Über das Buch

In einem Bus, dem täglich zwischen Wien und Belgrad verkehrenden »Gastarbeiter-Express«, rollt der Erzähler durch die ungarische Einöde. Jener Stadt entgegen, in der er aufgewachsen ist. Die Bomben, der Krieg, Milošević, den er zuerst lieben, dann hassen gelernt hat, und der Vater, für dessen Ideologie und Opportunismus er nur noch Verachtung empfindet, hatten ihn ins Exil getrieben. Entkommen ist er dem Balkan auch dort nicht. In beeindruckenden Bildern erzählt Marko Dinić zwanzig Jahre nach dem Bombardement von Belgrad von einer traumatisierten Generation, die sich weder zu Hause noch in der Fremde verstanden fühlt, die versucht die eigene Vergangenheit zu begreifen und um eine Zukunft ringt.

Marko Dinić

Die guten Tage

Roman

Paul Zsolnay Verlag

Für meine Großmutter

Ljubinka Dinić

I

Ein Fremder hat immer

seine Heimat im Arm

wie eine Waise

für die er vielleicht nichts

als ein Grab sucht.

Nelly Sachs

I believed — memory might mirror no reflections on me,

I believed — that in forgetting I might set myself free.

But I woke up this morning with a piece of past caught in my throat …

And then I choked.

Rites of Spring

Wir fuhren schon seit einer Stunde. Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn passierten wir ohne größeres Aufsehen. Obwohl Wien keine Autostunde entfernt war, überkam mich dennoch, je weiter wir Richtung Osten vordrangen, eine Art dunkle Vorahnung, ein Gefühl der Beklommenheit, das ich gut kannte und das sich nicht einfach abschütteln ließ.

Beim ersten Blick aus dem Fenster zog ein dünner Wolkenschleier am Himmel auf, einige in der Ferne noch ruhende Windräder reckten die Stahlglieder in den leichten Nachmittagswind. Wie eine schlechte Gewohnheit tuckerte der Bus über die Autobahn. Die Personenkontrolle durch die ungarischen Zollbeamten in Zivil kurz nach dem Grenzübergang war reine Formsache gewesen. Seit den Vorfällen an der Außengrenze vor einem Monat war die Stimmung angespannt, und das ließen uns die lächerlich aufgeplusterten Gestalten auch spüren. Doch die auf misstrauisch getrimmten Blicke der Beamten konnten nicht über die Langeweile hinwegtäuschen, mit der sie an diesem Grenzabschnitt kontrollierten.

Der Bus von Salzburg nach Niš, auch Gastarbeiterexpress genannt, war nicht die gemütlichste, aber die günstigste Reisevariante nach Serbien, auch wenn die Preise seit meiner letzten Fahrt beachtlich gestiegen waren. Das hatte unter anderem mit der Aufstockung der Flotte um drei weitere Fahrzeuge und dementsprechend viele Fahrer zu tun, wie mir die Dame am anderen Ende des Hörers mitgeteilt hatte, als ich vor wenigen Tagen mein Ticket nach Belgrad reservierte.

Nun saß ich in einem dieser neuen Busse und ließ mich von meinem Sitznachbarn volllabern, einem etwas untersetzten Mann mittleren Alters, dessen euphorisches Gemüt nicht recht zur lahmenden Stimmung dieser Fahrt passen wollte. Unter seinem abgewetzten Parka lugte, wenn er die Hände hob, ein knallroter, löchriger Pullover hervor. Er schwitzte stark und roch streng nach Zigaretten und billigem Aftershave. Sein schütteres Haar, zu so etwas wie einem mageren Scheitel gekämmt, überdeckte nur schlecht die von Schweißperlen übersäte Glatze. Die etwas verwahrloste Erscheinung unterstrichen seine dunklen, schlammigen Augen und die grauen Zähne, die er durch krampfhaft verzogene Lippen zu verbergen suchte. Dennoch wirkte er freundlich, seine tiefe rauchige Stimme fast vertraut. Obgleich er sich anstrengte, mir irgendetwas über den letztjährigen Visumsantrag eines Bekannten zu erzählen, führte er vielmehr Selbstgespräche, was ihn aber nicht zu stören schien.

Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, während das Euroliner-Monstrum langsam wieder die mir gut bekannte Ungarn-Geschwindigkeit aufnahm, ein gleichmäßiges Rollen auf einer nahezu kurvenlosen Autobahn, von der ich immer gedacht hatte, sie würde, einem weißen Rauschen gleich, keinen Anfang und kein Ende kennen.

Die Busse fuhren jeden Tag und hielten auf ihrer Fahrt noch in Wels, Linz, Wien, Budapest, Subotica, Novi Sad, Belgrad und Kragujevac. Ich war in Wien eingestiegen. Die Gesichter der grimmig dreinblickenden Fahrer erhellten sich, als sie mich beim Einsteigen erblickten. Sie grüßten mich liebevoll, als würden sie mich von früheren Fahrten kennen, was aber nicht sein konnte — ich war vor etwa zehn Jahren das letzte Mal mit einem Gastarbeiterexpress gefahren, damals jedoch in die entgegengesetzte Richtung.

Jedenfalls passten ihre roten, klobigen Nasen und aufgedunsenen Wänste zum Rest der Reisegesellschaft, die hauptsächlich aus Männern bestand — Mittfünfziger, denen die Diaspora anzusehen war, die körperliche Arbeit und der Alkoholismus, eine Mischung, die nur im Ausland so hatte entstehen können, weil es in Serbien zwar nicht an Alk, aber an Arbeit mangelte. Diese Männer schickten sich nun an, den Bus während der fast fünfzehnstündigen Fahrt in ein Biotop aus Kuriositäten und Schweinereien zu verwandeln, die hier jedoch selbstverständlich waren. Sie nuckelten unentwegt an ihren mitgebrachten Schnapsflaschen oder tranken die Biere, die die Fahrer unter der Hand für einen Euro dreißig weitergaben. Stunden voll quälenden Turbofolk-Geplärres ergänzten den Saufbetrieb in den ersten Reihen. Hie und da — wenn es einem der Fahrer mal selbst zu viel wurde — spielten sie einige Lieder von Bijelo Dugme, bei denen die wallenden Gemüter verdächtig still wurden und eine nahezu nostalgische Andacht herrschte. Meist lief der Fernseher mit. Alte Diaspora-Filme über Žika, den alle nur Herr Žika nennen, der sich in den siebziger Jahren in Frankfurt als Klempner eine Wohnung in Belgrad erarbeitet hatte und nun in neun Filmen seiner ganz persönlichen goldenen Zeit nachtrauerte. Ich war froh, dass ich in Belgrad aussteigen musste.

