Als bildender Künstler, als Porträtist, dessen Aufmerksamkeit den vom Leben Gezeichneten galt, erlangte Oskar Kokoschka Weltruhm. Rüdiger Görner stellt in seiner umfassenden Biografie – der ersten seit dreißig Jahren – den Gesamtkünstler Oskar Kokoschka dar. Dramen, Briefe und Essays zeugen von den bedeutenden schriftstellerischen Qualitäten dieses großen Malers. Die Musik war zentral für seine Arbeit. Und als Pädagoge begründete Kokoschka 1953 schließlich die »Schule des Sehens«. Oskar Kokoschka erreichte trotz schwerer Verwundungen im Ersten Weltkrieg ein biblisches Alter.

Görner zeichnet Kokoschkas Weg vom Bürgerschreck und Hungerkünstler zum wohlhabenden Weltbürger und Jahrhundertkünstler, der künstlerisch und politisch hellwach blieb, ganz nah an dessen Werk nach, denn Kokoschkas Leben erzählt man, indem man sein Werk erzählt und umgekehrt.

 

Zsolnay E-Book

Rüdiger Görner

 

OSKAR KOKOSCHKA

 

Jahrhundertkünstler

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Wo mein Pinsel dich berührt, bist du mein,

Du bist ich, bist mehr als ich, ich bin dein,

Uranfängliche Schönheit, Königin der Welt!

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE,

Des Künstlers Erdewallen (1773/74)

 

 

Was wir als Schönheit hier empfunden,

Wird bald als Wahrheit uns entgegengehn.

FRIEDRICH SCHILLER,

Die Künstler (1788)

 

 

Die Einübung des Auges in Formen: mutmaßlich auch des Ohres und Getastes.

FRIEDRICH NIETZSCHE,

Nachgelassene Fragmente (1884)

 

 

Ich lebe so schnell, Maja. Wir leben nun einmal so, wir Künstler. Ich für mein Teil habe in ein paar Jahren, die wir uns kennen, ein ganzes Leben durchlebt. Menschen wie ich finden kein Glück in müßigem Genuß; das hab’ ich allmählich einsehen gelernt. So einfach liegt das Leben nicht für mich und meinesgleichen. Ich muß ununterbrochen arbeiten – Werk schaffen auf Werk – bis zu meinem letzten Tag. (Mit Überwindung.) Darum kann ich nicht länger mit Dir auskommen, Maja. – Wenigstens nicht mit Dir allein.

HENRIK IBSEN,

Wenn wir Toten erwachen (1899), Professor Arnold Rubek, Bildhauer

 

 

Inhalt

 

GRUNDIERUNGEN oder: UNTERWEGS ZU EINEM JAHRHUNDERTWERK

 

 

Erstes Kapitel

AUF DEM WEG

Unterwegs zu einem Lebensanfang

Unterwegs zum Skandal – im Namen der Kunst

 

 

Zweites Kapitel

ENTSCHIEDENHEIT UND WIRRNIS

Weitere Konturen – Ein vorgreifendes Weichbild mit hartem Stift

»Einzigartiges Berlin«

Im Liebessturm

Kunstzeuge Georg Trakl

Alma-Finale ohne Ende?

 

 

Drittes Kapitel

KUNST IN ZEITEN DES KRIEGES

Verletzungen und Rilke im Zwischenraum

Berliner, Dresdner und Stockholmer Zwischenspiele

Einmal Hades und zurück oder: Orpheus und Eurydike als Mystagogen

Die Verpuppung der Alma Mahler-Gropius

 

 

Viertes Kapitel

VORSCHULEN DES SEHENS

Zwischen den Zeiten in Elbflorenz

Ein Traumbild und Reisebilder, euroafrikanisch

Kokoschka ante portas

Zurück im fremd werdenden Europa: Politische Optik im Jahrhundert der Täuschungen

Launen des Verstehens: Thomas Mann und Oskar Kokoschka

Prager Fensterblicke

Zwischenstand der Dinge

 

 

Fünftes Kapitel

IM ENGLISCHEN EXIL

London Calling

Auswege in Cornwall und Schottland oder: Trost der Landschaft

Politische Sorgen eines exilierten Künstler-Aktivisten

Die Episode Maisky

Bildung über alles

Lasset die Kindlein …

Wohin sich wenden?

