Über das Buch

Viktor ist vor Jahren nach Österreich gekommen, auf der Flucht vor dem Antisemitismus in Russland. Nun versucht er, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle in einem Durchgangslager in Salzburg zu helfen. Ständig kehrt die Erinnerung an jene Zeit zurück, als er hier selber fremd war. Dazu kommt die Nachricht einer Jugendfreundin: Ihre Tochter, die übrigens auch seine sei, ist verschwunden. Nachforschungen zufolge macht sie sich in Deutschland für die AfD stark — Viktor begibt sich auf die Suche nach ihr. Mit großer Sensibilität erzählt Vladimir Vertlib in diesem teils autobiografischen Roman von großen Worten und kleinen Gesten, von Hass und Liebe und — vielleicht — Versöhnung.

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Vladimir Vertlib

VIKTOR HILFT

Roman

Deuticke

Die Grenze

Man sagt

wir kennen uns

Aber ich kenne

die Anderen nur so

wie man ein Haus kennt

an dessen Toren man vorübergeht

das Leben ahnend

aber nicht begreifend

Die Worte

reichen wir uns

wie Schlüssel

Sie passen nicht

und schließen nichts auf

Gemeinsam horchend

hören wir verschieden

und mit verschiedenem

Geschmack im Mund

mit verschiedenen

Bildern auf der Netzhaut

gehen wir weiter

jeder in seine Richtung

lauthals behauptend

einander zu kennen

Tamar Radzyner

TEIL 1

1

Der Mann beugte sich hinunter zu dem Kind. Das Kind wich aus, machte einen Schritt zurück. Der Mann verzog das Gesicht zu einem bemühten Lächeln, sagte ein paar Worte in der fremden Sprache und streckte die Hand nach dem Kind aus. Die Geste hatte etwas Zaghaftes und Insistierendes zugleich. Der Tonfall der Sprache, den das Kind zu deuten glaubte, obwohl es kein Wort verstand, machte ihm Angst. Der Mann war alt. Alt, traurig und mächtig. Sein Gesicht war rau und dunkel wie der Himmel des fremden Landes, die Haare weiß und schütter, die Augen graugrün wie das brackige Wasser in dem Tümpel hinter dem abbruchreifen, längst nicht mehr bewohnten Haus, das dem Kind als Spielplatz diente. Es schien dem Kind, als schauten diese Augen durch es hindurch, bis zur Wand hinter seinem Rücken oder noch weiter — hinaus auf die Straße, wo die Abgase an der Kreuzung das Licht verdüsterten. Hinter der scheinbaren Freundlichkeit des Mannes erkannte das Kind den Spott, dem es immer öfter ausgesetzt war, jenes ungeduldige Staunen, die Empörung der Erwachsenen, die ihm die Schamröte ins Gesicht trieben. Die dicken Finger mit den eingerissenen Fingernägeln näherten sich dem Kind, die Finger der anderen Hand umklammerten eine Tafel Schokolade. Das Kind wusste, dass es die Schokolade haben könnte, wenn es den Fingern erlauben würde, durch sein Haar zu streichen oder seine Wange zu tätscheln, aber es konnte und wollte sich nicht berühren lassen. Nie wieder würde es sich von Fremden berühren lassen! Man hatte es hierher versetzt, in ein Land, in dem der Himmel senkrecht stand und die Sprache stets wie Hohn in sein Gesicht geschüttet wurde. Seine Mutter wechselte mit dem Mann einige Sätze in der fremden Sprache. Sie sprach sehr langsam, stockend, und ihr Tonfall ließ jene Selbstsicherheit vermissen, die das Kind sonst von ihr kannte. Dann fasste sie das Kind sanft an den Schultern und schob es in Richtung des Mannes.

Viktor hielt dem Kind den geflochtenen Korb mit Süßigkeiten und Keksen hin. Die Augen des Kindes leuchteten auf, doch war es zu scheu, in den Korb zu greifen, und schaute seine Mutter fragend an. Viktor bewegte den Korb sanft nach links und nach rechts, vor und zurück, so als wäre er ein Schiff auf hoher See. Die Frau redete dem Kind zu, nickte, lächelte. Sie war jung, so jung, dass sie Viktors Tochter sein könnte, und hatte denselben Blick wie Jahrzehnte zuvor Viktors Mutter, eine Mischung aus Wehmut, Angespanntheit, Erschöpfung und Resignation, erwartungsvoll und gleichzeitig in sich gekehrt.

Die Menschen im Zelt rochen nach Schweiß, nach Salz und Meer, und Viktor wunderte sich, wie strahlend weiß das Kopftuch der Frau war, wie sie es sauber halten konnte in all den beschwerlichen Tagen, vielleicht Wochen, die sie unterwegs gewesen war.

Schnell streckte das Kind seine dünne Hand aus, holte ein in Zellophan eingewickeltes Ei aus Schokolade aus dem Korb und, nachdem Viktor nicht sofort zur nächsten Frau mit Kind weiterging, noch einen Keks und einen Schokoriegel. Die Mutter erklärte dem Kind etwas, das wie eine Mahnung klang. »Schukran«, flüsterte das Kind und senkte den Blick.

»Thank you, Sir«, sagte die Mutter.

»You’re welcome.«

Jemand in der Runde machte eine scherzhafte Bemerkung, ein paar junge Männer lachten, und Viktor sah, wie die Wangen und Ohrenspitzen des Kindes rot anliefen.

Viktor löste sich aus der Umklammerung seiner Mutter und versteckte sich hinter ihrem Rücken. Wäre er ein oder zwei Jahre jünger gewesen, wäre er vielleicht unter ihren Rock gekrochen, doch er war fünf Jahre alt, er wollte nicht, dass man ihn für ein Kleinkind hielt. Der Mann grinste, zuckte die Schultern, steckte die Schokolade wieder in seine Sakkotasche, ging um den Schreibtisch herum zurück an seinen Platz und öffnete die schwarze Flügelmappe. Viktor wusste, dass der Mann sehr wichtig und die Flügelmappe noch wichtiger war. Längst hatte er verstanden, dass Mappen, vor allem aber die Papierstücke, die sich in den Mappen befanden, mächtiger waren als Menschen, mächtiger sogar als Menschen, die das Papier beschrifteten, bestempelten, unterschrieben, kuvertierten, ablegten oder weiterreichten. Er fragte sich, ob er sich vom bedruckten Papier berühren lassen würde, wenn es Hände hätte.