Ab einer gewissen Anzahl an Fahrtstunden werden die Jausen ausgepackt, mit den Fahrern wird um die Wette geraucht und über den anstehenden Hausbau in der Heimat geredet. Fotos der Baustellen werden herumgereicht, dazu die passenden Geschichten über faule Handwerker, korrupte Behörden und das verfluchte Leben im Ausland. Die Männer grölen um die Wette, während die wenigen Frauen sich über das Gesindel empören, das in Österreich seine Manieren verloren zu haben scheint. Anschließend kommt das große Schnarchen bis zur ungarischen Grenze mit Serbien. Und wenn das Licht dann wieder an ist, beginnt das Fauchen und Jaulen. Die Mütter der ungarischen Grenzbeamten werden hinter vorgehaltener Hand verflucht, danach kommen die Mütter der serbischen Zöllner dran. Am Morgen, kurz vor Belgrad also, geht das ganze Spiel von vorne los.

Im Grunde kamen Busfahrten in den Balkan, egal in welches Land man reiste, einer Dauerschleife mit unterschiedlichen Protagonisten gleich. Jeder einzelne Passagier kannte den Ablauf und auch seinen Platz in diesem durchchoreografierten Möbiusband an Bewegungsabläufen, Unterhaltungen, Gesten, gepaart mit den Musikeinlagen und Videokassetten einer Welt, die es eigentlich nicht mehr gab.

Auch ich kannte meinen Platz in dieser Gemeinde gut. So wie einige weitere junge Leute, die sich im Bus verstreut hatten und der Alten Schule zahlenmäßig weit unterlagen, hatte ich mich selber zum Schweigen verdonnert. Niemand hatte uns den Mund verboten. Wir gehörten einfach nur nicht hierher. Die Verwirrung vor so viel gebündelter Nostalgie und ausschweifendem Testosteron konnte man von unseren Gesichtern ablesen. Die Leute erkannten schon beim Betreten des Busses, dass wir unmöglich zu ihnen gehören konnten, obwohl wir anscheinend ein gemeinsames Ziel hatten: Serbien. Hier kannte jeder jeden, und niemand kannte uns. Damals, während der ersten jugoslawischen Diasporawelle, waren viele Arbeiter gegangen, als es dem Land relativ gut ging. Nun, da vieles den Bach runtergeht und junge Leute ins Ausland regelrecht fliehen, konnten sie es uns vorhalten, unser ungebührendes Verhalten gegenüber einem Land, das sie so sehr liebten, das es in dieser Form aber auch nicht mehr gab.

Staatsbürgerschaften und Pässe zählen in dieser eingeschworenen Gemeinschaft wenig: Sie sind das Beiwerk eines hart erarbeiteten Lebensstandards, mehr nicht. Umso mehr wird fortwährend an der Utopie Serbien gebastelt. Wofür hackelt man sich sonst den Rücken krumm, wenn nicht für den Ruhestand im eigenen Haus, das sich in der Diaspora kaum einer leisten könnte. Einmal dort angekommen, wird weitergesoffen, geflucht, geschlagen, gefeiert: Nie wieder Bus fahren, nie wieder Baustelle!

Insgeheim, das redete ich mir ein, gaben sie sogar uns, dieser in den Krieg hineingeborenen Generation, die Schuld an der jetzigen Misere, die sie in ihrer Kriegstümelei selbst beschworen hatten. Bei einseitigen Schuldzuweisungen waren sie immer schon gut gewesen, beim Wegschauen, beim Kadavergehorsam. Den eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen, das hatten sie so weit perfektioniert, dass es einer Gewohnheit glich, einer Marotte, die sie umso gefährlicher machte.

Der Bus fräste weiter beharrlich über die Autobahn. Die Grundnote Schnaps variierte zwischen Šljivo und Marille. Der beißende Geruch von starkem Alkohol vermischte sich mit den Ausdünstungen ganzer Familienbanden, deren Kinder sich unter den ohrfeigenverbreitenden Händen der Väter die Hosen vollschissen. Riesige Fresspakete aus Österreich für die verhungernde Verwandtschaft aus dem Süden wurden in die Stauräume über den Sitzen gestopft. In einem Anflug von Schadenfreude stellte ich mir vor, wie eines dieser Pakete einer armen Sau auf den Kopf fällt und die Einmachgläser darin bersten: Der Patient liegt blutend am Boden, während die austretenden Flüssigkeiten sich mit dem Šljivo und dem Gestank der Kinderscheiße vermischen. Hinzu kommt der Dunst der Garde aus der ersten Reihe, die, je weiter der Abend voranschreitet, vom Serbischen zu einer der vielen lallenden Sprachen wechselt — sei es dem Alkohol oder der schlechten Luft geschuldet, der Bus verwandelte sich schleichend. Und als Außenstehender war man der Willkür Einzelner ausgeliefert. Wer keinen Humor bewies und sich beschwerte, wurde von der Busgemeinschaft mit bösen Blicken und leisen Flüchen kollektiv bestraft.

