9783862825776_ebook_in_ebook.jpg

Esther Grau



Annette von Droste-Hülshoff


Grimms Albtraum





Grau, Esther: Annette von Droste-Hülshoff – Grimms Albtraum, Hamburg, acabus Verlag 2018

Überarbeitete Neuausgabe


PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-578-3

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-579-0

Print: ISBN 978-3-86282-577-6


Lektorat: Rieke Heinze, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Umschlagmotiv: © By Johann Joseph Sprick (1808–1842) (http://www.bildindex.de) [Public domain], via Wikimedia Commons


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.


Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Erstauflage 2015, acabus Verlag Hamburg

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Januar 1797

Die Frau des Webers schrak zusammen, als die Tür des Kottens aufsprang. In einem Wirbel aus Schneeflocken stürzte eine vermummte Gestalt herein. Catharina riss ihren Säugling aus dem Körbchen neben dem Webstuhl, presste ihn schützend an die Brust und starrte zur Tür.

„Was willst du?“

Die gebückte Gestalt murmelte unverständlich durch das Wolltuch, das sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Sorgsam sperrte sie den Winter aus, der draußen ein hartes Regiment führte. Trotzdem fraß sich die Kälte weiter durch die Ritzen im Ziegelwerk des Weberkottens. Die Ziege im Verschlag nebenan meckerte, als fürchtete sie um ihr karges Futter. Endlich wandte sich der Eindringling der Webersfrau zu und nestelte sich das Gesicht frei.

„Ach, du bist es“, seufzte Catharina, als sie die Bückersche, eine Verwandte aus Schonebeck, erkannte. „Ist etwas passiert?“

„Und ob! Ich bin gekommen, um dich zu holen. Man braucht deine Hilfe.“

Die Bückersche klopfte sich auf der Deele den Schnee von den Kleidern. Wangen und Nase glühten ihr vor Kälte; die flachsfarbenen Haarsträhnen klebten durchnässt an den Ohren. Eilig folgte sie Catharina zu dem kleinen Ofen in den Webraum, der die staubgesättigte Luft spärlich wärmte.

„Wem soll ich helfen?“

„Bei den Drostes auf Hülshoff ist das Kleine angekommen, aber sie fürchten, der arme Wurm überlebt es nicht.“

„Die gnädige Frau ist jetzt schon niedergekommen?“

„Ja, vor der Zeit. Gestürzt ist sie auf dem Eis der Gräfte und jetzt ist das Siebenmonatskind so zart, dass alle um sein Leben fürchten. Es trinkt wohl nicht.“

„Aber wie kommst du auf mich?“

„Na, sie suchen eine Amme. Der Pfarrer in Roxel hat es von der Kanzel verkündet und da habe ich gleich an dich gedacht. Du hast mir doch selbst gesagt, du hättest Milch für zwei. Deshalb bin ich gleich zu euch nach Altenberge aufgebrochen.“

„Wie stellst du dir das vor? Joan Bernard ist kaum sieben Wochen alt und mein Mann hustet sich die Seele aus dem Leib.“ Wie aufs Stichwort ertönte heiseres Husten aus der Upkammer, das gar nicht mehr aufhören wollte. „Er ist zu schwach zum Weben, also muss ich das Leinen fertigmachen.“

„Mit dem Kind an der Brust schaffst du die Arbeit doch nicht und wirst am Ende auch noch krank. Die Stelle als Amme ist ein Glücksfall für dich – sie werden dich gut entlohnen.“

„Ich mache es nur, wenn ich meinen Kleinen mitbringen kann.“

„Natürlich. In einer Stunde ist die Kutsche aus Hülshoff hier.“

„Du hast schon zugesagt?“

„Glaub mir, etwas Besseres kann euch gar nicht passieren.“

Catharina nickte zögerlich, legte ihren Sohn zurück ins Körbchen und stieg in die Upkammer hinauf. Ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns würde sie nicht gehen.

Als sie nach wenigen Minuten zurückkehrte, trug Catharina bereits ein Wäschebündel unterm Arm. Sie brauchte nicht lange, um ihre wenige Habe zu packen. Zum Schluss wickelte sie ihren Säugling in zwei Wolldecken und umschlang das unförmige Bündel mit beiden Armen.

„Bekommt er noch Luft?“

„Besser nicht zu viel, eisig, wie sie draußen ist.“

Dass Catharina ihr Neugeborenes für ein anderes der winterlichen Kälte aussetzen musste, gefiel ihr ganz und gar nicht. Wenigstens stand die Familie von Droste auf Burg Hülshoff im Ruf, großzügig zu sein. Seit fast vierhundert Jahren lebte sie hier als Gut- und Grundbesitzer. Die Bauern zahlten ihnen Abgaben, luden sie aber auch – wie alle Nachbarn – zu ihren Hochzeiten ein. Solange Catharina auf Burg Hülshoff blieb, wären sie und ihr Kind gut versorgt. Ammen bekamen beste Nahrung, um bei Kräften zu bleiben, und sobald ihre Dienste nicht mehr vonnöten waren, kehrte sie mit mehr Geld heim, als sie in der Zwischenzeit am Webstuhl verdienen konnte. Catharina blieb keine Wahl: Sie musste gehen.

„Hoffentlich stirbt mir’s nicht weg.“

Als sie Pferdegetrappel vor dem Weberkotten hörten, stapften Catharina und die Bückersche durch den Schnee zur Kutsche. Das Gespann kam in der widrigen Witterung nur langsam voran. Der Schneefall zog sich zu einem dichten Vorhang zusammen, der die Sicht verschleierte und die Fahrt zu einer Reise ins Ungewisse machte. Zudem waren die vom Regen verschlammten Wege durch einen Kälteeinbruch so stark vereist, dass die Kutsche eher rutschte, als fuhr. Unter lautem Peitschenknallen und Fluchen trieb der Kutscher die Pferde voran. Auf dem überfrorenen Schnee gerieten sie mit ihren Hufen immer wieder ins Schlingern. Hart hielt der Kutscher die Zügel, rang dem Winter Stück für Stück des Weges ab. Die Bückersche kreischte bei jedem Wanken der ächzenden Kutsche.

„Gott steh uns bei, dass wir nicht im Graben landen.“

Catharina faltete die Hände zum Gebet.

Endlich erreichte die Kutsche Burg Hülshoff. Durch den dichten Schnee ahnte Catharina nur die erhabenen Umrisse des Wasserschlosses, dessen Fenster sie wie Leuchtfeuer empfingen. Die Kutsche ruckte ein letztes Mal, als sie von der Auffahrt nach rechts einbog, um über die Brücke zu fahren, die den Wassergraben des Herrenhauses überspannte.