Raschids Stimme brachte Viktor aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in die Gegenwart zurück. Den ganzen Nachmittag war Raschid in der Tiefgarage der ehemaligen Zollamtsstation gewesen, wo er gemeinsam mit Dari-Dolmetscher Mohammed und einem Unteroffizier namens Kurt die Gruppen — immer etwa zehn bis fünfzehn Personen — zusammengestellt hatte, die über die Grenze nach Deutschland gehen sollten. Nun war Raschid hier oben im Zelt und schäumte vor Wut. Ein Kurde hatte ihn als Tier bezeichnet. Der rothaarige Kurde mit markantem Haarschopf, sommersprossigem Gesicht und himmelblauen Augen war Viktor schon aufgefallen, als er mit den anderen Flüchtlingen aus dem Bus ausgestiegen war. Auch wenn Raschid nicht Kurdisch sprach, glaubte er, die Beleidigung verstanden zu haben, klang doch, laut Raschid, das Wort für Tier im Kurdischen ähnlich wie im Arabischen, und so konnte es nur diese Bedeutung haben, und nur er konnte damit gemeint sein, so verächtlich, wie es ausgesprochen worden war. Die Kopfbewegung, der Tonfall, der Blick seien »deutlich und unmissverständlich« gewesen. Nun hingen Raschids Worte als kehlige Drohung im Raum. Die Kinder verstummten, die Frauen drehten sich weg, und nur die Frau, die Viktor an seine Mutter in ihrer Jugend erinnerte, eine Irakerin, deren weißes Kopftuch mehr entblößte, als es zu verdecken vorgab, schaute kurz auf, musterte Raschid spöttisch und wandte sich wieder dem Kind zu, das auf ihre Knie gekrochen war und sich nun an ihrem Oberarm festklammerte.

Der Kurde ignorierte Raschid. »You are okay, you are really very kind, but this Arab is a bad man«, erklärte er Viktor. »Why don’t you get rid of him?« Die anderen aus der Gruppe schauten konzentriert auf die Displays ihrer Mobiltelefone, auch wenn sie dort wohl kaum etwas Neues entdecken konnten: Es gab kein WLAN im Camp.

Raschid, ein Meter neunzig groß, stand im vorderen Teil des Zeltes, die Hände zu Fäusten geballt und in die Hüften gepresst, und schoss über die Köpfe der Frauen und Kinder hinter der ersten Absperrung ein arabisches Wort nach dem anderen auf die jungen Männer ab, die auf den Bänken hinter der zweiten Absperrung Platz genommen hatten. Viktor musste plötzlich daran denken, dass Raschid auf seiner Facebook-Seite gerne Katzenbilder und rosafarbene Herzen postete.

Um die Situation zu deeskalieren, teilte Viktor nochmals Schokolade und Kekse aus, ging mit dem Korb in den Bereich des Zeltes, wo die jungen Männer saßen. Es hatte schon Schlägereien im Camp gegeben. Das sollte nicht wieder passieren. Der rothaarige Kurde schüttelte den Kopf und drehte sich mit beleidigter Miene weg, die anderen aus seiner Gruppe griffen unwillig zu, versenkten die in Zellophan eingewickelten Schokostücke in ihre Manteltaschen, bedankten sich mürrisch.

Viktor hielt sich keineswegs für eine respektable Persönlichkeit, aber man respektierte ihn, weil seine Haare grau waren und weil er noch um einiges älter aussah als dreiundvierzig. Sogar die jungen Frauen ließen sich von ihm berühren, wenn er ihnen mit einer Sicherheitsschere die Papierbänder, die sie im Camp alte Asfinag, dem viel größeren Transitlager und der ersten Anlaufstation für Flüchtlinge in Salzburg, bekommen hatten, vom rechten Unterarm herunterschnitt. Manchmal fasste er sie am Arm oder krempelte ihre Ärmel hoch. Manche Frauen zuckten zusammen oder verzogen das Gesicht, doch die meisten reagierten gleichmütig. Er war für sie kein Mann, sondern ein Herr — in Würde ergraut und in die Breite gewachsen.

»Don’t get upset«, sagte Viktor leise und schielte Richtung Raschid. »Just wait, in twenty minutes you will cross the border, and you will never see this man again.«

Die jungen Kurden ließen düstere Blicke durch den Raum schweifen, schienen wütend und resigniert zugleich, vor allem aber müde, unendlich müde wie fast alle Menschen, die in dieses Doppelzelt an der Grenze kamen und es durchquerten, indem sie von einem Bereich in den nächsten vorrückten, um schließlich zu Fuß über die kleine Fußgänger- und Fahrradbrücke, die seit Ende September ausschließlich für Flüchtlinge reserviert war, nach Deutschland zu gehen, wo ein weiteres Camp mit Zelten auf sie wartete. »Auslass der Flüchtlinge« wurde dies hier, auf österreichischer Seite, genannt. Die Farben der Papierbänder und die Buchstaben, die mit schwarzem Filzstift auf die Bänder geschrieben waren, regelten die Reihenfolge des Grenzübertritts. Für jeden Buchstaben waren hundert Personen vorgesehen. In eigenen, abgetrennten Bereichen mussten die Hundertergruppen in der Tiefgarage warten, um dort in kleinere Gruppen geteilt und ins Zelt vorgelassen zu werden.

Der Rothaarige winkte Viktor zu sich. Er war Anfang zwanzig, sprach gut Englisch. Seit vielen Tagen werde er von Absperrung zu Absperrung, von Baracke zu Baracke, von Schlafsaal zu Schlafsaal geschoben, ohne dass ihm jemand erkläre, was wirklich vor sich gehe, erzählte er Viktor. Er wisse nicht einmal, wo genau er sich befinde und wie die Orte diesseits und jenseits der Grenze hießen. Er sei aus Syrien geflohen und Tausende Kilometer unterwegs gewesen, um Menschen wie jenem dort (er machte eine schnelle Bewegung des Kopfes in Richtung Raschid) nie mehr begegnen zu müssen, und nun müsse er sich wieder von ihnen demütigen lassen. »They are animals, animals!«, sagte er leise. »Dogs«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

2

Der deutsche Grenzpolizist meldete sich per Funk: »Ihr könnt das nächste Paket schicken.« Raschid hieß die Menschen, die im vordersten Bereich des Zeltes saßen, aufstehen, befahl ihnen, anzutreten, führte sie aus dem Zelt hinaus ins Freie, ließ sie warten.