Das System ist einfach, die Hierarchien sind klar festgelegt: Die Frauen müssen grundsätzlich die Fresse halten, außer sie geben ihren Männern etwas zu essen. Irgendwann versammelt sich eine testosterongeladene Horde Halbstarker um den Fahrer wie um ein Wasserloch. Es wird geflucht, gegrölt und gegen Kroaten oder Muslime oder Amerikaner oder Österreicher oder Schwarze oder Politiker gewettert. Nach einigen Fahrtstunden fängt einer an, auszuscheren, den Ton anzugeben. Meist ist es der mit dem lautesten Organ oder mit den lustigsten Ein-Bosnier-ein-Kroate-ein-Serbe-Witzen. Dieser Mensch wird von der Gruppe klammheimlich zum Anführer erkoren. Meine Mutter erzählte mir einmal, sie habe sich bei einem ihrer zahlreichen Versuche, mich in Wien aufzuspüren, im Bus eine Nikotinvergiftung zugezogen, nachdem sie einen dieser Maulhelden gebeten hatte, seine Zigarette auszumachen. Die restliche Fahrt über hatte der Mann neben ihr trotzig Kette geraucht. Ich hatte erst im Nachhinein erfahren, dass sie sogar im Krankenhaus gewesen war. Sie tat mir nicht sonderlich leid, damals wie heute.

Heute war Zoran an der Reihe. Ich kannte Zoran zwar nicht, aber das, was ich in den ersten zwei Stunden von ihm mitbekam, reichte mir. Ein kleiner Mann mit sehnigem Oberkörper und einer rauen, von Zigaretten zerfressenen Stimme. Seine Haut hatte einen ockerfarbenen Ton, was nur bedeuten konnte, dass sich Zoran im Laufe seines Lebens auf irgendwelchen Baustellen kaputtgearbeitet haben musste. Wahrscheinlich wurde er dort auch zum Spiegeltrinker sozialisiert. Immer wenn ich ihn anblickte, zuckte etwas in mir zusammen.

Ich musste zwangsläufig an Meister Milo denken, der mir in Wien meine erste Arbeit als Baustellenreiniger besorgt hatte — seine Haut hatte denselben Farbton. Meister Milo legte aber auch eine Demut an den Tag, die Zoran zur Gänze fehlte, der man aber auf der Baustelle oder an der Supermarktkassa oder im Taxi oder am Ende der Schicht bei den Putzfrauen begegnen konnte, öfter als in den zahlreichen Restaurants und Bars, in denen ich jetzt mein Geld verdiente. Diese Demut ist der Erfahrung in der Fremde geschuldet. Sie ist unter Migranten überlebensnotwendig und findet sich am häufigsten bei jenen, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss haben. Sie arbeiten sich kaputt, bezahlen ihren Kindern das bessere Leben, das sie selber nie lebten, fluchen am Abend den Fernseher an, feiern ausgelassen mit ihren Familien alle wichtigen Feiertage, lachen herzhaft auf, wenn es etwas zum Lachen gibt, schweigen, wenn über Politik geredet wird, bekreuzigen sich regelmäßig mit Tito im Hinterkopf, schlafen tief und fest, träumen meist denselben Traum, und das jahrelang, helfen anderen durch ihre dubiosen Beziehungen zu irgendwelchen Cousin-Netzwerken, sterben mit nicht einmal siebenundfünfzig Jahren an Herzversagen und hinterlassen eine furchtbare Lücke innerhalb der Gemeinschaft, die sich zusehends mit vorlauten Rudelführern wie Zoran begnügen muss. Nun war Meister Milo schon seit zwei Jahren tot und die ungarisch-serbische Grenze noch weit entfernt.

Im Grunde taugte Zoran überhaupt nicht zum Rudelführer. Sein kleiner überstrapazierter Körper schien verloren in der Masse von aufgeblähten Bäuchen. Er hatte jedoch zwei Vorteile: Zum einen kannte er die Fahrer gut, was immer Eindruck machte, zum anderen überstieg seine Vulgarität die der anderen um einiges. Seine Frau — sie saß eine Reihe vor mir: eine zierliche Person mit weichen Gesichtszügen und einem Zittern in der rechten Hand, das wahrscheinlich der Angst geschuldet war, die sie vor ihrem Ehemann hatte — seine Frau also bezeichnete er bei einer ihm gebotenen Gelegenheit als Fickloch. Er dankte alle drei Minuten Gott, dass er ihm einen Sohn geschenkt hatte, da er eine Tochter nicht hätte schlagen dürfen. Er trank die ganze Fahrt über und gab mit seiner Trinkfestigkeit an, indem er den Rest der Gruppe als eierlose Schwuchteln bezeichnete. Die anderen schienen ihm so etwas wie Respekt entgegenzubringen. Doch insgeheim, das wusste ich, verachteten sie ihn — weil er die Kontrolle hatte. Er bestimmte die Musik, die Videos, die Gesprächsthemen. Er fraß das Essen der anderen und soff deren Bier aus. Er war der heimliche Botschafter des kleinsten Landes der Welt geworden, das auf keiner Landkarte eingezeichnet war: eine eingekerkerte Reisegesellschaft auf Zeit, die dazu verdammt war, sich selbst auszuhalten und sich ihrem auserkorenen Anführer unterzuordnen. Ein Bus in der Einöde als Abziehbild des ehemaligen Jugoslawien — so gesehen hatte sich nichts verändert.

»Es sind im Grunde zwei Seiten ein und derselben Medaille. Sie kennen das sicher! Da wird man von einer Behörde zur nächsten gejagt, um irgendwelche Papiere für das Visum ausgestellt zu bekommen, nur um festzustellen, dass man dreimal denselben Wisch ausfüllen musste! Am Ende des Tages kehrt man erschöpft nach Hause zurück und fühlt sich von vorne bis hinten verarscht. Als wäre alles nur ein schlechter Scherz gewesen.«

Erst bei den Worten schlechter Scherz horchte ich auf. Ich verstand nicht, wovon mein Nachbar gerade sprach, und versuchte die Peinlichkeit durch ein verkrampft aufgesetztes Lächeln zu überspielen. Aus den Augenwinkeln betrachtete ich die Landschaft, wie sie im monotonen Fluss der etwa hundert Kilometer, die wir pro Stunde durch die ungarische Einöde fuhren, an mir vorbeizog. Vorne führte Zoran so etwas wie einen balkanischen Fruchtbarkeitstanz auf: Er hielt sich mit seiner rechten Hand an den Eiern, während der Mittelfinger seiner Linken Löcher in die Luft bohrte. Der Rest seiner Kameraden grunzte im Chor.