Catharina kannte Burg Hülshoff nur aus der Ferne. Nicht einmal bis zu den Wirtschaftsgebäuden auf der anderen Seite der Brücke war sie gekommen. Nun aber fuhr die Kutsche sie bis in den Burghof und vor die Treppe zum Eingangstor. Kaum standen die Räder still, eilten Bedienstete mit schwankenden Laternen herbei, die sich gegen den züngelnden Wind wehrten. Ein Hausknecht öffnete den Verschlag und reichte Catharina beim Aussteigen die Hand. Für einen Augenblick fühlte sich Catharina wie eine der adligen Damen, die hier ein- und ausgingen. Doch schon der nächste Windstoß trieb ihr die Tränen in die Augen und die Fantasie aus. Sie stolperte hinter dem Hausknecht in den Flur. Kristine, eines der Hausmädchen, nahm ihr den Sohn ab und versprach, sich um ihn zu kümmern. Der Hausknecht winkte ungeduldig, weil er Catharina ins Obergeschoss führen wollte. Beim Hinaufgehen stach ihr ein eichener Leinenschrank auf Kugelfüßen ins Auge. Mehr als die kunstvolle Schreinerarbeit beeindruckten sie seine gewaltigen Ausmaße. Wie viel Wäsche mochte er bergen! Wer einen solchen Wäscheschrank füllen konnte, musste wahrhaft wohlhabend sein, das wusste sie als Leinenweberin genau.

Oben, vor dem Schlafzimmer der Freifrau, gebot ihr ein Herr mit Halbglatze und Stirnfalten Einhalt. Er musterte Catharina von Kopf bis Fuß.

„Du musst dich zuerst waschen.“

Catharina errötete. Obwohl sie schon ihren besten Rock und die Sonntagsschürze trug, fühlte sie ihre Schäbigkeit in den eleganten, hohen Räumen wie einen Fluch. Als könnte sie nicht auf sich halten! Innerlich verwünschte sie die Ungerechtigkeit, dass sie feinstes Leinen webte, aber selbst in besseren Lumpen ging.

Die vielfach geflickte Kleidung der Weberin kümmerte den Arzt nicht. Sein Blick galt allein dem, was sie verhüllte.

„Wenigstens hast du was auf den Rippen“, nickte er anerkennend. „Bist du nach deiner Niederkunft wieder bei Kräften?“

„Es geht.“

„Eine gesunde Gesichtsfarbe hast du zum Glück. Das ist gut, die meisten Webersleute sind grau wie ihr gröbstes Leinen.“

Der Arzt lachte über seinen Vergleich, umfasste Catharinas linkes Handgelenk mit festem Griff und nickte befriedigt zu dem regelmäßigen Pochen, das durch die Haut drang. Als nächstes streckte der Doktor die Hand nach Catharinas Gesicht aus. Erst glaubte sie, er wollte ihr wie einem Kind in die Wange kneifen, doch seine Bewegung zielte auf ihren Mund. Mit Daumen und Zeigefingern spreizte er der Weberin routiniert die Lippen auseinander, um ihr Gebiss zu begutachten. Heftig riss Catharina ihren Kopf zurück. Wenn man sie schon wie Vieh behandelte, würde sie sich eben wie eines benehmen.

„Na, was zierst du dich? Du hast doch gute Zähne. Jetzt streck die Zunge heraus.“

Dieser Aufforderung kam Catharina liebend gern nach.

„Augenscheinlich gesund“, diagnostizierte der Arzt und schickte Catharina fort, um sich und ihre Kleidung zu reinigen.

Als Catharina eine Viertelstunde später sauber und in einem frischen Kattunkleid von Kristine zurückkehrte, ließ sich der Arzt ihre Hände zeigen und stellte ihr noch einige Fragen zu ihrem Milchfluss. Wieder lief Catharina rot an. Wie konnte ein Mann so etwas fragen? Gebären und Stillen waren doch Frauensache. Mit einer erfahrenen Hebamme an der Seite brauchte niemand einen Arzt dafür.

„Antworte mir. Ich bin für die Gesundheit der gnädigen Frau und ihr Kind verantwortlich und muss daher genau wissen, wie es um deinen Körper steht.“

Catharina senkte ergeben den Blick und beantwortete widerwillig alle Fragen des Arztes. Er überraschte sie mit seinem detaillierten Wissen über den weiblichen Körper. Als er endlich mit ihren Auskünften zufrieden war, leuchtete Catharinas Kopf dunkelrot. Ohne weitere Umstände führte der Arzt die Weberin zum Schlafzimmer.

„Gnädige Frau, hier ist die Amme – Maria Catharina Plettendorf aus Altenberge.“

Catharina schlug der strenge Geruch des Wochenbetts entgegen, als der Arzt sie über die Schwelle schob. Ein großes Ehebett dominierte den Raum. In Altenberge schlief eine ganze Familie mit mehreren Kindern in einem solchen Bett, aber hier lag nur eine einzelne Frau darin. Es sah fast so aus, als habe das Bett sie verschluckt und nur ihr Kopf ragte noch aus seinem Rachen. Die blutarme Haut der Freifrau Therese von Droste-Hülshoff wirkte weiß wie ihr Nachthemd. Nur ihr dunkles Haar stach von den Laken ab, als gehörte es gar nicht zu ihr. Doch aus dem erschöpften Gesicht blickten Catharina höchst aufmerksame Augen entgegen, die sie begutachteten. Offenbar fehlte der Freifrau die Kraft, zu sprechen, so wies sie stumm auf eine Wiege in der Ecke des Raums. Catharina lugte hinein und fand einen winzigen Säugling, der aussah wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Er tat keinen Mucks, selbst sein Atem war kaum zu spüren. Durch die Haut schimmerten die Adern. Mit größter Vorsicht hob Catharina das Kleine auf den Arm und legte es auf Geheiß des Arztes sofort an. Ihr fielen die außergewöhnlich großen, himmelblauen Augen des Säuglings auf, die sie wie tiefe Brunnen magisch anzogen.

Für einen Moment schien der Säugling nicht zu wissen, was zu tun sei. Dann gab er einen kleinen Laut von sich und begann zum Erstaunen von Mutter und Arzt zu trinken.

„So ist’s recht, mein Vögelchen, trink dich stark an deiner Amme“, flüsterte Catharina und wandte sich dann an den Doktor. „Wie heißt denn der kleine Wurm?“

„Anna-Elisabeth. Sie wird Annette genannt.“

Frühjahr 1802

„Liebste Mutter, alles Gute zum Namenstag.“ Annette fiel ihrer Amme um den Hals.

In den zwei Jahren, die Catharina die kleine Annette auf Hülshoff aufgepeppelt hatte, war sie dem Mädchen zur zweiten Mutter geworden. Als die Amme mit ihrem Söhnchen schließlich in den Weberkotten zurückkehrte, blieb der Kontakt zur Familie eng.