»One line please!«, sagte Viktor. »One line!« Drei Meter weiter war der erste Gitterzaun mit improvisiertem Tor, dahinter ein Rad- und Fußweg, der am Fluss entlangführte, dann ein weiterer beweglicher Gitterzaun, wie auf Baustellen üblich. »Elf, zwölf, dreizehn«, zählte Viktor. Wo war die vierzehnte Person dieser Gruppe? Er zählte noch einmal. »Ich glaube, einer ist noch auf der Toilette«, meinte Raschid und rief der Gruppe etwas auf Arabisch zu.

»Hakiiim!«, schrie ein junger Mann. »Hakiiim!«

Er solle ihn holen, meinte Viktor. Der junge Mann rannte wieder zurück ins Camp. »Hurry up!«, rief ihm Viktor nach. Der Soldat, der den Eingang zum Zelt bewachte, ließ ihn passieren, und er verschwand um die Ecke, hinter der sich die Toilettencontainer befanden.

Viktor schaute auf die Uhr und nutzte die entstandene Pause dafür, auf das Display seines Smartphones zu schauen, das er aus der Innentasche seines Mantels herausholte, während er das Funkgerät in die Außentasche steckte. Er hatte dreiundzwanzig ungelesene E-Mails — die meisten davon Spams, ein paar unbeantwortete Anrufe von Kerstin, einen Anruf aus dem Büro sowie acht Anrufe von einer unbekannten Nummer. Viktor hob grundsätzlich nicht ab, wenn ihn jemand, den er nicht kannte, anrief und keine Nachricht hinterließ. Die Mailbox war leer, doch im Posteingang befanden sich drei neue SMS.

Die erste lautete: Hallo Viktor! Ich bin Gudrun. Gudrun Seifert. Weißt du noch? Können wir uns treffen? Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.

Wer? Viktor kannte keine Gudrun Seifert.

»Deutschland an Österreich«, meldete sich per Funk wieder der Bundespolizist von der anderen Flussseite. »Bitte kommen.«

»Österreich an Deutschland. Ja?!«

»Wir warten auf das Paket. Wann kommt es an?«

»Dauert noch ein paar Minuten. Ein Flüchtling ist gerade am Klo.«

»Wie viele sind denn noch auf Toilette?« Die Polizistenstimme klang ruhig, professionell, mit einem leicht ironischen Unterton.

»Einer. Soll ich die anderen schon rüberschicken?«

»Nee. Wir warten, bis die Gruppe komplett ist.«

Die Flüchtlinge standen und warteten geduldig. Es regnete heftig. Am Abend würde die Temperatur wahrscheinlich unter den Gefrierpunkt fallen. Es war Dezember und für die Jahreszeit zu warm, für Flüchtlinge mit dünnen Jacken, die immer wieder und oft stundenlang herumstehen und warten mussten, aber trotzdem kalt. Vom Fluss zog Nebel herauf, hüllte die fünf Zelte des deutschen Camps am anderen Ufer ein, sodass man im Zwielicht nur mehr schemenhaft ihre Konturen und die Wipfel der Bäume erkennen konnte. Eine Aulandschaft trennte den Fluss von der bayerischen Kleinstadt Freilassing, wo sich ein Camp in einem ehemaligen Möbelhaus befand, in dem die Flüchtlinge ein weiteres Mal bebändert werden würden. Das wussten sie noch nicht, wussten nicht, wie viele Transporte, Registrierungen, Einvernahmen und Notquartiere ihnen noch bevorstanden, glaubten, fast am Ziel zu sein. Neben dem Eingang zum Zelt hing ein Plakat: Freilassing 100 m, Munich 125 km, Berlin 600 km, Syria 2700 km, Stockholm 2200 km, Kabul 5000 km, Teheran 3500 km. Ein kurzer Fußweg über eine schmale Brücke — dann waren sie im Land ihrer Träume, in »Germany«.

Viktor erinnerte sich an einen jungen Syrer, der geglaubt hatte, in Österreich werde Holländisch gesprochen. Aber er hatte gewusst, dass sich Österreich für die Endrunde der Fußball-Europameisterschaft qualifiziert hatte, und kannte David Alaba.

Die zweite SMS lautete: Erinnerst du dich? Sommer 1991. Lieber Viktor, ich bin deine Gudrun. Seifert. So hieß ich damals. Geh bitte, bitte ans Telefon, wenn ich anrufe!

Gudrun? Sommer 1991? Viktor versuchte, sich daran zu erinnern, was er vor vierundzwanzigeinhalb Jahren getan und wem er damals begegnet war. Er brauchte einige Zeit, bis es ihm einfiel. Ach ja!?, war seine erste Reaktion. Oje!, seine zweite.

Viktor öffnete das erste Tor und ließ die Gruppe bis zum zweiten Gitter vorrücken — die Menschen folgten seinen Anweisungen, still, gehorsam, ohne Fragen zu stellen. Der Regen nieselte auf ihre Haare, Kapuzen und Kopftücher. Die Kinder hatten gelernt, still zu warten. Sogar die Babys hatten aufgehört zu schreien. Manche stellten ihre Rucksäcke und Taschen auf den nassen Asphalt, manche umklammerten sie krampfhaft; viel Gepäck hatten sie ohnehin nicht. Ein korpulenter Mann um die dreißig band sich einen Schal um, räusperte sich, spuckte aus, zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten, so stark, dass ihm das Feuerzeug zweimal aus der Hand fiel. Die Flüchtlinge befanden sich schon außerhalb des Camps, versperrten einen Radweg. Kein Soldat durfte sie hierher begleiten, weil die Stadt Salzburg, die für Transitflüchtlinge zuständig war, darauf bestand, dass Bebänderung und Auslass nicht von Polizisten oder Soldaten, sondern nur von Freiwilligen durchgeführt wurden, auf dass die deutschen Behörden nicht auf die Idee kämen, die Flüchtlinge nach Österreich zurückzuschicken, damit sie dort ihre Asylanträge stellten. Nichts, was an dieser EU-Binnengrenze geschah, sollte einen offiziellen Charakter haben. Die Bebänderung durfte nicht wie eine Registrierung aussehen, der Transport der Flüchtlinge von Grenze zu Grenze, von Camp zu Camp nicht als Weitertransport ins Ausland, sondern als Binnentransport, und der Auslass war, trotz Abfertigungsbereich, keine Grenzabfertigung, weil es die Grenze eigentlich nicht mehr gab.