Mein Nachbar ignorierte das laute Rudel vorne und redete unvermindert weiter auf mich ein: »Sie wollen mir doch nicht im Ernst weismachen, dass Sie so etwas noch nie erlebt haben. Woher kommen Sie? Belgrad! Dann sind wir uns ja einig, von Großstädter zu Großstädter sozusagen. Ich bin zwar nicht in Belgrad aufgewachsen, aber Wien kann für einen Vergleich allemal herhalten. Sie wissen ja, wie schnell es gehen kann. Kaum schaut man weg, schon hat die Stadt das halbe Viertel aufgefressen.«

Sein Blick wanderte durch mich hindurch, raus auf die Straße. Meine Augen tränten vor Müdigkeit, und ich nahm meine Brille von der Nase. Ich konnte diese Gestalt, die da neben mir saß, nicht einordnen. Sein Sprechen war durchsetzt von einem starken Akzent, den ich zuvor noch nie gehört hatte, der aber — anders als bei altgedienten Gastarbeitern — geradezu überkorrekt klang. Er klang nicht wie die sogenannten Jugos, aber auch nicht wie ein Wiener, auch wenn er sich etwas hochnäsig gebärdete. Obwohl seine Erscheinung etwas Grobes hatte und dem Äußeren nach zur Garde aus der ersten Reihe passte, gehörte er mit seiner gediegenen Art zu sprechen mehr ins Wiener Kaffeehaus als in diesen Bus. Lebhaft legte er seine Standpunkte über die baulichen Veränderungen in Simmering dar, als hätte er schon lange auf dieses Gespräch gewartet und sich gut darauf vorbereitet. Ich schaute ihn an und versuchte mich auf jedes einzelne Wort zu konzentrieren, bevor ich ihm zu verstehen gab, dass ich genau wusste, wovon er sprach.

Als meine Eltern 1991, zu Beginn des Krieges, die neue Wohnung bezogen, konnte ich vom Fenster aus die Schafe und Hühner zählen, die auf der Wiese des Nachbarn gegenüber unseres Wohnblocks herumstapften. Heute überbieten sich, dicht gedrängt, auf derselben Fläche die hässlichsten Bauten in den hässlichsten Pastelltönen. Diese aufeinandergeschichteten Schachteln wurden Ende der Neunziger ohne Genehmigung einfach in die Landschaft geworfen. Eines Tages klingelte ein zwielichtiger Volksvertreter, kaufte für wenig Geld das Grundstück, versprach den ehemaligen Besitzern zwei Wohnungen, und schon bekam das Viertel die ersten der vielen neuen Schandflecke. Schafe und Hühner wurden ersetzt durch Gebäude, die so eng aneinandergebaut wurden, dass die Nachbarn sich übers Fenster die Hände reichen konnten. Sie taten es nur nie. Eine Hauptstraße teilte von da an diesen und jenen Teil unseres Viertels. Die monströsen Busse der Belgrader Verkehrsbetriebe verbanden unser Viertel mit dem Rest der Stadt. Was vorher als Peripherie galt, war von da an Teil des Ganzen geworden.

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich, »heute würde ich mein Viertel in Belgrad wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen.« Mein Sitznachbar musterte mich misstrauisch. Vielleicht hatte nun er mir nicht richtig zugehört und versuchte seine Verlegenheit hinter der Strenge, die sich an seinen Augenwinkeln abzeichnete, zu verbergen.

»Geht es Ihnen gut? Sind Sie etwa müde?«, fragte er, »Sie sehen müde aus!«

»Dieser Bus macht mich krank.«

»Das meine ich nicht«, erwiderte er, »ich habe Ihnen zweimal ein und dieselbe Frage gestellt, und Sie haben mir immer noch nicht geantwortet.« Er richtete sich auf und wartete geduldig darauf, dass meine Verwirrung sich auflöste. Ich blickte umher und wurde unruhig.

»Nun, glauben Sie, dass dies alles ein schlechter Scherz ist?« Seine Augen weiteten sich, und zum ersten Mal sah ich seine vergammelte Zahnreihe in voller Breite.

»Ich verstehe nicht«, gab ich zurück und schluckte.

»Diese ganze Diaspora-Geschichte! Das ewige Warten in irgendwelchen grauen Bussen, diese Behördengänge, diese Ineffizienz.«

Ich atmete durch und setzte ein dümmliches Grinsen auf. Das Gefühl, ertappt worden zu sein, ließ dennoch nicht von mir ab. Währenddessen schob mein Nachbar seinen Gangsitz näher zu mir, sodass sein Ellbogen meinen berührte. Vor mir streckte Zorans Frau ihren Körper durch, sodass ich einen Augenblick lang von beiden Seiten eingequetscht wurde. Die Enge machte mich nervös. Auf der anderen Seite des Mittelgangs saß eine Frau, deren blaugraue Locken mich kurz an meine Großmutter und den Grund meiner Heimreise erinnerten. Ihr Mund stand einen Spaltbreit offen. Sie schlief tief und fest.

»Ich würde den österreichischen Behörden keine Ineffizienz unterstellen«, antwortete ich, »ich kriege mein Visum immer eine Woche nach Abgabe der Dokumente. Bei meinen Bekannten ist das nicht anders, aber Sie haben recht, es gibt schönere Dinge im Leben, als jedes Jahr aufs Neue im überquellenden Magistrat zu warten.«

»Ich bitte Sie!«, er riss seinen Arm ruckartig nach oben, als hätte meine Antwort ihn ernsthaft empört, »das kann doch nicht im Ernst Ihre Definition von Effizienz sein. Vielleicht waren die Österreicher mal effizient. Vor über siebzig Jahren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jetzt aber — und das muss mal gesagt werden — sind die Balkanesen viel effizienter. In Srebrenica beispielsweise haben nur achtzehn Soldaten innerhalb weniger Stunden über tausendfünfhundert Mann erschossen. Achtzehn! Stellen Sie sich das mal vor!« Er hatte mich eiskalt erwischt. So einen Vergleich hatte ich nicht erwartet. Meine Magengrube verkrampfte sich, doch ich blieb erstaunlicherweise nach außen hin gelassen. Ich hatte mir schon vor langer Zeit den Ärger über solche Aussagen verboten, zumal sie zum Standardrepertoire meines Vaters und seiner lausigen Brüder gehörten. Ich wusste auch nicht, was ich darauf hätte antworten können. Sein Vergleich ergab keinen Sinn.