Catharina strich Annette über den Blondschopf und wirbelte das Mädchen hoch in die Luft, bis es vor Freude quietschte.

„Ich danke dir, meine kleine Elfe.“

Annettes feingliedrige Gestalt und ihr zartes Gesicht, in dem die wassertiefen Augen wie Seen inmitten makellos weißer Haut schwammen, verliehen ihr die Anmut eines seltenen Schmetterlings.

Nachdem Annette vorausgestürmt war, betrat jetzt ihr Vater, Freiherr Clemens August von Droste-Hülshoff, mit seiner stattlichen Gestalt die Deele. Er hielt Annettes ältere Schwester Jenny an der einen und ihren jüngeren Bruder Werner an der anderen Hand. Die Sonne zauberte ihm von draußen einen letzten Glanz in die rotblonden Locken, die seine weichen, fast weiblichen Gesichtszüge betonten. Freifrau Therese trug Nesthäkchen Ferdinand auf dem Arm herein. Der Zweijährige, den alle nur Fente nannten, konnte seine Finger nicht von der feinen Spitze ihrer Haube lassen.

Catharina lief geschäftig hin und her, um ihren Gästen Kaffee auszuschenken. Den Kindern stand der Sinn jedoch nach etwas anderem.

„Bitte erzähl uns wieder eine Geistergeschichte“, plärrte Werner, sobald alle Besucher an ihren Tassen nippten.

Als Catharina nickte, versammelten sich die Kinder zu ihren Füßen und lauschten atemlos, wie die Amme vom kopflosen Geiger, dem Fiedler Knauf, erzählte, der auf einem alten Waldsteg saß und Wanderern auf ihrem Weg auflauerte. Die Amme flüsterte weiter vom gespenstischen Gräberknecht und ließ das Ächzen jenes diebischen Torfgräbers im Moor hören, sodass Annette ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Jenny krallte sich in Annettes Arm. Der kleine Werner starrte die Amme mit offenem Mund an. Nur Ferdinand war auf dem Schoß seiner Mutter eingeschlafen, die sehr aufrecht auf einem der wenigen Stühle saß.

Vater Clemens war derweil mit dem Weber nach draußen geschlendert, da er den Lungenkranken an die Luft locken wollte. Armut und Arbeit hatten dem Handwerker das Kreuz gebeugt, aber der Plausch mit dem hohen Herrn zog seine Mundwinkel nach oben. Was der Vater von den düsteren Geschichten aus dem Moor mitbekommen mochte, interessierte ihn eher, als dass es ihn abschreckte. Immerhin sammelte er in seinem liber mirabilis selber wunderliche Geschichten über Spuk und Gespenster, Vorsehungen und Hellsichtiges, Heil- und Zauberrezepte, die ihm die Landbevölkerung zutrug. Mit Vorliebe blätterte der Freiherr abends am Kamin in seinen Aufzeichnungen und prüfte, ob sich einige dieser Ahnungen inzwischen bestätigt hatten.

„Woher kommen nur all die Geister?“, wunderte sich Werner, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.

„Es sind arme Seelen aus dem Fegefeuer, mein Kleiner. Sie geistern im Moor, im Wald und in der Heide herum. In der Davert spuken sie am liebsten. Bete für sie, dass sie erlöst werden!“

Werner nickte und faltete sofort seine kleinen Fingerchen. Annette kannte die Davert durch Kutschfahrten allzu gut. Die Waldheide dehnte sich südlich von Münster so weit in alle Richtungen aus, dass sich ein Wanderer darin leicht verirren konnte – mit oder ohne Zutun der Geister.

„Die Spinnenlore wird oft in der Davert gesehen, wie sie mit ihrer Haspel umgeht. Leonore hieß die Spinnerin, als sie noch leiblich auf Erden wandelte. Man sagt, sie habe viele Menschen betrogen, als sie ihr Garn verkaufte. Ihre Haspel hatte das falsche Maß. Nun muss sie Buße tun. Also, lasst euch nicht vom Bösen versuchen, damit ihr nicht auch in ewiger Verdammnis wandeln müsst.“

Die Kinder nickten heftig.

„Aber was ist mit den Hausgeistern, Mutter“, hakte Annette nach, „die sind doch nicht böse, oder?“

„Nein, sie beschützen das Haus. Ich habe sogar schon erlebt, dass eine Familie verarmte, nachdem ihr Hausgeist verschwunden war. Wisst ihr, Hausgeister sind keine tückischen Kobolde, sie können sich nur einfach schwer von dieser Welt trennen. Manche haben früher selbst in dem Haus gelebt, in dem sie jetzt umgehen.“

„So wie der Schlossgeist in Hülshoff, der alte Ritter?“, fragte Annette.

„Ja, genau.“

„Wie sieht denn so ein Hausgeist aus?“, fragte Werner.

„Ihr könnt sie an den Hüten erkennen. Langhüte sind hagere Gestalten, die einen großen Schlapphut tragen und Unglück von Haus und Hof fernhalten. Die Timphüte dagegen sind kleine, runzlige Männlein mit eisgrauem Bart. Sie tragen dreieckige Hüte zu altmodischen Trachten und bringen ihrem Haus manchen Segen.“

„Wohnen sie auf dem Dachboden?“, fragte Annette, die sich gut an das nächtliche Knarren auf dem Speicher über ihrem Schlafzimmer erinnerte. Zwar wohnte das Hauspersonal in den Dachmansarden, doch selbst wenn tief in der Nacht alles schlief und nur noch Annette – wie so oft – wachlag, knarzte und knarrte es über ihr.

„Ja, oft hausen sie in einer Bodenkammer“, bestätigte die Amme, „aber meistens sind sie auf langen, einsamen Spaziergängen unterwegs. In der Dämmerstunde könnt ihr sie am ehesten sehen, wenn sie träumerisch einherschreiten.“

„Es wäre mir lieber, du würdest den Kindern biblische Geschichten erzählen“, schaltete sich jetzt die Freifrau ein.

„Die warnen sie aber nicht vor dem Moor.“

„Dafür schützen Gottvertrauen und Vernunft vor Aberglauben.“

„Aber Mama, meine liebe Amme ist doch fromm! Ich habe schon so viele Gebete von ihr gelernt.“

In dem Moment kam der Vater mit dem Weber zurück und unterbrach die Debatte.

„Wie geht’s meinem Patenkind?“

Annettes Vater hob den jauchzenden Sohn der Amme auf den Arm. Er trug seinen Namen – Clemens August. Im Vergleich zu seinem eigenen, etwas dicklichen Sohn Werner wirkte der kleine Clemens recht schmal, machte aber einen gesunden, fröhlichen Eindruck.