Viktor fragte sich oft, was geschehen würde, wenn die Flüchtlinge einfach weggehen, in diesem Grenzgebiet im Gebüsch am Flussufer oder in einer der Seitengassen verschwinden oder die Brücke überqueren würden, ohne auf den Auslass zu warten. Viktor konnte und durfte niemanden auf- oder gar festhalten, doch er trug eine Warnjacke und einen Ausweis, und beschriftetes Papier war auch in Zeiten des Internets und der postfaktischen globalen Vernetzung weiterhin mächtig.

Viktors Ausweis war an seine orangefarbene Warnweste geheftet — es war nichts weiter als ein Stück Karton in einer Schutzhülle, auf dem sein Vorname stand. Zweieinhalb Monate zuvor hatte sich Viktor in der Einsatzzentrale des Camps im ehemaligen Zollamtsgebäude angemeldet, hatte seinen Namen und seine Adresse genannt (niemand überprüfte die Angaben, niemanden interessierte, wer er wirklich war, er hätte behaupten können, er heiße Dagobert Duck und wohne in Entenhausen), hatte eine Erklärung unterschrieben.

Die Dame am Schreibtisch malte mit rotem Filzstift das Wort Viktor auf ein weißes Stück Karton, das sie in eine Hülle steckte und ihm aushändigte, ohne zu ihm aufzuschauen. Er heftete den Ausweis an seine Jacke, ging hinaus, sah sich um. Einige Flüchtlinge gingen auf ihn zu, wollten von ihm etwas erfahren, worauf er ihnen keine Antwort geben konnte. Eine freiwillige Helferin, die er anhielt, als sie aus der Tiefgarage zum Zelt hastete, erklärte ihm in wenigen Sätzen die Abläufe, eine andere, die vorbeikam, noch beiläufiger, was er als Nächstes zu tun hatte. Zehn Minuten später wies Viktor zwanzig Männer sowie einige Frauen und Kinder an, sie mögen sich setzen, aufstehen, ihm folgen, sich wieder hinsetzen, aufstehen, Schlange stehen. Alle taten, was er von ihnen verlangte. Alle folgten seinen ungeschickten, manches Mal widersprüchlichen oder auch ganz und gar unsinnigen Anweisungen. Viktor war erleichtert, als er merkte, dass ihm dieser Umstand keine Freude bereitete.

In der dritten SMS stand: Ich bin verzweifelt. Du musst mir helfen! Du bist der Einzige, der mir noch helfen kann! Wir müssen uns treffen. Ich komme heute nach Salzburg. Bitte, bitte ruf mich an.

Hakim war außer Atem, und der Freund, der die Toilettencontainer nach ihm abgesucht hatte, noch mehr. Hakim, ein kleiner, korpulenter Mann, der eine Jacke trug, die ihm zu klein war und sich deshalb nicht zuknöpfen ließ, grinste verlegen, entschuldigte sich, holte seine Reisetasche aus dem Zelt und reihte sich am hinteren Ende der Schlange ein. Raschid öffnete das Schiebetor. Der Weg auf die Brücke war frei. »Good bye and good luck!«, sagte Viktor und bemühte sich, seiner Stimme einen hellen und fröhlichen Klang zu verleihen. Die meisten Flüchtlinge bedankten sich, als sie an ihm vorbeigingen. Die Irakerin mit dem schneeweißen Kopftuch lächelte ihm zu. Sie hatte ihren Sohn hochgehoben und hastete den anderen hinterher.

Als Viktor das Tor geschlossen hatte und ins Zelt zurückgekommen war, wo Raschid gerade die Zahl vierzehn und die Uhrzeit in eine Liste eintrug und danach den Knopf der Zählmaschine vierzehnmal drückte, las er die SMS noch einmal und stellte fest, dass inzwischen eine vierte angekommen war: Alles, was geschieht, geschieht mit Recht. Es ist nichts umsonst. Ich erkläre dir alles! Melde dich!

Was zum Henker ...?

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Raschid. »Ist dir nicht wohl? Setz dich kurz hin.«

»Was war das für eine Geschichte zwischen dir und dem Kurden?«, fragte Viktor und klappte das Mobiltelefon zu.

Raschid zog die Kapuze über den Kopf, um ihn vor dem Regen zu schützen, der allerdings plötzlich nachgelassen hatte, setzte sich auf die Bank, die zwischen der Zeltwand und dem Gitter stand, nachdem er sie sorgfältig mit einem Tuch abgewischt hatte, und zündete sich eine Zigarette an, machte einen tiefen Zug, zog ein zweites, ein drittes Mal daran und sagte mit gepresster Stimme: »Ich kenne diesen Menschenschlag. Ich bin stolz auf meine Herkunft, aber ich kenne meine Leute. Ihr Leben lang wurden sie herumgeschubst, wurden wie der letzte Dreck behandelt, waren ganz klein, und wenn sie protestierten ...« Er drückte seinen Daumen gegen das Holz der Bank und machte eine Drehbewegung mit der Hand. »Und wenn jemand gar nicht parierte ...« Er warf die Zigarette auf den Asphalt und schlug mit der rechten Faust heftig gegen seine linke Handfläche. »Jetzt kommen sie her und werden das erste Mal menschlich und nicht wie in ihren Heimatländern, in der Türkei oder den Lagern auf dem Balkan wie Fußabstreifer behandelt, auch wenn das hier nur ein Transitcamp ist.«

»In dem sie glücklicherweise meist nur wenige Stunden bleiben müssen«, sagte Viktor, der sich nicht hinsetzen wollte, sondern stattdessen auf dem nur wenige Quadratmeter großen, mit Kippen übersäten Vorplatz zwischen Zelt und Gitterzaun auf und ab ging.