»Nun schauen Sie nicht so verdutzt!«, sagte er etwas hämisch, sich das Gesicht mit einem grauen Stofftuch abtupfend, »glauben Sie ja nicht, ich wüsste nicht, wovon ich rede. Ich habe mehr Zeit mit diesen Menschen hier verbracht, als es für jemanden mit meinem Cholesterinspiegel gut wäre. Das ist schon meine sechsundzwanzigste Recherchereise! Da wird man berufshalber zum Zyniker, verstehen Sie?« Irgendetwas an seiner Art war mir nicht geheuer. Da schwang eine leichte Verbitterung mit, die er durch Provokation wettzumachen versuchte. Die Frau gegenüber war aufgewacht und schaute schlaftrunken zu uns herüber. Hinter ihr stach für einige Augenblicke die Sonne hinter den Wolken hervor und tauchte die Sitzreihen in ein scharfes Rot. Schließlich fragte ich meinen Sitznachbarn, ohne dass es mich etwas anging, was er genau tue.

»Ja, wissen Sie«, hob er an, »es ist etwas komplizierter. Eigentlich bin ich gelernter Elektriker, wie mein Onkel, der alte Berserker. Ausbildung, Berufsschule. Über sieben Jahre verbrachte ich am Bau. Und wissen Sie was: Ich hatte nie das Gefühl gehabt, wirklich Serbe zu sein, obwohl ich in Wien aufgewachsen bin und bei uns immer Serbisch gesprochen wurde. Als aber der Krieg in Kroatien ausbrach, veränderte sich alles — meine Familie stand plötzlich Kopf! Mein Onkel, mein Bruder und mein Vater, alle waren mit einem Mal fort. Ließen alles liegen und stehen, um ein wenig Krieg zu spielen. Meine Schwester und meine Mutter ließen sie zurück — und ich? Ich wusste von einem Tag auf den anderen nicht mehr, wie mir geschah, ich war paralysiert. Was soll jemand wie ich auch zu seinem Vater sagen, wenn der sich gerade auf den Mord an Kindern einschwört? Ich hielt die Klappe und hackelte einfach weiter.«

Er verschnaufte kurz. Das Thema machte ihm sichtlich zu schaffen, doch mir fehlten die Worte, um darauf etwas Passendes zu erwidern. Insgeheim wollte ich seine Geschichte hören. Und als hätte ihn eine fixe Idee gepackt, begann er auch wieder zu reden: »Hören Sie zu, vielleicht kann ich es Ihnen anders erklären. Ich sprach ja über die Effizienz. Wenn es ums Töten geht, beweist der Mensch nicht nur äußerste Effizienz, sondern auch Kreativität. Das effiziente und kreative Töten hebt von einem Tag auf den nächsten sämtliche Kultur auf. Kennen Sie eine andere Kraft, die so etwas vermag — Kultur aufheben?« Ich schüttelte den Kopf.

»Das habe ich mir schon gedacht. Schauen Sie sich nur mal die Vergleiche in den Zeitungen an. Letzte Woche beispielsweise habe ich einen äußerst schlechten, aber bezeichnenden Artikel über den Tod eines Graffitikünstlers gelesen, der von einem Zug erfasst worden war. Der Schauplatz wurde im besagten Artikel mit einem bosnischen Minenfeld verglichen. Woran wird man sich erinnern, frage ich Sie? An die größten bosnischen Dichter? Oder an unsere Effizienz im Töten?«

»Und was hat das mit Ihnen oder Ihrer Familie zu tun?«, hakte ich nach.

»Mein Bruder fiel schon nach wenigen Wochen. Mein Vater kehrte zwar zurück, aber nie wirklich, und die Geschichte meines Onkels wollen Sie nicht hören. Ihre Gemeinsamkeit lag in der Lust, die sie plötzlich überkam, diese unerklärliche Lust, jemandem das Leben zu nehmen. Die Rechtfertigung für dieses Töten lieferten sowieso die anderen. Sie mussten nur zustimmen, brav nicken und am Abzug bleiben, wenn es so weit war. Ein paar Jahre nach dem Krieg jedenfalls entschied ich mich, dieser ganzen Sache nachzugehen. Wenn ich mich noch so anstrengte, ich konnte mir einfach keinen Reim drauf machen, wieso von einem Tag auf den nächsten meine gesamte Familie wegen so etwas Banalem wie der serbischen Nation auseinandergebrochen war. Ich verließ die Baustelle, zog mich zurück und begann die Arbeit an meinem Buch.«

»Sie sind also Schriftsteller?«, fragte ich. Meine Neugier war wieder geweckt.

»Nein, nein! Um Gottes willen, das wäre zu viel des Guten. Es ist nicht die hohe Dichtkunst, kein Roman oder so etwas. Es ist vielmehr die Geschichte meiner Familie, die ich aufschreiben will. Knallharte Aufarbeitung, keine Gnade für niemanden! Ich suche nach den Ursachen, wissen Sie, also darf ich keine Rücksicht nehmen, auf meinen toten Bruder nicht, nicht auf meine Mutter oder gar meinen Vater, schon gar nicht auf irgendwelche Serben. Deshalb reise ich viel. Ich will die Leute treffen, denen Leid angetan wurde, diese kontaminierten Orte sehen … Nur die Verbrecher kann ich bei Gott nicht mehr sehen! In meinem Elternhaus sitzt immer noch einer und will nicht verrecken! Ich will nicht in die Verlegenheit kommen, etwas Menschliches in ihnen zu finden. Das würde mich nur durcheinanderbringen und mich von meiner eigentlichen Arbeit ablenken. Mir reicht schon dieser Zoo hier!« Er deutete auf Zoran, der gerade konzentriert eine Geschichte oder einen Witz erzählte. Meine Aufmerksamkeit stieg weiter, und ich begann seinen Standpunkt allmählich nachzuvollziehen. Er tupfte sich abermals den Schädel trocken und blickte nervös umher.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte ich.