Annette sah, wie ein Schatten auf das Gesicht ihrer Amme fiel und fasste ihre Hand, denn auch sie vermisste den ältesten Weberssohn Joan, ihren Milchbruder, der letztes Jahr an den Pocken gestorben war.

„Wir müssen los“, drängte Freifrau Therese. „In unserer Nachbarschaft hat es Nachwuchs gegeben. Wir wollen noch der Wöchnerin gratulieren.“

Die Hülshoff-Kinder waren es gewohnt, die umliegenden Bauernfamilien zu besuchen. Ihre Eltern kümmerten sich um sie, weil sie es als ihre christliche Fürsorgepflicht verstanden, sich der Sorgen und Nöte ihrer Bauern anzunehmen. Die Bauern ihrerseits fühlten sich geehrt, wenn die Adelsfamilie zum Kaffee kam. Geburt und Tod waren erst recht ein Grund zum Besuch. Stand blieb Stand, aber auf dem Land hielten Nachbarn zusammen.

„Fahren wir morgen nach Hohenholte?“, fragte Jenny, denn die Familie besuchte nicht nur regelmäßig Verwandte und Bauern in der Nachbarschaft, sondern auch das Damenstift Hohenholte. Die Mutter, die selber eine Erziehung im Frauenstift Freckenhorst genossen hatte, liebte die Gesellschaft der Äbtissin und ihrer Stiftsfräulein. Jenny eiferte ihr darin nach. Sie saß jedes Mal sehr gerade neben den frommen, adeligen Damen, in deren Kreis sie schon als Fünfjährige aufgenommen wurde, wenn auch vorerst nur auf dem Papier. Die Eltern sicherten so die Zukunft ihrer Tochter ab. Denn nur Werner, der älteste Sohn und Stammhalter, würde eines Tages Hülshoff und all seinen Besitz erben. Als Stiftsfräulein sollte Jenny später von den Einkünften des Klosters leben, dem sie jederzeit den Rücken kehren konnte, falls sie heiraten wollte.

„Ja, nach Hohenholte“, krähte Werner und fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen, als schmeckte er noch immer das feine Zuckergebäck, das die Stiftsdamen reichlich auftischten.

Annette sah versonnen aus dem Fenster. Vor ihrem geistigen Auge sprangen fantastisch kostümierte Schauspieler über die Bühne, die inbrünstig ihren Text deklarierten und vor den seufzenden Stiftsdamen ihre Stücke spielten. In ihren Ohren klangen die Konzerte nach, denen sie dort gelauscht hatte. Noch immer fühlte sie, wie die Musik ihren ganzen Körper ergriff. Hohenholte war für alle Geschwister ein Fest der Sinne.

„Nette, verabschiede dich endlich“, mahnte die Mutter.

Als Annette nach langen Umarmungen über die Türschwelle des Weberkottens trat, schrie sie auf. Zu ihren Füßen lag eine tote Drossel. Sofort drängten sich die anderen Kinder um sie. Annette weinte nach dem Vater, der sich schließlich durch die Kinderschar drängte und den schwarzen Vogel behutsam aufhob.

Annette sah nachdenklich auf die große Hand des Vaters, in der der kleine, leblose Kerl beinahe verschwand. Jenny weinte und schaute fort.

„Nein, seht euch den Tod gut an, Kinder. Er soll euch daran erinnern, dass unser Leben kurz und kostbar ist.“

„Dürfen wir ihn begraben, Papa?“

Der Vater nickte und wartete, bis die Kinder einen Busch in der Nähe zur Grabstätte auserkoren hatten, wo er mit einer rasch herbeigeschafften Schaufel ein Loch aushob. Auf dem Land machte man zwar gewöhnlich wenig Aufhebens um einen Singvogel, aber der Freiherr hatte mit eigenen Händen ein Vogelhaus auf Hülshoff gebaut und Annette schon mehr als einmal bitterlich um den Verlust eines Tierchens geweint.

Später, als sich die Geschwister längst beim Ballspiel vergnügten, hielt sich Annette eng an der Seite ihres Vaters. Sie griff seine Hand, die zuvor den toten Vogel gehalten hatte, und besah sie versonnen.

„Wenn du in den Himmel kommst, Papa, wirst du dann deinen großen Leberfleck behalten?“

„Aber nein, Nettchen. Im Himmel sind wir von allen Flecken rein. Wenn ich wieder einen Körper annehme, werde ich wie ein junger Bursche sein.“

Vor Schreck ließ Annette die Hand ihres Vaters fahren. Tränen kullerten ihr zu beiden Seiten über die Wangen.

„Was hast du denn, mein Kind? Wir werden uns im Himmel doch wiedersehen.“

„Aber Papa“, schluchzte Annette, „wie soll ich dich denn dann erkennen? Wenn du aussiehst wie ein fremder Mann und nicht mehr wie mein lieber Vater!“

Clemens von Droste-Hülshoff umarmte seine jüngste Tochter fest und versicherte ihr, dass sie sich wiedererkennen würden.

3. August 1802

„Schön schreibst du das ABC, Nette, nur weiter so.“

Seit dem vergangenen Winter unterrichtete die Freifrau ihre Töchter in Lesen, Schreiben und der christlichen Lehre. Annette war noch keine sechs Jahre alt, als sie anfingen, aber so zart ihr Körper gebaut war, so ungestüm verlangte ihr Geist nach Nahrung. Trotzdem gingen ihr noch tausend andere Dinge neben dem Unterricht durch den Kopf.

Da die Brüder noch zu jung waren, verzichteten die Eltern vorerst auf einen Hauslehrer und ließen die Mädchen bei der Mutter lernen.

Annette kritzelte auf ihre Schiefertafel; Buchstaben richtig schreiben hieß die eine, Schönschreiben die andere Herausforderung.

„Nicht so klein, Nette, wir wollen es doch noch lesen können – und setz dich gerade hin.“

Annette hob gehorsam Kopf und Schultern. Sie sagte nicht, dass die Buchstaben dann vor ihren Augen tanzten und sie am liebsten mit der Nasenspitze über die Tafel gefahren wäre, um nur auf der Linie zu bleiben. Denn es war klar: Behielt sie Haltung, verloren die Buchstaben die ihre – und umgekehrt. Krampfhaft versuchte sie, einen Mittelweg zu finden.

„Nimm dir ein Beispiel an Jenny. So soll Schönschrift aussehen“, mahnte die Mutter, dieses Mal mit mehr Ungeduld in der Stimme.

Mit einem heftigen Ruck brachte Annette ihren ganzen Körper in Position. Unwillkürlich fegten ihre Arme die Zeichenstifte vom Tisch. Sofort sprang Annette auf, um sie aufzusammeln. Dabei biss sie sich fest auf die Lippe. Warum hatte ausgerechnet sie ein Musterkind zur großen Schwester? Jenny musste augenscheinlich nicht einmal etwas dafür tun. Sie wirkte wie ein stiller Engel und was sie anfasste, gelang.

