Man schlägt dieses Buch auf, liest und spürt: Hier tritt man eine Reise an, die in ein neues Land führt. Dieses Land befindet sich dort, wo Bulgarien, Griechenland und die Türkei aufeinandertreffen, das alte Thrakien – »wo etwas wie Europa beginnt und etwas endet, das nicht ganz Asien ist«. Bis 1989 war dieses Gebiet eine »verdunkelte, bewaldete Berliner Mauer«, schreibt die in Schottland lebende, in Sofia geborene Kapka Kassabova, unzugänglich für Generationen. Und jetzt? Sie sieht die Wälder des Strandscha-Gebirges und menschenleere Dörfer in den Rhodopen, sie trifft Schmuggler, Wilderer und ganz normale Leute, die ihr Geschichten erzählen über Liebe und Tod, das Einst und das Jetzt und wie es ist, vom Rand plötzlich in die Mitte der Welt gerückt worden zu sein.

 

Zsolnay E-Book

Kapka Kassabova

 

Die letzte Grenze

 

Am Rand Europas, in der Mitte der Welt

 

Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

 

Jenen gewidmet, die es, damals wie heute, nicht über die Grenze geschafft haben

 

Mit der Bitte, die Wälder zu erhalten

 

 

Die Leute vergessen, dass wir nur Gäste auf dieser Erde sind, dass wir nackt kommen und mit leeren Händen gehen.

 

Esma Redžepova, Roma-Sängerin

 

 

INHALT

 

Vorwort 13

Grenze

Berg des Wahnsinns, I

 

 

Teil eins

STERNHELLES STRANDSCHA

 

Via Pontica

Die Rote Riviera

Strandscha

Das Dorf im Tal

Agiasma

Alles beginnt mit einer Quelle

Tscheschma

Ein Müßiggänger

415

Draht im Herzen

Klyon (1961 bis 1990)

Das Grabmal von Bastet

Kaltes Wasser

Pilger

Sühne

Einhundertundzwanzig Sünden

Sozialistische Persönlichkeit

Der Ritt auf dem Eisernen Vorhang

Smei

Ball aus Feuer

 

 

Teil zwei

THRAKISCHE KORRIDORE

 

Thrakien

Der Freund mit den Tauben

Memleket

Mädchen zwischen den Sprachen

Komschulak

Den tanzenden Priester vor Augen

Rosa damascena

Wenn du treu bist

Korridore

Alle kommen zu Ali

Via antica

Geschichten von der Brücke

Geister

Eine kurdische Liebesgeschichte

Die Quelle des Mädchens mit den weißen Beinen

Der Hühnerstall

 

 

Teil drei

DIE PÄSSE DER RHODOPEN

 

Rhodopaea, rhodopaeum, rhodopensis

Das Dorf des ewigen Lebens

Das Urteil

Auf der Straße zur Freiheit

Die Geschichte von den zwei Königreichen

Drama

Die Metaxas-Linie

Berg des Wahnsinns, II

Agonia

Hotel Über der Welt

Ursus arctos

Göttin des Waldes

Tabak

Die Frau, die eine Woche lang ging

 

 

Teil vier

STERNENBESETZTES STRANDSCHA

 

Lodos

Hin zum Fluss

Kaynarca

Der Mönch des Glücks

Ewige Wiederkehr

Die gute Meerjungfrau

Muhhabet

Der letzte Schäfer

Uroki

Wie man eine Verwünschung aufhebt

 

 

Dank und Quellen

 

 

VORWORT

 

Dieses Buch erzählt die Menschengeschichte der letzten Grenze Europas. Sie befindet sich dort, wo Bulgarien, Griechenland und die Türkei zusammentreffen und sich wieder trennen, da nun Grenzen einmal so sind, wie sie sind. Es ist auch der Ort, wo etwas wie Europa beginnt und etwas endet, das nicht ganz Asien ist.

Das umreißt im Großen und Ganzen die geografischen Gegebenheiten, aber die Landkarte führt einen nur so weit, bis man sich in einem uralten Wald wiederfindet, strotzend vor Schatten und Leben jenseits aller Zeit. Jedenfalls war das der Ort, an dem ich schließlich landete. Kann sein, dass alle Grenzgebiete in den Frequenzen des Unbewussten summen; schließlich befinden sich Grenzen dort, wo das Gewebe dünn ist. Diese Grenzregion jedoch summt in einem ganz besonderen, sirenengleichen Ton und ist aus drei besonderen Gründen etwas Besonderes. Erstens wegen unvollendeter Angelegenheiten aus dem Kalten Krieg; zweitens, weil sie eine der großen Wildnisse Europas ist; drittens, weil sich hier ein Sammelbecken des gesamten Erdteils befindet, und das, seit es Kontinente gibt.

Meine Generation in Osteuropa wurde erwachsen, als die Berliner Mauer fiel. Diese Grenze überschattete meine bulgarische Kindheit in der letzten Phase des »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, wie die unglückliche Phrase lautete. So war es natürlich, dass eine Reise entlang der Grenzlinie mich rasch in den Bann zog.