»Ich will hier niemanden vorschnell verurteilen, glauben Sie mir«, sagte er hastig, »aber Sie müssen verstehen, dass wir uns unter potenziellen Mördern und Vergewaltigern bewegen, und zwar ständig! Wussten Sie, dass es in Srebrenica genau einen Klempner gibt? Einen Serben, von dem man weiß, dass er in den Neunzigern mehr als nur ein krummes Ding gedreht hat. Wenn ein Muslim in Srebrenica also einen Wasserschaden hat, muss er den potenziellen Mörder seines Bruders oder seines Sohnes oder seines Vaters in sein Haus holen, damit dieser ihm den Schaden repariert. So verabschiedet sich die Kultur auf Jahrzehnte! Und liegt nicht etwa darin unsere größte Niederlage, in der Lust an der Effizienz — in den Jahrzehnten, die wir durch die Taten unserer geliebten Verwandten verloren?« Plötzlich erschien er mir hilflos. Seine anfangs groben Züge bekamen etwas Weiches, fast Fragiles. Mein Widerwille gegen ihn verflüchtigte sich, und ich entspannte mich ein wenig. Ein komischer Mensch, dachte ich, auch wenn er auf eine verquere und fatalistische Weise recht hatte.

Ich wusste wenig von Kultur. Ich wurde zu einer Zeit geboren, als die Kultur sich gerade anschickte, die Gebiete des ehemaligen Jugoslawien zu verlassen. Und in Belgrad hatten nach dem 5. Oktober beinahe alle großen Museen geschlossen. Mein Verständnis von Kultur beschränkte sich auf die serbische Version der Mickey-Mouse-Hefte, in denen ab und an Bücher wie Moby Dick oder Der alte Mann und das Meer besprochen wurden. Erst im Gymnasium bekam ich diese Bücher auch zu Gesicht, las sie aber nicht. Ob es aus Ehrfurcht war oder einfach nur aus Faulheit, weiß ich nicht. Ich habe die Bücher einfach nicht gelesen. Gemälde irgendwelcher Großen Meister kannte ich nur aus den Geschichten meiner Mutter, die als junge Frau mal nach Amsterdam gereist war und mit dem Gedanken spielte, das Arbeiterleben sein zu lassen und Kunstgeschichte zu studieren. Sie tat es aber nie.

Als ich nach Österreich kam, versuchte ich alles nachzuholen, von dem ich dachte, es nachholen zu müssen. Meist saß ich jedoch teilnahmslos in den überfüllten Museen und versuchte krampfhaft, mich für jene Dinge zu begeistern, von denen alle anderen begeistert schienen. Die Leinwände in den schweren Bilderrahmen blieben jedoch schal. Ein kleiner Teil von mir wollte sich diesem Treiben nicht einfach so hingeben, wollte sich nicht um jeden Preis an die neue Umgebung anpassen. Die Musik war es am Ende gewesen, die mir ein Stück Heimat bewahrte und gleichzeitig meinen Blick für das Neue schärfte.

Bands wie EKV, Azra oder Haustor waren wichtiger für mich gewesen als irgendwelche bedeutungsschwangeren Namen, mit denen die Leute meist nur angaben, weil sie sich insgeheim der eigenen Ignoranz wegen schämten. Johnny Štulić aber, Milan Mladenović oder Darko Rundek kannte ich, als wären wir vor langer Zeit gemeinsam Pferde stehlen gewesen. Zumindest waren sie öfter für mich da gewesen als mein Vater. Nichts drückte die Situation, in der meine Freunde und ich uns damals befanden, besser aus, als diese schlichten, aber schlagkräftigen Songs.

Als ich in Wien ankam und sah, wie die Leute hier lebten, verstand ich zum ersten Mal die vielen Lieder, die auf den Radio-Utopia- und Paket-Aranžman-Kompilationen zu hören waren. Diese Alben waren das Einzige gewesen, das im ehemaligen Jugoslawien als Emanzipationsbewegung durchgehen konnte. Der Rest war tiefschürfende Propaganda. So gesehen hatte sich auch ein kleiner Teil von mir in einer nostalgischen Schleife verfangen, die mit der trostlosen Welt meiner Eltern aber nur wenig zu tun hatte.

Einige Monate nach meiner Ankunft in Wien begann ich ein Tagebuch auf Deutsch zu schreiben, doch dieses Schreiben glich mehr einem Dümpeln in seichten Gewässern. Es diente lediglich der Übung und Erweiterung meiner sprachlichen Fähigkeiten, ohne die ich in Wien aufgeschmissen gewesen wäre. In der Schule war ich immer gut in Deutsch gewesen — in Wien konnte ich diese Kenntnisse endlich anwenden. Am Anfang schämte ich mich für meine Einschränkungen. Doch sie wurden immer wichtiger für mein Verständnis von dem, was die Österreicher heimlich von mir verlangten: Der Duden lieferte mir den Wortschatz, mein Schreiben und die Gespräche die Routine — und die Museumsbesuche die Camouflage. Ich kaschierte geschickt meinen rauen Akzent. Und wenn ich abends nicht arbeitete, beschäftigte ich mich meist mit den Texten und Songs meiner persönlichen Säulenheiligen, von denen ich einige ins Deutsche zu übersetzen versuchte.

Was den Rest anbelangt, das besorgte mein Viertel. In Wien lebte ich seit einiger Zeit in Favoriten. Der Block, in dem ich wohnte, ist das Pendant zu dem 17-Uhr-Bus von Salzburg nach Niš: ein kleines ehemaliges Jugoslawien, eingepfercht in eine westeuropäische Großstadt, in der alles an seinem Platz zu sein schien. Zwei türkische und etliche balkanische Supermärkte versorgten im Umkreis von wenigen Kilometern die Anrainer mit allem, was ihre unbändige Sehnsucht nach der Heimat stillen konnte. Hinzu kamen etliche Balkan-Grills, Bäckereien und Fleischhauer, Friseure, Kleidungsgeschäfte, kommunistische und nationalistische Nostalgieläden mitsamt den Tito- oder Mihailović-Büsten in den Auslagen. Abgeschottet durch ihren ganz persönlichen, aus Nationalismus, Stolz und Vorurteil geformten Glaskäfig, träumten die Leute hier von einem ganz anderen Abschnitt der Donau, einem ganz eigenen Europa.