„Unordnung in den Geschäften bringt Unordnung in die Seele“, seufzte die Mutter und Annette wusste nur zu gut, wen sie zitierte. Gelegentlich besuchte sie nämlich die Vorträge eines Geistlichen aus Münster, weil sie seinen erzieherischen Rat suchte. Bernard Overberg, wie dieser freundliche ältere Herr hieß, schätzte man in Münster als „Lehrer der Lehrer“. Annette mochte es, wenn er ihr bei Besuchen wie ein Großvater übers Haar strich. Alle Kinder wussten, dass er gegen die Rute predigte. So verlangten Annettes Eltern Gehorsamkeit, wie sie in den Geboten stand, erzogen ihre Kinder aber mit Güte und Blick für individuelle Talente. Liebe statt Angst sollte das Betragen der Kinder lenken. Wenn Annette wie die Bauernkinder ohne Schuhe und Strümpfe im Garten umherlief oder die Geschwister wild durchs Haus rannten, schickte die Mutter sie zur Strafe auf ihr Zimmer, Schläge aber bekam sie nie.

In Reichweite der Mutter lag neben dem ABC-Buch ein schm­aler Band, den sie eifrig studierte. Der Kinderfreund buchstabierte sich Annette den Titel zusammen. Einmal hörte Annette ihre Mutter halblaut lesen. Es ging darin wohl um freudige und glückliche Kinder, denen man jede Art des Unterrichts zum Spiel machen sollte. Das klang wie Musik in Annettes Ohren. Noch lieber hatte sie die Geschichten, die Mutter manchmal aus dem Buch vorlas. Denn darin ging es um Erlebnisse von vier Geschwistern, zwei Jungen und zwei Mädchen – genau wie in ihrer Familie. Annette hatte inzwischen schon so viel über Carl, Fritz, Lottchen und Luischen gehört, dass sie ihr genauso wirklich wie ihre Großeltern und anderen Verwandten im Paderborner Land vorkamen, die sie auch nur aus Erzählungen der Mutter kannte. Annette träumte sich zu ihnen, während Jenny weiter schönschrieb. Die Mutter nickte zufrieden.

Da platzte der Vater mitten in den Unterricht.

„Die Preußen sind da! Ich habe es gerade aus der Stadt erfahren.“

Die Mutter war so überwältigt, dass ihr die Hände hilflos in den Schoß sanken.

„Heute Morgen um halb zehn haben sie Münster eingenommen“, erzählte der Vater noch immer atemlos. „Sie rückten durch das Mauritz-, Aegidii- und das Neue Stadttor ein. Das Husarenregiment von General Blücher und drei Bataillone Füsiliere versammeln sich auf dem Schlossplatz. Blücher hat den Besitzwechsel schon verkündet.“

„Ohne Widerstand?“, fragte seine Frau ungläubig.

„Der Stadtrat hat wohl nur zaghaft aufbegehrt und das Domkapitel überreichte eine formelle Protestnote. Aber die Preußen ließen keinen Zweifel, dass sie auf der Stelle die Regierungsgeschäfte übernehmen wollen. Sie haben offensichtlich nicht nur ihre Truppen, sondern gleich Zivilbeamte mitgebracht.“

„Hat sich kein einziger in Münster gewehrt?“, wollte Jenny wissen.

„Es muss gespenstisch gewesen sein. Die Münsteraner sahen alles mit an und taten keinen Mucks. Manche haben stumm geweint. Die ganze Stadt war in Trauer.“

„Aber warum denn?“, fragte nun Annette, die die Zusammenhänge noch nicht begriff.

Vater Clemens ging in die Hocke und sah seiner Tochter in die Augen. „Seit Jahrhunderten leben wir hier in einem Kirchenstaat. Münster wurde von Fürstbischöfen regiert. Du kennst doch das Bild vom Fürstbischof Maximilian Franz?“

Nette nickte.

„Er war unser letzter Fürstbischof; seit seinem Tod übernahmen die Geistlichen des Domkapitels die Regierung. Doch es hat Revolutionen und Kriege gegeben. Frankreich hat unter Napoleon Bonaparte immer mehr Land erobert und mir scheint, ganz Europa ordnet sich neu.“

„Auch unser Münster?“, flüsterte Annette ungläubig, die den französischen Kriegsherrn schon über die weitläufigen Wiesen und Felder, die Burg Hülshoff umgaben, nahen sah.

„Nein, aber es gab Verhandlungen, in denen man Land ausgetauscht hat. Alles links vom Rhein bleibt jetzt in französischer Hand. Die Preußen bekommen dafür einen großen Teil des Fürstbistums Münster.“ Der Vater suchte einen Atlas und zeigte seinen Töchtern mit dem Finger, wie sich die Landkarte veränderte. „Der Rest verteilt sich an andere Anwärter, die für ihre verlorenen Rheingebiete entschädigt wurden. Das Fürstbistum Münster ist erloschen und wir werden nun von weltlichen Herren regiert.“

Die Mutter schlug die Hände vors Gesicht. „Sie werden die Stifte und Klöster auflösen. Alles fällt an den Staat und die Preußen! Diese fühllosen Protestanten werden der katholische Kirche mit Freude ihre Schätze und Ämter nehmen.“

„Aber was passiert mit den Stiftsfräulein in Hohenholte und Tante Dorly in Freckenhorst? Jagt man sie etwa fort?“

„Das weiß ich nicht, Jenny. Ach, meine Mädchen, wer wird euch später versorgen, wenn ihr nicht heiratet?“