Befindet man sich einmal nahe an einer Grenze, ist es unmöglich, nicht in einen solchen Bann gezogen zu werden, nicht etwas exorzieren oder überschreiten zu wollen. Allein schon durch ihre Existenz ist die Grenze eine Einladung. Nun mach schon, flüstert sie, überschreite diese Linie. Wenn du es wagst. Die Linie zu überschreiten, im Sonnenschein oder unter dem Schutz der Nacht, bedeutet Angst und Hoffnung zugleich. Und irgendwo wartet ein Fährmann, dessen Gesicht nicht zu erkennen ist. Menschen sterben, wenn sie Grenzen überqueren, manchmal auch bloß, weil sie in der Nähe sind. Die Glücklichen werden auf der anderen Seite wiedergeboren.

Eine aktiv polizeilich überwachte Grenze ist immer aggressiv; sie ist die Stelle, wo die Macht plötzlich einen Körper bekommt, wenn nicht ein menschliches Gesicht, und eine Ideologie. Eine Ideologie, die offenkundig mit Grenzen zu tun hat, ist der Nationalismus; die Grenze ist da, um einen Nationalstaat vom anderen zu trennen. Aber eine heimtückischere Ideologie ist in ihrer Praxis zentristisch; der Glaube, dass das Machtzentrum aus der Entfernung ungestraft Befehle erlassen und die Peripherie opfern kann; dass das, was sich außerhalb der allgemeinen Wahrnehmung befindet, auch außerhalb des Gedächtnisses ist. Und Grenzgebiete sind immer Peripherie, immer außerhalb des Blickwinkels der Allgemeinheit.

Seltsamerweise war es der Umstand, dass ich in einem Land ohne Grenzen lebte, der mich zu dieser Grenzreise bewog. Ich lebe im ländlichen Schottland, das als eine Art Peripherie gelten mag, falls das Zentrum der Zentralgürtel zwischen Edinburgh und Glasgow ist, und noch mehr als Peripherie, wenn das Zentrum London ist. Schottland war traditionell immer ein Land der Diversität und Freiheit, der Inseln und Exzentrizitäten. Aber in Schottland dämmert das Zeitalter des Körperschafts-Bürokraten mit menschlichem Antlitz heran, und jeden Tag greift ein weiteres zentralistisches Gesetz in entlegenen Gemeinden durch, wieder ein Wald wird umgelegt, um einem Steinbruch zu weichen, Windrädern, die sich nicht zu drehen, gigantischen Strommasten, die keine Elektrizität weiterzuleiten scheinen. Ödnisse von subventioniertem Profit tauchen dort auf, wo früher verschrobene Wildnis war. Während ich die rücksichtslose Einebnung des schottischen Hochlandes beobachtete, wuchs meine Neugier über meine heimatlichen balkanischen Peripherien. Ich wollte wissen, was dort vor sich ging, 25 Jahre, nachdem ich fortgezogen war.

Wenn wir politische Grenzen in harte und weiche unterteilen, dann besitzt die Grenze in diesem Buch ein halbes Jahrhundert Kalter-Krieg-Härte: Bulgarien im Norden gegen Griechenland und im Süden gegen die Türkei markierten die Grenzlinie zwischen den Staaten des Warschauer Pakts im Sowjetblock und den Mitgliedstaaten der Nato in der westlichen Einflusssphäre. Kurz, es war der südlichste Abschnitt des Eisernen Vorhangs in Europa, eine von den Armeen dreier Länder verdunkelte, bewaldete Berliner Mauer. Sie war tödlich, und sie blieb dornig vor Angst bis zum heutigen Tag.

Heute ist die Grenze zwischen Griechenland und Bulgarien durch die Mitgliedschaft beider Länder in der Europäischen Union aufgeweicht. Die türkisch-bulgarische und türkisch-griechische Grenze haben ihre alte Festigkeit verloren, aber eine neue gewonnen: Ihr Symptom sind die neuen Drahtzäune, errichtet, um den Strom an Menschen aus dem Nahen Osten aufzuhalten.

Ich war zufällig dort, als aus dem Strom ein Blutsturz wurde. Globale Bewegungen und globales Verbarrikadieren, neuer Internationalismus und alte Nationalismen – das ist die systemische Krankheit im Herzen unserer Welt, und sie hat sich von einer Peripherie zur anderen ausgebreitet, denn nirgendwo ist es noch entlegen. Das heißt, bis man sich im Wald verirrt.

Aber der ursprüngliche emotionale Anstoß zu meiner Reise war einfach: Ich wollte die verbotenen Orte meiner Kindheit sehen, die ehemals militarisierten Grenzdörfer und -städte, Flüsse und Wälder, die zwei Generationen lang unzugänglich gewesen waren. Ich fuhr mit meiner Auflehnung dagegen hin, dass wir so lange wie ungeliebte Hunde hinter dem Eisernen Vorhang angekettet gewesen waren. Und mit meiner Neugier, die Menschen einer Terra incognita kennenzulernen. Als Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus schrieb: »Von Europa aber weiß offenbar niemand etwas Genaues, weder über den Osten noch über den Norden, ob es da vom Meer umgeben ist«, hätte er diesen Teil des Kontinents im frühen 21. Jahrhundert meinen können. Als ich mich auf den Weg machte, teilte ich die allgemeine Unwissenheit über diese Region nicht nur mit den weiter entfernt lebenden Europäern, sondern auch mit den urbanen Eliten der drei aneinandergrenzenden Länder. Im Geist derjenigen, die dort nicht leben oder zu Besuch hinkommen, ist dieses Grenzgebiet ein anderes Land, ein wenig wie die Vergangenheit, wo Dinge anders gemacht werden.