Die Geschichte meines Schriftsteller-Nachbarn über seine Familie erinnerte mich an Milan und dessen Vater, die ein Stockwerk über meiner Garconniere in Wien wohnten. Milan war keine zwei Jahre älter als ich. Er arbeitete nachts am internationalen Busterminal, von wo aus fast alle Busse nach Ost- und Südosteuropa fuhren. Tagsüber versuchte er, so gut es ging, seinen geistig verwirrten Vater in Schach zu halten. Nach dessen Toben und Brüllen konnte man die Uhr stellen. Jeden Tag gegen drei bekam er einen seiner im gesamten Haus schon berüchtigten Wutanfälle, stampfte mit den schweren Füßen wie ein quengelndes Kind, das Aufmerksamkeit suchte, auf den Boden und keifte grundlos seinen Sohn an. Danach ging er raus zu seinem Wagen — einem alten Opel Kadett Kombi in Kackbraun — und wusch ihn bis in die Dämmerung hinein. Das machte er jeden Tag, bei jeder Witterung. Ich hatte ihn noch nie mit dem Wagen fahren sehen, doch es war mit Sicherheit der sauberste Opel Kadett von ganz Wien. Ich wusste von Milan, dass sein Vater im Bosnienkrieg gewesen war und dass ihm die von dort mitgebrachten Bilder den Verstand geraubt hatten. Immer wenn ich Milan fragte, was mit seinem Vater geschehen war, erzählte er nur unzusammenhängend von irgendeinem Fest. Es machte mich traurig, Milan so zu sehen. Er schämte sich und wollte mir nicht sagen, was es wirklich auf sich hatte mit den Gräueln, an denen sein Vater in Bosnien beteiligt war. Dieser gehörte, wie mein Vater, aber auch der Vater meines Sitznachbarn, zu jenen, die den Krieg mit nach Hause gebracht und das persönliche Trauma zu einem kollektiven gemacht hatten. Bei ihren Vätern verlief es laut und blutig, bei meinem leise und hinterfotzig. Der ganze Balkan litt unter diesen falschen Vätern, besonders meine Generation, die sich erst sehr spät wehren oder wie ich davonrennen konnte.

»Aha!«, rief mein Sitznachbar aus, als ich ihm davon erzählte, »ein Fest, wie erfreulich.« Er machte wieder diese ruckartige Bewegung mit dem Arm. Seine getrübte Stimmung war mit einem Mal fort, und er begann wild zu gestikulieren: »Sie bringen mich zum Lachen! Aber im Grunde wundert mich das überhaupt nicht. Ein Fest brauchen die Leute, vor allem Leute von unserem Schlag. Diese Mischung aus römischem, slawischem, osmanischem und korruptem Blut bekommt uns gar nicht — aber sie lässt uns wahrlich unvergessliche Feste feiern! Die ganze Welt beneidet uns wegen unserer Feste!« Er klatschte und lachte laut auf, sodass der ganze Bus auf uns aufmerksam wurde. Das Gesicht von Zorans Frau lugte verwundert zwischen den beiden vorderen Sitzen hervor. Und auch die Frau, die gegenüber von uns saß, musterte uns misstrauisch. Ich schmunzelte und drückte meinen Zeigefinger an die Lippen, um den beiden anzudeuten, dass auch mir der Lärm, den er veranstaltete, zu viel war.

»Schauen Sie«, begann er wieder, noch bevor ich etwas erwidern konnte, »es ist ja nicht die Welt, die der Balkanese braucht. Sie haben gerade so vortrefflich Ihr Viertel beschrieben, das ich übrigens sehr gut von meinen allabendlichen Spaziergängen kenne — ich wohne nämlich im fünfzehnten Bezirk. Sie müssen wissen, ich beschäftige mich nicht nur mit unseren Herkunftsländern, Sie dürfen mich auch ruhig einen Experten für unsere Diaspora nennen. Die Diaspora braucht nicht viel und will auch nicht viel. Unsere Arbeiterinnen und Arbeiter kitten die Risse in den Fassaden, mörteln dort, wo andere sich zu schade sind, lächeln freundlich hinter der McDonalds-Kassa, ziehen schnell und effizient die Waren über den Laser, pflegen mit einem gewissen Stolz ihren Akzent, wenn sie mal Deutsch reden müssen. Man könnte behaupten, wir halten uns dezent im Hintergrund, rücken erst aus, wenn die großen Arbeiten getan sind und die kleinen anstehen — in jeglicher Hinsicht! Wir putzen, was das Zeug hält, und schrubben, bis man sich in der Kloschüssel spiegeln kann. Aber alles hat ja bekanntlich seinen Preis: Auch wir erkaufen uns für die Schinderei etwas! Wir werden nämlich nicht gefragt. Und beide Seiten haben was davon: Unsere Gastgeber können ihre Integrationsstatistiken hochkurbeln, und wir dürfen unsere eigenen Süppchen kochen. Ist das etwa nichts? Da tun mir die armen Schweine, die jetzt über die Grenzen kommen, von ganzem Herzen leid — auf dem Schwarzmarkt sind sie jetzt noch günstigere Arbeitskräfte als unsereiner. Das kann zu Spannungen führen. Vor ein paar Tagen beispielsweise habe ich einen Bauarbeiter dabei beobachtet, wie er einen dunkelhäutigen Schmächtling erst zur Sau gemacht und anschließend windelweich geprügelt hat. Seine Kumpels haben ihn kaum bändigen können. Was sollten sie auch tun, die Polizei rufen? Arbeitet schließlich die Hälfte dort ohne Papiere! Und als ihm einer auf Kroatisch zurief, was in ihn gefahren sei, antwortete er nur angepisst: Jemand muss diesen Affen mal Manieren beibringen.‹« Wieder lachte er laut auf und verschluckte sich fast dabei. Auch ich schmunzelte verstohlen. Die Szene, die er beschrieben hatte, erinnerte mich an meinen eigenen Vater, der mir auf eine ähnliche Art Manieren beigebracht hatte. Ich konnte es mir nicht erklären, aber dieser Mann gab allem Anschein nach einen Scheiß drauf, was um ihn herum geschah. Er war nicht unfreundlich, sondern frech und aufmüpfig, aber in keiner Weise vulgär oder ausfällig. Seine Art brachte mich zum Lachen, was nicht selbstverständlich war. Seit zwei Tagen schob ich eine innere Unruhe angesichts der baldigen Begegnung mit meinem Vater vor mir her — die Monologe meines Sitznachbarn waren eine willkommene Abwechslung. Er zog seinen Parka aus und schob ihn in den Stauraum über unseren Sitzen. Sein Pullover war übersät mit kleinen Fettflecken. Was tat dieser Mensch hier, fragte ich mich, und wo wollte er hin?