August 1804

Goldpapier knisterte in Annettes Händen, die es wachsam wie wertvollen Schmuck umfassten. In der Mittagszeit, wenn sich die meisten Familienmitglieder auf ihre Zimmer zurückzogen, huschte die siebenjährige Annette aus dem Haus, über Burghof und Brücke hinüber zur Vorburg, wo das Vieh in seinen Ställen stampfte. Als erstes lief sie zur östlichen Burgmauer, um das Relief eines Urahnen ihrer Familie zu bewundern: Heinrich I. von Droste zu Hülshoff saß dort hoch zu Ross für alle Zeiten in Stein gehauen. Gerüstet reckte der Ritter seinen Kommandostab und trug den Schild mit dem Drosteschen Familienwappen: dem fliegenden Fisch. Lange konnte sich Annette nicht vom Bild ihres Vorfahren lösen, der einst an der Seite des Bischofs gegen die Münsteraner Wiedertäufer kämpfte. Annette meinte, sein stolzes Ross mit dem edel gebogenen Hals schnauben zu hören, so lebendig stand ihr die Szene vor Augen. In ihrem Kopf tanzte die Geschichte ihrer Familie entlang der langen Ritterreihe bis zu jenem, der als erster das Drostenamt beim Domkapitel erhielt und fortan vererbte, wenngleich es heute bloßer Name war. Sie erzählte von den Ahnen, die nicht nur im Dienst eines geistlichen Herrn standen, sondern auch weltliche Geschicke lenkten. Erbmänner waren die Vorfahren gewesen, Angehörige des Stadtpatriziats von Münster, die viele Bürgermeister stellten. All diese Familiengeschichten entzündeten Annettes Fantasie, als seien sie Seiten eines lebendigen Sagenbuchs. Sie machten sie so schwindelig wie der Gärtnersturm am Ende der Burgmauer, wenn sie den Kopf in den Nacken legte und an seiner Ziegelfassade hinaufsah. Der Turm schwankte bedrohlich gegen den Himmel. Schnell wandte Annette ihre Augen ab und holte tief Luft. Bis hierher hatte sie noch nichts Verbotenes getan. Die Kinder durften sich frei auf dem weitläufigen Burggelände bewegen, weil die Freifrau als Kind selbst gern draußen herumgestreift war. Den Turm aber hatte sie ihrem Nachwuchs untersagt. Zu steil und alt sei die ungesicherte Treppe, die sich daran in die Höhe schraubte. Das allein hätte Annette noch nicht abgehalten. Sie war leicht und ihre kleinen Füße hatten sie schon über manch wackligen Steg balanciert. Nicht was die Mutter, sondern was der Vater über den Turm sagte, ließ Annette zögern. Der Geist des alten Ritters triebe hier angeblich sein Unwesen und sei alles andere als ein gutmütiger Hausgeist. Wirklich pfiff und zog es schauerlich rund um den Gärtnersturm. Selbst von ganz unten hörte Annette die rostige Wetterfahne quietschen, obwohl es fast windstill war. Annette fröstelte bei dem Gedanken, dass der Geist selbst bei helllichtem Tage zu spuken wagte.

Aber sei’s drum, sie wollte unbedingt in den Turm. Entschlossen lief Annette zur Tür und griff nach dem Eisenring. Mit Mühe stieß sie die Tür einen Spalt auf. Annette hatte sich geschworen, ihren Goldschatz an einem Ort zu verstecken, wo er vor Familie und Fremden gleichermaßen sicher war. In der Spitze des Turms, den kaum jemand betrat, sollte er für Generationen sicher sein. Annette schlüpfte durch die Turmtür.

Im ersten Moment sah sie nichts. Die Augen noch voller Sonne, ahnte sie nur die Umrisse einer Steintreppe, die an der Wand emporkroch. Annette betastete die ersten Stufen und hielt gleich eine abgebrochene Steinkante in der Hand. Mama wusste offenbar, was sie verbot. Trotzdem tappte Annette nach oben. Sie musste es einfach bis in die Spitze schaffen, das kam ihr wie ein Auftrag vor.

Drohend zischte der Wind herein. Annette riss ihren Kopf herum. War da nicht eine Bewegung im Augenwinkel? Sie kniff die Augen zusammen, doch es blieb ruhig. In der Dunkelheit, die wie alles vor ihren Augen zu einem Schleier verschwamm, war weder Geist noch Mensch zu erkennen. Jetzt konzentrierte sich Annette ganz auf die Treppe. Mit beiden Händen glitt sie an der rauen Turmwand entlang, an deren starken Unebenheiten sie ein wenig Halt fand. Außerdem wahrte sie so die größtmögliche Distanz zur steil abfallenden Treppenkante. Ob hier jemals ein Geländer existiert hatte? Jetzt jedenfalls war jede Spur davon zerfallen. Annettes Taktik funktionierte: an der Wand hochtasten, der rechte Fuß prüfte die nächste Stufe, der linke zog nach und so fort. Von Stufe zu Stufe ging es besser.

Plötzlich stieß ein Falke herab.

Annette taumelte, krallte sich an die Wand, riss sich die Hand auf.

Der verirrte Vogel fand den Weg zurück nach oben und verließ den Gärtnersturm durch einen verborgenen Spalt. Atemlos lauschte Annette ins Dunkel. Als alles still blieb, eilte sie weiter, bis sie endlich auf den letzten Absatz gelangte. Ein vager Lichtstrahl fiel auf Annettes verletzte Hand. Die Haut an ihrer linken Handkante war abgeschürft, doch es schmerzte mehr, als es blutete. Annette merkte, dass sie jedes Zeitgefühl verlor und beeilte sich darum, ein Versteck für ihren Schatz zu finden. Bevor sie das goldene Briefchen endgültig zwischen den Dachsparren des Turms verbarg, faltete sie es noch einmal auf.

Nur vier Zeilen standen darauf.

„Kom Liebes Hähnchen kom heran

Und friß aus meinen Händen.

Nun kom du Lieber kleiner Mann

das sie’s dir nicht entwenden“

Das Hähnchen, ein verkrüppeltes Federvieh, das hinter seinen Artgenossen über den Hof humpelte, war Annette seit kurzem ans Herz gewachsen. Da das Tier nur wenige Körner abbekam, blieb es knochendünn. „Spillerig“ nannte ihn die Köchin und wurde ihm lange nicht gefährlich. Annette steckte dem humpelnden Hähnchen Extrakörner zu, vielleicht, weil sie selbst so zart war, dass man sie von allen Seiten aufpäppelte. Ihr Hähnchen machte sich dank Annettes Zuwendung nicht nur zu einem recht stattlichen Hahn heraus, sondern bedankte sich mit tiefer Zutraulichkeit zu dem kleinen Freifräulein. Diesem Haustier widmete Annette ihr erstes Gedicht. Die Feder zitterte ihr dabei, so aufgeregt war sie beim Schreiben. Jetzt schob sie das Goldpapier tief zwischen zwei Latten, damit es das echte Hähnchen lange überlebte.

„Das ist der Anfang“, flüsterte Annette, als wollte sie es sich selbst versprechen. „Das ist erst der Anfang.“

Oktober 1804

Vier Paar leuchtende Kinderaugen blitzten aus der Hülshoffer Kutsche, die von Havixbeck ins nahe Münster fuhr. Annette und ihre Geschwister liebten jeden Stadtausflug und den heutigen besonders, denn in Münster war Send, die größte Kirmes des Münsterlandes.

In der blau ausgeschlagenen Familienkutsche saß Annette neben der Mutter und Tante Dinett, wie die Kinder Mutters Stiefschwester Ferdinandine von Haxthausen nannten. Ihr gegenüber schaukelte Ferdinand auf den Knien seines Vaters, an dessen Seite sich Jenny und Werner drängten.

„Papa, heute kaufen wir eine Flinte, nicht wahr?“, vergewisserte Ferdinand sich zum wiederholten Mal.