Wann immer man über den Balkan spricht, ist das abgedroschene alte Bild von der Brücke unvermeidlich, aber nirgendwo ist es deutlicher zu beobachten als am Südostbalkan, dem alltäglichen Durchgang zwischen dem, was Ost und West zu nennen wir uns angewöhnt haben.

Paradoxerweise ist dies nach wie vor eine verborgene Falte der globalen Matrix. Einige der Gebiete, die ich durchquerte, waren so schön, dass einem das Herz hätte stehenbleiben mögen, aber nur Botaniker und Ornithologen kommen dorthin, Schmuggler und Wilderer, die Heroischen und die Verlorenen. Und dann sind da die Einheimischen.

Die Geschichte werde von den Siegern geschrieben, heißt es, mir aber scheint, dass Geschichte vor allem von denen geschrieben wird, die nicht dort waren, was dasselbe sein mag. Ich verspürte einen Hunger: in die Gesichter derjenigen zu schauen, die dort sind, ihre Geschichten zu hören, mit ihnen zu essen, neue Wörter zu lernen. Was braucht es, um in einem so sehr von alten und modernen Mythen durchdrungenen, derart psychologisch aufgeladenen Grenzland zu leben? Niemand von uns kann Begrenzungen entkommen: zwischen dem Selbst und dem anderen, Vorhaben und Tat, Träumen und Wachen, Leben und Sterben. Vielleicht können uns die Leute an der Grenze etwas über Schwellenräume erzählen.

Die Reise, die ich hier beschreibe, verläuft im Kreis und folgt den Umrissen natürlicher Regionen innerhalb der Grenzzone. Ich begann am Schwarzen Meer, am Rand des rätselhaften Strandscha-Gebirges, wo mediterrane und balkanische Strömungen aufeinandertreffen; fuhr abwärts in die Grenzebenen Thrakiens mit seinen Korridoren für Verkehr und Handel; drang in die Pässe der Rhodopen vor, wo jeder Gipfel eine Legende und kein Dorf das ist, was es zu sein scheint, und endete auf der spiegelbildlichen Seite des Anfangs – Strandscha und das Schwarze Meer.

Mit wenigen Ausnahmen wurden die Namen verändert, und manchmal habe ich individueller Privatheit und erzählerischer Ökonomie zuliebe topografische oder biografische Details zusammengezogen. Der Naturreichtum der Region würde mehr Raum verdienen, aber mein Fokus war die Geschichte der Menschen. In der Menschengeschichte sind Grenzen allgegenwärtig – sichtbar und unsichtbar, weich und hart –, aber die uralte Wildnis, die vor ihnen war, ist endlich. Vielleicht fühle ich mich deshalb, weil diese Grenze immer noch eine Wildnis ist, bei ihren Menschen und Geistern zugegen.

Kapka Kassabova

In den schottischen Highlands

 

 

Grenze –

 

Laut Oxford English Dictionary

1. eine Linie, die zwei Länder voneinander trennt

2. ein Band oder ein Streifen, üblicherweise dekorativ, um den Rand eines Gegenstandes

 

 

BERG DES WAHNSINNS, I

 

Der Moment kam auf der halben Strecke der Reise. Hoch oben in den Rhodopen an der bulgarisch-griechischen Grenze führte eine Serpentinenstraße die Bachschlucht hinauf, und wo die Straße oben endete, lag ein letztes Phantomdorf mit ausgehöhlten Fenstern und einem steinernen Brunnen ohne Wasser. Niemand lebte mehr dort. Jenseits der Straße und des Dorfes – die Eichenwälder des Niemandslandes. Wir meinen durchs Leben zu gehen und das Unheimliche – außer in Filmen – nie kennenzulernen, aber in diesem Dorf habe ich etwas erlebt, das den Schrecken in mein Herz brachte. Ich weiß immer noch nicht, ob es »real« war, aber die Gefühle, die es begleiteten, sind bis heute in meinem Körper.

Ich war in diese vergessene Falte des Berges gekommen, um etwas zu suchen, und war in das da hineingeraten. Vielleicht war es das, wonach ich gesucht hatte. Wie auch immer, nun sah ich mich diese Schlucht mit struppigem Wald voller Wildschweine und Felsklippen hinunterrennen, zwanzig Kilometer ohne einen Menschen, die unbarmherzige Sonne hämmerte auf meinen Kopf wie ein Urteil für irgendein Verbrechen, das lange zurücklag.