»Kaum sind sie hier und merken, dass man freundlich zu ihnen ist, werden manche von ihnen sofort schamlos, frech und fordernd und glauben, sie können sich alles erlauben.«

»Das kenne ich«, sagte Viktor. »Migranten aus Russland, der Ukraine oder anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion verhalten sich manchmal genauso.«

»Russen, Araber, Österreicher, wir sind alle in erster Linie Menschen, Gott hat uns alle gleich geschaffen.« Viktor seufzte. Das war einer jener typischen Raschid-Sätze, die man auf seiner Facebook-Seite zu lesen bekam. Trotzdem hatte er ihm nach all den gemeinsamen Hilfsdiensten, die sie im Camp gemacht, und einigen persönlichen Gesprächen, die sie geführt hatten, nie erzählt, dass er Jude war, so wie er das bis jetzt auch keinem Flüchtling und keinem der anderen Dolmetscher verraten hatte. Oft erwähnte er zwar, dass er selbst Migrant gewesen sei und aus der Sowjetunion stamme, dass seine Muttersprache Russisch sei und seine Geburtsstadt, Lemberg, heute in der Ukraine liege. Das Verschweigen dessen, was für ihn selbst von fundamentaler Wichtigkeit war und worüber er anderenorts seit Jahren offen zu sprechen vermochte, ließ ihn in seinen eigenen Augen schwach, manchmal sogar erbärmlich erscheinen. War es Angst? Selbstschutz? War er das Opfer seiner eigenen Vorurteile? Und wenn, sollte er sich dessen wirklich schämen, wenn er die Bürde seiner eigenen Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle auf sich nahm und seine Freizeit regelmäßig in diesem Camp verbrachte?

»Du weißt, warum ich hier bin«, sagte Raschid. »Ich möchte Österreich etwas zurückgeben. Als ich als ganz junger Mensch hierherkam, hat man mich gut aufgenommen. Ich habe Fremdenfeindlichkeit erlebt, aber es gab Leute, die mich unterstützten, ich erhielt eine Ausbildung, fand Arbeit, habe seit einigen Jahren die Staatsbürgerschaft. Jetzt, während dieser Krise, möchte ich mich revanchieren, und ich werde dafür sorgen, dass die Leute, die heute hierherkommen, sich ordentlich benehmen. Ich werde ihnen Respekt beibringen. Ich bin stolz, Österreicher zu sein!«

Auf Raschids Facebook-Profil waren eine österreichische Fahne und die große Moschee in Wien abgebildet. Neben Koransuren und Free-Palestine!-Aufrufen hatte er einige Tage zuvor Rainhard Fendrichs Lied I am from Austria gepostet.

»Wie gesagt: Manche kommen hier an«, sprach Raschid weiter, »und kaum füttert man sie nur ein bisschen mit Zuneigung und Verständnis, gleich werden sie zu Tieren. Sie haben keinen Respekt, bellen und beißen. Mein Hund hat mehr Respekt. Aber manche Menschen sind schamlos.«

»Auch der Kurde?«

»Weißt du, ich bin vor zwanzig Jahren ausgewandert, um solchen Leuten wie diesem Kurden nicht mehr begegnen zu müssen. Jetzt komme ich jeden dritten Tag hierher, manchmal auch öfter, und treffe genau solche Leute wieder. Ich habe mich wieder so zu Hause gefühlt, als er mich als Tier bezeichnet hat, so als wäre ich immer noch in diesem beschissenen Slum in Alexandria, in dem ich aufgewachsen bin.«

»Was hat er denn getan, der Kurde?«

»Frag ihn doch selbst!«

3

Während die kurdische Gruppe über die Grenze ging, erhielt Viktor eine weitere SMS: Kommst du um 20 Uhr ins Café Bazar? Nur wenige Augenblicke später las er: Ich warte auf dich! Es ist wirklich, wirklich wichtig! Bitte!!!

Viktor schob das Handy wieder in eine Innentasche seines Mantels und schüttelte dem Rothaarigen, der ihm erklärte, er werde Österreich gut in Erinnerung behalten und irgendwann als Tourist zurückkommen, zum Abschied die Hand. Der Kurde schaute sehnsüchtig auf die Zelte am anderen Flussufer. In einem davon würde man ihn befragen, erstregistrieren und perlustrieren: Er würde sich anstellen, warten, viele Fragen beantworten und sich völlig nackt ausziehen müssen. »I’m so happy to go to Germany!«, verkündete er euphorisch.

»I wish you all the best!«

»Can I go to Munich? I would like to live in Munich. I have there cousin and uncle of my brother-in-law and best friend of brother-in-law, and my cousin has family with four children, three daughters and one son. Will they give me flat?«

»No«, sagte Viktor. »You won’t get a flat, and you can’t choose your place of living. Good bye and good luck.«

Er schloss den Drahtzaun, der den Weg auf die Brücke freigab und wieder versperrte, versuchte, seine Erinnerungen wegzuwischen, bemühte sich erfolglos, nicht an die SMS zu denken, die er bekommen hatte. Er dachte an Gudrun, sogleich aber wieder an das Kind, das vor sehr vielen Jahren im Büro des mächtigen alten Mannes gesessen war und das Kinn auf den Schreibtisch gelegt hatte, die behaarte, mit hellbraunen Flecken überzogene, Papiere unterschreibende, Stempel schwingende Hand vor Augen, eine Hand mit tiefen, halbmondförmigen Falten rund um die Fingergelenke, die rötlichblass waren, so als hätte man sie geschrubbt, und diesen gelblichen, ekelerregenden Fingernägeln, die dem Kind sofort aufgefallen waren, kaum dass es sich dem Mann das erste Mal genähert hatte. Während die Hand die Papiere beiseiteschob und eine Flügelmappe zuklappte, wurde die Stimme des Mannes sanfter und dennoch auf eine seltsame Weise unangenehmer, fordernder, und seine breite Hand bewegte sich langsam auf die viel schmalere Hand der Mutter des Kindes zu, bis sie diese berührte.

Es war dunkel geworden. In den Zelten auf der anderen Seite des Flusses brannte Licht. Die Dunkelheit und der Nebel hatten sie scheinbar in die Ferne gerückt, so als wären sie weit weg und winzig klein und würden einige Meter über der Erde schweben: leuchtende Fenster, Konturen im Zwielicht, und rundherum nur Dunkelheit, der Wind, den man pfeifen hörte, und das Rauschen des Grenzflusses. Russische Märchen fielen Viktor ein, die ihm vor vielen Jahren seine Mutter vorgelesen hatte. Er dachte an die Hexe Baba Jaga und ihr Häuschen, das auf Hühnerfüßen mitten im Wald steht und sich fortbewegt, wenn man ihm als ungebetener Gast zu nahe kommt.