 

 

Sechstes Kapitel

DAS PORTRÄT ALS DARSTELLUNGSFORM

Das (Selbst-)Porträt als Biografie, nebst einigen Rück-Blicken

Neues vom Ich und weitere »Menschenbilder«

Musiker im Bild

Tiere im Blick

Machtfaktor Kunst: Das Politiker-Porträt

Porträt eines Mythos: Die Thermopylen

Kleiner Exkurs: Als Graham Sutherland 1954 Winston Churchill malte …

 

 

Siebentes Kapitel

PORTRÄT DES ÄLTEREN KÜNSTLERS ALS ERZIEHER ODER: SCHULEN DES SEHENS

Progressive Restauration oder: In der Mitte des Verlusts

Das Sehen schulen

Literatur sehen

Österreich als pars pro toto sehen und ein schmerzlicher Freundesbrief

 

 

IN COMENIUS’ NAMEN: EIN NACHLEBEN ZU LEBZEITEN

 

 

NACH-SICHT

 

 

Anmerkungen

Literatur

Ein Wort des Dankes

 

 

GRUNDIERUNGEN oder: UNTERWEGS ZU EINEM JAHRHUNDERTWERK

 

»Sehen wir zu, wie es begonnen hat.« Mit diesen Worten ermuntert Oskar Kokoschka die Leser seiner Autobiografie1 dazu, seinem phasenweise labyrinthischen Lebensweg zu folgen. Zudem erinnert er an Johann Gottfried Herders Behauptung, der Mensch werde in jedem Augenblick neu geboren. Sehen wir zu – Kokoschka betont mit Vorliebe das rein Visuelle seiner Kindheitseindrücke. »Man gafft in die Welt, bevor man das Wunder der Schöpfung in Licht und Schatten zu begreifen vermag. Daß es trotzdem auch stockfinster um uns herum bleiben kann, ist nicht erstaunlich, wenn man beim Sehen nicht auch das Einsehen miterfahren hat.«2

Was hatte da begonnen? Ein Künstlerleben, das viele Beispiele kennt, aber keine Parallelen. Ein über neunzig Jahre währendes Insistieren auf den Wert der Persönlichkeit, auf den im künstlerischen Akt bestätigten Individuellen im Zeitalter der kollektiven Enteignung des Ichs oder der, wie Kokoschka in späten Interviews zu betonen pflegte, »Vermassung«.

Künstler drücken nicht vorrangig ihre Zeit aus, vielmehr werden sie von der Zeit bedrängt. Aus diesem Zustand kann entstehen, was man Ausdruck nennt. Jedem Ausdruck geht ein Eindruck voraus, eine Prägung. Im Künstler bildet sich das Verlangen, diesen Eindruck zu vermitteln, ihn mehr oder weniger verwandelt nachzuahmen. Das ist die ursprüngliche mimetische Konstellation, die künstlerischem Schaffen zugrunde liegt.

Anfangs, so Kokoschka, habe sich in ihm ein Raumgefühl oder Raumeindruck entwickelt, um darin die Farben, Blumen und Streumuster an den Wänden zu sehen – durch die Streben des Gitterbetts und die »grünen Stricke« des darin befestigten Netzes. So muss einer sein Leben beginnen, der eines Tages eine Schule des Sehens begründen wird. Visuelle Urszenen zuhauf; eine fällt besonders ins Auge: der Schüler Oskar K., der von seiner Lehrerin übers Knie gelegt und körperlich gezüchtigt wird. Nach Auskunft des 85-jährigen Künstlers gewährte ihm dies eine erste Lusterfahrung, ornamentiert mit eindeutigen Symbolen. Bei dieser Züchtigung hatte er nämlich »auf den goldenen Armreif [der Lehrerin] gestarrt, der die Form einer Schlange mit roten Augen hatte und der ihren weißen [nackten] Arm umspannte«. (ML, 34) Der kleine Adam, strafend verführt von der autoritären, aber erotisch anziehenden älteren Eva. Ansonsten waren dem Kind Farben sein Ein und Alles. Zu einer Weihnacht hatte er einen Farbkasten geschenkt bekommen:

 

Die Farben haben nach Honig geschmeckt; ich habe an dem Pinsel oft geschleckt, während ich die schwarzweißen Bilder in dem Buch der Sagen der Antike gefärbt habe. Im Leben ist alles farbig, deshalb nahm ich zum Ausmalen die Farben, die ich am liebsten hatte: Rot, Grün, Gelb und Blau. (ML, 39)

 

Lieblingsfarben, aber nicht die eine Farbe, die das Werk beherrschte wie das Rosa jenes des Giambattista Tiepolo.3 Doch dieses Leichte der Rokoko-Meister hatte es Kokoschka früh angetan und damit deren hohe Schule der sprezzatura, dem Vermögen, eine Kunst zu schaffen, der man das Kunstvolle nicht ansah.

Man ist gewohnt, Autobiografien mit Vorbehalt zu lesen, kann es aber auch mit Harry Graf Kessler halten, der Hugo von Hofmannsthal im Dezember 1898 schrieb: »Autobiographien sind eigentlich die einzigen Biographien, die nicht wertlos sind: da für den Menschen nie eine Thatsache an sich, sondern nur der Eindruck, den eine Thatsache auf ihn gemacht hat, von Wichtigkeit ist, und nur er selbst diese Vorstellungen, die er aus den Thatsachen erhalten hat, schildern kann.«4

»Was heißt Biographie?«, fragt Kokoschka denn auch gleich zu Anfang seiner Autobiografie und spekuliert rhetorisch: »Mit Daten jonglieren? Idealisieren?« (ML, 31) Deutlich wird in seiner Lebensdarstellung sogleich, dass er das Farbige der Lebenswahrheiten zu zeigen hoffte. Denn es kann sich bestenfalls nur um Wahrheiten über ein Leben handeln. Und bei aller Aufbereitung authentischer Quellen bleibt doch immer der Eindruck, dass man sich hart an der Grenze zur Fiktionalisierung bewegt, so bemüht man auch bleibt, Atmosphäre und Geschehen aus dem werk-biografischen Material heraus getreu zu rekonstruieren. Denn es geht bei dergleichen Versuchen ja vor allem darum, einer Persönlichkeit in ihrer Zeit annähernd gerecht zu werden, sie etwas verstehen zu lernen und zu zeigen, was dieses Verstehen im jeweiligen Heute bedeutet. Kokoschkas Mein Leben kann keinesfalls als verlässliche biografische Quelle gelten, auch wenn er fraglos mit dieser Autobiografie Deutungshoheit über sein Leben erreichen wollte. Sie gehört zu seiner reichen Prosa, wie ja auch auffällt, dass sich erzählerische Prosa und Lebenserzählung in seinem streckenweise hochliterarischen Werk vermischen. Zudem bestätigen Mein Leben wie auch seine anderen Schriften, was aus der Fülle seiner Selbstporträts spricht: Oskar Kokoschka, der Vielbefähigte, vermochte nahezu alles, nur eines nicht: von sich selbst abzusehen. Übrigens bekannte Kokoschka gegenüber dem Kunsthistoriker Fritz Schmalenbach im März 1970 freimütig, dass seine Selbstbiografie »teils wahre, teils imaginäre Vorkommnisse und Anekdoten« enthalte, »weil ich keinen Sinn für das Vergangene, keine Erinnerung ebensowenig wie Vorstellung einer Zukunft habe. Bin ein Augenblicksmensch.« (Br IV, 222)

Mein Leben – mit diesem Titel signalisierte Kokoschka freilich auch, dass in diesem Leben die Kunst enthalten war, ja dass »Leben« hier der Name für einen lebenslangen Kunstakt ist: das Werk als Leben und das Leben als Werk.