Die beiden Brüder begeisterten sich wie die meisten Männer der Familie fürs Jagen. Annettes Onkel kamen mit ihren Bekannten regelmäßig nach Hülshoff, um mit Vater Clemens auf die Jagd zu gehen. Sobald die Pferde aufgezäumt wurden und die Jagdgesellschaft aufsaß, liefen seine Jungen mitten hindurch. Sie reckten und streckten sich, als könnten sie sich dadurch groß genug machen, um mitzureiten. Mit heißem Neid sahen sie anderen Söhnen nach. Kaum waren die Jäger davongaloppiert, musste einer der Knechte wenigstens für Werner einen gutmütigen Gaul satteln, damit der Möchtegern-Jäger zumindest auf dem Hof vor den Wirtschaftsgebäuden der Vorburg herumreiten konnte. Denn reiten konnte Werner längst. Wenn er nicht gerade eine verschreckte Katze über den Platz jagte, spielte Annette nur allzu gern die Rolle des Fuchses und ließ sich von ihrem Bruder, der doch nie an sie herankam, hetzen. Auch Annette hatte der Jagdgesellschaft sehnsuchtsvoll nachgesehen. Doch während die Brüder bloß darauf warten mussten, größer zu werden, würde Annette dieses Vergnügen nie erleben. Eine Dame von Stand ritt eben nicht zur Jagd.

Der Send aber war ein Erlebnis, an dem sich die ganze Familie erfreute. Münster lockte als aufregende Alternative zum Landleben, das schnell langweilig wurde, wenn Besuch ausblieb. Beim Send gebärdeten sich die Münsteraner weder so toll wie im Karneval noch so feierlich wie zur Großen Prozession. Aber auf dem Send gab es so viel Außergewöhnliches zu entdecken, dass den Kindern die Augen übergingen.

Schon von Weitem strahlte Münsters Dom von seinem Hügel. Annette wusste, es lag am hellen Baumberger Sandstein, der den Dom ebenso wie die Westseite der heimischen Burg Hülshoff und Münsters Residenzschloss zum Leuchten brachte. Die beiden mächtigen Westtürme und das lange Kirchenschiff vermittelten dadurch trotz ihrer Ausmaße einen Eindruck von Leichtigkeit. Der Kontrast des grünen Kupferdachs zum hellen Sandstein verlieh dem Dom zusätzlich eine elegante Note.

Als Annettes Familie den Domplatz in Münsters Mitte erreichte, staunte sie, wie sehr sich der sonst ruhig daliegende Domhügel verwandelt hatte. Bunte Büdchen und Stände übersäten den Platz. Zwischen ihnen liefen Mensch und Tier kreuz und quer. Ihre Stimmen schwirrten durch die Luft wie aufgeregte Hummeln. Verführerischer Duft von gebrannten Mandeln, Fleischspießen und dicken Schinken umwarb die Nasen.

Mit einem Aufschrei der Begeisterung entdeckte Ferdinand eine Gruppe dressierter Hunde, die artig einige Kunststückchen zeigten, bevor sie nach allen Seiten davonstoben.

„Das müssen wir unserem Jagdhündchen auch beibringen“, beschloss Werner und alle vier Geschwister beratschlagten eifrig, wie sie ihr neues Haustier, das ihnen die Mutter kürzlich geschenkt hatte, zu ähnlichen Tricks erziehen konnten.

„Wollen wir nicht Karussell fahren?“ Die Mutter lotste ihren Nachwuchs zu einem rotierenden Pavillon, wo schon Bekannte kreisten. Sofort verlagerte sich die Begeisterung ihrer Kinder auf das Karussell, in dessen Mitte drei Musikanten eine lustige Melodie intonierten. Die Mutter ließ sich mit ihren vier Kindern auf einer der Bänke nieder, die auf die runde Plattform geschraubt waren. Sanft begann sich das Karussell im Takt der Musik zu drehen. Die Kapelle gab sich alle Mühe, die anderen Musikanten auf dem Markt zu übertönen, denn an jeder Ecke stand ein Flöten- oder Gitarrenspieler, der seine Melodien unters Volk brachte.

Annette winkte ihrem Vater, der in der Nähe vor einer Bude mit Tabakspfeifen stand. Er winkte zurück und vertiefte sich dann wieder in die Betrachtung kunstvoll bemalter Pfeifenköpfe aus Porzellan. Sie zeigten Tierbilder, Landschaften und sogar Münstermotive wie den Prinzipalmarkt.

Die Familie fand an einem Stand für Erfrischungen wieder zusammen. Während sich die Eltern und Tante Dinett das Fassbier schmecken ließen, bekamen die Kinder Limonade. Sie ließen sich auf einer der grob gezimmerten Holzbänke nieder, die kreuz und quer zwischen den Ständen aufgebaut waren. Der Andrang war so groß, dass sich die Leute auch auf Kisten und leeren Fässern niederließen. Alles saß bunt durcheinander – Bauern und Handwerker, französische Militärs und Beamte, der Landadel und die Geistlichkeit. Alle genossen das letzte Fest des Jahres, das man noch im Freien feiern konnte.

„Seht mal, da drüben!“

Jennys ausgestreckter Arm zeigte in Richtung Rathaus, wo ein weiteres Tier Schabernack trieb: Eine Ziege mit hellem Glöckchen hielt den langen Holm einer Pfeife im Maul, als rauchte sie in vollen Zügen. Die Menge klatschte johlend Beifall. Als sei dies der Kunst noch nicht genug, ließ der Besitzer die Ziege auch noch auf eine Leiter klettern, wo sie schließlich drei Köpfe über den Sendbesuchern thronte, ohne mit den glatten Hufen von den Sprossen zu rutschen.

In dem Trubel entfernten sich die Kinder unbemerkt von den Eltern, denn das Markttreiben platzte buchstäblich aus allen Nähten. Die Bretterbuden drängten über den Domplatz hinaus und verteilten sich bis auf den Prinzipalmarkt, wo am Rathaus das Sendschwert die Marktfreiheit und das städtische Gericht anzeigte, das während des Sends tagte.

Ein Blick zurück zu den Eltern zeigte Annette, dass sie mit den Nachbarsfamilien von Twickels und von Amelunxen plauderten. Also beschlossen die Geschwister, sich auf eigene Faust ihre Herzenswünsche zu erfüllen. Annette und Jenny nahmen je einen jüngeren Bruder an die Hand und zückten ihre bestickten Geldbörsen. Die Jungen fingerten sorgsam abgezählte Münzen aus den Hosentaschen. Jenny steuerte sogleich einen Stand an, der überaus elegante Handschuhe, Haarbänder, Schals und allerlei Schmuck feilbot. Mit neuen Handschuhen in der Tasche, besahen die beiden Mädchen nebenan das eher praktische Angebot, das junge Damen aber nichtsdestoweniger brauchten: Nähnadeln, Knöpfe, Schnallen, Garn in allen Farben und Stärken. Sticken, Stricken und Spinnen lernten die Mädchen zu Hause von der Mutter. Annette und Jenny prüften die Waren kritisch wie erfahrene Hausfrauen, bis sie schließlich ein Bügeleisen und ein Nadeldöschen erwarben.