Oben zwischen den Gipfeln gab es tatsächlich eine Felsspitze namens »Urteil«, eine Stelle, von der Körper in den Schlund der Zeit geworfen worden waren, der zwischen den ersten Menschenopfern der Thraker und den letzten Jahren des Kalten Krieges klaffte. Aber ich lief in die entgegengesetzte Richtung – bergabwärts zum nächsten bewohnten Dorf, das weit weg war, und weit weg war auch alles andere, das mir verständlich war.

Das Gefühl, dies sei nichts Persönliches, dies sei nicht nur mein Schrecken, erwies sich im Rückblick als richtig. Ich nahm Schwingungen von Ereignissen auf, die der Berg in sich trug. Es waren keine natürlichen, sondern Grenzschwingungen, Schwingungen eines Waldes, in dessen Bäume die Initialen jener eingekratzt waren, die im 20. Jahrhundert jung und verzweifelt gewesen waren. Ihrer Geschichten wegen war ich gekommen, aber war ich der Aufgabe gewachsen?

Die Leute hatten mir erzählt, hier würden Menschen und Dinge verschwinden, aber nichts geht wirklich weg. Das fühlte ich jetzt, wie eine Anwesenheit hinter mir. Obwohl es Mittag war, hatten sich die Berge des Orpheus dunkel verfärbt. Ich kam an einen Seitenarm des Flusses und blieb stehen, um etwas zu trinken. Das eisige Wasser brannte in der Kehle. Ich wusste, dass die Quelle der Mesta (griechisch: des Nestos) jenseits der Grenze oben in der höchsten Bergkette der Balkanhalbinsel lag und dass die Länge des Flusses 234 Kilometer betrug, bevor er in die Ägäis mündete – aber was haben Tatsachen schon je für die Hilfsbedürftigen getan? Das hier war kein normaler Fluss. Auf der anderen Seite der Grenze lag eine bodenlose Höhle mit einem donnernden Wasserfall, genannt die Teufelsschlucht. Dort, so hieß es, sei Orpheus in die Unterwelt hinabgestiegen. Nichts, was hineingeht, kommt jemals wieder heraus, inklusive der letzten Höhlenforscher, ein Mann und eine Frau, die in den 1970er Jahren dort verschwanden. Sogar Orpheus, das einzige Lebewesen, das aus dem chthonischen Reich wiederkehrte, wurde schließlich von den rasenden Mänaden zerfleischt; seinen Kopf warfen sie in den Hebrus, der über 480 Kilometer weit fließt, bevor er zur Ägäis wird. Sein Verbrechen? Er hatte am Ende seines Lebens die Seiten gewechselt und zwei gefährliche Grenzen überquert: von Dionysos, seinem früheren Mentor, dem Gott der nächtlichen Mysterien, zum Sonnengott Apollo und von der Liebe zu Frauen zur Liebe zu Männern. Grenzlinien zu überschreiten ist nicht einmal für Götter sicher, ganz zu schweigen von menschlichen Wesen.

Etwas weiter flussabwärts traf ich auf eine Frau und zwei Männer, die ein kleines Boot mit Brotlaiben beluden. Dutzenden Brotlaiben. Sie hatten lange Haare und Gesichter, die froh waren über irgendetwas. Mein Schreck löste sich in Bezauberung auf. Sie luden mich ein, mit ihnen den Fluss zu überqueren. Und dort, auf der anderen Seite …

Aber das ist für später.

Was ist eine Grenze, wenn die Definitionen aus den Lexika nicht ausreichen? Es ist etwas, was man, ohne es zu wissen, in sich trägt, bis man an einen Ort wie diesen kommt. Du rufst in eine Schlucht hinein, deren eine Seite in der Sonne liegt, die andere im Dämmer, und das Echo vervielfältigt deinen Wunsch, verzerrt deine Stimme, führt sie fort in ein fernes Land, wo du einmal gewesen sein magst.

 

 

Teil eins

STERNHELLES STRANDSCHA

 

 

Auch du wirst fortlaufen, sagte der Hirte.

Und wenn ich bleibe?

Wenn du bleibst … Ich geb dir einen Monat. Siehst du die Eiche dort?

Dort wirst du dich erhängen.

 

Georgi Markow, Die Frauen von Warschau

 

 

– Via Pontica –

 

Auf dem Land war sie einst eine Römerstraße, die Donau und Bosporus verband. In der Luft ist sie immer noch eine Migrationsroute für Vögel. Die Via Pontica hat ihren Namen vom Schwarzen Meer, dessen Name einst Pontus Euxinus lautete, das gastliche Meer. Allerdings hieß es, bevor Griechen aus Milet daran siedelten, Pontus Axinus, das unwirtliche Meer, denn es war tückisch zu befahren, und die Ufer waren von Piraten und Barbaren (sprich: Nichtgriechen) bevölkert. Ovid verbrachte sein Exil am Westufer dieses Meeres, verfasste seine »Tristia« und tat sich selber leid unter den Geten, einem thrakischen Stamm von Barbaren (sprich: Nichtrömern).

 

Hier am frostigen Ufer des Euxinus verweile ich.