Betrachtet wird nachfolgend der »Mensch in seinem Widerspruch« (C.F. Meyer), im Falle Kokoschkas der expressive Modernist, Anti-Konventionalist und gleichzeitige avantgardistische Traditionalist, der emphatische Pädagoge und Kritiker des Institutionellen, der heimatverbundene Exulant, Gegner alles Ideologischen, der im Exil dennoch dem Sowjetkommunismus, wenn auch von ferne, einiges abgewinnen konnte, der Farbenvirtuose, der in einer ganz bestimmten Lebenskrise sein Atelier schwarz ausmalte. Zu zeigen wird sein, wie aus einem einstigen Bürgerschreck und Hungerkünstler ein wohlhabender Welt(en)bürger wurde, der aber in künstlerischen und politischen Fragen hellwach blieb, und das als ein »Lenin unter den Künstlern«, wie er sich nach 1919 einmal nannte. Kokoschka verstand sich darauf, von der großen, gar überwältigenden bildkünstlerischen Tradition zu abstrahieren, um zu seinem eigenen Stil zu finden, und gleichzeitig verwarf er das Abstrakte.

Man könnte versucht sein, den einen Tag oder Monat oder das eine Jahr im Leben des Oskar Kokoschka genau zu rekonstruieren, wie dies die sogenannte Mikrogeschichte vorführt. Aber dergleichen hat etwas allzu Gezwungenes, Künstliches, das diesem Künstler keinesfalls angemessen wäre. Zudem hätte es den Anschein, als wollte man mit den Fotografien konkurrieren, die es von Kokoschka in allen Lebenslagen gibt. Vielleicht war er neben Pablo Picasso der am meisten fotografierte Künstler seiner Generation. Zu fragen wird aber sein, was es auf sich hat mit dieser Lust am Fotografiertwerden als Teil einer Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, zu der naturgemäß auch Mein Leben gehört. Denn wer so auf das Sehen setzte wie Kokoschka, ob mit »Einsehen« gepaart oder nicht, der versteht auch etwas vom Gesehen-werden-Wollen, eben der Sicht auf sich selbst.

Als eine Bereicherung des Blicks auf den »Jahrhundertkünstler« Oskar Kokoschka wertet dieser Versuch über das »Werk im Leben« seine schriftlichen Zeugnisse, die Stücke und Erzählungen, die Essays zur Kunst und Politik und das umfangreiche Briefwerk. Auch im schriftlichen Werk herrschen Farben vor, dominiert der Blick, werden Sichtweisen erprobt, Stimmungen evoziert, Leidenschaften beschrieben. Die Briefe an Alma Mahler etwa seien hier nicht nur als Psychogramme gewertet, sondern als – gefühlsästhetisch verstandene – bedeutende Liebesbriefe und damit Teil dieses nahezu ein Jahrhundert umspannenden Werkes.

Doch bedeutet die Bezeichnung Jahrhundertkünstler, dass das Werk im Leben und das Leben im Werk des Oskar Kokoschka Möglichkeiten und Probleme exemplarischer Natur aufwerfen. Sie beginnen mit der Frage nach dem, welche Art Kriterium »das Moderne« darstellt, wie sich der junge Expressionist in der mittleren Werkperiode zeigt und ob das Alterswerk diesen ursprünglichen ungestümen Modernismus widerrief. Gesundheitlich belastet, im Ersten Weltkrieg zweimal schwer verwundet, erreichte Kokoschka dennoch ein biblisches Alter. Wie wirkten die Länge und Fülle des Lebens auf seine Kunst zurück? Ist sein Altersstil notwendig als traditionalistisch anzusehen, oder spiegelte sich in ihm einfach jene Art Tradition, die er durch sein eigenes Werk aufgebaut und an zahllose Schüler weitergegeben hatte?