Wenn die Flüchtlinge in der Nacht über die Brücke gingen, hatte man den Eindruck, sie würden, sobald sie den Lichtkegel der Straßenlaterne verlassen hatten, im Nichts verschwinden, und es drängte sich Viktor zum wiederholten Male die Frage auf, was er hier eigentlich machte, warum all diese Menschen nicht in Istanbul in den Zug oder in ein Flugzeug steigen konnten, um bequem und ohne Zwischenstopps nach Deutschland zu kommen, wenn sie schon nach Deutschland einreisen durften. Stattdessen mussten sie stundenlang in der Tiefgarage eines heruntergekommenen Zollamtsgebäudes, draußen in der Kälte und in einem Doppelzelt warten, um zu Fuß eine Grenze zu überqueren, die mehr als fünfzehn Jahre lang nicht mehr bewacht worden war, während Viktor und seine Kollegen ihre Freizeit opferten, um Erinnerungen zu erschaffen. Hunderte Flüchtlinge hatten sie an diesem Tag in die Zelte hinein, durch die Zelte hindurch und aus den Zelten hinausbegleitet. Nur wenige von ihnen würden ihnen im Gedächtnis bleiben. Viele von ihnen, dachte Viktor, würden sich allerdings sehr gut an die freiwilligen Helfer erinnern, war dies doch ein existenzieller Moment ihres Lebens. Später würden sie über diese Nacht berichten, die Nacht, in der sie in Deutschland angekommen waren. Sie würden sich das Datum merken, Schulaufsätze darüber schreiben, Interviews geben, ihren Kindern davon erzählen. Manche würden nie vergessen, wie die Menschen in den gelben und orangefarbenen Warnjacken ausgesehen und was sie getan hatten. Welches Bild würde sie ihr Leben lang begleiten? Ein Lächeln? Eine nette Geste? Ein schroffer Befehl? Eine Schokolade, die Viktor einem verletzten Zehnjährigen gab, der am Boden lag? Ein Kreisel und eine Quietschente, die er einem anderen Kind schenkte? Sollten wir das alles nicht mitbedenken, fragte sich Viktor? Und wenn wir das mitbedenken, sind wir dann überhaupt noch handlungsfähig?

Ein Soldat kam heraus, fragte, wie viele Leute diesmal über die Grenze gegangen waren, gab die Zahl über sein Funkgerät in die Einsatzzentrale durch.

»Ich dachte, du hättest vorgestern abgemustert«, bemerkte Viktor erstaunt.

Der Soldat, ein großgewachsener, blonder Unteroffizier Mitte zwanzig mit der sanften Stimme eines verlegenen Teenagers, meinte, man habe ihm »nahegelegt«, sich für ein weiteres Dienstjahr beim Militär zu verpflichten. Fünf Jahre sei er nun beim Heer, habe genug, habe schon die Tage gezählt, um dem Verein endlich den Rücken kehren zu können, wollte die Matura machen und ein Studium beginnen.

»Sie hatten versprochen, mir die Maturaschule und weitere Ausbildungen zu bezahlen und mir dann ein Studium durch ein Stipendium zu finanzieren«, erzählte er, »aber wenn ich mich nicht, natürlich ganz freiwillig, für ein weiteres Jahr verpflichte, dann würden sie im Gegenteil ...«

»Deutschland an Österreich. Bitte kommen.«

Viktor wandte sich vom Soldaten ab.

»Österreich an Deutschland!?«

»Sag mal, Viktor, ich hätte eine Bitte an dich.«

Polizist Marcel hatte einen für Viktor undefinierbaren bundesdeutschen Tonfall, stammte aber hörbar nicht aus Bayern, Schwaben oder Sachsen. Das waren die Regionen, deren Dialekte Viktor erkennen und zuordnen konnte.

»Ja?«

»Könntest du mir beim nächsten Auslass eine Gruppe mit Frauen und Kindern schicken?«

»Wir werden das Zelt bald neu auffüllen, meine Schicht ist gleich zu Ende, aber ich gebe es an die Kollegen weiter.«

»Ach bitte, sei so nett. Wir hatten nämlich ebenfalls Schichtwechsel. Es sind gerade neue Polizistinnen eingetroffen, und die müssten von den Frauen aus der alten Schicht eingeschult werden. Dafür bräuchten wir Frauen und Kinder, um den Neuen zeigen zu können, wie alles geht.«

»Ich verstehe.«

»Damit die Mädels nicht so lange herumstehen, ohne etwas zu tun«, erklärte Marcel und lachte. »Sonst werden sie unruhig.«

Raschid, Kurt und Mohammed, ein Iraker, der zwei Jahre zuvor Asyl erhalten hatten, waren gerade dabei, in der Tiefgarage fünf neue Gruppen zu etwa zehn Personen zusammenzustellen. Diese sollten nun in das Zelt begleitet werden. Im gleißenden Scheinwerferlicht des Areals zwischen dem Zelt und der Rampe, die in das Halbdunkel der Tiefgarage hinabführte, wurde Viktor von einem Afghanen in gebrochenem Englisch angesprochen. Er wolle nach Finnland, sagte der junge Mann. Ob er Chancen habe, dorthin zu gelangen? »Finland, Finland«, wiederholte er und reichte Viktor das Passfoto eines ernst schauenden etwa fünfzehn Jahre alten Mädchens mit schmalem Gesicht, mandelförmigen Augen und gelbem Kopftuch, das er als seine Cousine bezeichnete. Sie lebe mit ihrem Bruder und einer Tante schon seit einiger Zeit in Finnland, erklärte er. Dann öffnete er seine Tasche und zeigte Viktor stolz eine dicke Daunenjacke. »Finland!«, wiederholte er. »Very cold. And Ramadan in summer is very difficult. It never gets dark.« Er grinste.

Er dürfe den deutschen Behörden auf keinen Fall erzählen, dass Finnland sein Ziel sei, erklärte Viktor. Die Deutschen würden alle Transitflüchtlinge sofort nach Österreich zurückschicken.

Der Afghane lächelte. Viktor war sich nicht sicher, ob er das, was er gerade gesagt hatte, verstanden hatte, und wiederholte es langsamer und in einem noch simpleren Englisch. Wie bedauerlich, dachte er, dass an diesem Tag kein Farsi-Dolmetscher im Camp war.