Axinus ist sein Name, wie die weisen Alten sagen.

 

Der arme Ovid, zu würdevoll, um zu genießen. Seit seiner Zeit sind Barbaren und Zivilisationen gekommen und gegangen, einige sind geblieben, aber etwas Pontisches hat sich nicht geändert. Wenn man an die südwestlichen Strände des Schwarzen Meeres kommt, wo sich Bulgarien und die Türkei im Wasser eine unsichtbare Grenze teilen, wo die Schiffe zwischen dem Bosporus und Odessa hin und her gleiten, kann man an einem einzigen Septembertag immer noch den Himmel von fünfzigtausend Störchen verdunkelt sehen, die nach Afrika unterwegs sind.

Aber damals war es noch Sommer.

 

 

DIE ROTE RIVIERA

 

Sommer 1984, die südlichen Strände Bulgariens. Alle Vögel waren schon da, auch die Urlauber: solche, die wie wir aussahen, und die exotischen mit ihrem prächtigen Gefieder, ihren bunten Strandtüchern und ihrer Aura sexueller Freizügigkeit. Das Einzige, was den heißen Himmel verdunkelte, waren die räuberischen Möwen, die sich auf die kleinen Plastikbehälter mit salzigen frittierten Sprotten stürzten, die wir alle mampften.

Ich sah auf von den sandigen Seiten meines Buches, geschrieben von dem spannenden amerikanischen Schriftsteller Jack London, dessen Held Martin Eden sich ertränkt, weil es in der kapitalistischen Welt ohne jede moralische Bedeutung ist, ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein. Mein Lieblingsbuch von ihm war »Der Ruf der Wildnis«, ein Abenteuer, das fehlschlägt – aber was für ein Abenteuer! Ich sehnte mich nach einem Abenteuer, gleich welcher Art. Wenn man an diesem Strand zu schwimmen begann und immer weiter südwärts schwamm, wie mein Vater, der stundenlang im Meer verschwand, vorbei an den Schwärmen riesiger Quallen, vorbei am Campingplatz und dem wegen seiner Nudisten und Künstlertypen, nicht wegen zahmer Familien, wie wir eine waren, berühmten Strand, dann landete man in der Türkei.

Obwohl die Türkei auf derselben Seite des Schwarzen Meeres lag, befand sie sich auf der anderen Seite der Grenze, und Dinge, die das Wort Grenze, graniza, enthielten – sogar der Klang war schartig, wie das gra-gra der Möwen –, mied man am besten, das wusste sogar ich. Zum Beispiel bedeutete ins Ausland zu reisen »über die Grenze« zu gehen, also jenseits der Grenzen des Erlaubten, von wo es keine Wiederkehr gab. Tatsächlich wurden diejenigen, die fortgingen und nicht mehr wiederkehrten, Nicht-Rückkehrer genannt. Sie wurden in Abwesenheit verurteilt, und an ihrer Stelle hatten ihre Familien zu leiden. Die einzige solche Person, von der ich wusste, war der Mann meiner Klavierlehrerin, den ich nie kennengelernt hatte – er war jenseits der Grenzen des Erlaubten. Er war einer der Hunderten bulgarischen Musiker, die zu Konzerten ins Ausland fuhren und zu Nicht-Rückkehrern wurden. Der Preis, den sie bezahlten, bestand darin, ihre Heimat vielleicht nie mehr wiederzusehen.

Während es einem langsam dämmerte, warum die Grenze existierte (damit Leute wie wir nicht fortgehen konnten), entwickelte man langsam eine Art innerliches Grenzgefühl, wie eine Magenverstimmung. Ich war in diesem Sommer zehn Jahre alt, alt genug, um von Leidenschaft geschüttelt zu werden. Das Objekt meiner Begierde war ein älterer blonder Junge, auf Urlaub mit seinen Eltern. Wir waren aus Sofia gekommen, sie aus Berlin, und für zwei Wochen voller köstlicher Qual belauerten wir einander von unseren Badetüchern aus, umgeben von einem Hauch von Niveacreme und präpubertärer Sehnsucht. Aber der Mangel an Erfahrung wurde deutlich, und wenn er in der Schlange um Eiscreme hinter mir stand, groß und golden wie ein Apoll, vergaß ich jedes Wort Russisch – unsere gemeinsame Sprache –, das ich in der Schule gelernt hatte. Als seine Familie abreiste, weinte ich einen Tag lang. Wir waren doch so offenkundig füreinander bestimmt gewesen.