Im Kontext der Wiener Moderne findet sich das Beispiel eines hochbetagten Künstlers, der an seinem Lebensende in ungeahntem Radikalismus sein eigenes Werk in Frage stellt, um zuletzt noch etwas unerhört Neues zu schaffen. Gemeint ist eine Kunstfigur, der nicht in Erscheinung tretende Protagonist im Stück Der Tod des Tizian des jungen Hugo von Hofmannsthal. Mit den Höfen und Machenschaften der Mächtigen vertraut, bricht dieser altersradikale Renaissancekünstler im Jungen Wien mit allen Konventionen und setzt ein letztes Mal alles auf eine Karte und seine Kunst damit aufs Spiel. Kokoschka dagegen malte sie weiter gerne, die Mächtigen, porträtierte und porträtierte. Zu fragen wird sein, was dieses unablässige Porträtieren bedeutete und ob wir gut daran tun, uns diesen Porträts mit Vorbehalten zu nähern wie überhaupt einer Auffassung von Kunst, die sich im Laufe der Zeit doch einem Ismus verschrieben hatte, dem Humanismus.

Die Kritik an der Abstraktion, die im Werk Kokoschkas nach 1945 immer entschiedener wird (vergleichbar durchaus mit jener des jungen Bildkünstlers Günter Grass!), wie ist sie zu verstehen und zu werten? Irgendwann kam ja die These auf, dass Avantgarde und Abstraktion nicht nur alliterieren, sondern einander bedingen. War auch sie ein Dogma gewesen, vergleichbar jenem, das musikalische Avantgarde mit Atonalität und literarische Moderne mit gebrochenem innerem Monolog, Aneinander-Vorbeireden auf der Bühne, Aufkündigung einer Erzählhandlung und Aufspaltung des lyrischen Materials gleichsetzte? Diese Fragen im Zusammenhang mit Oskar Kokoschka stellen, heißt: sie in ein anderes Licht rücken, nämlich in das eines konsequenten Humanismus. Denn unablässig warf Kokoschka die Frage auf, ob das Abstrakte human sein könne oder nur ein neuerlicher Verrat am humanistischen und damit sichtbar am Menschen ausgerichteten Erbe darstelle.

Wer über diesen Künstler nachdenkt, kommt nicht vorbei am Komplex Puppe, jenem lebensgroßen anthropomorphen (oder soll man nicht besser sagen: almamorphen) Ei, das der Künstler in sein eigenes Leben und in künftige Studien über sich selbst gelegt hat. Wie gehen wir im Zeitalter der Gender-Diskurse mit dem Umstand um, dass Kokoschka nach der Trennung von Alma Mahler die Anfertigung einer Alma-Puppe in Auftrag gab, der krasse Fall einer ersatzbefriedigenden Fetischisierung eines Liebesobjekts, eine Puppe, die er liebkosen und zuletzt köpfen konnte? Auch diese Frage stellt den Umgang mit Kokoschka, den erklärten Humanisten, unter (beklemmende) Vorbehalte.

Carl Einstein nannte ihn in seiner Darstellung als Teil der monumentalen Propyläen-Unternehmung Die Kunst des 20. Jahrhunderts (1926) eine »Begabung zwiefältigen Gesichts«.5 Und weiter:

 

Ein Maler, der zwischen originellem Einfall, besonderer seelischer Deutung und altem Gestaltenerbe ruhelos treibt, der mitunter innere Überwältigtheit epigonisch befriedet, in einem fast bewußten Wettkampf mit den großen Meistern tritt und sich müht, alten Reichtum des Darstellens durch neuartige Empfindsamkeit zu verjüngen.6

 

Einstein wurde noch deutlicher, wenn er Kokoschka ein »kompliziertes Talent« nannte, das »viele unentschiedene Seelen« bezaubere, »da es ihre vordergrundlichen Wirrnisse und die ruhelose Unzulänglichkeit der Epoche enthält«.7