»What shall I do?«

Er müsse alles versuchen, sich von den Deutschen nicht offiziell registrieren zu lassen, weil er sonst in keinem anderen Land mehr Anspruch auf Asyl hätte, erklärte Viktor. Er solle sich in der Nacht aus dem Camp im ehemaligen Möbelhaus in Freilassing hinausschleichen, sich quer durch ganz Deutschland bis zur dänischen Grenze durchschlagen, Dänemark und Schweden durchqueren und sich dabei nicht von der Polizei erwischen lassen.

»Yes«, sagte der Afghane und nickte.

Der einfachste und beste Weg wäre allerdings, in Deutschland zu bleiben. Deutschland sei das reichste europäische Land, die Willkommenskultur sei dort am stärksten, und es gebe keinen Ort, an dem er nicht Ramadan feiern könne: Sogar in Flensburg werde es im Hochsommer für ein paar Stunden dunkel.

»What shall I do?«, fragte der Afghane.

»I don’t know. It’s up to you to decide.«

Der Afghane schaute ihn weiterhin fragend an.

»I’m only a volunteer, I help you here in this camp, but there’s not much more I can do for you. You’re the one to decide what you really want. It’s your life.«

»Yes! It’s my life.« Das Gesicht des Afghanen verzog sich zu einem noch breiteren Grinsen, er nickte einige Male und fragte wieder: »What shall I do?«

»I’m sorry, but you have to understand: I’m not the master of your destiny. Am I?«

»Yes!«

4

Es war der Tag, an dem Frau Schnürpel einen Oberschenkelhalsbruch erlitten hatte, Frau Hasiba und Frau Kratochwil sich so heftig um einen Sitzplatz am Fenster im Speiseraum stritten, dass die Leiterin selbst eingreifen musste, um zu schlichten, und die Ergotherapeutin Gabriele Viktor während der Mittagspause »ganz im Vertrauen« erzählte, dass Altenpflegerin Emma eine entzündete Scheide habe. Emmas Lebensgefährte, Taxifahrer Georg, bestehe trotzdem darauf, mit Emma weiterhin regelmäßig Geschlechtsverkehr zu haben, erzählte Gabriele, obwohl das für Emma äußerst schmerzvoll sei. Gabriele benutzte nicht das Wort »Geschlechtsverkehr«, sondern einen deftigeren Ausdruck, und lachte, als Viktor den Blick senkte und rot wurde.

Der Aufenthaltsraum, in dem Gabriele Viktor ins Ohr flüsterte, dass Georg stets »einen Gummi« verwendete, um sich durch Emmas Pilzinfektion nicht selbst anzustecken, und »glücklicherweise meist rasch fertig sei«, machte den Eindruck einer Selchkammer, weil die meisten Mitarbeiterinnen und alle anderen Zivildiener rauchten, nur Viktor nicht. Dass der Rauch in den Gang und in den Speiseraum zog, in dem sich die Heimbewohner aufhielten, störte damals, im Jahre 1991, niemanden, zumal dort, wo der Gang eine Biegung machte, sich ohnehin eine Raucherecke befand, in der Herr Nawratil nach dem Essen meist eine Zigarre genoss. Als jemand aus der Verwaltung den Vorschlag machte, das gesamte Areal des Sozialmedizinischen Zentrums zur rauchfreien Zone zu erklären, wurde er ausgelacht.

Gabrieles Offenheit machte Viktor verlegen. Ihr vertraulicher Tonfall und ihre gedämpfte Aufgeregtheit waren ihm unangenehm. Zweimal schon hatten sich Gabriele und Viktor außerhalb der Dienstzeit auf einen Kaffee getroffen, und beide Male hatte Viktor das Treffen unter einem nichtigen Vorwand bald wieder beendet. Auch wenn er es als Vertrauensbeweis ansah, dass sie ihm etwas erzählte, das sicher niemals für seine Ohren bestimmt gewesen war, wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Er versuchte, Gabriele nicht ins Gesicht zu schauen. Viktor war neunzehn und hatte bis dahin noch nie ein solches Gespräch mit einer Frau geführt. Niemand, den er kannte, wäre je auf die Idee gekommen, ihm Derartiges zu erzählen. Gabriele war nur wenige Jahre älter als Viktor, höchstens fünfundzwanzig. Sie war hübsch, aber sie gefiel ihm nicht. Er mochte die Art, wie sie sprach und wie sie sich bewegte, nicht, empfand die engen Shorts und Oberteile angesichts ihrer pummeligen Figur als vulgär und die Tatsache, dass sie stets Kaugummi kaute, wenn sie nicht gerade rauchte, als unangenehm.

Warum sich denn Emma nicht schlichtweg weigere oder die Beziehung beende?, fragte Viktor leise. Eine Antwort erhielt er nicht, denn gerade in diesem Augenblick betrat Emma den Raum und ging schnurstracks auf Viktor zu. Und während Gabi verstummte, sich grinsend wegdrehte, ihre Zigarette ausdrückte und einen Schluck Kaffee nahm, konnte Viktor seine Augen nicht von Emmas Unterleib losreißen, was er gerade in diesem Moment unter keinen Umständen wollte, und doch gehorchten ihm seine Augen nicht, und sein Blick wanderte unwillkürlich gerade dorthin, wohin er nicht sollte. Es schien Viktor, als wäre Emma längst klar, dass er Bescheid wusste; er fing Gabis spöttischen Blick auf und wäre am liebsten im Boden versunken.