Was niemand von uns wissen konnte: Am Strand wimmelte es von spähenden Augen. Am stärksten konzentriert und in der prachtvollsten Umgebung im nahe gelegenen legendären Internationalen Jugendzentrum, wo dreißig Jahre lang die Hautevolee der Ostblock-Jugend zum Feiern hinkam und bei Schönheitswettbewerben, Neptunfesten und Musikabenden am Strand herumstolzierte. Das waren keine gewöhnlichen Strände. Das war die Rote Riviera, in den väterlichen Worten Chruschtschows das Schaufenster des kommunistischen Blocks; er war überzeugt, dass »die Freundschaft der Bulgaren zu uns besonders innig« sei. Hierher kamen Ost- und Westdeutsche, Norweger, Schweden, Ungarn, Polen und Tschechoslowaken, um sich am Goldstrand und Sonnenstrand, die in den 1960er Jahren entstanden waren und bald zur einträglichsten Einkommensquelle für den Staat wurden, zu vergnügen. Denn dies war totalitärer Tourismus, und alles hier gehörte dem Staat, sogar der Sand. Wir wohnten in einem illegal gemieteten Zimmer im Haus eines Einheimischen – illegal, weil nur staatliche Hotels reguläre Geschäfte tätigen konnten. Unser verschlafener Küstenort hieß Mitschurin, nach dem russischen Biologen, der das Saatgut revolutioniert hatte. In Mitschurin mit seinem Mittelmeerklima wurde ein durchgeknalltes landwirtschaftliches Experiment im Sowjetstil durchgeführt, bei dem Wissenschaftler versuchten, Eukalyptus und Gummibäume, Teepflanzen und Mandarinen zu züchten. Nun, das fruchtbare Land brachte bereits Walnüsse und Mandeln, Feigen und Weinreben hervor, aber es ging darum zu beweisen, dass der entwickelte Sozialismus alles kontrollieren konnte, vom Lauf der Geschichte bis zum Verhalten von Mikroorganismen.

Es war ein Ort, an dem jeder zweite Barkeeper im Dienst der bulgarischen Staatssicherheit stand, während eine speziell geschulte »Operationsgruppe« von KGB-, tschechischen und Stasi-Agenten, als Urlauber verkleidet, ein Auge auf die Hedonisten hatte. Bei den Einheimischen waren die Ostdeutschen als »Sandalen« bekannt, da sie sich in ihren Sandalen und in Strandkleidung nachts vom Strand und in den dunklen Wald der gra-gra-graniza davonzustehlen pflegten, deren Name Strandscha lautete.

Wer sich nicht für den Wald entschied, wandte sich zur Küste; in Taucheranzügen, mit Schlauchbooten und Luftmatratzen paddelten sie südwärts in Richtung der so nahe scheinenden türkischen Küste, bis sie ins Meer hinausgetrieben wurden. Auf der anderen Seite des gezeitenlosen Schwarzen Meeres mit seinen neunzig Prozent anoxidem Wasser unter der sauerstoffführenden oberen Schicht lag die Sowjetunion.

Ich vermisste meinen deutschen Schwarm, ohne zu ahnen, dass mein Sehnen von anderen Körpern am Strand, ebenfalls auf der Suche nach Partnern, repliziert wurde – für Abenteuer einer Nacht, für Handel, Geldwechsel, Ehe. Für eine Möglichkeit, die Grenze zu überqueren. Seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren war die Rote Riviera ein Menschenmarkt gewesen, wo das Bestgebot nicht für Liebe abgegeben wurde, sondern für Freiheit. Und der höchste Preis, den man entrichten konnte, war das Leben. Viele taten das.

Es war ein langer Weg vom Strand zur türkischen Grenze, und dieser Weg führte durch die bewaldeten Hügel von Strandscha, die einen mitternächtlichen Schatten über die sonnigen Badeorte warfen. Über Strandscha wussten wir bloß, dass es voller Bäche, Rhododendren und Reptilien war und dass in seinen Dörfern Feuerriten heimisch waren, bei denen die Leute auf glühenden Kohlen gingen. Verwirrenderweise war die Ausübung dieses Rituals vom Staat verboten – außer an offiziellen Orten wie dem Internationalen Jugendzentrum, wo die Feuergeher staatlich approbiert waren, ebenso wie die Tanzbären an Ketten, die dorthin gebracht wurden, um die Besucher zu unterhalten; das waren offizielle Bären. Wollte man Strandscha besuchen, benötigte man eine behördliche Genehmigung vom Innenministerium. In anderen Worten: Man durfte nicht hin.

»Warum dürfen wir nicht nach Strandscha?«, fragte ich, als der deutsche Junge fort war und die Eiscreme ihren Geschmack verloren hatte.

»Wir haben dort nichts zu suchen«, sagte mein Vater.

»Der Wald ist voller Soldaten«, sagte meine Mutter.

Es gab eine Wand aus stromführendem Stacheldraht, so lang wie die Grenze. Wer den Wald betrat, konnte das für ihn bestimmte Warnsignal in den zwei Sprachen der Verzweiflung lesen:

 

ВНИМАНИ ГРАНИЧНА ЗОНА!

ACHTUNG GRENZZONE!

 

War man aber weit genug gegangen, um dieses Schild zu lesen, nach Tagen und Nächten im Reptilienwald, weshalb hätte man dann umkehren sollen?