Und doch – welch ein Werk gilt es hier zu besichtigen und zu überdenken! Wie reich sind seine Ausprägungen, wie eindrucksvoll dieses Können, dem man schon früh Genie zusprach, gleich ob man es für genuin, selbsterklärt oder für ein »prätentiös belastetes Talent« hielt. Man nahm Kokoschkas künstlerisches Vermögen demnach als ein Schaffen wahr, das – bei allen deutlichen Einflüssen – entschieden in sich selbst begründet schien. Oskar Kokoschka – ein böhmischer Österreicher am Meer der farbigen Brandungen, ein Künstler, dem das Erschaffen von Welten um der Menschen willen Intuitions- und Verstandessache war, ein erklärter europäischer Humanist unter den Künstlern der Moderne – er und sein Werk stehen bleibend in Rede.

Wie sich also ein Bild machen von einem Künstler, der sich selbst so intensiv zu porträtieren verstand und leidenschaftlich gerne photo-graphieren ließ – und man vergewissere sich der wörtlichen Bedeutung dieses Wortes (photos graphein): schreiben in Licht oder in Licht geschrieben, gezeichnet werden. Kann dieses unser Bild von Oskar Kokoschka mehr sein als die Summe der von ihm vorhandenen Bilder? Oder soll es etwas anderes darstellen, eine andere Sicht auf ihn bieten?

Der Untertitel wagt hier den Ausdruck Jahrhundertkünstler, der etwas Exemplarisches, aber auch das Zeitumspannende, ja Epochale dieses lebensvollen Schaffens meint.

Vieles umfasste in seinem Fall das Wort Künstler; denn Kokoschka war ein Farben und Formen Schaffender, ein Bildkünstler, ein Dramatiker und Erzähler hohen Ranges, ein (kultur)politischer Schriftsteller, Essayist und Autobiograf, also einer, der sein Leben selbst aufzuzeichnen verstand, und ein bedeutender Pädagoge dazu. Da drängt sich das Offensichtliche auf: hier nach den Wechselverhältnissen, inneren Beziehungen zwischen diesen Schaffensbereichen zu fragen – inhaltlich wie stilistisch. Hätte es den Untertitel dieses Buches nicht überladen, dann wäre darin auch das Wort europäisch zu finden gewesen; denn sein humanistisches Selbstverständnis gründete in den Tiefen (und Abgründen) europäischen Bewusstseins, was Kokoschkas weltweiter Wirkung jedoch nie entgegenstand. Gerade weil er sich zu seinen mitteleuropäischen Wurzeln zeitlebens bekannte, konnte er als Kosmopolit überzeugen.

Wie Ernst Barlach, Wassily Kandinsky, Max Beckmann, Ludwig Meidner und Alfred Kubin, aber auch Kurt Schwitters nannte Kokoschka mehrfache Begabungen sein künstlerisches Kapital. Die Nähe von Dichtung und Malerei, etwa auch bei Max Dauthendey (»Ein violetter Regen fällt fern im aprikosengoldnen Abenddunst«8), löste zeitweise die noch von Wagner und dem Wagnerianismus geprägte Symbiose von Dichtung und Musik ab. Diese Nähe fand sich im sprachlich-grafischen Zeichen oder poetischen Schwelgen in Farben, im Rausch der Farbadjektive. Im dramatischen Frühwerk Barlachs, vor allem seinem 1912 bei Paul Cassirer in Berlin mit 27 Lithografien veröffentlichten und sieben Jahre später in Leipzig uraufgeführten Drama Der Tote Tag findet sich eine thematische Überschneidung mit Kokoschka, wenn auch mit anderer motivischer Akzentuierung: Der Sohn vermag nicht zum unsichtbar bleibenden Vater zu gelangen, weil die Mutter sich als zu dominant erweist. Kokoschka wiederum trieb die ihm verwehrte Vaterschaft um. In Barlachs Drama kann wie bei Kokoschka die »Mörderhand« jederzeit zugreifen; doch richtet sie sich zuletzt gegen sich selbst, wenn Mutter und Sohn durch Selbsttötung enden.9