Inzwischen zerrten die Brüder ungeduldig an den Händen der Schwestern. „Flinte! Flinte! Flinte!“, skandierten sie im Chor. Längst hatten sie den Stand mit Holzspielzeug entdeckt, der für junge Recken ein ganzes Waffenarsenal bereithielt: Äxte, Schwerter, Säbel und Morgenstern lugten aus den Körben hervor und ließen die kleinen Kriegerherzen höherschlagen.

„Wollt ihr eure Flinten nicht lieber mit Papa einkaufen?“, fragte Annette die Brüder, weil sie noch Stoffe aussuchen wollte.

Als die Jungen eifrig nickten, brachten Jenny und Annette sie zu den Eltern, die sich gerade von ihren Bekannten verabschiedeten. Ohnehin im Aufbruch, formierte sich die Familie neu: Der Vater beriet die Söhne fachmännisch beim Flintenkauf, die Mutter schenkte den Töchtern neue Schuhe, obwohl es noch nicht nötig gewesen wäre, wie die Mädchen wohl wussten. „Weil ihr mir so schöne Verse zum Namenstag gedichtet habt“, erklärte die Mutter mit einem Lächeln.

***

Jenny genoss die Tage in Münster, die ihr mit der Familie unter allerlei Geselligkeiten wie im Flug vergingen. Sie trafen Freunde in Salons und bei Teekränzchen, besuchten Konzerte, Theatervorstellungen und Bälle. Heute wollten sie ihr Stadthaus im Krummen Timpen wieder verlassen, um nach Hülshoff zurückzukehren.

„Bitte, Mama, können wir nicht jetzt schon fahren?“

„Warum drängst du so, Jenny? Du bist doch sonst geduldig.“

„Es dämmert schon.“

„Jenny! Ich will noch einen Brief zu Ende schreiben. Wenn du weiter fragst, fange ich noch einen zweiten an.“

„Ja, Mama.“

Jenny schlich aus dem Zimmer, suchte ihre Schwester und setzte sich neben Annette, die wie immer ihre Nase tief in einem Buch versenkt hatte. Unruhig rutschte Jenny auf dem Kanapee hin und her.

„Du lenkst mich ab, Jenny.“

„Ich kann nicht stillsitzen, wenn ich am liebsten sofort losfahren will.“

„Aber warum denn? Wir waren zwei Wochen hier, eine Stunde mehr oder weniger macht nicht viel aus.“

Jenny nickte und stand auf. Sie ging zu ihren kleinen Brüdern ins Nebenzimmer und beschäftigte sich mit ihnen. Die beiden freuten sich wenigstens, wenn sie mit ihnen durchs Zimmer lief.

„Jenny!“, donnerte die Mutter von der Zimmertür. „Jetzt tobst du auch noch mit deinen Brüdern. Ihr wisst genau, dass ich dieses Herumgerenne nicht ertrage.“

„Entschuldige, Mama“, antwortete Jenny artig, während sich Ferdinand hinter ihrem Rock versteckte.

„Geh in Gottes Namen nach unten zur Kutsche und prüfe, ob alles richtig eingepackt worden ist. Ich habe jetzt ohnehin keine Ruhe mehr zum Schreiben.“

„Ja, sofort.“

Jenny nahm die Brüderchen bei den Händen, bevor die Mutter ihre Pläne änderte.

„Sag auch Nette Bescheid. Wie ich sie kenne, hat sie sich wieder festgelesen und wird mich ohnehin nicht hören.“

Damit rauschte Therese von Droste-Hülshoff aus dem Raum. Jenny ging nach nebenan, die Brüderchen fest im Griff, rüttelte ihre Schwester vom Sofa und lief anschließend durchs Treppenhaus zur Einfahrt, wo die Kutsche bereits vorgefahren war. Jenny sperrte die murrenden Brüder ins Innere der Kutsche, um sie von der Straße fernzuhalten. Dann sah sie die Körbe und Kisten durch. Es war alles da, selbst Nette kam herangeschlendert. Ihrem verträumten Blick nach hatte sie zwar das Buch, aber noch lange nicht die Geschichte, die es erzählte, losgelassen. Wahrscheinlich spann sie aus dem Gelesenen ihre eigene Geschichte weiter, die sie eilig zu Papier bringen würde, sobald sie Hülshoff erreichten.

„Eins, zwei, drei, vier – das zeig ich dir …“

Kaum saßen alle Geschwister in der Kutsche, fing Jenny ein Abzählspiel mit den Kleinen an, das sie selbst am nötigsten hatte, um die Zeit zu vertreiben. Zwischendurch äugte sie wieder und wieder aus dem Fenster, ob nicht die Eltern bald kämen. Aber jedes Mal sah sie immer noch Licht in der Wohnung und das Dunkel, das sie umgab, erschien ihr bei jedem Blick schwärzer. Sie war die Älteste, sie sollte auch die Tapferste sein. Doch wenn sie die unbekümmert albernden Brüder und die versonnene Schwester neben sich sah, so fühlte sie sich als Nesthäkchen. Schon wurde es wieder dunkler um sie, aber dieses Mal war es ein gutes Zeichen. Das Licht im Haus war endlich erloschen, Jenny hörte die Tritte der Eltern.

„Sie kommen!“, jauchzte sie und riss den Wagenschlag von innen auf.

„Du hörst dich an, als hättest du die Eltern ein Jahr nicht gesehen“, wunderte sich Nette.

„Ich freue mich nur auf zu Hause.“

Eine Stunde später schaukelte die Kutsche der Familie Droste der heimischen Burg entgegen. Die Lichter der Stadt lagen hinter ihnen, jetzt fuhr der Landauer durch dunkle Alleen. Die Äste der Bäume, die ihren Weg säumten, warfen schaurige Schatten in die Kutsche. Jenny zählte jeden einzelnen.

  Erreicht den Hof mit Mühe und Not 

„Jenny, wach auf!“, schrie ihr Werner ins Ohr. Fente zupfte an ihrem Rock. „Wir sind da.“

In der Kutsche war es plötzlich taghell. Der Hausknecht hielt schon den Verschlag auf und leuchtete den Weg. Hinter ihm – viel schöner als jedes Weihnachtslicht – erstrahlten die Fenster der unbeschadeten Wasserburg.

Sie waren zu Hause.