Wenn Unschuld das Gefühl ist, die Welt sei ein sicherer und gerechter Ort, dann begann ich in jenem Sommer die meine zu verlieren. Warum durften wir nicht der deutschen Familie nach Berlin nachreisen? Warum durften wir – oder, wenn wir schon dabei waren, die deutsche Familie – nicht in die Türkei fahren, die bloß ein Stück weiter küstenabwärts lag? Warum musste ein Deutscher in einem Heißluftballon über die Grenze fliegen, wie man munkelte, außer es stimmte wirklich? Weil wir in einem Freiluftgefängnis lebten. Ein Gefühl melancholischer Revolte begann aufzukeimen.

Sechs Jahre später mussten die »Sandalen« nicht so weit fahren, um zu entkommen, denn die Berliner Mauer war gefallen. Unsere Familie überquerte die Grenze – wenn auch nicht diese, sondern irgendeine andere imaginäre Grenze über dem Pazifik, auf dem Weg zu einem neuen Leben in Neuseeland, einem Ort, der von Stränden anderer Art geprägt war.

 

Es war neuerlich Sommer, als ich dreißig Jahre später wiederkam.

Am Flughafen in Burgas säumten Weingärten die Landebahnen, die Luft roch nach Benzin und baldigem Sex. Ich war mit einem Urlaubscharterflug aus Edinburgh gekommen, das Flugzeug war voller tätowierter Männer und Frauen mit grellem Lachen und Make-up. In Gesellschaft schwitzender, aufgeregter Russen, junger Skandinavier, pickelig vor Hormonen, blasshäutiger Familien aus anderen nördlichen Breiten betrat ich bulgarischen Boden. Aus dieser lebhaften Hafenstadt wurden die Konsumententouristen Europas wie Dosenfleisch in die pulsierenden Strandorte von Goldsand und Sonnenstrand verschickt. Meine Rote Riviera war zu einem heiteren Inferno des globalen Kapitalismus geworden.

Ich nahm einen Mietwagen und fuhr vorbei an den vielfarbigen Salzseen des Golfs von Burgas. Die erstickten Schreie von Pelikanen, Kormoranen und Eisvögeln, der Geruch nach reifenden Feigen, nach sandigem, lüsternem Niveasommer, die Kräne am Hafen, die Riesenschiffe wie bewegungslose Städte. Hier begannen die dunklen Berge von Strandscha.

Ich nahm die ruhige Uferstraße, die ich zuletzt vor dreißig Jahren aus dem Fond des Familien-Skoda gesehen hatte. Bevor die Straße sich landeinwärts wandte, blieb ich in der letzten Küstenstadt stehen: dem verschlafenen Mitschurin meiner Kindheit. Aber es hatte seinen alten Namen Zarewo wieder angenommen, und einen Moment lang konnte ich es auf der Karte nicht finden, denn für mich bleibt es für immer Mitschurin. Die Versuche, Eukalyptus und Gummibäume anzubauen, waren lange vorüber, man war wieder bei den einheimischen Feigen und Weinreben, Mandeln und Walnüssen gelandet. An der Straße in die Stadt saßen kurzbehoste Männer und Frauen auf Hockern und hielten handgeschriebene Tafeln: »Zimmer zu vermieten«. In den Tagen der Roten Riviera hätten sie als »Freibeuter« festgenommen werden können.

Am Hafen aß ich einen Teller gegrillte Sprotten. Kinder hüpften kreischend ins Wasser, und alles schmeckte nach Tränen. Aber ich war wegen des lange verbotenen Strandscha gekommen, nicht wegen des Meeres. Ich riss mich zusammen und fuhr weiter.

Strandscha: Man wusste, dass man drinnen war, wenn der Verkehr plötzlich aufhörte und der Wald einen umfing. Die Straße wurde löchrig und in Dschungelgrün gehüllt, das Grün war voller moosiger Lagunen und megalithischer Steinheiligtümer, die einst dionysischen Kulten gedient hatten. Die einzigen Verkehrsteilnehmer, die ich sah, waren ein Zigeunerpaar, das sich auf einem Pferdekarren vorbeizwängte und strahlend goldzahnlächelte, als sei alles gut.

Vier schwarze sattellose Pferde trotteten vor mir her und begannen zu galoppieren, als sie den Motor hörten. Sie trennten sich, um meinen Wagen durchzulassen, und schlossen sich hinter mir zusammen wie in einem Stummfilm.

Mein Ziel war ein Grenzdorf in einem Tal, wo ich einige Zeit verbringen und die Gegend erkunden wollte. Verwirrt vom unübersichtlichen Straßennetz und schief stehenden Wegweisern, die in die Wildnis zeigten, verirrte ich mich. Als ich auf der verlassenen Straße anhielt, um im Kofferraum eine Wasserflasche zu suchen, hörte ich das Knacken von Zweigen und ging nachschauen – immer eine schlechte Idee. Im Wald spürte ich, wie von allen Seiten etwas näher rückte. Mückenartige Fliegen krochen mir in Nase und Mund, und als ich zum Auto zurücklief, trat ich beinahe in ein Nest mit quicklebendigen Kreuzottern. Mit klammen Händen fuhr ich weiter.

Unter der Bergstraße öffneten sich weite, nackte Ausblicke, wie ein Schlag, der einen taumeln lässt. Schwindelweiten aus Samt, eine gefaltete Welt, als müsse man hineinspringen, um auf der anderen Seite eines Abgrunds wieder aufzutauchen.