Anders als die genannten Zeitgenossen verfügte Kokoschka jedoch auch über eindrucksvolle Kenntnisse in der politischen Theorie und ihrer Geschichte – vom Sozialutilitarismus eines Jeremy Bentham bis zur Problematik staatlicher Souveränität. Kein Künstler seines Formats vermochte mit solcher Sachkenntnis politische Entwicklungen zu kommentieren, sodass es kaum erstaunt, in seinen politischen Schriften bereits 1935 die These zu finden, der totalitäre Staat, »der den Begriff Mensch nicht kennt, nur den des Untertan, ihn muß seine Zwecksetzung, Lebensraum, zum totalen Kriege führen«.10 Kokoschkas parteiloses politisches Engagement sah sich in zutiefst humanistischen Überzeugungen verankert. Weshalb er dennoch den Stalinismus unterschätzte oder nicht durchschauen wollte, hat Gründe, auf die noch einzugehen sein wird. In ästhetischer Hinsicht konvergierten in seinen Überzeugungen Humanismus und Gesamtkunstwerk durch das, was man seine Erziehung der Sinne nennen könnte. Die Aktivierung der fünf Sinne und die Schulung der sinnlichen Wahrnehmung schienen ihm durch das Aufeinander-Bezogensein der Kunstformen am ehesten gewährleistet.

Der gesamtkünstlerische Ansatz im Werk Kokoschkas ergab sich zudem über den Willen zum Ausdruck. Die Collage im Sinne von Schwitters war seine Sache nicht, auch wenn beide sich mit der 1910 gegründeten Zeitschrift des Expressionismus, Der Sturm, identifizierten. Um zu erkennen, was Kokoschka nicht wollte, sei Schwitters’ ästhetisches Prinzip hier zitiert:

 

Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnung geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dies geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.11

 

Kokoschka ging zwar auch von Vorstellungen aus, die sich am Gesamtkunstwerk orientierten, aber nicht an dessen surrealistischer Parodie. Nicht das Zusammenkleben oder Nageln von Stücken war seine Sache; es wäre ihm als bloßes Stückwerk erschienen. Vielmehr kam es ihm auf das Zusammenspiel der Formen und Farben an, auf ihren musikalischen Urgrund, nicht aber auf das Verwischen von Grenzen. Dass freilich seine Bilder »gelesen« werden könnten und seine Dramen auch optische Ereignisse sein würden, schloss Kokoschka keineswegs aus.

Unterwegs zu einem Jahrhundertwerk – das meint zunächst einmal Unterwegssein zu einem bestimmten Sehen, das sich in Kokoschkas Bildern manifestierte, die ihrerseits den Blick des Betrachters in einer besonderen Weise weniger lenken denn anregen und schulen. Dieses Sehen meint, sich auf das Wechselverhältnis von Dichtung und Gemälde, Porträt und Dialog, Musikalisierung der Farben und kritische ästhetisch-politische Diskurse einzulassen. Und es bedeutet zudem, die Lebens- und Schaffensorte dieses Künstlers auf sich einwirken zu lassen. Wer sich aufmacht, dieses Jahrhundertphänomen Kokoschka zu betrachten, lernt viel über dessen Zeit und sein Verhältnis zu ihr.

Unterwegs war Kokoschka selbst ein Emigrant wie sein großes Vorbild Jan Amos Komenský oder Comenius im 17. Jahrhundert, bis er 1953 in Villeneuve ankam. Zu fragen wird sein, ob und wie sich sein künstlerischer Stil zusammen mit seiner Lebensauffassung bei diesem Unterwegssein verändert hat. Sie werden aufzusuchen sein, diese Ursprungs-, Lebens- und Zielorte des Künstlers Oskar Kokoschka: Pöchlarn, Wien, Berlin, Dresden, Prag, London, Salzburg und eben der Genfer See. Er wird zu beleuchten sein, der Zusammenhang von Menschen- und Tierporträts mit jenen von Städten und Landschaften – und damit verbunden sein Zweifel am Sinn der Abstraktion.