»Wohin fahren Sie, wenn ich fragen darf?«

»Dürfen Sie nicht«, antwortete er harsch, als hätte ich ihn bei etwas Wichtigem unterbrochen, »ich war noch nicht fertig!« Ein stählerner Ernst trat wieder in sein Gesicht, und meine vorherige Zuneigung verflüchtigte sich langsam auch wieder.

»Jeder«, sagte er, »jeder, der behauptet, wir seien alle Bürger gleichen Ranges, der lügt oder ist ein unverbesserlicher Ignorant! Das gilt nicht nur für die Allgemeinheit, sondern auch innerhalb unserer Diaspora — und Sie wissen ja, wie groß unsere Diaspora ist! Wir lassen uns ja selber tagtäglich verarschen und stecken jeglichen Chauvinismus und jegliche Statistik weg, kein Problem. Und wieso? Weil wir keinen Deut besser sind als alle anderen. Und glauben Sie mir, wir beide stellen nicht die edle Ausnahme dar, nur weil wir uns jetzt so gediegen miteinander unterhalten. Egal wie gebildet ich bin oder welchen Pass Sie haben — Sie und ich, wir bleiben Bauern, balkanische Bauern, die jedes Mal Affe schreien, wenn sie eine farbige Person im Fernsehen oder auf der Straße sehen.« Er verpasste mir einen kräftigen Seitenhieb mit seinem Ellbogen. Die Frau neben uns schloss mit einem demonstrativen Schnauben die Augen, während ich mir den schmerzenden Arm hielt.

Langsam kippte die Stimmung, was uns nicht nur die anderen Passagiere durch ihr trotziges Schweigen zu verstehen gaben. Auch mir wurde es langsam zu viel, ich wollte jedoch meinem Ärger nicht freien Lauf lassen. Er machte unterdessen dort weiter, wo er aufgehört hatte: »Im Grunde können auch wir beide uns nicht vor unserer Anfälligkeit für Nostalgie verstecken. Schauen Sie sich nur mal die Viertel an, in denen wir im Grunde alles kriegen, vom bosnischen Börek bis zu serbischen Ćevapčići, von kroatischem Bier bis hin zu montenegrinischen Weinen. Nur das Trinkjoghurt, das mit der Kuh, dürfen sie in Österreich leider nicht importieren. Das beklage ich, ansonsten können wir uns genüsslich den Bauch vollschlagen. Und schauen Sie sich diesen Haufen dort an!« — Zoran und seine Kumpanen waren ungewöhnlich still geworden, manche schauten in unsere Richtung, die anderen zählten die Autobahnlinien: »Man möchte sie einfach nur knuddeln«, sagte er, »das versoffene Pack! Und das Beste an der ganzen Sache ist, dass es in der Diaspora auf Biegen und Brechen funktioniert, dieses Zusammenleben der sogenannten Ethnien«, er hob den Zeigefinger, holte Luft und brüllte euphorisch in den Bus, »schließlich sind wir die Jugos

»Sie brauchen nicht so zu schreien«, antwortete ich sogleich, aber er schien es nicht gehört zu haben oder nicht hören zu wollen. Der Frau gegenüber wurde es zu viel. Sie erhob sich von ihrem Sitz, blieb stehen und musterte mich von oben bis unten. Ich drehte den Kopf zu meinem Nachbarn und tat so, als ob ich sie nicht bemerkt hätte, er tat es mir nach. Sie ging nach vorn, setzte sich zu Zorans Rudel und würdigte uns keines Blickes mehr. Ich grinste den Schriftsteller unsicher an und nickte zustimmend — hoffentlich würde er sich jetzt beruhigen. Ich konnte mich mit seinem verqueren Gedankenlauf anfreunden — trotzdem kaufte ich ihm den Diasporafreund einfach nicht ab.

Ich blickte zum Fenster hinaus, fand aber in der Monotonie der Pannonischen Tiefebene keinen Fluchtpunkt. Wie in einer Dauerschleife wiederholte sich vor meinen Augen ein und derselbe Film. In der Landschaft verstreute Bäume, die sich hin und wieder zu mageren Waldgruppen zusammenrotteten, säumten die Autobahnstrecke nach Serbien. Ich kannte diese Umgebung gut, weil es nicht absonderlich viel zu kennen gab. Diese unerträgliche Fläche machte mich nervös, weil ich wusste, dass sie erst bei Belgrad aufhören würde. Der Busfahrer schaltete das Radio ein. Aus den alten knarzenden Boxen über mir ertönte der heulende Gesang einer Turbofolk-Sängerin, die, nach dem Text zu schließen, gerne ihre Beine für fremde Männer spreizte. Zumindest so viel konnte ich dem unerträglichen Geplärre entnehmen.

»Sie haben recht«, sagte ich leise, mehr zu mir selber als zu meinem Nachbarn. Ich wusste nicht, wieso, aber die Kultur kam mir wieder in den Sinn. Ich drehte mich wieder zu ihm. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass er vielleicht einsam war.

»Es ist schon erstaunlich«, sagte ich, »uns wurde in der Schule immer wieder erzählt, dass zwischen Tigris und Euphrat die menschliche Zivilisation entstanden ist — und gerade von dort aus geht heute die Menschheit zugrunde! Und das, was an dieser sogenannten Außengrenze passiert, beschämt mich nur mehr.« Mein Sitznachbar klatschte erneut in die Hände und rieb sie, als hätte er genau auf diesen Moment gewartet: »Ja, furchtbar«, er legte seine linke Hand auf mein Bein, »