen. Dreifach und verstört, wenn sie sich auf die Fliesen warfen, um den epileptischen Anfall aufzuführen. Das tat sie gegen den abwesenden Rafele und gegen die Kinder, die sie aufzehrten. Lisa lief ein Glas Wasser holen, Nando hielt ihre Hand. Und ich hasste sie. Ich hasste die Vehemenz des Körpers und des Jammerns. Blieb abseits stehen, um sie zu betrachten, ungerührt, während sie ihre Kinder mit einem Reigen aus Zittern und Heulen ängstigte. Am Ende jedes Anfalls sprach die Seele.

»Basta, ist vorbei ... Noch bisschen Wasser ... Da habt ihr Angst gekriegt, was? Ist aber vorbei. So was passiert. Was wollt ihr, soll ich sterben, wollt ihr das?«

Jetzt hätte ich sie wiedererweckt, diese falsche Seele meiner Mutter hätte ich wiedererweckt bis zu einem unterirdischen Übergang.

»Ma ...«

»Was?«

»Verzeih mir.«

»Was ist? Stör mich nicht, gibt viele Dinge zu erledigen ...«

Sie hat mir mit der Sorge um die Dinge geantwortet, wie immer, wenn sie den Geist in Fälligkeiten und Hausarbeiten steckte.

»Wäsche muss ich waschen. Kochen muss ich. Muss die Gasrechnung bezahlen. Was hast du da in der Hand? Zeig her.«

Die Geschichte hat sich aufgetan. In dem kleinen Porträt. Von jetzt an höre ich sie in der Luft von Capodimonte, wo meine Mutter sich zu den großen und kleinen Tuberkulosetoten gesellt hat. Zwischen den Wolken reden sie mit ihr: »Uns hat diese Luft keine Heilung gebracht. Und Euch? Von welcher Krankheit seid Ihr?« Als wäre die Krankheit ein Ort, aus dem man stammt, oder der richtige Name für die Menschen, die hier geboren sind und gelebt haben.

Das Leben meiner Mutter begann in Villaricca, einem Landstädtchen, wenigstens bis zu den fünfziger Jahren, wo man im Winter die Tür gegen den Wind und den Donner verriegelte und um ein Kohlebecken zusammenrückte. Bei ihrer Geburt hatte sie weiße Haut und helle Augen, sodass die Gevatterinnen, die zu Besuch kamen, ausriefen: »Adelì, hast ja ein Püppchen geboren!« Es gab schon fünf Schwestern und drei Brüder im Haus. Zu viele in dem einzigen Raum, der ihre Wohnstatt war, zu viele, als dass das kleine Porträt mehr als einen komplizierten Frieden hätte versprechen können. Das Lächeln der Geblendeten hat die Liste der Gräuel, so wie sie sie erzählte, nicht ausgelöscht: die verfaulten Kürbisse, die Würmer in den Früchten, die Pisse der Kühe, die Wut der Mutter Adelì, die heiratsfähigen Schwestern, die abscheulichen Brüder und die Laster von Biasino. Im Kopf meiner achtzehnjährigen Mutter herrschte die Angst vor den Maiorana, einem heruntergekommenen Adelsgeschlecht: Ennio, Chirurg, Lisa Campanini, Aristokratin aus Monteforte Irpino, Tante Moira, eine alte Jungfer, Onkel Fabrizio, Anwalt, Onkel Berto, Arzt, die Zwillinge Leopoldo und Rafele, der eine Lehrer, der andere Buchhalter. Als die Sonne dieser Geschichte noch voller Hoffnung war und einen Plan hegte, hatte Vincenzina Umbriellos Blut, vermischt mit dem von Rafele Maiorana, schon alle Spuren des Lebens vorgezeichnet.