Emma kam näher. Noch fünf, noch vier, noch drei Schritte. Mitten im Raum blieb sie stehen und zündete sich eine Zigarette an. Wenige Augenblicke später stand sie vor ihm und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Ob er nachmittags etwa eine Stunde erübrigen könne?, fragte Emma. Viktor nickte. Eine Gruppe von Krankenschwesterschülerinnen würde die Geriatrische Abteilung besichtigen. Ob er sie herumführen würde? Die Chefin meine, er sei am besten dafür geeignet, weil er gut erzählen und gut erklären könne. Sie selbst habe keine Zeit. Sie hoffe, dass ihm das keine großen Umstände machen würde. Wenn er aber nicht wolle, dann könnte vielleicht Gabi ... Nein, nein, er freue sich sehr darüber, die Mädchen herumzuführen, versicherte Viktor schnell. »Ich verstehe«, sagte Emma und grinste. »Um vierzehn Uhr im Vorraum. Viel Spaß!«

Im Café Bazar war um halb acht Uhr abends nur mehr ein einziger Tisch frei, und der war reserviert. In der Adventzeit war die Stadt voller Touristen, und das traditionsreiche Kaffeehaus hatte regen Zulauf. Sogar im Wintergarten, einem verglasten Anbau, in dem geraucht werden durfte und wo es um diese Zeit kalt und ungemütlich war, waren alle Plätze besetzt. Viktor machte zwei Runden durch den Saal, blieb kurz vor dem großen Wandspiegel stehen, erschrak ob der eigenen Blässe und der Bestürzung, die ihm, wie er glaubte, ins Gesicht geschrieben war, fluchte einige Male leise vor sich hin, fragte sich, warum er denn überhaupt hier war, und machte schon einige Schritte Richtung Ausgang, als ihn eine der Kellnerinnen ansprach: »Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht Herr Levin?«

»Der bin ich.«

»Viktor Levin?«

»Ja.«

»Für Sie und zwei weitere Personen ist der Tisch am Fenster reserviert«, sagte sie und zeigte auf den einzigen noch freien Tisch.

Wieso zwei Personen? Woher kannte Gudrun das Café Bazar in Salzburg und vor allem: Woher hatte sie seine Handynummer? Er war gleichermaßen neugierig wie verärgert und irritiert. Kerstin hatte er gesagt, er würde noch länger im Camp bleiben, doch statt über die Brücke nach Freilassing war er in die Salzburger Innenstadt gefahren — ein langer Weg mit dem Fahrrad und höchst unangenehm an einem verregneten Dezemberabend —, um eine Frau zu treffen, an die er seit über zwanzig Jahren möglichst nicht denken wollte, und wenn sie ihm einfiel, versuchte er, die Bilder, die in seinem Kopf entstanden, rasch wegzuschieben.

Er bestellte einen schwarzen Tee und eine Gulaschsuppe, schaute auf die Uhr, ging auf die Toilette, wusch seine Hände ein weiteres Mal mit Seife, schrubbte sie unter heißem Wasser, bis sie schmerzten, wusch sein Gesicht. Seine Hände rochen immer noch nach Desinfektionsmittel, so wie seine Kleidung diesen unangenehmen, schwer zu beschreibenden Geruch des Flüchtlingslagers angenommen hatte, eine Mischung aus nassen Kleidern, Schweiß, Desinfektionsmittel, billigem Parfüm und Eau-de-Cologne, kaltem Zigarettenrauch und Staub, der diesen Geruchscocktail in verdichteter Form mit sich führte, der von den elektrischen Heizstrahlern durch die Zelte geblasen wurde, ein Geruch, der sich nicht abwaschen ließ, der Viktor zurückversetzte in die Zeit, als er selbst in einer Unterkunft in einem abbruchreifen Haus in Wien leben musste, ein Haus, an dessen Aussehen und Interieur er sich kaum erinnern konnte, während er den Geruch von damals sofort in der Nase hatte, wenn er an diese Zeit zurückdachte. Der alte, mächtige Mann aus seiner Kindheit fiel ihm wieder ein, und er hatte dieses nicht mehr zu verdrängende und von einem Mal auf das andere immer klarer werdende Bild vor Augen, sah, wie der Mann seine Mutter berührte, einmal und dann ein weiteres Mal — auf eine Art und Weise, die ihn, das kleine Kind, so erschreckt und verwirrt hatte, dass er sofort weinen musste, und als ihn seine Mutter kurze Zeit später bat, die Geschichte zu vergessen und nie mehr darüber zu sprechen, versprach er dies ohne zu zögern und versuchte sich einzureden, es sei alles nur ein böser Traum gewesen. Jetzt aber, Jahrzehnte später, verfolgten ihn die Bilder von damals wie ein nie enden wollender Albtraum.

Zwölf Krankenschwesterschülerinnen, einige von ihnen höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt, wurden von einer ältlich wirkenden Dame im weißen Kittel begleitet. Oberschwester Korinna hatte ein Gesicht, das Freudlosigkeit und Strenge ausstrahlte, eine respekteinflößende Körperhaltung und einen schweren Gang. Sie stellte sofort klar, dass sie das Sagen hatte, und dass keiner ihrer Schützlinge sich von der Gruppe entfernen oder gar ohne ihre Erlaubnis mit den alten Leuten ein Gespräch anfangen dürfe, und wenn Viktor nicht so hartnäckig gewesen wäre, hätte wahrscheinlich Schwester Korinna selbst die Führung gemacht, doch Viktor war nicht auf den Mund gefallen, und einige Male, als die Oberschwester eingreifen wollte, redete er einfach weiter — noch lauter und schneller als zuvor. Den Mädchen schien dies recht zu sein. Sie lächelten in einem fort, folgten ihm und stellten hin und wieder Fragen, doch während Viktor sie durch die Schlafräume, die Krankenstation, den Ruheraum, die Fernsehecke und den Musikraum, die Küche, den Speisesaal und die Werkstätten führte, während er ihnen die Räume zeigte, in denen Ergotherapie und Gedächtnistraining stattfanden, und sie kurz in die Intensivpflegestation »mit Palliativcharakter«, die »Postgeriatrie« genannt wurde, hineinschauen ließ, während er erklärte, wie die Sonderbetreuung für Alzheimer- und Demenz-Patientinnen geregelt wurde, hatte er nur Augen für ein einziges Mädchen. Und weil er sich einbildete, die junge Frau würde ihm noch etwas mehr zulächeln, als es die anderen taten, legte er sich ganz besonders ins Zeug, versuchte, die Tücken des Alltags in der Geriatrie einnehmend und spannend zu erzählen, reicherte seine Schilderung mit Anekdoten an, erwähnte, dass Frau Krechtlinger jeden Zivildiener mit »Herr Böser Teufel« ansprach, behauptete, dass man am Geruch von Frau Slabys Stuhl erkennen konnte, ob sie wieder einmal zu viel Alkohol getrunken hatte, berichtete anschaulich, wie ihn Frau Nagy in den Hintern gezwickt und wie ihm Frau Huber den oberen Hemdknopf aufgeknöpft hatte, um laut, sodass es alle anderen älteren Damen im Raum hören konnten, zu verkünden: »Ja, er ist auch auf der Brust behaart! Und die Haare sind ganz schwarz!«