Unterwegs zu einem Künstler, der Avantgardist war, noch im Exil als ein linker Rebell galt und doch zu repräsentieren verstand, etwa als Präsident des Freien deutschen Kulturbundes in London während des Zweiten Weltkriegs, und (künstlerisches) Interesse hatte an den Gesichtern der mehr oder weniger Mächtigen in Politik und Gesellschaft, also an den Physiognomien der Macht. Wurde er nach 1945 zum Kulturkonservativen, oder behielt seine Konzeption einer Schule des Sehens, die er in seiner Salzburger Akademie praktisch umzusetzen verstand, eine untergründige Radikalität, die sich bis hin zu Max Imdahls Konzeption eines reinen oder »sehenden Sehens« verfolgen lässt und in der Moderne bis auf Alfred Lichtwarks kunstpädagogische Überlegungen zurückreicht, die auch Franz Kafka zu preisen wusste?12 Greift in seinem Fall die Bezeichnung Moderne, oder schlug sein Modernismus nach 1945 um in restaurativen Traditionalismus? War Kokoschka zuletzt dem »Aberglauben ans Zeitlose« verfallen, um Adornos Ausdruck zu gebrauchen, oder blieb er zeitlebens Secessionist?

Unterwegs war er, aber wohin? So viele verschiedene Orte warteten auf ihn, Wirkungsstätten. Im Blick auf dieses Leben, der immer nur ein Rückblick sein kann, sosehr man sich auch bemühen mag, gelegentlich die Gegenwartsform der Zeitwörter zu gebrauchen, um ihn zu verlebendigen und zu einem Zeitgenossen zu erklären, im Blick auf dieses Werk im Leben des Oskar Kokoschka scheint bei allen Irrungen nahezu alles, auch das Widersprüchliche, folgerichtig. Aber ebendas ist die Gefahr biografischer Verfahren: dass sie Zielgerichtetheit suggerieren, dass das eine das andere einfach ergeben musste. Und doch weiß man: So verläuft kein Leben. Selten genug, dass man in seinem Leben Wendepunkte erkennt. Noch seltener, dass man vor, während und nach bestimmten Entscheidungen alle Möglichkeiten präsent hat und begreift, eine Wahl oder keine gehabt zu haben. Selbst der schöpferischste Mensch kennt Phasen des Leerlaufs, die sich in keiner Biografie schildern lassen, Zeiten des Zweifels und der Verzweiflung, die nur in der Art ihrer Überwindung greifbar werden. Man suche das Schlüssige, Bündige nicht in einem Leben, dafür das Farbige, Vielgestaltige, Unvorhergesehene, gerade im Falle des Oskar Kokoschka. Wie bei russischen Puppen verschachtelte sich vieles im Leben dieses Künstlers; eines steckte im anderen, und doch gelang ihm, das eine, sein Leben zu leben und sein Schaffen durchzuhalten, in jedem Bild ein Bild des Lebens zu geben, es seinerseits mit Augen zu versehen. Denn seine bedeutendsten Werke, der Mandrill gehört fraglos zu ihnen, betrachten auch den Betrachter, nein, sie durchdringen ihn, lassen ihn nicht los, verfolgen ihn. Diese Bilder haben uns so lange im Blick, bis wir sie und alles andere neu sehen gelernt haben. Was für Kokoschkas Schaffen gilt, trifft auch für das zu, was über sein Leben bekannt ist: Es brachte keine bloß engagierte, sondern eine engagierende Kunst hervor. Zu ihr hofft diese Studie unterwegs zu sein, so verschlungen, wenngleich nicht unergründlich, ihre Wege auch sein mögen.