 

 

– Strandscha –

 

Die letzte Gebirgskette Südosteuropas. Fläche: 10.000 Quadratkilometer. Alter: 300 Millionen Jahre. Sie beginnt im Osten am Schwarzen Meer und läuft in den thrakischen Ebenen im Westen aus. Sie wurde nach und nach durch das Zusammentreffen und Auseinanderdriften der eurasischen Platten gebildet, deren letztes drastisches Ergebnis der Bosporus ist. Die Flusstäler des Strandscha werden durch das kontinuierliche Absinken der Küste des Schwarzen Meeres gebildet. Obwohl der höchste Gipfel des Strandscha nur 1031 Meter hoch ist, fühlt man sich dort oben den Sternen nahe, zu nahe. Auf der türkischen Seite nennt man das Gebirge Yildiz, das Sternenbesetzte.

Da Strandscha die letzte Eiszeit nicht mitmachte, haben sich in diesem Habitat Pflanzen aus dem Tertiär erhalten, ein veritables Freiluftmuseum für Reliktpflanzen, darunter der gute alte Rhododendron ponticum, der in anderen Teilen der Welt angepflanzt wird, hier aber seit dem Tertiär ununterbrochen heimisch ist. Mehr als zwanzig Reptilienarten vermehren sich in diesem ornithologischen, herpetischen und Säugetier-Himmel, wo eines sicher ist: Obwohl Menschen selten sind, ist man im Wald nie allein.

In Strandscha gibt es immer noch megalithische Kultstätten und andere geheimnisvolle Orte der alten Thraker, die schriftlose Spuren ihrer Existenz hinterlassen haben. Ihre wenigen schriftlichen Hinterlassenschaften waren rätselhaft, etwa diese freundliche Inschrift auf einem Stein aus dem 2. Jahrhundert vor Christus, auf Griechisch: »Fremder, der du hierher kommst, möge es dir gut ergehen!« Für die alten Griechen hingegen waren es die Thraker, welche die Fremden waren – »dort am Ende des Heeres sind neu ankommende Thraker«, schrieb Homer in der »Ilias« –, wenn man Stämme, die um 4000 vor Christus in diesen Ländern bereits fest ansässig waren, als Neuankömmlinge bezeichnen kann. Sie wurden allerdings erst um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus eine ethnisch zusammenhängende Population. Homer erwähnte als Erster die Thraker und schrieb von ihrem König Rhesus, dessen Heere neben den Griechen im griechisch-trojanischen Krieg auftauchten, mit seinen schneeweißen Pferden, »im Lauf so schnell wie eilende Winde«, und seinen Waffen aus Gold und Silber: »Fürwahr, nicht sterblichem Manne gebührt es, solche zu tragen, sie sind bestimmt für ewige Götter.«

Wir kommen zum Gold zurück.

Vor dem 14. Jahrhundert nach Christus, als die türkischen Seldschuken auftauchten, war Strandscha mit einer unklaren Grenze zwischen Bulgarien und Byzanz getüpfelt, und irgendwo in Strandscha lag Paroria, die Klosteranlage des großen Eremiten Gregor vom Sinai. Seine einflussreiche quietistische Philosophie des Hesychasmus vertrat als erste eine Art psychosomatisches Gebet, eine Art ekstatische Meditation. Aber Paroria ist spurlos verschwunden.

Traditionell sprachen die Dörfler in Strandscha Bulgarisch und Griechisch und lebten von der Müllerei, der Holzgewinnung, Köhlerei und vom Bootsbau; die zwei großen Reichtümer der Berge aber waren Gold und Vieh. Im Osmanischen Reich (14. bis 20. Jahrhundert) genoss Strandscha einen Sonderstatus: Es gehörte der Familie des Sultans, war beinahe völlig von Steuern befreit, und es gab keine Siedler von außerhalb. Tatsächlich war die Bevölkerung im Strandscha-Gebirge sehr isoliert. Heute durchschneidet die bulgarisch-türkische Grenze die Gebirgskette. Zählt man alle auf beiden Seiten zusammen, dann leben nur etwa achttausend Menschen in Strandscha.

Nun zum Gold. Die Thraker, die das Zeug sehr liebten, bauten es in Strandscha in großem Stil ab, Schatzjäger und Archäologen graben immer noch erstaunliche Artefakte aus reinem Gold aus. An diesen pontischen Ufern war es, dass 4600 vor Christus ein Leichnam, der den ersten Goldschmuck der Menschheit trug, in einem Gräberfeld (dem Gräberfeld von Warna) bestattet wurde. Uralte Minen zeigen auch umfangreiche Entnahmen von Silber, Kupfer, Eisen und Marmor, besonders im Gefolge des Trojanischen Krieges. Manche meinen, Strandscha sei ein gigantischer Schweizer Käse aus uralten Tunneln und verschlossenen unterirdischen Geheimnissen.

Dass ich solche Fakten über Strandscha kannte, fühlte sich wie ein guter Beginn an – bis ich im Dorf im Tal eintraf.